2013-04-03 christoph butterwegge zehn jahre agenda 2010 sz

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  • 7/27/2019 2013-04-03 Christoph Butterwegge Zehn Jahre Agenda 2010 SZ

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    Politik

    3. April 2013 13:58 Zehn J ahre Agenda 2010

    Auf dem Weg nach untenEin Gastbeitrag von Christoph Butterwegge

    Hartz IV brachte die Armut in die Mitte der Gesellschaft und vertiefte die

    Spaltung zwischen Arm und Reich. Die Agenda 2010 hat letztlich nur gezeigt,

    wie schnell es fr Menschen abwrts gehen kann - auch wenn s ie zum

    Jubi lum wochenlang gefeiert wurde.

    J ubilen sind dafr berchtigt, dass die Gratulanten es mit der Wahrheit nicht immerso genau nehmen. Schlielich gilt es, den J ubilar mit Komplimenten zu berhufenund ihn angesichts seiner Hochleistungen glnzen zu lassen. So war es auch vordrei Wochen, als sich Gerhard Schrders unter dem Titel "Agenda 2010" bekanntgewordene Regierungserklrung zum zehnten Mal jhrte.

    Angesichts der von smtlichen Agenda-Befrwortern hervorgehobenenTriumphmeldungen auf wirtschaftlichem Gebiet ist die Legende fast schon zumGemeinplatz geworden, Schrders Reform sei die Mutter der heutigen Erfolge der

    Bundesrepublik auf dem Weltmarkt. Dabei hatte Deutschland, als Schrder seineAgenda-Rede hielt, die USA bereits als Exportweltmeister abgelst. Erst imKrisenjahr 2009 fiel es hinter China wieder auf den zweiten Platz zurck. "Europaskranker Mann", wie vielfach behauptet, war die Volkswirtschaft der Bundesrepublikjedenfalls nie, sondern immer die strkste des Kontinents.

    Zwar ist die Zahl der Erwerbsttigen gestiegen und die der registrierten Arbeitslosenzurckgegangen, seit das Reformprogramm wirksam wurde. Das war allerdingshauptschlich der anziehenden Weltkonjunktur zu verdanken. Auerdem wurdenStellen aufgespalten, weshalb das Arbeitsvolumen gar nicht zunahm, und mehrFrauen kehrten als Teilzeitkrfte in den Beruf zurck.

    Selbst wenn die im Vergleich zu anderen europischen Volkswirtschaften grereKrisenresistenz der Bundesrepublik tatschlich auf die Agenda-Politik zurckginge:Der Preis wre zu hoch, den das Land und vor allem seine unterprivilegiertenBewohner dafr zahlen mssen. Besonders fr die Bezieher niedriger Einkommensind die Reallhne gesunken. Unter dem Trend zur Prekarisierung von Arbeits- und

    Lebensbedingungen leidet die Qualitt der J obverhltnisse: Millionen Menschenhaben kein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhltnis, das ihnen Schutz vor

    p://www.sueddeutsche.de/politik/2.220/zehn-jahre-agenda-auf-dem-weg-nach-unten-1.1638856

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    elementaren Lebensrisiken bieten wrde. Sofern dieser gegeben ist, leisten sievielfach nur Leiharbeit oder befinden sich in (Zwangs-)Teilzeit.

    Drohkulisse und Disziplinierungsinstrument

    Neben der Agenda 2010 ist Hartz IV die Chiffre fr den tiefsten Einschnitt in das

    deutsche Sozialmodell seit 1945. Dass die Gesamtzahl derTransferleistungsempfnger zuletzt ebenso abgenommen hat wie die relative Hheder Zahlbetrge, liegt nicht etwa an einem Rckgang der Armut beziehungsweiseder materiellen Bedrftigkeit, sondern primr an den durch die Agenda-Reformendrastisch verschrften Voraussetzungen, Kontrollen und Repressalien der J obcenterund Sozialmter. Sowohl die Agenda 2010 als auch Hartz IV als ihr Herzstckfungierten als Drohkulisse und Disziplinierungsinstrument.

    Unterschlagen werden meist die psychosozialen, gesundheitlichen und

    soziokulturellen Folgen der Reformagenda. Es verletzte dasGerechtigkeitsempfinden der Mehrheit, dass jahrzehntelang ttige Arbeitnehmernach einer kurzen Schonfrist auf das Frsorgeniveau von Menschen herabgedrcktwurden, die noch nie gearbeitet haben.

    Die hierfr von Gerhard Schrder gegebene Begrndung, die "Zusammenlegung"von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (auf dem Niveau der letzteren) solle Arbeitswilligevon den Arbeitsscheuen trennen, musste ihnen als Hohn erscheinen. Denn nicht

    blo fehlten damals die erforderlichen Stellen. Mit der Abschaffung derArbeitslosenhilfe wurde auch das fr den Wohlfahrtsstaat bis dahin konstitutivePrinzip der Sicherung des Lebensstandards auer Kraft gesetzt.

    Das als Ersatz eingefhrte Arbeitslosengeld II orientiert sich nicht mehr am frherenNettoverdienst eines Langzeitarbeitslosen. Es lsst vielmehr selbst Angehrige derMittelschicht wie Facharbeiter und Ingenieure, wenn sie nicht bald wieder eine neueStelle finden, nach einer kurzen Schonfrist auf das Sozialhilfe-Niveau abstrzen.Aus der Sozialhilfe wurde auch das fr Hartz IV typische Konstrukt der

    "Bedarfsgemeinschaft" entlehnt. Dieses ermglichte es, Einkommen und Vermgenvon Personen, die mit dem Antragsteller weder verwandt noch ihm zum Unterhaltverpflichtet sind, aber mit ihm in einer Wohnung leben, bei der Prfung vonBedrftigkeit anzurechnen.

    Das rigidere Arbeitsmarktregime erhht auch den Druck auf Belegschaften,Betriebsrte und Gewerkschaften, niedrigere Lhne und schlechtereArbeitsbedingungen zu akzeptieren. So ist es zu einem Haupteinfallstor fr Erwerbs-

    und die ihr zwangslufig folgende Altersarmut geworden. Armut, in derBundesrepublik lange Zeit eher ein Randgruppenphnomen, drang durch Hartz IVzur gesellschaftlichen Mitte vor.

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    Ein Fahrstuhleffekt, bei dem alle Gesellschaftsschichten gemeinsam nach obenfahren, blieb aus. Stattdessen gibt es einen Paternostereffekt: Whrend die einennach oben fahren, fahren die anderen zur selben Zeit nach unten. Letztlich hat dasReformprogramm die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich vertieft. Dennniedrige Lhne ermglichten hohe Gewinne. Auerdem entlastete die Steuerreform,

    die Bestandteil der Agenda 2010 war und in ihrer verteilungspolitischen Bedeutungoft unterschtzt wird, vornehmlich Kapitaleigentmer und Spitzenverdiener.

    Leistung und Konkurrenz im Mittelpunkt

    Neben schmerzhaften materiellen Einschnitten fr Millionen Menschen brachte dieAgenda-Politik auch schwere mentale Wandlungsprozesse mit sich. Sieverschlechterte das soziale Klima und beeintrchtigte die politische Kultur derBundesrepublik. Erwerbslose, Arme und ethnische Minderheiten stoen auf nochgrere Ressentiments, wohingegen Markt, Leistung und Konkurrenz zentraleBezugspunkte der Gesellschaftsentwicklung geworden sind.

    Heute findet die Maxime "Wenn jeder fr sich selbst sorgt, ist fr alle gesorgt"erheblich mehr Widerhall als zu einer Zeit, da man die SPD noch fr dieInteressenvertreterin der kleinen Leute hielt. berhaupt ist die Distanz zwischenRegierenden und Regierten erheblich gewachsen, weil von den Reformenunmittelbar Betroffene nicht ohne Grund befrchten, mit ihren Interessen undBedrfnissen im Parlament nicht (mehr) vertreten zu sein. Dies kann, wenn dem

    nicht politisch begegnet wird, zu einer Krise der Demokratie fhren.

    Das Ziel der Agenda 2010, Deutschlands konomische und politischeVormachtstellung in Europa zu sichern, wurde erreicht. Umso leichter msste es derBundesrepublik fallen, mehr als bisher fr die Verlierer der Reformpolitik zu tun.Statt nach einer Agenda 2020 zu rufen, wie es viele Gratulanten taten, sollte mandaher den sozialen Ausgleich und Zusammenhalt ins Zentrum allerBemhungen rcken.

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    Quelle: SZ vom 03.04.2013/vks

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