03 - kantatenliteratur

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KANTATENLITERATUR Mit weltlichen Beispielen (1) Solokantate (mit basso continuo älteste Ausprägung, zunächst weltlicher Inhalt), erste Zentren Italien und Frankreich (Deutsche) Kirchenkantate (aus Geistlichem Konzert, v.a. in der protestantischen Kultur; Wechsel in Technik, Besetzung, Taktart und Form der Teile; auch „Chor-“ oder „Choralkantate“ Weltliche Kantate (in Nummernform oder durchkomponiert), eine Tendenz dabei: Philosophie und Weltanschauung; diverse Besetzungen (solistisch, „Kammerkantate“, Großbesetzung) „Funktionelle“ Kantate: in Schulmusik, als „Pflichtstück“ in Konservatorien (Paris!), im Kontext der Jugendbewegung, im politischen Einsatz „Kantatenartiges“ in hybriden Werken (Symphonik!) Die evangelische Kantate vor Bach Begriff relativ spät etabliert, noch um 1700 viele unterschiedliche Bezeichnungen, z.B. „Kirchenstück“, „Kirchenmusic“, „Dialogo“, „Motetto“ oder „Concerto“. „Cantata“ meint demgegenüber die weltliche italienische Solokantate! Üblich wird „Kantate“ erst mit der (alten) Gesamtausgabe ab Mitte des 19. Jhdts.! (Philipp Spitta) In dieser Begrifflichkeit „Hauptmusik des protestantischen Gottesdienstes“ Vorläuferformen: -„Geistliches Konzert“ (Schütz!), bereits bestehend aus Teilen wie Concerto, Aria und Choral. Merkmal: unterschiedliche Setzweise! Auch Rezitativ hier einbezogen, auf Monodie verweisend. - Psalmvertonungen, wieder in unterschiedlichen Setzweisen, lateinisch oder deutsch, zum Teil mehrchörig (Johann Schelle), zum Teil auch andere Textsorten integriert (Dietrich Buxtehude). - Choralbearbeitungen: daraus Typus der „Choralkantate“; Text des Chorals wird in Sätze gegliedert, cantus firmus durchzieht die Sätze, Besetzungen und Setzweisen auch hier unterschiedlich, z.T. mehrchörig, große Bläsersätze (Buxtehude)

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KANTATENLITERATUR

Mit weltlichen Beispielen (1)

• Solokantate (mit basso continuo älteste Ausprägung, zunächst weltlicher Inhalt), erste Zentren Italien und Frankreich

• (Deutsche) Kirchenkantate (aus Geistlichem Konzert, v.a. in der protestantischen Kultur; Wechsel in Technik, Besetzung, Taktart und Form der Teile; auch „Chor-“ oder „Choralkantate“

• Weltliche Kantate (in Nummernform oder durchkomponiert), eine Tendenz dabei: Philosophie und Weltanschauung; diverse Besetzungen (solistisch, „Kammerkantate“, Großbesetzung)

• „Funktionelle“ Kantate: in Schulmusik, als „Pflichtstück“ in Konservatorien (Paris!), im Kontext der Jugendbewegung, im politischen Einsatz

• „Kantatenartiges“ in hybriden Werken (Symphonik!)

Die evangelische Kantate vor Bach

• Begriff relativ spät etabliert, noch um 1700 viele unterschiedliche Bezeichnungen, z.B. „Kirchenstück“, „Kirchenmusic“, „Dialogo“, „Motetto“ oder „Concerto“. „Cantata“ meint demgegenüber die weltliche italienische Solokantate! Üblich wird „Kantate“ erst mit der (alten) Gesamtausgabe ab Mitte des 19. Jhdts.! (Philipp Spitta)

• In dieser Begrifflichkeit „Hauptmusik des protestantischen Gottesdienstes“

Vorläuferformen:

• -„Geistliches Konzert“ (Schütz!), bereits bestehend aus Teilen wie Concerto, Aria und Choral. Merkmal: unterschiedliche Setzweise! Auch Rezitativ hier einbezogen, auf Monodie verweisend.

• - Psalmvertonungen, wieder in unterschiedlichen Setzweisen, lateinisch oder deutsch, zum Teil mehrchörig (Johann Schelle), zum Teil auch andere Textsorten integriert (Dietrich Buxtehude).

• - Choralbearbeitungen: daraus Typus der „Choralkantate“; Text des Chorals wird in Sätze gegliedert, cantus firmus durchzieht die Sätze, Besetzungen und Setzweisen auch hier unterschiedlich, z.T. mehrchörig, große Bläsersätze (Buxtehude)

• „Aria-Kantate“: entstanden aus Strophenlied mit Ritornell, kleinste bis große Besetzungen, Modell der strophenweisen melodischen Variation, instrumentale Vor-, Zwischen- und Nachspiele

• „Dialog“: bedingt durch Orientierung an der Predigt als „Auslegung“, am Text ausgerichtet. „Dialogische“ Strukturen und Situationen in den Evangelien dabei besonders beliebt (z.B. Verkündigungsszene im Lukas – Evangelium mit Maria und dem Engel als „Rollen“, jeweils mit bestimmter instrumentaler Zuordnung). Affektgehalt zentral. Flexibel in Satzzahl und Aufwand, oft Kombination unterschiedlicher Texte. Vertreter: Andreas Hammerschmidt (Kantor in Zittau). Dialoge z.T. in Zyklen gedruckt, gerichtet auf Feste des Kirchenjahres

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(Hammerschmidts Musicalische Gespräche über die Evangelien, Dresden 1655/56: 59 Kompositionen). Auch Johann Rudolf Ahle (Mühlhausen) publiziert Dialoge.

• „Concerto-Aria-Kantate“: Verknüpfung von Bibeltext und freier Dichtung (oft: geistliche Ode); seit ca. 1660 immer mehr standardisiert: Bibeltext wird konzertant-motettisch vertont, damit kombiniert freier Text für solistische Aria. Meist pro Strophe des freien Textes jeweils eine Solostimme besetzt. Bibeltext bietet meist formalen Rahmen, dazwischen Arias. Freier Text (Ode) steht symbolisch für die subjektive Gläubigkeit, Bibeltext ist objektiver Rahmen. Dresden (ital. Einfluss) hier Zentrum. Wird zum Typus und Vorbild (Exemplarisches dazu von Buxtehude).

Besetzungen

• Sehr variantenreich im Sinne der „varietas“: solistisch mit basso continuo, vokal – instrumentale Ensemblesätze, große Chor-Orchester-Besetzung

• Oft: vierstimmiges Vokalensemble, dazu vokales Ripieno und fünf Streicher

• Festlichkeit: Bläser (Posaunen, Zinken, Trompeten) und Pauken, auch Flöten und Oboen

• In Einleitungsmusiken („Sinfonia“, „Sonata“) Tendenz zur längeren Instrumentalmusik, formal jeweils unterschiedlich, ab 1700 Einfluss durch französischen Ouvertürentypus.

„Die jüngere Kantate“ (vor Bach und zeitgleich)

• Rezitativ wird einbezogen, vorbildlich bei Erdmann Neumeister (Prediger, Hofgeistlicher in Weißenfels) mit Ziel der Vertiefung der Andacht, verweist dabei selbst ausdrücklich auf Oper als Herkunft der Dualität Recitativ-Arie. Arbeitet mit opernerfahrenem Johann Philipp Krieger (Hofkapellmeister in Weißenfels) zusammen. Hauptbestandteile: Folge Rezitativ – Arie, dann erweitert um Chöre (schlicht bis kunstvoll gesetzt). Zum Teil intern kritisiert (Gegner davon z.B. Thomaskantor Johann Kuhnau, der frembden Zierrath ablehnt).

Bachs weltliche Kantaten

• Festmusiken für höfische Anlässe: resultierend aus Bachs Tätigkeit an fürstlichen Höfen (Sachsen-Weißenfels, Anhalt-Zerbst, Sachsen-Weimar, Anhalt-Köthen) und Arbeiten für den königlich sächsischen (bzw. nach 1734 polnischen) Hof

• Arbeiten für einzelne aristokratische Auftraggeber

• Kantaten für Universitätsveranstaltungen in Leipzig und für Festlichkeiten der Thomasschule

• Hochzeitskantaten

• Kantaten für Aufführungen des „Collegium musicum“ in Leipzig (z.B. im „Zimmermann‘schen Caffee-Haus“)

• Generell wesentlich schlechter dokumentiert als die geistlichen Kantaten, schon in ersten Dokumenten nur summarisch erwähnt. Ca. 50 Werke insgesamt anzunehmen.

• Dennoch gesamte Aktivzeit umfassend, ab ca. 1705 bis 1742 damit beschäftigt. Komposition weltlicher Kantaten gehörte nicht zu den vorgeschriebenen Aufgaben Bachs während seiner Zeit an fürstlichen Höfen (vor Köthen, dort sehr wohl), daher meist „freiwillig“ oder über speziellen Auftrag komponiert.

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• Sehr verschiedene Bezeichnungen belegt: von Quodlibet über Cantate en burlesque, Serenata bis Dramma per musica [!], auch Tafel-Music, Abend-Music oder Trauer-Music.

• Häufig: Parodieverfahren (=„Wiederverwertung“), geistich – weltlich und umgekehrt, zum Teil einzelne Werke sogar mehrfach parodiert (z.B. „Oster-Oratorium“ BWV 249)

• Textautoren meist im jeweiligen Umfeld (Hofdichter, Theologen, Universitätslehrende etc.), intensivste Zusammenarbeit mit dem Leipziger Christian Friedrich Henrici (genannt „Picander“, eigentlich nur Gelegenheitsdichter)

• Viele Besetzungsvarianten von Solokantate (z.B. Solostimme und Cembalo) bis zur doppelchörigen Großbesetzung, bis zu vier Solostimmen, konzertierende Instrumente. Häufig „dialogische Serenata“ mit zwei Solostimmen. „Dramma per musica“ immer groß besetzt, mit Trompeten und Pauken. Gesangsrollen dabei meist personifiziert (Mythos, Allegorie).

• Populäre Sonderfälle: „Kaffee-“ und „Bauernkantate“ (Sujet aus Bürger- und Landleben, nicht „erhaben“, sondern scherzhaft und deklariert humoristisch angelegt)

Beispiel 1: Dramma per musicaPreise dein Glücke, gesegnetes Sachsen BWV 215

• Zum Jahrestag der Königswahl August III., 5. Oktober 1734 (Besuch des Königs in Leipzig, studentische „Abendmusik“ dafür)

• Doppelchörig (Chor 2x4 Stimmen), 3 Trompeten, Pauken, 2 Flöten, Oboen, Violinen I, II, Viola und bc, Soli: Sopran, Tenor, Bass

• Text: Johann Christoph Clauder, Inhalt: Lob auf Tugenden des Landesvaters

• Ausschnitt: Nr. 7 (Aria Sopran, Begleitung „ohne Bass“!), Nr. 8 (Rec. accomp.) und Schlußchor (Nr. 9, doppelchörig, Stifter der Reiche, Beherrscher der Kronen)

Beispiel 2: Cantate en burlesqueMer hahn en neue Oberkeet BWV 212 (Bauern-Kantate)

• Anlass: Übernahme des Gutes Klein-Zschocher durch Carl Heinrich von Dieskau (August 1742), gleichzeitig Geburtstag Dieskaus. Rahmen: Fest, gefolgt von Feuerwerk

• Besetzung: Sopran, Bass, Flöte, Horn, Violine I, II, Viola, bc

• Text: Picander (als Steuerbeamter Untergebener Dieskaus)

• Inhalt: zwei Personen in ländlichem Ambiente, scherzhafter Dialog in 24 Rezitativen und Arien. Bezieht sich auf Gutsübernahme, aber auch auf Situationen des ländlichen Lebens (Bedeutung der Fischereirechte, des guten Wirtschaftens, Lied in der Schenke etc.), Anspielungen auf Gutsherren und konkrete Personen seiner Umgebung. Konfrontation städtische – ländliche Musik (z.B. 7teilige Potpourri-Ouverture mit Tanzcharakteren wie Deutscher Tanz, Polka, Polonaise), Tanzcharaktere auch in weiteren Sätzen (Bourrée, Folies d‘Espagne, Sarabande, Mazurka).