211-131 · wenn man der home- page eines ... namen wie chet baker und michel petrucciani...

1
^riir^ünfirr drilling LEBENSART 211-131 Samstag/Sonntag, 1 1 ./ 1 2. September 1 999 Nr. 2 1 1 131 Synonym filr Chilbi und Kindheit: rosarote Zuckerwatte. (Bild key) Wer sich die Finger leckt, ist selber schuld Zuckerwatte - besser nicht mit den Fingern anschauen Sie ist süss und klebrig, verschmiert Mund und Hände, und mancher Erwachsene hat seine letzte vor Jahrzehnten gegessen. An die erste Zucker- watte erinnert man sich aber noch ganz genau. An den Stolz, den man hatte, das menschenkopfgros- se, luftige Gebilde vor sich herzutragen, immer darauf bedacht, sie nirgendwo anzustossen, damit kein Zentimeter der Herrlichkeit verlorenging. Am besten weiss man aber noch, wie es sich an- fühlte, kleine Wattebäuschchen wegzuzupfen oder direkt in die rosa Pracht hineinzubeissen: Kaum hatte man sie im Mund, war das ganze Volumen dahin. Es gab nicht mehr viel zu kauen, es knirschte etwas zwischen den Zähnen, aber es schmeckte trotzdem wunderbar. Am Schluss knabberte man selig die schon dunkelrosa ver- färbten, hart gewordenen Reste vom Stengel. In unserer Kultur ist Zuckerwatte zu einem Synonym für Chilbi und Kindheitserinnerungen geworden. Kaum eine Jahrmarktberichterstattung kommt aus ohne die Erwähnung der Zuckerwatte, die meistens in Kombination mit gebrannten Mandeln genannt wird und auch oft als Kontrast zur Bratwurst herhalten muss. Mit Zuckerwatte werden gelegentlich allzu süsse Parfums vergli- chen, im weiteren steht sie für Kitsch und Über- treibung, beispielsweise in Film- oder Konzert- kritiken. Die Australier assoziieren etwas ganz anderes mit Zuckerwatte, nämlich den Winter: Sie setzen die Zuckerwatte mit Vorliebe als künstlichen Schnee ein, um ihre Weihnachtsdekorationen bei 40 Grad Celsius im Schatten etwas stimmungs- voller zu gestalten. Der englische Ausdruck Cotton Candy verweist auf die baumwollartige Konsistenz, die Italiener reden von Zucchero filato (gesponnenem Zucker) und die Franzosen von Barbe ä papa (Papas Bart). Als aus Zucker bestehende Süssigkeit von der Form einer Art feinen Gespinstes, das wie Watte aussieht, be- schreibt die Brockhaus-Enzyklopädie den Kin- dertraum. Das «Schweizer Illustrierte Handbuch der Konditorei» aus dem Jahr 1963 spricht in der Fachsprache von gesponnenem Zucker und erklärt, dass dieser als Füllstoff in Zucker- körbchen oder zur Dekoration von Eisplatten und dergleichen verwendet wird. Zuckerwatte ist weder industriell herstellbar noch lagerfähig, deshalb kann man sie auch nicht beim Grossver- teiler kaufen. Jedes Kind kann zuschauen, wie seine ganz persönliche Zuckerwatte von Hand hergestellt wird. Dabei rätselt wohl das eine oder andere, wie die geheimnisvollen hauchdünnen Fäden entste- hen. Scheinbar von Zauberhand bildet sich ein feines Wattegespinst um den Innenrand der Trommel, nachdem der Zuckerwattenmann ein Krüglein Zucker in die Zentrifuge geschüttet hat. Das Herzstück der Zuckerwattenmaschine ist eine Weine Zentrifuge, die sich mit zirka 7000 Touren pro Minute dreht. Ein Blech, das den äusseren Rand des Zylinders bildet, ist mit haarfeinen Löchern versehen und wird elektrisch bis auf fast 200 Grad Celsius erhitzt. Die eingefüllten Zucker- körner drückt es durch die Zentrifugalkraft gegen das Blech. Der durch die Hitze verflüssigte Zuk- ker wird in Form von hauchdünnen Fäden durch die winzigen Löcher nach aussen geschleudert, wo er sich gleich einem feinen Spinnennetz an den Wänden festsetzt. Dort blieben die Zuckerfä- den hängen und füllten mit der Zeit die ganze Trommel, würde man sie nicht zusammendrehen. Theo Suremann, einer der wenigen Marktfah- renden in der Schweiz, der ausschliesslich Zucker- watte verkauft, erklärt, wie eine fachgerechte Zuckerwatte gedreht und gewickelt wird. Es sei wichtig, den Arm in Gegenrichtung zur Zentrifuge über der Maschine kreisen zu lassen. Die kleine Fingerdrehung, welche die Watte auf den Stengel wickelt, erfolgt wieder in der Gegenrichtung dazu. Man müsse achtgeben, den Holzstengel nicht zu hoch, nicht zu tief und möglichst nicht an den Rotor zu halten, weil sonst die schon aufgedrehte Watte durch die Hitze verhärtet. Das federleichte Produkt leidet auch unter feuchter Witterung, dann wird die Zuckerwatte schwerer, und es fällt mehr Zuckerabfall an, den man von Zeit zu Zeit vom Rand kratzen muss. Wann die Zuckerwatte erfunden wurde, ist schwierig zu ergründen. Wenn man der Home- page eines Zuckerwattenherstellers aus Atlanta glauben darf, wurde die Zuckerwatte von einem Zahnarzt erfunden und auf einer Weltausstellung im Jahre 1830 dem amerikanischen Publikum vorgestellt. Andere Quellen berichten, dass sie erstmals im letzten Jahrhundert in Italien auf- tauchte. Der heute 77jährige Theo Suremann er- innert sich, dass er als Fünfjähriger schon Zucker- watte gegessen hatte, die er allerdings nicht ge- niessen konnte, weil sie vom Geschmack des Petrols durchtränkt war, mit dem die Zentrifuge damals angetrieben wurde. Die Zuckerwatte, die alljährlich an Schweizer Jahrmärkten und Festen verkauft wird, besteht aus nichts anderem als gewöhnlichem Frauen- felder Griesszucker mit ein wenig Lebensmittel- farbe. Die rosa Farbe schmeckt weder nach Him- beeren noch nach Kaugummi, wie man anneh- men könnte. Die klassische Zuckerwatte, die hier- zulande erhältlich ist, schmeckt einfach nach Zuk- ker, der jedoch süsser scheint als die unpräparier- ten Zuckerkörner, weil er gebrannt wird. In den USA hingegen werden die Kindergaumen mit Ge- schmacksrichtungen wie Apfel, Kirschen, Melo- nen oder Trauben verwöhnt. Suremann, der seit 49 Jahren von Chilbi zu Chilbi zieht und auch viele Erwachsene (im speziellen Männer) zu sei- nen Kunden zählt, hat vor Jahren einmal mit Mentholgeschmack in der Zuckerwatte experi- mentiert. Diese fand jedoch keinen grossen An- klang. Die Leute in unseren Breitengraden lieben die Zuckerwatte eben so, wie sie sie kennen: rosa, süss und klebrig. Ein Vorurteil widerlegt Theo Suremann jedoch. Eine Zuckerwatte an sich sei nicht klebrig, die Hände würden erst dann zu kle- ben beginnen, wenn man sich die Finger ablecke. Susanne Wagner Gesten des Alltags Hupen und klingeln eh. Ist einem Autofahrer unbehaglich zumute oder passiert etwas vor seinen Augen, das ihn auf- regt oder sogar ärgert, so hupt er. In New York City wird dieser Geste oft gewählt, um im rau- schenden Verkehr die eigenen Interessen durch- zusetzen. Würde man an einem Vormittag auf den Hauptachsen der Stadt alle hervorgebrachten Hupsignale auf Tonband aufzeichnen, dann einem leistungsstarken Rechner eingeben und an- einandergereiht wieder neu abspielen, ergäbe dies ein wahnwitzig langes New Yorker Hupkonzert. In Zürich, Genf, Basel, St. Gallen oder Chur wird nicht so viel gehupt. Nu r wenn an einer Kreuzung der Vordermann nach fünf Sekunden nicht bemerkt hat, dass die Ampel längst von Rot via Gelb auf Grün gewechselt hat, drückt man kurz auf die Hupe. Man vollführt diesen Geste mit Bedacht. Selten wird massiv und lange gehupt. Variation in europäischen Grossstädten wie München, Paris oder Mailand: Die Auto- mobilisten betätigen in diesem Moment zusätz- lich die sogenannte Lichthupe. Bemerkt handkehrum ein entgegenkommender Fahrzeughalter die Lichthupe des anderen, kann ihn dies verwirren. Jetzt steht nämlich die Frage im Raum: Wartet etwa irgendwo die Polizei auf mögliche Verkehrssünder, wovor mich der andere warnen will . . .? Das Aufblendlicht kommt über- dies gern zur Anwendung, um einem im Kosmos der Ereignisse aufgetauchten Spaziergänger zu bedeuten, dass er jetzt in Ruhe die Strasse über- queren kann, auch dort, wo kein Zebrastreifen seine Schritte lenkt. Der Passant dankt dem ver- ständigen PW-Fahrer. Apropos Lichthupe: Eine Unverschämtheit liegt vor, wenn auf Autobahnen der Hintermann nicht nur dicht auffährt, sondern auch noch in schneller Abfolge die Lichthupe betätigt. Diese Art der Kommunikation hat leider überall in Europa Eingang gefunden. Einen drängelnden Raser im Rücken möchte man gern disziplinieren. Aber das ist schwierig, fährt man selbst doch immerhin hundert Kilometer pro Stunde. Was tun? Eine Vollbremsung als Reaktion wäre jetzt der falsche Geste - aber man phantasiert es doch oft. Soll man ausnahmsweise den Vogel zeigen, in der Annahme, der Hintermann sieht's? Derartige Auswüchse von Erregung und Wut kennt ein Tramchauffeur in Zürich, Basel, Bern nicht. Aber auch er sucht sich natürlich in schwie- rigen Momenten zur Wehr zu setzen. Vorab steht dieser Berufsgruppe das Betätigen der Klingel zur Verfügung. Der Grad seines Protestes ist daran abzulesen, wie lange dieser Ton anhält. Bei einer Zeitdauer von mehr als fünf Sekunden darf ein schweres Vergehen anderer Verkehrsteilnehmer vermutet werden. Etwa jenes leider häufige Ver- gehen von Passanten, unmittelbar vor dem ein- fahrenden Tram die Schienen zu queren. Eine sehr spezielle Klingel ist die Wohnungs- und Haustürklingel. Sie dient dazu, einen Besuch anzukündigen. Da begehrt ein anderer Einlass, möchte etwa zum Geburtstag einen Blumen- strauss überreichen, den Briefkastenschlüssel we- gen Abwesenheit deponieren oder vor Umbau der Küche einen Augenschein nehmen vom Verlauf diverser Rohre. In aller Regel hat sich dieser Be- such vora b angekündigt. Nun muss festgehalten werden, dass diese Klingel von den Wohnungs- mietern oder Hausbewohnern bei unangemelde- tem Besuch oft als Warnsignal verstanden wird. Sie schrecken zusammen und fragen sich: Wer läutet da an meiner Tür? Wer mag es sein, der Einlass begehrt? Normalerweise wird ja nicht ein- fach spontan geläutet. Dass da jemand klingelt, um zu schauen, wie es denn heute bei Regen oder starker Hitze so geht, erwartet schon praktisch niemand. So aber verkommt langsam auch die gute alte Wohnungs- und Haustürklingel zu einem - wie schon beim Tramchauffeur - Alarm- knopf Kellergeflüster Weine, die swingen Die Entdeckungsreise zu den Gewächsen der Domaine de la Comtesse Eidegarde begann ganz zufällig an der Tafel des phänomenalen Restau- rants Chäteauvieux in Satigny. Nachdem er uns den Rouget poole sur chanterelles serviert hatt e und wir auf die Caille dodue au four warteten, orderte Sommelier Thierry Jeantet bei seinem be- freundeten Winzer Nicolas Bonnet telefonisch den 97er Cabernet franc - ein Fassmuster. Was der quirlige Jurassier vom Boten in Empfang nahm und ins Glas schenkte, verblüffte die Tisch- runde: dunkelfarbig wie Tinte, würzig wie Tabak und fruchtig wie reife, sonnenwarme Brom- beeren. Über die Zunge rollte eine gewaltige Ge- schmacksfülle, konzentriert und doch voller Finessen. Am nächsten Tag schon versuchten wir, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Wer Nicolas Bonnet im Innenhof der Domaine de la Comtesse Eidegarde begegnet, meint, einen Uhrmacher, Erfinder oder Trödler vor sich zu haben. Der Mittvierziger trägt einen handgestrick- ten Wollpullover, in seinem Mundwinkel steckt eine Tabakspfeife. Den Weg in die Keller weist der Swing von Oscar Peterson. Nicolas Bonnet liebt den Jazz wie den Wein: Die Gärtanks hat er seinen Lieblingmusikern gewidmet und sie mit Namen wie Chet Baker und Michel Petrucciani beschriftet. Im winzigen Lagerkeller stapeln sich die Barriques. So eigenwillig die Anordnung, so schillernd die Gewächse. Seit fünf Jahren vinifi- ziert Nicolas Bonnet in seinem Refugium einen kleinen Teil seiner Ernte: Preziosen. Was auf den restlichen 17 Hektaren anfällt, liefert er über die Strasse an die Cave de Geneve. Daneben bewirt- schaftet er stattliche Getreideflächen. Die paar Tausend Flaschen Weiss- und Rot- wein, die jährlich den Keller der Domaine de la Comtesse Eidegarde verlassen, teilt eine ver- schworene Kennerschaft unter sich auf. Die sortenreinen Gewächse (Sauvignon, Chardonnay, Gamaret, Pinot noir, Merlot und Cabernet franc) werden in Barriques ausgebaut. Sie haben dazu genügend Statur und gewinnen über die entspre- chende Vinifikation an Länge und Langlebigkeit. Der Sauvignon blanc zeigt sich in der Jugend noch verschlossen. Seine Konzentration, sein Nerv deutet allerdings auf eine vielversprechende Entwicklung hin. Weine, wie sie Nicolas Bonnet keltert, gewinnen durch das Dekantieren ein Viel- Die Weine von Meolas Bonnet Bezugsquelle und Informationen: Domaine d e la Comtesse Eidegarde, Nicolas Bonnet, Chemin du Bomalet 17, 1242 Satigny, Tel. (022) 7S3 06 65, Fax (022) 753 19 03. Weissweine: Sauvignon (Fr. 14.-), Chardonnay (Fr. 13.50). Rotweine: Pinot noir (Fr. 13.50), Ga- maret (Fr. 14.-), Cabernet Franc (Fr. 14.50), Mer- lot (Fr. 14.50). Alle Weine Jahrgang 1998 und in 75-cl-Flaschen. Der Betrieb kann auf Voranmel- dung besucht werden. faches an Ausdruck. Der Gamaret findet in Genf unter den Winzern viel Zuspruch. Wer das Poten- tial so wie Bonnet auszureizen vermag, gewinnt einen tieffarbenen Wein, warm und anmutig, immer aber auch ein bisschen rustikal und anima- lisch. Der erste Schluck ist der beste, die Komple- xität im Mittelteil und im Nachhall fehlen noch. Bonnets Top shot ist aber zweifellos sein Cabernet franc. Da ist alles drin: reife Würze, Saft, kühle Noblesse, konzentrierte Frucht und Fülle im Finale. Schade, dass er nur einen Bruch- teil seiner Ernte selber keltert. Die gegenwärtige Jahresproduktion von rund 12 000 Flaschen geht weg wie warme Semmeln, und es braucht schon etwas Glück, um in den äusserst preiswerten Ge- nuss dieser Genfer Spitzengewächse zu kommen. Der Produktionssteigerung steht im Weg, dass Bonnet nicht nur den guten Wein, sondern auch den Jazz und seine Tabakpfeife mag. Stefan Keller Illustration Nanabozo Verantwortlich Tür diese Beilage: Nicole-CecUe Weber Neue Zürcher Zeitung vom 11.09.1999

Upload: phamkhuong

Post on 04-Aug-2018

217 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

^riir^ünfirr drilling LEBENSART 211-131Samstag/Sonntag,1 1 ./ 1 2. September

1 999 Nr. 2 1 1 131

Synonym filr Chilbi und Kindheit: rosarote Zuckerwatte. (Bild key)

Wer sich die Finger leckt, ist selber schuldZuckerwatte - besser nicht mit den Fingern anschauen

Sie ist süss und klebrig, verschmiert Mund undHände, und mancher Erwachsene hat seine letztevor Jahrzehnten gegessen. An die erste Zucker-watte erinnert man sich aber noch ganz genau. Anden Stolz, den man hatte, das menschenkopfgros-se, luftige Gebilde vor sich herzutragen, immerdarauf bedacht, sie nirgendwo anzustossen, damitkein Zentimeter der Herrlichkeit verlorenging.

Am besten weiss man aber noch, wie es sich an-fühlte, kleine Wattebäuschchen wegzuzupfen oderdirekt in die rosa Pracht hineinzubeissen: Kaumhatte man sie im Mund, war das ganze Volumendahin. Es gab nicht mehr viel zu kauen, esknirschte etwas zwischen den Zähnen, aber esschmeckte trotzdem wunderbar. Am Schlussknabberte man selig die schon dunkelrosa ver-färbten, hart gewordenen Reste vom Stengel.

In unserer Kultur ist Zuckerwatte zu einemSynonym für Chilbi und Kindheitserinnerungengeworden. Kaum eine Jahrmarktberichterstattung

kommt aus ohne die Erwähnung der Zuckerwatte,die meistens in Kombination mit gebrannten

Mandeln genannt wird und auch oft als Kontrastzur Bratwurst herhalten muss. Mit Zuckerwattewerden gelegentlich allzu süsse Parfums vergli-chen, im weiteren steht sie für Kitsch und Über-treibung, beispielsweise in Film- oder Konzert-kritiken.

Die Australier assoziieren etwas ganz anderesmit Zuckerwatte, nämlich den Winter: Sie setzendie Zuckerwatte mit Vorliebe als künstlichenSchnee ein, um ihre Weihnachtsdekorationen bei40 Grad Celsius im Schatten etwas stimmungs-

voller zu gestalten. Der englische AusdruckCotton Candy verweist auf die baumwollartigeKonsistenz, die Italiener reden von Zuccherofilato (gesponnenem Zucker) und die Franzosenvon Barbe ä papa (Papas Bart). Als aus Zuckerbestehende Süssigkeit von der Form einer Artfeinen Gespinstes, das wie Watte aussieht, be-schreibt die Brockhaus-Enzyklopädie den Kin-dertraum. Das «Schweizer Illustrierte Handbuchder Konditorei» aus dem Jahr 1963 spricht in derFachsprache von gesponnenem Zucker underklärt, dass dieser als Füllstoff in Zucker-körbchen oder zur Dekoration von Eisplatten unddergleichen verwendet wird. Zuckerwatte istweder industriell herstellbar noch lagerfähig,

deshalb kann man sie auch nicht beim Grossver-teiler kaufen.

Jedes Kind kann zuschauen, wie seine ganzpersönliche Zuckerwatte von Hand hergestellt

wird. Dabei rätselt wohl das eine oder andere, wiedie geheimnisvollen hauchdünnen Fäden entste-hen. Scheinbar von Zauberhand bildet sich einfeines Wattegespinst um den Innenrand derTrommel, nachdem der Zuckerwattenmann einKrüglein Zucker in die Zentrifuge geschüttet hat.Das Herzstück der Zuckerwattenmaschine ist eineWeine Zentrifuge, die sich mit zirka 7000 Tourenpro Minute dreht. Ein Blech, das den äusserenRand des Zylinders bildet, ist mit haarfeinenLöchern versehen und wird elektrisch bis auf fast200 Grad Celsius erhitzt. Die eingefüllten Zucker-körner drückt es durch die Zentrifugalkraft gegendas Blech. Der durch die Hitze verflüssigte Zuk-ker wird in Form von hauchdünnen Fäden durchdie winzigen Löcher nach aussen geschleudert,

wo er sich gleich einem feinen Spinnennetz anden Wänden festsetzt. Dort blieben die Zuckerfä-den hängen und füllten mit der Zeit die ganzeTrommel, würde man sie nicht zusammendrehen.

Theo Suremann, einer der wenigen Marktfah-renden in der Schweiz, der ausschliesslich Zucker-

watte verkauft, erklärt, wie eine fachgerechte

Zuckerwatte gedreht und gewickelt wird. Es seiwichtig, den Arm in Gegenrichtung zur Zentrifugeüber der Maschine kreisen zu lassen. Die kleineFingerdrehung, welche die Watte auf den Stengelwickelt, erfolgt wieder in der Gegenrichtung dazu.Man müsse achtgeben, den Holzstengel nicht zuhoch, nicht zu tief und möglichst nicht an denRotor zu halten, weil sonst die schon aufgedrehte

Watte durch die Hitze verhärtet. Das federleichteProdukt leidet auch unter feuchter Witterung,

dann wird die Zuckerwatte schwerer, und es fälltmehr Zuckerabfall an, den man von Zeit zu Zeitvom Rand kratzen muss.

Wann die Zuckerwatte erfunden wurde, istschwierig zu ergründen. Wenn man der Home-page eines Zuckerwattenherstellers aus Atlantaglauben darf, wurde die Zuckerwatte von einemZahnarzt erfunden und auf einer Weltausstellung

im Jahre 1830 dem amerikanischen Publikumvorgestellt. Andere Quellen berichten, dass sieerstmals im letzten Jahrhundert in Italien auf-tauchte. Der heute 77jährige Theo Suremann er-innert sich, dass er als Fünfjähriger schon Zucker-watte gegessen hatte, die er allerdings nicht ge-

niessen konnte, weil sie vom Geschmack des

Petrols durchtränkt war, mit dem die Zentrifugedamals angetrieben wurde.

Die Zuckerwatte, die alljährlich an SchweizerJahrmärkten und Festen verkauft wird, bestehtaus nichts anderem als gewöhnlichem Frauen-felder Griesszucker mit ein wenig Lebensmittel-farbe. Die rosa Farbe schmeckt weder nach Him-beeren noch nach Kaugummi, wie man anneh-men könnte. Die klassische Zuckerwatte, die hier-zulande erhältlich ist, schmeckt einfach nach Zuk-ker, der jedoch süsser scheint als die unpräparier-ten Zuckerkörner, weil er gebrannt wird. In denUSA hingegen werden die Kindergaumen mit Ge-schmacksrichtungen wie Apfel, Kirschen, Melo-nen oder Trauben verwöhnt. Suremann, der seit49 Jahren von Chilbi zu Chilbi zieht und auchviele Erwachsene (im speziellen Männer) zu sei-nen Kunden zählt, hat vor Jahren einmal mitMentholgeschmack in der Zuckerwatte experi-mentiert. Diese fand jedoch keinen grossen An-klang. Die Leute in unseren Breitengraden liebendie Zuckerwatte eben so, wie sie sie kennen: rosa,süss und klebrig. Ein Vorurteil widerlegt TheoSuremann jedoch. Eine Zuckerwatte an sich seinicht klebrig, die Hände würden erst dann zu kle-ben beginnen, wenn man sich die Finger ablecke.

Susanne Wagner

Gesten des Alltags

Hupen und klingelneh. Ist einem Autofahrer unbehaglich zumute

oder passiert etwas vor seinen Augen, das ihn auf-regt oder sogar ärgert, so hupt er. In New YorkCity wird dieser Geste oft gewählt, um im rau-schenden Verkehr die eigenen Interessen durch-zusetzen. Würde man an einem Vormittag auf denHauptachsen der Stadt alle hervorgebrachtenHupsignale auf Tonband aufzeichnen, danneinem leistungsstarken Rechner eingeben und an-einandergereiht wieder neu abspielen, ergäbe diesein wahnwitzig langes New Yorker Hupkonzert.

In Zürich, Genf, Basel, St. Gallen oder Churwird nicht so viel gehupt. N ur wenn an einerKreuzung der Vordermann nach fünf Sekundennicht bemerkt hat, dass die Ampel längst von Rotvia Gelb auf Grün gewechselt hat, drückt mankurz auf die Hupe. Man vollführt diesen Gestemit Bedacht. Selten wird massiv und langegehupt. Variation in europäischen Grossstädtenwie München, Paris oder Mailand: Die Auto-mobilisten betätigen in diesem Moment zusätz-lich die sogenannte Lichthupe.

Bemerkt handkehrum ein entgegenkommenderFahrzeughalter die Lichthupe des anderen, kannihn dies verwirren. Jetzt steht nämlich die Frage

im Raum: Wartet etwa irgendwo die Polizei aufmögliche Verkehrssünder, wovor mich der anderewarnen will . . .? Das Aufblendlicht kommt über-dies gern zur Anwendung, um einem im Kosmosder Ereignisse aufgetauchten Spaziergänger zubedeuten, dass er jetzt in Ruhe die Strasse über-queren kann, auch dort, wo kein Zebrastreifenseine Schritte lenkt. Der Passant dankt dem ver-ständigen PW-Fahrer.

Apropos Lichthupe: Eine Unverschämtheitliegt vor, wenn auf Autobahnen der Hintermannnicht nur dicht auffährt, sondern auch noch inschneller Abfolge die Lichthupe betätigt. DieseArt der Kommunikation hat leider überall inEuropa Eingang gefunden. Einen drängelnden

Raser im Rücken möchte man gern disziplinieren.Aber das ist schwierig, fährt man selbst dochimmerhin hundert Kilometer pro Stunde. Wastun? Eine Vollbremsung als Reaktion wäre jetztder falsche Geste - aber man phantasiert es dochoft. Soll man ausnahmsweise den Vogel zeigen, inder Annahme, der Hintermann sieht's?

Derartige Auswüchse von Erregung und Wutkennt ein Tramchauffeur in Zürich, Basel, Bernnicht. Aber auch er sucht sich natürlich in schwie-rigen Momenten zur Wehr zu setzen. Vorab stehtdieser Berufsgruppe das Betätigen der Klingel zurVerfügung. Der Grad seines Protestes ist daranabzulesen, wie lange dieser Ton anhält. Bei einerZeitdauer von mehr als fünf Sekunden darf einschweres Vergehen anderer Verkehrsteilnehmervermutet werden. Etwa jenes leider häufige Ver-gehen von Passanten, unmittelbar vor dem ein-fahrenden Tram die Schienen zu queren.

Eine sehr spezielle Klingel ist die Wohnungs-

und Haustürklingel. Sie dient dazu, einen Besuchanzukündigen. Da begehrt ein anderer Einlass,möchte etwa zum Geburtstag einen Blumen-strauss überreichen, den Briefkastenschlüssel we-gen Abwesenheit deponieren oder vor Umbau derKüche einen Augenschein nehmen vom Verlaufdiverser Rohre. In aller Regel hat sich dieser Be-such v o r ab angekündigt. Nun muss festgehaltenwerden, dass diese Klingel von den Wohnungs-

mietern oder Hausbewohnern bei unangemelde-

tem Besuch oft als Warnsignal verstanden wird.Sie schrecken zusammen und fragen sich: Werläutet da an meiner Tür? Wer mag es sein, derEinlass begehrt? Normalerweise wird ja nicht ein-fach spontan geläutet. Dass da jemand klingelt,um zu schauen, wie es denn heute bei Regen oderstarker Hitze so geht, erwartet schon praktisch

niemand. So aber verkommt langsam auch diegute alte Wohnungs- und Haustürklingel zueinem - wie schon beim Tramchauffeur - Alarm-knopf

Kellergeflüster

Weine, die swingenDie Entdeckungsreise zu den Gewächsen der

Domaine de la Comtesse Eidegarde begann ganzzufällig an der Tafel des phänomenalen Restau-rants Chäteauvieux in Satigny. Nachdem er unsden Rouget poole sur chanterelles serviert h a t teund wir auf die Caille dodue au four warteten,orderte Sommelier Thierry Jeantet bei seinem be-freundeten Winzer Nicolas Bonnet telefonischden 97er Cabernet franc - ein Fassmuster. Wasder quirlige Jurassier vom Boten in Empfang

nahm und ins Glas schenkte, verblüffte die Tisch-runde: dunkelfarbig wie Tinte, würzig wie Tabakund fruchtig wie reife, sonnenwarme Brom-beeren. Über die Zunge rollte eine gewaltige Ge-schmacksfülle, konzentriert und doch vollerFinessen. Am nächsten Tag schon versuchten wir,dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Wer Nicolas Bonnet im Innenhof der Domainede la Comtesse Eidegarde begegnet, meint, einenUhrmacher, Erfinder oder Trödler vor sich zuhaben. Der Mittvierziger trägt einen handgestrick-

ten Wollpullover, in seinem Mundwinkel steckteine Tabakspfeife. Den Weg in die Keller weistder Swing von Oscar Peterson. Nicolas Bonnetliebt den Jazz wie den Wein: Die Gärtanks hat erseinen Lieblingmusikern gewidmet und sie mitNamen wie Chet Baker und Michel Petruccianibeschriftet. Im winzigen Lagerkeller stapeln sichdie Barriques. So eigenwillig die Anordnung, soschillernd die Gewächse. Seit fünf Jahren vinifi-ziert Nicolas Bonnet in seinem Refugium einenkleinen Teil seiner Ernte: Preziosen. Was auf denrestlichen 17 Hektaren anfällt, liefert er über dieStrasse an die Cave de Geneve. Daneben bewirt-schaftet er stattliche Getreideflächen.

Die paar Tausend Flaschen Weiss- und Rot-wein, die jährlich den Keller der Domaine de laComtesse Eidegarde verlassen, teilt eine ver-schworene Kennerschaft unter sich auf. Diesortenreinen Gewächse (Sauvignon, Chardonnay,Gamaret, Pinot noir, Merlot und Cabernet franc)

werden in Barriques ausgebaut. Sie haben dazugenügend Statur und gewinnen über die entspre-chende Vinifikation an Länge und Langlebigkeit.

Der Sauvignon blanc zeigt sich in der Jugend

noch verschlossen. Seine Konzentration, seinNerv deutet allerdings auf eine vielversprechendeEntwicklung hin. Weine, wie sie Nicolas Bonnetkeltert, gewinnen durch das Dekantieren ein Viel-

Die Weine von Meolas BonnetBezugsquelle und Informationen: Domaine de

la Comtesse Eidegarde, Nicolas Bonnet, Chemindu Bomalet 17, 1242 Satigny, Tel. (022) 7S3 06 65,

Fax (022) 753 19 03.

Weissweine: Sauvignon (Fr. 14.-), Chardonnay(Fr. 13.50). Rotweine: Pinot noir (Fr. 13.50), Ga-maret (Fr. 14.-), Cabernet Franc (Fr. 14.50), Mer-lot (Fr. 14.50). Alle Weine Jahrgang 1998 und in75-cl-Flaschen. Der Betrieb kann auf Voranmel-dung besucht werden.

faches an Ausdruck. Der Gamaret findet in Genfunter den Winzern viel Zuspruch. Wer das Poten-tial so wie Bonnet auszureizen vermag, gewinnteinen tieffarbenen Wein, warm und anmutig,

immer aber auch ein bisschen rustikal und anima-lisch. Der erste Schluck ist der beste, die Komple-xität im Mittelteil und im Nachhall fehlen noch.

Bonnets Top shot ist aber zweifellos seinCabernet franc. Da ist alles drin: reife Würze,Saft, kühle Noblesse, konzentrierte Frucht undFülle im Finale. Schade, dass er nur einen Bruch-teil seiner Ernte selber keltert. Die gegenwärtigeJahresproduktion von rund 12 000 Flaschen gehtweg wie warme Semmeln, und es braucht schonetwas Glück, um in den äusserst preiswerten Ge-nuss dieser Genfer Spitzengewächse zu kommen.Der Produktionssteigerung steht im Weg, dassBonnet nicht nur den guten Wein, sondern auchden Jazz und seine Tabakpfeife mag.

Stefan Keller

Illustration Nanabozo

Verantwortlich Tür diese Beilage:

Nicole-CecUe Weber

Neue Zürcher Zeitung vom 11.09.1999