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1 Prof. Dr. Hans Jörg Sandkühler Deutsche Abteilung „Menschenrechte und Kulturen“ des europäischen UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie (Paris) www.unesco-phil.uni-bremen.de Von Staatenrechten zu Menschenrechten. Die Vereinten Nationen, die Revolutionierung des Völkerrechts und das Problem des Kulturenpluralismus Internationale Hochschule für Exekutives Management 25. Januar 2010

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Page 1: 1 Prof. Dr. Hans Jörg Sandkühler Deutsche Abteilung Menschenrechte und Kulturen des europäischen UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie (Paris)

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Prof. Dr. Hans Jörg SandkühlerDeutsche Abteilung „Menschenrechte und Kulturen“

des europäischen UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie (Paris)www.unesco-phil.uni-bremen.de

Von Staatenrechten zu Menschenrechten.

Die Vereinten Nationen, die

Revolutionierung des Völkerrechts und

das Problem des Kulturenpluralismus

Internationale Hochschule für Exekutives Management

25. Januar 2010

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Das Thema – das Problem

Moderne Gesellschaften sind pluralistische Gesellschaften: Es gibt keine homogene Gesellschaft, und in der Gesellschaft gibt es nicht die eine Wahrheit, die eine Moral, die eine Religion. Pluralismus ist eine Tatsache und ein Problem. Das Problem besteht nicht in erster Linie in Konflikten zwischen einander angeblich ,fremden’ Groß-Kulturen wie Europa, Afrika und Asien. Schwierigkeiten mit der Vielfalt kultureller Einstellungen entstehen vielmehr gerade im Inneren der Gesellschaften – zwischen individuellen Interessen und der Achtung der Anderen, zwischen Egoismus und Solidarität, zwischen vernünftiger Freiheit und vernünftiger Ordnung.

Der Pluralismus führt zu Relativismus: meine Wahrheit, meine Moral, meine Religion – und: mein Recht.Die hieraus entstehenden Konflikte müssen im Interesse der Freiheit aller gelöst werden – durch Politik. Durch welche Politik?

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Die Frage

Gibt es verallgemeinerbare Normen, welche die Politik, die den Staat, das Recht, Institutionen, Erziehung und Bildung sowie das individuelle Verhalten moralisch und rechtlich so verpflichten, dass sie auch unter den Bedingungen von Interessenkonflikten und der Konkurrenz von moralischen Einstellungen und Werten nicht relativistisch in Frage gestellt werden können?

Welche Normen sind verallgemeinerbar, wenn

(i) Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, mit verschiedenen Religionen, Lebenszielen und Rechtsverständnissen zusammenleben und

(ii) individuelles und kollektives gutes moralisches Verhalten nicht als die Regel unterstellt werden kann?

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Die normative These

Die Konflikte dürfen und können nicht durch Gewalt gelöst werden, wenn alle gleich und frei sein wollen/sollen.

Die Konflikte können nicht auf der Grundlage einer privaten Moral, Religion (z.B. Christentum, Islam) etc. gelöst werden. Keine Moral, keine Religion, hat ein Privileg.

Konflikte können nur durch eine Politik gelöst werden, die für alle gleiches Recht schafft.

Das gleiche Recht muss gerechtes („richtiges“) positives Recht und durchsetzbar sein.

Positives Recht kann nur im Staat durchgesetzt werden. Gleiches und gerechtes Recht kann nur im Rechtsstaat

durchgesetzt werden. Der Staat, das Recht und Institutionen des öffentlichen Lebens

wie Erziehung und Bildung finden Normen, die alle verpflichten können, im Internationalen Recht der Menschenrechte und – hiervon abgeleitet – in den Grundrechten der Verfassung.  

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Die Menschenrechte und der Staat

Der Staat ist Bedroher und Beschützer der Menschenrechte:

Die Menschenrechte wurden erkämpft gegen staatliche Allmacht und Unterdrückung. Vom Ursprung der Menschenrechtsidee her ist der Staat ihr ´natürlicher Gegner´. Viele Beispiele der Gegenwart belegen weltweit, dass dies noch heute so ist.

Staaten und Staatengemeinschaften sind aber auch die unentbehrlichen und allein wirkmächtigen Beschützer der Menschenrechte. Wirksamen Schutz wird es nicht gegen, sondern nur mit Staaten geben.

Schutz bieten aber nur ein bestimmter Staat: Der demokratische und soziale Rechtsstaat.

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Verletzung, Missachtung und Unkenntnis der Rechte

Die Menschenrechte und der Rechtsstaat stoßen auch heute auf Skepsis, weil Rechte verletzt werden. Ungerechtigkeit und Unrecht gibt es auch im Rechtsstaat, z.B. soziale Ungerechtigkeit und mangelnde Chancengleichheit. Die Verletzung von Rechten führt zum Schwinden des Rechts- und Unrechtsbewusstseins, zu Desinteresse am Recht und zur Unkenntnis der Rechte. Rechtsverletzungen sind kein Argument gegen die Geltung des Rechts. Beschreibungen des schlechten Zustands der Menschenrechte bieten keine Argumente gegen deren normative Geltung. Wer seine Rechte verletzt sieht, geht davon aus, dass Rechte wertvoll sind und geschützt werden müssen. Gegen Rechtsverletzungen kann sich nur wehren, wer seine Rechte kennt.

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Moral, Recht und Staat – Die Transformation moralischer Ansprüche in positives Recht

Moralische Ansprüche können zwar eingefordert werden, und es ist auch möglich, ihre Verletzung moralisch zu verurteilen.

Doch ohne die Transformation moralischer Ansprüche in positives Recht wäre niemand vor Gewalt sicher.

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Dies führt Robert Alexy zu einer These, die provokant erscheinen mag, für die es aber gute Gründe gibt:

„Wenn es ein moralisches, also gegenüber jedem begründbares Recht zum Beispiel auf Leben gibt, dann muss es auch ein gegenüber jedem begründbares Recht darauf geben, dass eine gemeinsame Instanz geschaffen wird, die jenes Recht durchsetzt. Andernfalls wäre die Anerkennung moralischer Rechte keine ernsthafte Anerkennung, was ihrem fundamentalen und vorrangigen Charakter widerspräche.

Die zur Durchsetzung der Menschenrechte einzurichtende gemeinsame Instanz ist der Staat. Es gibt also ein Menschenrecht auf den Staat.

Durch die Einrichtung eines Staates als Durchsetzungsinstanz werden die moralischen Rechte, die die einzelnen gegeneinander haben, in inhaltsgleiche Rechte des positiven Rechts transformiert. Zusätzlich entstehen als neue Rechte die Rechte der einzelnen gegen den Staat auf Abwehr, Schutz und Verfahren.“

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„Menschenrecht auf den Staat“: Drei Gründe

1. Faktischer Pluralismus und Relativismus:

Im Recht wird der Relativismus relativiert: Die Beziehungen zwischen

den Menschen können so geregelt werden, dass der Dissens verträglich

ist mit gleichen Freiheitsansprüchen und Rechten aller. Die

Verträglichkeit wird nicht zuletzt durch rechtliches Sollen und

Zurechnung hergestellt, durch Normen und Sanktionen.

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2. Kritische Anthropologie/Bindung der Moral an das Recht:

In Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht heißt es: „aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden“.

„Die Menschen bedürfen bei ihrer natürlichen Bösartigkeit und in ihrer darum sich unter einander drängenden Lage einer Macht, die jeden größeren Haufen derselben unter dem Zwange öffentlicher Gesetze halte und dadurch jedem sein Recht sichere [...] wenn wir auch keine theoretisch hinreichenden Gründe hätten: wenn die Politiker uns ganz andere Mittel anpriesen, so müssen wir doch so handeln, als ob das Menschliche Geschlecht immer zum Besseren hinstrebe.“

J. Madison: „Das persönliche Interesse des einzelnen muss mit den verfassungsmäßigen Rechten [...] verbunden sein. Es mag ein Ausdruck des Mangels der menschlichen Natur sein, dass solche Kniffe notwendig sein sollen [...] Aber was ist die Tatsache, dass Menschen eine Regierung brauchen, anders als der deutlichste Ausdruck des Mangels der menschlichen Natur?“

Die Verrechtlichung der moralischen Freiheitsansprüche ist das Ergebnis einer von moralischen Defiziten des Menschen ausgehenden kritischen Anthropologie.

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3. Entlastung von normativen moralischen Zumutungen: Zweifel an den im Staat handelnden Akteuren:

Das Recht verschiebt – so Jürgen Habermas in Faktizität und Geltung – „die normativen Zumutungen vom moralisch entlasteten Einzelnen auf die Gesetze, die die Kompatibilität der Handlungsfreiheiten sichern“.

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Staat: Definition

Allgemein kann ,Staat’ als der gesellschaftliche Gesamt-Apparat bezeichnet werden, der über eine institutionalisierte Zentralgewalt mit einem funktionsfähigen stabilen Apparat und territorialer Erstreckung verfügt und der in einer durch Interessenkonflikte strukturierten Gesellschaft das Gewaltmonopol ausübt.

Damit ist aber noch nichts über die Qualität des Staates ausgesagt.

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Nicht jede Konzeption von Staat und Recht erfüllt in gleicher Weise die Funktionen,

den Staat von der Verfassung her zu begründen (und nicht umgekehrt),

die Autonomie des Rechts gegenüber politischer Herrschaft rational zu begründen,

den Steuerungs- und Integrationserfordernissen einer pluralistischen Gesellschaft angemessen zu sein und

Demokratie als Form der Gestaltung aller Bereiche des Sozialstaats und der Gesellschaft zu begründen und zu verwirklichen.

Diese Funktionen erfüllt der demokratische und soziale Rechtsstaat.

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„Der Relativismus fordert den Rechtsstaat.“

Gustav Radbruch: Der Relativismus in der Rechtsphilosophie

Die rechtsstaatliche Ordnung kann die „Sicherheitsaufgabe nur unter der Voraussetzung erfüllen, daß [sie] nicht allein die Rechtsunterworfenen verpflichte, sondern auch den Gesetzgeber selbst. [...] Die Gesetzgebung ist dem Gesetzgeber anvertraut nur unter der Bedingung, daß er sich selbst der Herrschaft des Gesetzes unterwerfe. Ein Staat, der sich seinem eigenen Gesetz unterworfen weiß, heißt [...] Rechtsstaat.

Der Relativismus fordert den Rechtsstaat.“

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Der Rechtsstaat

Art. 20 GG(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer

Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Art. 28 GG(1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen.

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(Aus: GG-Kommentar Horst Dreier, Art. 20)

1. Die Idee der Herrschaft des Rechts im Verfassungsstaat

Rn. 1: Der Rechtsstaat formuliert verfassungstheoretisch den Anspruch, politische und gesellschaftliche Macht im Gemeinwesen primär nach Maßgabe von Recht und Gerechtigkeit auszuüben, auch im Widerspruch zur politischen Opportunität der Macht. Rechtsstaatlichkeit prägt die Strukturen und die Ziele staatlichen Handelns, das nicht nur begrenzt, sondern auch gewährleistet wird.

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Kernelemente des Rechtsstaats:

die grundrechtlichen Freiheits- und Gleichheitsrechte um der Menschenwürde des einzelnen willen; die staatsorganisatorische Gewaltenteilung, insbesondere die Unabhängigkeit neutraler Richter (Art. 92, 97 GG); die Herrschaft des demokratischen und ausreichend bestimmten Gesetzes; die Rechtsgebundenheit von Verwaltung und Gerichten, einschließlich der Rechtmäßigkeitsrestitution bzw. der Entschädigung bei staatlichen Eingriffen; die Garantie umfassenden gerichtlichen Rechtsschutzes gegenüber Akten der öffentlichen Gewalt, das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) und auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 GG); die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung und ihre verfassungsgerichtliche Kontrolle, vor allem bei Grundrechtsbeschränkungen am Maßstab des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und die Orientierung staatlichen Handelns an der Idee materieller Gerechtigkeit.

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(Aus: Alternativkommentar GG, Stein, Art. 20 Abs. 1-3 II Rz. 46-49)

„Wegen der Interdependenz von Staat und Gesellschaft läßt sich das

Demokratieprinzip im staatlichen Bereich nicht ohne Demokratisierung der

Gesellschaft voll verwirklichen. [...]

wegen des Zusammenhangs von gesellschaftlicher Macht und Einfluß im

Staat [hängt] die Verwirklichung realer Demokratie von der

Ausgewogenheit der gesellschaftlichen Machtverteilung ab [...]“

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Menschenwürde

Die Würde des Menschen ist unantastbar.These:

Nur die Konzeptualisierung der Menschenwürde als Prinzip, Begriff und Norm des Rechts ermöglicht ein angemessenes Verständnis dessen, was durch die Garantie der Würde geschützt werden soll: die Gleichheit und Freiheit aller, die Menschen sind.

Der normative Status:

Sätze über die Unantastbarkeit der Würde sind keine deskriptiven Sätze. Sie artikulieren in der Form des Sollens als Seins die stärkste Form von Normativität.

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Die „Objekt-Formel“:

Für das deutsche Verfassungsrecht wegweisend hat bereits 1956 Günter Dürig die Frage, was den Schutz der Menschenwürde ausmacht, aufgrund der Erfahrungen mit Unrechtssystemen im 20. Jahrhundert mit der kantianischen ,Objektformel’ ex negativo (vom Eingriff her) beantwortet: „Die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“ Es verstößt gegen die Menschenwürde, wenn der Mensch einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt. Die Menschenwürde ist betroffen durch Folter, Sklaverei, Ausrottung bestimmter Gruppen, Geburtenverhinderung oder Verschleppung, Unterwerfung unter unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung, Brandmarkung, Vernichtung so genannten unwerten Lebens oder durch Menschenversuche.

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Die Hierarchie der Rechtsnormen

Achtung und Schutz der menschlichen WürdeAllgemeine Erklärung der Menschenrechte Art. 1 Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.Nachfolgende MenschenrechtspakteSpeziellere Konventionen, z.B. gegen Folter, zum Schutz der Frauen, zum Schutz der Kinder...Transnationale Verfassungen Europäische Union, Die Charta der Grundrechte der Union: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.Nationale VerfassungenAllgemeine GrundrechtenormenSpezielle Normen

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Die Revolutionierung des Internationalen Rechts I: Unrechtserfahrung als Quelle der Menschenrechte

Bialystok, 3. Kompanie des Polizeibataillons 309

In einem Park wurden die Juden gruppenweise liquidiert. Die Überlebenden wurden von den Polizisten in die Hauptsynagoge von Bialystok getrieben – mit Gewehrkolben wurden so viele Menschen hineingeprügelt, bis niemand mehr hineinpasste. Die verängstigten Juden begannen laut zu singen und zu beten. Dann leitete Pipo Schneider [Zugführer] eines der brutalsten Massaker jener Wochen ein: Er ließ das mit über 700 Menschen voll gepackte Gotteshaus von Posten umstellen und abriegeln. Mit Benzin wurde das Gebäude in Brand gesetzt. Handgranaten flogen durch die Fenster, um die Wirkung des Feuers zu verstärken. Die wenigen, die – bereits vom Feuer erfasst – versuchten, aus der Synagoge zu fliehen, wurden mit Maschinengewehren niedergemäht. Im Gotteshaus von Bialystok verbrannten in erster Linie Männer, doch auch einige Frauen und Kinder hatte man in die Synagoge getrieben …

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Am 26. Juni 1945 trat in London eine von den vier alliierten Mächten beschickte Konferenz (International Conference on Military Trials) zusammen, die am 8. August 1945 das »Abkommen über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse« unterzeichnete, in das ein »Statut für den internationalen Militärgerichtshof« (Nürnberg) eingeschlossen war.

Mit Anklageschrift vom 6. Oktober 1945 erhoben die 4 Hauptankläger Anklage gegen 24 Personen.

Auch gegen sechs Gruppen und Organisationen, nämlich gegen Reichskabinett, Führerkorps der NSDAP, SS und SD, SA, Gestapo und Generalstab und Oberkommando der Wehrmacht, wurde Anklage erhoben.

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Statut für den Internationalen Militärgerichtshof Die folgenden Handlungen, oder jede einzelne von ihnen, stellen

Verbrechend dar, für deren Aburteilung der Gerichtshof zuständig ist. Der Täter solcher Verbrechen ist persönlich verantwortlich:

(a) VERBRECHEN GEGEN DEN FRIEDEN (b) KRIEGSVERBRECHEN(c) VERBRECHEN GEGEN DIE MENSCHLICHKEIT: Nämlich: Mord,

Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen, für das der Gerichtshof zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung gegen das Recht des Landes verstieß, in dem sie begangen wurde, oder nicht.

Anführer, Organisatoren, Anstifter und Teilnehmer, die am Entwurf oder der Ausführung eines gemeinsamen Planes oder einer Verschwörung zur Begehung eines der vorgenannten Verbrechen teilgenommen haben, sind für alle Handlungen verantwortlich, die von irgendeiner Person in Ausführung eines solchen Planes begangen worden sind.

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Die Vereinten Nationen

Die mit den Prozessen von Nürnberg und Tokyo verbundene Rechtsrevolution war auch die Grundlage der ‹Charta der Vereinten Nationen› (26. 6. 1945):

«Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern [...]».

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Auf der Grundlage der Charta wurde eine Menschenrechtskommission zur Ausarbeitung neuer Grundregeln des Schutzes der Menschenrechte eingesetzt.

Die allgemeinen völkerrechtlichen Zielvorstellungen sollten unter dem Vorsitz von Eleanor Roosevelt als konkrete Rechte formuliert werden.Die Universal Declaration of Human Rights wurde am 10. Dezember 1948 in Paris durch die Generalversammlung der VN verabschiedet (bei 48 Ja-Stimmen und 8 Enthaltungen durch die Staaten des Ostblocks, der Sowjetunion, Saudi-Arabiens und Südafrikas).

Sie besteht aus 30 Artikeln über Rechte, auf die jeder Mensch Anspruch hat, „ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.“

Sie ist kein multilateraler Staatsvertrag und hat deklamatorischen Charakter (soft-law), d.h. sie hat keine völkerrechtliche Verbindlichkeit. Aber sie hat sich als moralisches und rechtliches System der Integration der Völker bewährt.

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Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948)

In der Präambel werden zwei für das Verständnis der Menschenrechte wesentliche Aspekte miteinander verknüpft:

(a) Die Menschenrechte werden erklärt, «da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, dass einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt»;

(b) Weil weder die Menschenwürde noch die Menschenrechte ‹gegeben› sind, ist es «notwendig [...], die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen».

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Die Revolutionierung des Internationalen Rechts II:Jus cogens und Verpflichtungen erga omnesVölkerrechtliche Verpflichtungen der Staaten

Nach der Definition in Art. 53 des Wiener Übereinkommens über das

Recht der Verträge (23. Mai 1969) ist kennzeichnend für eine Ius-cogens-

Norm, daß sie „von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer

Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der

nicht abgewichen werden darf [from which no derogation is permitted]

und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts

derselben Rechtsnatur geändert werden kann.“ Dies ist der Sache nach

der Fall bei Normen, die im allgemeinen Völkerrecht als unverhandelbare

„rechtlich verfestigte moralische Standards des Völkerrechts“ anerkannt

sind. Sie sind „unabhängig von der vertraglichen Übernahme aufgrund

allgemeinen Völkerrechts“ für alle Staaten bindend.

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Bislang gibt es keinen verbindlichen Katalog der Regeln, die als zwingende Normen des allgemeinen Völkerrechts gelten. Die UN-Völkerrechtskommission führt in ihrem Kommentar aus dem Jahr 2001 die folgenden Rechtsnormen beispielhaft an:

Verbot des Angriffskriegs;Verbot von Sklaverei und Sklavenhandel;Verbot des Völkermords;Verbot von Rassendiskriminierung und Apartheid;Folterverbot;Grundregeln (basic rules) des humanitären Völkerrechts;Selbstbestimmungsrecht der Völker (right of self-determination).

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In Bezug auf die Behandlung von Zivilpersonen ergibt sich bereits eine ganze Zahl von Einzelverboten mit zwingendem Rechtscharakter:

vorsätzliche Tötung;Folterung oder unmenschliche Behandlung;vorsätzliche Verursachung großer Leiden;rechtswidrige Verschleppung oder Verschickung;rechtswidrige Gefangenhaltung;Entzug des Anrechts auf ein ordentliches Gerichtsverfahren;Geiselnahme sowieungerechtfertigte Zerstörung und Aneignung von Eigentum, die „in großem Ausmaß rechtswidrig und willkürlich vorgenommen“ wird.

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Menschenrechte

Menschenrechte sind – im Unterschied zu bestimmten als Grundrechte an die Staatsbürgerschaft gebundenen Bürgerrechten – Rechte, welche einem jeden Menschen ungeachtet aller seiner sonstigen Eigenschaften allein kraft seines Menschseins zukommen (sollen).

Was Menschenrechte sein sollen, ist sowohl auf der Ebene moralischer Einstellungen, Überzeugungen und Werte als auch auf der Ebene ethischer und rechtsphilosophischer Begründung strittig; was Menschenrechte sind, ist auf der Ebene des Rechts definierbar und vorbehaltlich möglicher Veränderungen im internationalen positiven Recht definiert. Die Menschenrechte haben eine Entwicklung durchlaufen und werden sich weiter entwickeln, wobei über ihre normativen Gehalte, die mit ihnen verbundenen Sanktionen und die institutionellen Formen der Menschenrechtsverwirklichung Konflikte bestehen (werden).

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Implikationen des Menschenrechtsbegriffs sind: (i) Die aus geschichtlicher Unrechtserfahrung entstandenen, in Aufständen und Revolutionen eingeklagten und im 20. Jh. v.a. unter dem Eindruck der Verbrechen des Nationalsozialismus, Faschismus, Militarismus und Stalinismus formulierten Menschenrechtsansprüche beziehen sich auf die Menschenwürde, Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit aller Menschen; sie sind gerichtet auf weltbürgerrechtliche Lebensverhältnisse. (ii) Die Menschenrechte haben einen moralischen Inhalt, eine positiv-rechtliche Form und eine sowohl juridische als auch moralische Funktion der Verhaltensorientierung. (a) Als individuelle und kollektive (Gemeinschafts-, Gruppen-, Minderheiten-)Rechte der Menschen haben sie – unabhängig von gewohnheitsrechtlichen Üblichkeiten, besonderen institutionellen Ordnungen und Regelungen Überzeugungen, Religionen, Kulturen – Geltung als positives internationales, nationalem Verfassungsrecht übergeordnetes Recht; sie begründen Verwirklichungsansprüche gegenüber nichtstaatlicher – vor allem ökonomischer – Gewalt und gegenüber den Staaten, deren Rechtssysteme im Interesse bestmöglicher Grundrechteverwirklichung auf den je höchsten Entwicklungsstand der Menschenrechte verpflichtet sind.

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(b) Sie sind auch dann moralisches Verhalten verpflichtende Normen, wenn sie nicht im innerstaatlichen Recht positiviert sind; sie verlangen nicht nur rechtskonformes Verhalten, sondern die Anerkennung und Achtung der Menschenwürde und der aus ihr abgeleiteten Ansprüche auf ein menschenwürdiges Leben.(iii) Die den Menschen zukommenden Rechte sind individuell und kollektiv unveräußerlich. (iv) Menschenrechte sind weder eine Gabe der Staaten noch können sie von diesen verwehrt werden. (v) Die Menschenrechte bilden, abgeleitet vom fundamentalen moralischen Wert und von der basalen Rechtsnorm ‹Menschenwürde›, in der Hierarchie der Normen das Fundament des Rechtsnormensystems und begründen die Grundrechte sowie alle weiteren aus diesen abgeleiteten Normen; sie legitimieren den Rechtsstaat. (vi) Aus dem Menschenrechte-Recht ergeben sich (a) Freiheits- und Gleichheitsrechte, (b) Gerechtigkeits- und Solidaritätspflichten und (c) Sanktionen bei Vorenthaltung von (a) durch Staaten und bei individuellem und kollektivem Missbrauch von (a) sowie allgemein bei Verstößen gegen (b).

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‹Generationen› der Menschenrechte

Erste Generation: die klassischen Bürger- und Freiheitsrechte, die seit den Bills of Rights des 18. Jh. allgemeine Rechts- und Verfassungsnormen geworden sind; sie sind Abwehrrechte (negative Freiheitsrechte und individuelle Schutzrechte) gegenüber dem Staat.

Zweite Generation: Gestaltungsrechte (positive Teilnahmerechte, politische Partizipationsrechte) im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Menschen im Bereich des Politischen; sie enthalten auch dem Sozialstaatsprinzip entsprechende soziale Leistungsrechte (positive Teilhaberechte). Die sozialen Rechte werden erweitert; ihre entwickelte Form stellt der Internationale Pakt über wirtschaftliche. soziale und kulturelle Rechte (1966/1976, IPwskR) dar.

Dritte Generation: Recht auf Entwicklung, das – v.a. von Staaten der sog. Dritten Welt durchgesetzte – Recht auf Selbstbestimmung.

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Menschen-Rechte, nicht nur Ideale

Die Menschenrechts-Pakte von 1966 (1976 in Kraft getreten)

enthalten differenzierte Menschenrechtskategorien, denen

detaillierte Menschenrechte zugeordnet sind: wirtschaftliche Rechte wie das Recht, sich zu ernähren und vor

Hunger geschützt zu sein und das Recht auf einen

angemessenen Lebensstandard; das Recht auf Arbeit und

Rechte in der Arbeit; soziale Rechte wie das Recht auf soziale Sicherheit; die Rechte

von Familien, Müttern und Kindern und das Recht auf

körperliche und geistige Gesundheit; kulturelle Rechte wie das Recht auf Bildung, die Teilnahme am

kulturellen Leben und wissenschaftlichen Fortschritt sowie

Minderheitenrechte; schließlich

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bürgerliche Rechte wie das Recht auf Anerkennung und Gleichheit

vor dem Gesetz; Rechte von Gefangenen; das Verbot der Folter, der

Sklaverei, der willkürlichen Verhaftung; das Recht auf Freizügigkeit

und der Schutz von Ausländern im Falle der Ausweisung; das Recht

auf Meinungsfreiheit, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

und auf Teilnahme am politischen Leben.

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Wirtschaftliche, soziale und kulturelle

Rechte

Recht auf individuelle und

kollektive Entwicklung

Bürgerliche Rechte, negative

Freiheitsrechte

Der Zusammenhang der Menschenrechte

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Das Problem des Kulturenpluralismus:

Universalisierbarkeit und Universalität der Menschenrechte

In der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit verbinden sich die Menschenrechte mit unterschiedlichen Rechtskulturen und konkurrierenden sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bedürfnissen und Interessen. Rechte, z.B. individuelle Freiheitsrechte und soziale Leistungsrechte, und Strategien der Implementierung der Menschenrechte können miteinander kollidieren. Dabei sind die Gründe für die Interpretation der Menschenrechte nicht allein von sozialen und politischen Kontexten abhängig, sondern auch von kulturellen Traditionen, Prinzipien der Ethik, Wissenskulturen und von Welt- und Selbstbildern der Autoren und Adressaten der Menschenrechtsnormen.

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Die Frage nach der Universalisierbarkeit bzw. Universalität der

Menschenrechte steht im Zentrum kontroverser

Menschenrechtsdiskurse steht. Der ‹Westen› (bzw. ‹Norden›), so

wird oft gesagt, klage in liberalistischer und individualistischer

Perspektive die Würde, die unveräußerlichen Rechte und die

Freiheiten des Individuums ein, während der ‹Süden› und der ‹Osten›

mit kommunitaristischer Orientierung die Pflichten gegenüber der

Gemeinschaft betone. Deshalb seien die im ‹Abendland›

entstandenen Menschenrechte für nicht-westliche Kulturen nicht

geeignet. Diese kulturrelativistische These missversteht

(i) die Entwicklung der Menschenrechte im Westen und verwechselt

(ii) die abendländische Genesis der Menschenrechte mit der Geltung

der positivierten Menschenrechte, die darauf beruht, dass sie

zwischen Staaten – nicht ohne Einfluss der Zivilgesellschaften –

ausgehandelt wurden und de facto als internationales Recht

universalisiert sind;

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(iii) spielt die (Selbst-)Kritik der Menschenrechte als ‹westlich›, die mit «einer kulturalistischen Reduzierung der menschenrechtlichen Missstände in den nicht-westlichen Regionen auf deren kulturelle Ursprünge und mit einem damit verbundenen zynisch-resignativen Lob der Differenzen» verbunden ist, «den jeweils herrschenden Machteliten» in die Hände, die den ihrer Herrschaft Unterworfenen die Menschenrechte vorenthalten. Die durch Universalität und Offenheit für Entwicklung gekennzeichneten Menschenrechte sind zwar im Westen entstanden, aber sie sind längst nicht mehr ‹westlich›; sie haben sich als zur Implementierung in andere Kulturen geeignet bewährt.

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Das Universalitätsproblem hat zwei Dimensionen:(i) Universalität der Normadressaten: Der Kreis der Norm- und Sanktionsadressaten darf nicht auf

Institutionen, und auf ‹Offizielle›, auf ‹Funktionsträger› und ‹autorisierte› Personen eingeschränkt werden. Dass sie als juridische Normen Drittwirkung haben, d.h. ihre Schutzwirkung nicht nur im Verhältnis zwischen Bürger und Staat, sondern auch im Verhältnis zwischen Bürger und Bürger entfalten, und unmittelbar Pflichten für ‹Private› begründen, liegt in der ‹Logik› der Universalität der Menschenrechte: Ihre «universelle und wirksame Anerkennung und Einhaltung» (EMRK, Präambel) kann nicht nur für staatliche Institutionen gelten; Bestimmungen wie z.B. das Folterverbot können nicht nur für Personen gelten, die ‹auf Befehl› foltern, sondern betreffen die moralische und juridische Verantwortlichkeit des ‹privaten Individuums›, das foltert. Wenn gem. EMRK Art. 7 (2) die ‹nullum crimen, nulla poena sine lege›-Norm eingeschränkt wird, dann sind nicht nur ‹Offizielle›, sondern auch ‹Private› Adressaten der Menschenrechtsnormen und Sanktionsadressaten des internationalen und nationalen Strafrechts.

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(ii) Transkulturelle Universalität: Die Geltung der jus cogens-Normen und der positivierten

Menschenrechte ist un-bedingt und lässt keine Relativierung im Namen der Eigenrechte von Kulturen zu.

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Arabisch-islamische MenschenrechtserklärungenInsbesondere bei arabisch-islamischen Menschenrechtserklärungen sind Verletzungen der rechtlichen Universalität der Menschenrechte festzustellen. Sie gründen in konservativen, in den betreffenden Ländern keineswegs allgemein geteilten Islam-Interpretationen, in denen sich politische Interessen autoritärer Staaten ausdrücken, und sie sind in sich widersprüchlich. Während alle anderen regionalen Menschenrechtsinstrumente religiös und weltanschaulich neutral und kulturenübergreifend konzipiert sind, gilt dies für die islamisch-arabischen Menschenrechtserklärungen nicht; sie grenzen sich von den universellen Rechtsnormen ab. Das Motiv: Israel steht für „Rassismus und Zionismus“. Die These: Die islamischen Menschenrechten seien eine verbindliche Rechtsordnung, während die universellen Menschenrechte nur den Status moralischer Empfehlungen hätten. Seit der 1981 verkündeten, im nicht-staatlichen Rahmen des Islamischen Rates und in Verbindung mit der konservativen Muslim World League ausgearbeiteten und rechtlich unverbindlichen „Universellen Islamischen Deklaration der Menschenrechte“ werden zwei auch innerhalb der arabischen Welt umstrittene Ziele verfolgt; es soll erklärt werden, dass die Menschenrechte integraler Bestandteil der Scharia seien und der Koran nicht im Widerspruch zur universellen Menschenrechtskonzeption stehe.

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Die 1990 von der „Organisation der Islamischen Konferenz“ in Kairo angenommene zwischenstaatliche, völkerrechtlich nicht bindende „Islamische Menschenrechtsdeklaration“ („Art. 24: Alle in der Deklaration festgesetzten Rechte und Freiheiten sind der Scharia unterworfen“) und die wegen ihrer religiös-traditionalistischen Tendenz auch von arabischen Staaten kritisierte „Arabische Menschenrechtscharta“ von 1994 verfolgen eine anti-universalistische Tendenz. Die von der Arabischen Liga 2004 revidierte und 2008 völkerrechtlich in Kraft getretene Fassung weicht zwar insofern hiervon ab, als in der Präambel die Grundsätze der VN und der „Allgemeinen Erklärung“ verbal bestätigt und in Art. 43 Rechte und Freiheiten, auch von Frauen, Kindern und Minderheitsangehörigen, gemäß den internationalen Menschenrechtsinstrumenten geschützt werden; sie beruft sich aber auf die Kairoer Erklärung von 1990 und stellt so eine Quadratur des Kreises dar. Sie wurde nur von 7 der 22 – in der Regel nicht demokratisch legitimierten – Staaten der arabischen Liga ratifiziert. Ein Menschenrechtskomitee ist in Art 45 ff. vorgesehen, nicht aber die Möglichkeit der Individualklage. Einen arabischen Menschenrechtsgerichtshof gibt es nicht.

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Kairoer Erklärung über Menschenrechte im Islamder Mitgliedsstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz (1990)

1981 fasste der iranische Vertreter bei den UN die iranische Position zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zusammen: Sie sei „eine säkulare Interpretation der judäo-christlichen Tradition, die von Muslimen nicht ohne Bruch des islamischen Rechts befolgt werden könne“. In der Erklärung vom 5. 8. 1990 heißt es in Art. 24: «Alle in der Deklaration festgesetzten Rechte und Freiheiten sind der Scharia unterworfen.» Art. 25 bestimmt: „Die islamische Scharia ist der einzige Bezugspunkt für die Erklärung oder Erläuterung eines jeden Artikels in dieser Erklärung.» Die Folgen, die sich hieraus für die Universalität des positivierten Menschenrechterechts, vor allem für die Rechte der Frauen, ergeben, sind Gegenstand vehementer Debatten. Ein interkultureller Vergleich mit laizistischen Verfassungen und allgemeinen Erklärungen und Pakten der Menschenrechte führt zu dem Ergebnis, dass die arabischen Erklärungen sich bei der Interpretation der Menschenrechte metaphysischer, religiöser und ideologischer Kategorien bedienen.

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Kulturrelativismus und Menschenrechte

Der faktische Pluralismus der Voraussetzungen, Kontexte und Begründungen führt – dies zeigt die Praxis – bei kulturrelativistischer Interpretation und Implementierung zu einer Schwächung der rechtlich universalisierten Menschenrechtsnormen.

Kulturrelativismus ist im internationalen Menschenrechte-Recht nicht vertretbar.

Aus dem Kulturen- und Einstellungspluralismus sowie aus der Kontextualität der Menschenrechte folgt kein Rechtsrelativismus.

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Der interkulturelle Vergleich zeigt, dass sich die Menschenrechte in dem Maße in ihrer transkulturellen und nicht etwa ‹westlichen› Universalität normativ bewähren, wie regionale Menschenrechtserklärungen und nationale bzw. transnationale Verfassungen das international ausgehandelte Recht der Menschenrechte auf dem Niveau der ‹Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte› und der ihnen folgenden Pakte und Konventionen implementieren. Dass die normative Bewährung nicht ‹automatisch› eine Bewährung in der Praxis bedeutet und Menschenrechte faktisch verletzt werden, mindert die Geltung der Menschenrechtsnormen nicht.

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Aus der Tatsache der Menschenrechtsverletzungen folgt die Notwendigkeit des Engagements für Verhältnisse, in denen – frei von Armut, Furcht und Not – «jeder seine wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sowie seine politischen und Bürgerrechte genießen kann».

Derartige Verhältnisse setzen (i) den Staat als demokratischen, menschenrechtlich verfassten

Rechts- und Sozialstaat voraus, (ii) die Beherrschung nichtstaatlicher Gewalt durch das Recht und (iii) verwirklichte transnationale Gerechtigkeit.

In diesem Kontext bleibt auch der interkulturelle Diskurs über die Aushandlung des mit Kulturen Verträglichen eine ständige Aufgabe: Das Ziel ist die Stärkung und weitere Entwicklung transkulturell anerkannter Prinzipien und Normen, die Verteidigung der Menschenrechte gegen Verletzungen – wo auch immer.