218 – engagierte stehen. schon jetzt existieren hunderte unter- - … · – 218 – engagierte...

101
– 218 – Engagierte stehen. Schon jetzt existieren Hunderte unter- schiedlicher Gruppen und Initiativen, die beweisen, dass bereits mit einem minimalen finanziellen Aufwand eine hervorragende Betreuung von hilfebedürftigen, vor allem demenzkranken Menschen möglich ist. Die weitere Ent- wicklung besonders erfolgreicher Modelle und ihre Ver- netzung mit professionellen Angeboten sind notwendig. 4.4 Umweltliche und technische Ressour- cen zur Erhaltung der selbstständigen Lebensführung Hochaltriger 4.4.1 Einleitung – Besonderheiten der Demenz Auswirkungen pathologischer kognitiver Beeinträchti- gungen, die im höheren Alter bei Demenzen aber auch als Folge neurologischer Erkrankungen (häufig nach Schlag- anfall/Apoplex) gehäuft auftreten, stellen eine besondere Herausforderung an die umweltlichen und technischen Hilfen dar. Demenzkranke leiden nicht nur unter alterstypischen Ein- schränkungen der sensorischen Wahrnehmung, der Auf- merksamkeit, der körperlichen Leistungsfähigkeit und der Feinmotorik, sondern werden durch kognitive Störun- gen in ihrer Fähigkeit erheblich beeinträchtigt, auf Erfah- rungen zurückzugreifen, eingeübte Handlungssequenzen folgerichtig durchzuführen und die Funktionen (auch sehr einfacher) technischer Geräte zu verstehen und sie zu be- dienen. Die räumliche Wahrnehmung mit Einschätzung der Entfernung, der Bewegungsrichtung, der Perspektive und der drei Dimensionen wird zunehmend eingeschränkt. Die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung selektiver und geteil- ter Aufmerksamkeit, notwendig zum Erkennen potenziel- ler Gefahrenquellen und zum richtigen Handeln in kom- plizierten Situationen mit konkurrierenden Stimuli geht ebenso verloren, wie die selbstkritische Einschätzung der eigenen Defizite. Störungen des Kurzzeitgedächtnisses, der Lernfähigkeit, der Praxis, der exekutiven Funktionen und der Sprache er- schweren erheblich die Benutzung von Gebrauchsanwei- sungen und die Bedienung neuer oder komplizierter Ge- räte, besonders dann, wenn mehrere Handlungen (z. B. Lesen, Geldeinwerfen, Knopfdrücken usw.) gleichzeitig erforderlich sind, deren genaue Reihenfolge eingehalten werden muss oder wenn Zeitdruck entsteht. Alte Men- schen und besonders Demenzkranke neigen zur mechani- stischen Interpretation der Gerätefunktionen und wieder- holen trotz Misserfolg ihre Handlungen. Sie brauchen „intelligente“ technische Hilfen, die trotz komplizierter Funktionen sehr einfach in der Bedienung sind, z. B. auch sprachlich gesteuert werden können, die Intentionen er- kennen und notwendige Bedienungsschritte selbst durch- führen. Diese Hilfen müssen selbsterklärend sein. 4.4.2 Erhaltung der Mobilität Mobilität im weitesten Sinne, vom selbstständigen Auto- fahren, Spaziergängen in der Stadt (mit und ohne Beglei- tung) bis zum gezielten Durchbewegen der Extremitäten mithilfe intelligenter „Home-Trainer“, ist ein wichtiger Faktor der Lebensqualität der Demenzkranken (Strutt- mann et al. 1999). Das Autofahren trägt bei älteren Kraftfahrerinnen und Kraftfahrern häufig zum Erhalt des Selbstwertgefühls bei. Viel wichtiger ist aber, dass es mit zunehmendemAlter bei gleichzeitiger abnehmender Motilität eine nur schwer ver- zichtbare Ressource für den Erhalt von Mobilität und selbstständiger Lebensführung darstellt, die mit anderen technischen und umweltlichen Ressourcen (öffentlicher Nahverkehr) nicht gleichwertig zu ersetzen ist. Bei kogni- tiven Einbußen, wie sie bei einer Demenz typisch sind, kann aber durch eine herabgesetzte Fahreignung eine er- hebliche Selbst- und Fremdgefährdung erwachsen. Die ei- genverantwortliche Selbsteinschätzung des Kraftfahren- den, die der Gesetzgeber als Maßstab für die Beurteilung der Fahreignung gesetzt hat, kann bei abnehmender ko- gnitiver Leistungsfähigkeit so beeinträchtigt sein, dass an- dere Mechanismen greifen müssen, um eine zuverlässige Beurteilung zu ermöglichen. Derzeit liegen keine Angaben über die Zahl der leicht bis mittelschwer demenzkranken Autofahrerinnen und Autofa- hrer in Deutschland, sowie Häufigkeit und Art der Verge- hen bzw. Unfälle im Straßenverkehr vor. Bekannt ist nur, dass von den 2 898 000 „Personen mit aktuellem Deliktzu- gang 1999“ 119 000 zu der Altersgruppe „65 Jahre und äl- ter“ gehörten, davon 99 000 Männer und 20 000 Frauen. Von den 2160 Personen, die im Jahr 2000 freiwillig auf die allgemeine Fahrerlaubnis verzichtet haben, waren 670 60 bis unter 70 Jahre alt (635 Männer und 35 Frauen) und 799 70 Jahre alt oder älter (593 Männer und 206 Frauen) (Sta- tistik des Kraftfahrt-Bundesamtes, 5. Juli 2001). 145 062 Personen (davon 16 671 Frauen) wurden im Jahr 2000 allgemeine Fahrerlaubnisse entzogen (Tabelle 4-8). Darunter befanden sich 5 826 60- bis 70-Jährige (564 Frauen) und 1 976 70-Jährige und Ältere (342 Frauen). Diese Zahlen zeigen, dass ältere Autofahrerinnen und Au- tofahrer bei den Verkehrsdelikten unterrepräsentiert sind, was nahe legt, dass ein Großteil von ihnen das Fahrverhal- ten an die abnehmende Fahreignung rechtzeitig verantwort- lich anpasst. Verschiedene Studien berichten, dass ältere Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen mit zuneh- mender Dauer der Erkrankung von sich aus das Autofahren bis zur völligen Aufgabe begrenzen (Carr 1997; Foley et al. 2000; Hakamies-Blomqvist & Wahlström 1998). Diese Stu- dien zeigen aber auch auf, dass durchaus eine erhebliche Anzahl von kognitiv beeinträchtigten Kraftfahrerinnen und Kraftfahrern mit einem relevanten Fahrumfang ver- bleibt, sodass eine Auseinandersetzung mit der Thematik unerlässlich ist. Die Statistiken erlauben keine sicheren Aussagen zur Unfallhäufigkeit durch das Vorliegen von kognitiven Einbußen bei demenziellen Erkrankungen. Es fehlen aussagekräftige Analysen zum Verhältnis von Fahr- leistung und Unfallgeschehen. Zudem werden nur Unfälle dokumentiert, bei denen es auch zu gerichtlichen Verfahren kam, was eine erheblich Dunkelziffer bedeuten kann. Die klinisch-geriatrische Erfahrung, dass immer wieder An- gehörige älterer aktiver Kraftfahrender mit ausgeprägten Demenz-Syndromen um Rat suchen, wie sie die nicht ein- sichtige Person zur Aufgabe ihres Fahrens bewegen kön-

Upload: others

Post on 01-Feb-2021

2 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

  • – 218 –

    Engagierte stehen. Schon jetzt existieren Hunderte unter-schiedlicher Gruppen und Initiativen, die beweisen, dassbereits mit einem minimalen finanziellen Aufwand einehervorragende Betreuung von hilfebedürftigen, vor allemdemenzkranken Menschen möglich ist. Die weitere Ent-wicklung besonders erfolgreicher Modelle und ihre Ver-netzung mit professionellen Angeboten sind notwendig.

    4.4 Umweltliche und technische Ressour-cen zur Erhaltung der selbstständigenLebensführung Hochaltriger

    4.4.1 Einleitung – Besonderheiten der Demenz

    Auswirkungen pathologischer kognitiver Beeinträchti-gungen, die im höheren Alter bei Demenzen aber auch alsFolge neurologischer Erkrankungen (häufig nach Schlag-anfall/Apoplex) gehäuft auftreten, stellen eine besondereHerausforderung an die umweltlichen und technischenHilfen dar.

    Demenzkranke leiden nicht nur unter alterstypischen Ein-schränkungen der sensorischen Wahrnehmung, der Auf-merksamkeit, der körperlichen Leistungsfähigkeit undder Feinmotorik, sondern werden durch kognitive Störun-gen in ihrer Fähigkeit erheblich beeinträchtigt, auf Erfah-rungen zurückzugreifen, eingeübte Handlungssequenzenfolgerichtig durchzuführen und die Funktionen (auch sehreinfacher) technischer Geräte zu verstehen und sie zu be-dienen. Die räumliche Wahrnehmung mit Einschätzungder Entfernung, der Bewegungsrichtung, der Perspektiveund der drei Dimensionen wird zunehmend eingeschränkt.Die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung selektiver und geteil-ter Aufmerksamkeit, notwendig zum Erkennen potenziel-ler Gefahrenquellen und zum richtigen Handeln in kom-plizierten Situationen mit konkurrierenden Stimuli gehtebenso verloren, wie die selbstkritische Einschätzung dereigenen Defizite.

    Störungen des Kurzzeitgedächtnisses, der Lernfähigkeit,der Praxis, der exekutiven Funktionen und der Sprache er-schweren erheblich die Benutzung von Gebrauchsanwei-sungen und die Bedienung neuer oder komplizierter Ge-räte, besonders dann, wenn mehrere Handlungen (z. B.Lesen, Geldeinwerfen, Knopfdrücken usw.) gleichzeitigerforderlich sind, deren genaue Reihenfolge eingehaltenwerden muss oder wenn Zeitdruck entsteht. Alte Men-schen und besonders Demenzkranke neigen zur mechani-stischen Interpretation der Gerätefunktionen und wieder-holen trotz Misserfolg ihre Handlungen. Sie brauchen„intelligente“ technische Hilfen, die trotz komplizierterFunktionen sehr einfach in der Bedienung sind, z. B. auchsprachlich gesteuert werden können, die Intentionen er-kennen und notwendige Bedienungsschritte selbst durch-führen. Diese Hilfen müssen selbsterklärend sein.

    4.4.2 Erhaltung der MobilitätMobilität im weitesten Sinne, vom selbstständigen Auto-fahren, Spaziergängen in der Stadt (mit und ohne Beglei-tung) bis zum gezielten Durchbewegen der Extremitätenmithilfe intelligenter „Home-Trainer“, ist ein wichtiger

    Faktor der Lebensqualität der Demenzkranken (Strutt-mann et al. 1999).

    Das Autofahren trägt bei älteren Kraftfahrerinnen undKraftfahrern häufig zum Erhalt des Selbstwertgefühls bei.Viel wichtiger ist aber, dass es mit zunehmendemAlter beigleichzeitiger abnehmender Motilität eine nur schwer ver-zichtbare Ressource für den Erhalt von Mobilität undselbstständiger Lebensführung darstellt, die mit anderentechnischen und umweltlichen Ressourcen (öffentlicherNahverkehr) nicht gleichwertig zu ersetzen ist. Bei kogni-tiven Einbußen, wie sie bei einer Demenz typisch sind,kann aber durch eine herabgesetzte Fahreignung eine er-hebliche Selbst- und Fremdgefährdung erwachsen. Die ei-genverantwortliche Selbsteinschätzung des Kraftfahren-den, die der Gesetzgeber als Maßstab für die Beurteilungder Fahreignung gesetzt hat, kann bei abnehmender ko-gnitiver Leistungsfähigkeit so beeinträchtigt sein, dass an-dere Mechanismen greifen müssen, um eine zuverlässigeBeurteilung zu ermöglichen.

    Derzeit liegen keine Angaben über die Zahl der leicht bismittelschwer demenzkranken Autofahrerinnen und Autofa-hrer in Deutschland, sowie Häufigkeit und Art der Verge-hen bzw. Unfälle im Straßenverkehr vor. Bekannt ist nur,dass von den 2 898 000 „Personen mit aktuellem Deliktzu-gang 1999“ 119 000 zu der Altersgruppe „65 Jahre und äl-ter“ gehörten, davon 99 000 Männer und 20 000 Frauen.Von den 2 160 Personen, die im Jahr 2000 freiwillig auf dieallgemeine Fahrerlaubnis verzichtet haben, waren 670 60bis unter 70 Jahre alt (635 Männer und 35 Frauen) und 79970 Jahre alt oder älter (593 Männer und 206 Frauen) (Sta-tistik des Kraftfahrt-Bundesamtes, 5. Juli 2001).

    145 062 Personen (davon 16 671 Frauen) wurden im Jahr2000 allgemeine Fahrerlaubnisse entzogen (Tabelle 4-8).Darunter befanden sich 5 826 60- bis 70-Jährige(564Frauen)und1 97670-JährigeundÄltere(342Frauen).

    Diese Zahlen zeigen, dass ältere Autofahrerinnen und Au-tofahrer bei den Verkehrsdelikten unterrepräsentiert sind,was nahe legt, dass ein Großteil von ihnen das Fahrverhal-ten an die abnehmende Fahreignung rechtzeitig verantwort-lich anpasst. Verschiedene Studien berichten, dass ältereMenschen mit kognitiven Beeinträchtigungen mit zuneh-mender Dauer der Erkrankung von sich aus das Autofahrenbis zur völligen Aufgabe begrenzen (Carr 1997; Foley et al.2000; Hakamies-Blomqvist &Wahlström 1998). Diese Stu-dien zeigen aber auch auf, dass durchaus eine erheblicheAnzahl von kognitiv beeinträchtigten Kraftfahrerinnenund Kraftfahrern mit einem relevanten Fahrumfang ver-bleibt, sodass eine Auseinandersetzung mit der Thematikunerlässlich ist. Die Statistiken erlauben keine sicherenAussagen zur Unfallhäufigkeit durch das Vorliegen vonkognitiven Einbußen bei demenziellen Erkrankungen. Esfehlen aussagekräftige Analysen zum Verhältnis von Fahr-leistung und Unfallgeschehen. Zudem werden nur Unfälledokumentiert, bei denen es auch zu gerichtlichen Verfahrenkam, was eine erheblich Dunkelziffer bedeuten kann. Dieklinisch-geriatrische Erfahrung, dass immer wieder An-gehörige älterer aktiver Kraftfahrender mit ausgeprägtenDemenz-Syndromen um Rat suchen, wie sie die nicht ein-sichtige Person zur Aufgabe ihres Fahrens bewegen kön-

  • – 219 –

    nen, unterstreicht die Notwendigkeit der Auseinanderset-zung mit dem Problem.

    Die gängige Aufschlüsselung der statistischen Daten mit ei-ner undifferenzierten Zusammenfassung älterer Kraftfahre-rinnen und Kraftfahrer in zwei Gruppen (60 bis 70 sowie äl-ter als 70 Jahre) entspricht nicht mehr den Anforderungenheutiger Altersforschung. Es muss davon ausgegangen wer-den, dass künftige Kohorten einen deutlich höheren Anteilvon aktiven Kraftfahrenden in den höheren Altersdekadenmit sich bringen und damit andere Verhältnisse und Risikenerwachsen werden, die adäquat abgebildet werden müssen.

    Zur Häufigkeit der Verkehrsunfälle demenzkranker Auto-fahrerinnen und Autofahrer liegen nur wenige Studien vor,keine einzige dazu in der Bundesrepublik Deutschland. Inälteren Studien mit kleinen Fallzahlen (n = 30 bis 83) undkleinen Kontrollgruppen (n = 20 bis 100) wurde eine relativhohe Unfallhäufigkeit pro Fahrer und Jahr ermittelt. Sie lagzwischen 0,091 (Drachman & Swearer 1993) und 0,167(Friedland et al. 1988) für Demenzkranke und 0,02 (Fried-land et al. 1988) und 0,055 (Dubinsky et al. 1992) für Kon-trollgruppen. In neueren Untersuchungen mit größerenFallzahlen (n = 143 bis 165) und großen Kontrollgruppen(n = 249 bis 715) wurde eine niedrigere Unfallhäufigkeitder Demenzkranken und eine höhere in der Kontrollgruppeermittelt. Sie betrug für Demenzkranke 0,014 (Tuokko etal. 1995) bis 0,08 (Trobe et al. 1996) und 0,05 (Trobe et al.1996) bis 0,06 (Tuokko et al. 1995) für die Kontrollgruppe.Über 70 Prozent der untersuchten Demenzkranken bliebenin beiden Studien unfallfrei.

    Eine Demenzerkrankung ist also nicht gleichbedeutendmit einer nicht mehr kompensierbaren Einschränkung der

    Fahrsicherheit. Zwar ist die Unfallgefährdung der Demenz-kranken doppelt so hoch, wie die der psychisch unauffälli-gen Vergleichsgruppe der gleichaltrigen Autofahrerinnenund Autofahrer. Sie unterscheidet sich aber nicht von derUnfallgefährdung der unter 26-Jährigen (Carr 1997) undist vergleichbar mit der Unfallgefährdung alter Menschenmit chronischen Rückenschmerzen oder schweren De-pressionen (Foley et al. 1995). Die Wahrscheinlichkeit ei-nes Unfalls steigt mit jedem Jahr der Erkrankung und kor-reliert mit dem Schweregrad der Demenz, jedoch nicht mitden Ergebnissen des gängigen Demenz-Screeningverfah-rens Mini-Mental-State-Examination (MMSE, Folstein etal. 1975). Als besserer Indikator der möglichen Beein-trächtigung der Fahrfähigkeit gilt das Niveau der instru-mentellen ADL’s (Activities of Daily Living), wie z. B.Einkaufen, Regelung finanzieller Angelegenheiten oderNutzung öffentlicher Verkehrsmittel (Odenheimer 1993).Die Leistungen demenzkranker Autofahrerinnen und Au-tofahrer zeigen zudem eine starke interindividuelle Streu-ung. Obwohl die meisten von ihnen zu der Gruppe der Ri-sikofahrer gehören, unterscheiden sich über 25 Prozent inihren Leistungen nicht von der Vergleichsgruppe der psy-chisch unauffälligen gleichaltrigen Autofahrenden (Dobbs1997). Die überwiegende Zahl der Demenzkranken, die fürsich oder andere zu einer Gefahr im Straßenverkehr wer-den, verzichtet auf das Autofahren. Die Zahlen schwankenzwischen 61 Prozent innerhalb 24 Monate nach der Dia-gnosestellung (Gilley et al. 1991) bis zu 78 Prozent nach32 Monaten (O`Neill 1992). Etwa 18 bis 22 Prozent derKranken treffen selbst die Entscheidung, 24 bis 42 Prozentgemeinsam mit den Familienangehörigen und 18 bis 36Prozent auf Anraten der Hausärztin bzw. des Hausarztesoder der Memory-Clinic (O`Neill 1992; Trobe et al. 1996).

    Tabel le 4-8

    Entziehungen von allgemeinen Fahrerlaubnissen im Jahr 2000 nach Entscheidungsgründen. Entscheidungen der Gerichte nach § 69 StGB

    Entscheidungsgrund Alter 60-70 Alter >70 Alle Altersgruppen

    Trunkenheit im Straßenverkehr davon: mit Verkehrsunfall ohne Verkehrsunfall Verkehrsdelikte ohne Trunkenheit davon: mit Verkehrsunfall ohne Verkehrsunfall Sonstige Straftaten Insgesamt davon: mit Verkehrsunfall und Personenschaden Sachschaden ohne Verkehrsunfall darunter weibliche Personen

    4.8071.6753.232

    587536

    5113

    5.407

    3261.7853.296

    516

    829388441575560

    15–

    1.404

    138810456204

    111.95534.53677.41911.331

    9.5321.7991.802

    125.088

    7.32436.74481.02014.471

    Quelle: Statistische Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamtes. Reihe 6/Jahr 2000.

  • – 220 –

    Tabel le 4-9

    Entziehungen von allgemeinen Fahrerlaubnissen im Jahr 2000 nach Entscheidungsgründen Entscheidungen der Verwaltungsbehörden nach §§ 2a, 3 und 4 StVG

    Entscheidungsgrund Alter 60 bis 70 Alter > 70 Alle Alters-gruppen

    Körperliche Mängel

    Mangelndes Sehvermögen 1 18 50

    Mangelndes Hörvermögen – 2 3

    Funktionseinbuße bei Rumpf- und Gliedmaßen 1 – 4

    Hirnverletzung, Nervenerkrankung 23 20 139

    Schwere Herzerkrankungen, Kreislaufstörungen

    – 9 12

    Sonstige körperliche Schwächen (z. B. Altersabbau)

    27 112 192

    Zusammen 52 161 400

    Geistige Mängel

    Geisteskrankheit und andere geistige Störungen

    24 18 173

    Geminderte Zurechnungsfähigkeit 4 10 19

    Sonstige mangelnde geistige Fähigkeiten 32 52 169

    Zusammen 60 80 361

    Charakterliche Mängel

    Neigung zu Trunk-, Arzneimittel- und Rauschgiftsucht

    34 11 3.023

    Neigung zu Ausschreitungen 1 – 12

    Schwere oder wiederholte Vergehen gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen

    29 6 1.345

    Schwere oder wiederholte Vergehen gegen Strafgesetze

    1 1 45

    Sonstige charakterliche Fehler oder Schwächen

    5 3 361

    Zusammen 70 21 4.786

    Anordnung zum Aufbauseminar nicht nachgekom-men/Befähigungsprüfung nicht abgelegt/bestanden

    43 20 5.616

    Andere Gründe 100 167 4.374

    Insgesamt 419 572 19.974

    darunter weibliche Personen 48 138 2.200

    Quelle: Statistische Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamtes. Reihe 6/Jahr 2000.

  • – 221 –

    Bei Demenzkranken, die trotz Unfällen in der Vorge-schichte nicht bereit sind, auf das Autofahren zu verzich-ten, handelt es sich überwiegend um Männer mit einer aus-geprägten Anosognosie, Frontallappendemenz undgeringer Multimorbidität (Bedard et al. 1996).

    Schon William James (1920) hielt „das Verlangen nachAnerkennung“ für das wichtigste Prinzip der menschli-chen Natur und vermutete, dass Menschen mindestenszum Teil ihre Rolle durch das Beherrschen eines Fahr-zeugs, die Fähigkeit zum schnellen Ortswechsel, Mit-nahme der Freunde und Beteiligung am gesellschaftlichenLeben definieren. Ein Fahrverbot wird deshalb für jedenBetroffenen zu einem Meilenstein seiner Erkrankung,konfrontiert ihn mit eigenem Versagen und fortschreiten-der Abhängigkeit, mit dem Verlust der Anerkennung. Da-her muss die Entscheidung zum Entzug der allgemeinenFahrerlaubnis immer sorgfältig abgewogen werden. Siekann nur auf einer differenzierten und qualifizierten Prü-fung der Fähigkeiten und Defizite beruhen. Es besteht nochrelative Unsicherheit, welche psychometrischen Testver-fahren eine sichere Prognose hinsichtlich der Fahreignung

    erlauben (Duchek et al. 1998), sodass im Zweifelsfall eineFahrverhaltensprobe empfohlen wird (Bundesanstalt fürStraßenwesen 2000: Begutachtungsleitlinien zur Kraft-fahreignung; Hunt et al. 1997). Besondere Bedeutungkommt aber in jedem Fall der gründlichen Anamnese undFremdanamnese zu. Auch wenn die Studien keinen siche-ren Anhalt für eine grundsätzliche Fahruneignung infrühen Stadien einer Demenz ergaben, muss doch im Ein-zelfall eine sorgsame Beratung mit einer klaren Verhal-tensempfehlung erfolgen, die bei einer progredienten Er-krankung wie einer Demenz letztlich auch immer daraufabzielen wird, das Führen eines Fahrzeuges einzustellen.Abhängig vom individuellen Leistungs- und Persönlich-keitsprofil und den Lebensumständen kann dies ein sofor-tiges Fahrverbot bedeuten, aber auch nach und nach überAnpassungsprozesse (z. B. nur noch im bekannten Umfeldzu fahren, Hauptverkehrszeiten und nächtliche Fahrten zumeiden) erfolgen. In jedem Fall müssen Patientinnen undPatienten und Angehörige über die rechtliche Situation auf-geklärt werden. Es ist immer abzuwägen, ob der Arzt oderder Patient selbst die örtliche Führerscheinstelle informiert,wo ggf. solche Auflagen in die Fahrerlaubnis eingetragen

    Abbildung 4-1

    Kriterien zur Beurteilung der Fahrtüchtigkeit Demenzkranker

    Quelle: Lundberg et al. 1997.

  • – 222 –

    und Verlaufsuntersuchungen angeordnet werden können.Die ärztliche Schweigepflicht entbindet nicht von der Ver-pflichtung, den Kraftfahrer bzw. die Kraftfahrerin über sei-nen Gesundheitsstatus aufzuklären und in der Abwägungvon Selbst- und Fremdgefährdung bei Nichteinhaltungärztlicher Empfehlungen zuständige Stellen zu informie-ren (Rieger 1995).

    Für die Beratung von Patientinnen und Patienten und An-gehörigen ist die Handlungsempfehlung hilfreich, die an-hand vorliegender Studien und praktischer Erfahrungen1994 von Experten zur Beurteilung der FahrtüchtigkeitDemenzkranker mit einer gesicherten Demenzdiagnose ineiner Konsensuskonferenz erarbeitet wurde (Lundberg etal. 1997).

    Durch den Einsatz technischer Systeme ließen sich ko-gnitive Einbußen möglicherweise kompensieren, sodassdas Unfallrisiko und das Schadensausmaß auf ein vertret-bares Maß beschränkt werden könnten. In folgenden Be-reichen gibt es Ansatzmöglichkeiten:

    – Ausgleich krankheitsbedingter Einschränkungen beider Fahrzeugsteuerung durch Navigationssysteme,Notrufsysteme, Systeme zur Verbesserung der Sicht,Einparkhilfen, automatische Abstandsregelung zu vor-ausfahrenden Fahrzeugen, Antiblockiersysteme, elek-tronische Stabilitätshilfen usw. (z.B. Färber 2000).

    – Verbesserung der Prüfung der Fahreignung durch Ent-wicklung bzw. Verbesserung von computergestütztenTestverfahren, Fahrsimulatoren sowie Einsatz von Si-mulatoren zur Analyse von Fahrunfällen (Bylsma1997; Reinach et al. 1997).

    – Minimierung der Folgen möglicher Unfälle für alleBeteiligten durch Verbesserung der Fahrzeugtechnolo-gie (gesprochene Hinweise auf Sicherheitsmängel, wienichtangelegte Gurte, offene Türen, fehlende Brems-flüssigkeit, niedrigen Reifendruck; Fußgängerschutzdurch Veränderungen der Karosserie entsprechendden Erkenntnissen aus den Crashs mit Fußgänger-Dummys, usw.).

    – Einrichtung von Sicherheitsprogrammierungen (elek-tronische Schlüssel), die das Starten eines Fahrzeugsauf berechtigte Benutzerinnen bzw. Benutzer be-schränken (Verhinderung des Fahrens uneinsichtigerDemenzkranker).

    Technische Ressourcen entbinden aber nicht von einerqualifizierten Beratung bei abnehmender Fahreignungdurch kognitive Einbußen bei Demenz, sondern könnenallenfalls ergänzende Maßnahmen sein.

    4.4.3 TelematikDer Telematikeinsatz bei Demenz ist ein früh identifiziertes,nach wie vor jedoch komplexes Feld, das von unmittelbarenNutzungsaspekten (Einfachheit der Bedienung von Gerä-ten) bis hin zu ethischen Fragen der Grenzen des Technolo-gie-Einsatzes (Beobachtungs- und Überwachungsfunktio-nen) reicht (Marshall 1996; Topo 1998; Mix et al. 2000). Eslassen sich vier Einsatzfelder ausmachen. Diese sind:

    – Die Entwicklung von aktiven und passiven Sicherheits-technologien.

    – Die Unterstützung von Angehörigen Demenzkrankerdurch Informations- und Kommunikationsangebotezum Thema Demenz (E-Mail und Internet).

    – Die Entwicklung von Unterstützen den Programmen fürdemente Menschen selbst (multimedial aufbereitete Beschäftigungsprogramme, virtueller Gesprächspart-ner, Tagesstrukturierung etc.) (Pieper & Riederer 1998).

    – Einsatz von Telemedizin bei pflegebedürftigen De-menzkranken.

    4.4.3.1 SicherheitDie Bewegungsfreiheit der Demenzkranken stärkt derenSelbstwertgefühl und das Wohlbefinden, ist jedoch mit zu-nehmendem Schweregrad der Erkrankung oft mit einer er-heblichen Selbst- und Fremdgefährdung durch Verlust derOrientierung und hilfloses „Herumirren“ mit Gefahr einerlebensbedrohlichen Unterkühlung oder Panikreaktionenim Straßenverkehr verbunden und wird dann durch frei-heitsentziehende Maßnahmen zum Schutz der Betroffe-nen eingeschränkt. Solche Maßnahmen könnten mithilfevon Monitoring-Systemen, die sich dem Problem deraußerhäuslichen Orientierung annehmen, auf ein unum-gängliches Minimum reduziert werden. Hier spielen alletechnischen Möglichkeiten eine Rolle, die es einem Men-schen mit räumlichen Orientierungsstörungen erleichtern,sich beispielsweise in öffentlichen Gebäuden zurechtzu-finden (z. B. ARIADNE – Access, information and navi-gation support in the labyrinth of large buildings, EU 4thFramework Programme, siehe CORDIS) oder auch wiedernach Hause zu finden bzw. eine helfende Institution zukontaktieren. Diese Möglichkeiten wurden bisher abernicht bei Demenzkranken erprobt.

    In den USA wird aktuell ein Kontrollsystem angeboten,das mit Funktechnik arbeitet und speziell für Personenentwickelt wurde, die ein Gebäude nicht unbeaufsichtigtverlassen sollen („wanderers“). Es besteht aus einer Kon-trolleinheit mit Alarmfunktionen (HomeFree@Home )sowie einem ähnlich wie eine Uhr zu tragenden Sender(Personal Watcher ). Anwendungsberichte liegen dazunicht vor. Systeme, die den Kranken am Verlassen der Ein-richtung oder des Geländes hindern, werden den freiheit-sentziehenden Maßnahmen gleichgestellt und erforderneine richterliche Genehmigung. Alle Verrichtungen dage-gen, die den Bewegungsradius deutlich erweitern und derOrientierung des Betroffenen und der Bestimmung seinesAufenthaltsortes im Falle des sich Verlaufen dienen, wür-den einen veränderten (und entspannteren) Umgang mitden Demenzkranken ermöglichen.

    Im häuslichen Bereich sind die konkreten Planungen vonSicherheitssystemen mit Sensoren für Gefahren etwa durchFeuer und Rauch (Schutzschalter gegen Überhitzungen beiKüchengeräten, Rauchmelder bei Feuer), Wasser (Über-laufschutz, Thermostate für die Vermeidung von Verbren-nungen beim Heißwassergebrauch z. B. beim Duschen)durchaus berechtigt und sinnvoll, zumal hier erheblicheSelbst- und Fremdgefährdungen bestehen.

  • – 223 –

    Einen interessanten Ansatz verfolgte das Projekt „Häusli-che Pflege, Rehabilitation und Gerontechnologie“ (GERONTech) – „Technische Hilfen und Wohnungsan-passungen zur Unterstützung der selbstständigen Lebens-führung, der Rehabilitation und der häuslichen Pflege vonälteren Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen(Demenz, Schlaganfall)“ – („Technology, Ethics and De-mentia“ (TED), das ebenfalls von COST A5 „Ageing andTechnology“ der EU, vom Bayerischen Staatsministeriumfür Sozialordnung und dem EU-Programm BIOMED2gefördert wurde. Es befasste sich u. a. mit der Thematik,welche Ideen in diesem Bereich von „Laien“ entwickeltwurden, die handelsübliche oder selbst erstellte Gerätezur Unterstützung ihrer betroffenen Angehörigen einset-zen. Damit sollte versucht werden, zu Anwendungen zukommen, die auch tatsächlich bedarfsorientiert sind.

    In diesem Bereich gibt es ein aktuelles multinationales EU-Forschungsprojekt (ASTRID Project, Frisby 2000), dassich mit der Zusammenstellung („Concept-Guide“) kon-kreter technischer Lösungen befasst, die Pflegenden zurVerfügung gestellt werden sollen: automatische Detektorenfür Kochherde (z. B. Gas-Detektor), passive Alarm-Sys-teme, Alarm-Kontakte für Türen von Wohnungen undPflegeeinrichtungen hinsichtlich unbeaufsichtigtem Ver-lassen eines Gebäudes und Zeit-Orientierungssysteme.

    Besondere Aufmerksamkeit verdient auch die Sturz-prävention. Hierzu gehört z. B. Beleuchtung der Treppen,die durch Bewegungssensoren aktiviert wird und beimAbsteigen die Breite der Stufen, beim Aufsteigen dagegenderen Höhe verdeutlicht (Vercruyssen et al. 1996). In denSchlafräumen sollen Bewegungssensoren beim Aufste-hen aus dem Bett eine gedämpfte Nachtbeleuchtung undnach den ersten Schritten z. B. die Beleuchtung des Bade-zimmers/Toilette einschalten (Butcher 2000).

    4.4.3.2 Informations- und Kommunikations-systeme zum Thema Demenz

    Mit der zunehmenden Verbreitung und Nutzung der In-formations- und Kommunikationsangebote des Internetfinden Betroffene und Angehörige dort auch zum ThemaDemenz umfangreiche Informationen. Hier bieten vor al-lem die Angebote der Alzheimer-Selbsthilfeorganisatio-nen qualifizierte Informationen. Bereits Anfang der 90er-Jahre wurden in den USA vom „Alzheimer’s Disease Sup-port Center“ (ADSC) solche computer-basierten Informa-tionssysteme eingerichtet und wissenschaftlich untersucht(Mahoney, D.F. et al. 1998; Smyth et al. 1997, Smyth &Harris 1993). Dabei wurden nicht nur sachbezogene Infor-mationen bereitgehalten, sondern auch Möglichkeiten zumAustausch zwischen Betroffenen in Form von Expertenfo-ren geschaffen. In solchen Foren können Angehörige via E-Mail Anfragen an Expertinnen und Experten richten. Daviele Fragen von Angehörigen sehr ähnlich sind, werdenFragen und Antworten gesammelt und für alle Interessen-ten systematisiert und strukturiert bereitgehalten. Dane-ben haben sich themenbezogene E-Mail-Diskussionsfo-ren (Saumweber 2000) etabliert, in denen der direkteErfahrungsaustausch zwischen den Teilnehmerinnen undTeilnehmern des Forums möglich ist. Die Teilnehmenden

    schreiben ihren Beitrag an eine Internetadresse, hinter dersich ein Computer mit einem Verteilerprogramm für elek-tronische Post verbirgt („Mailserver“), der diesen Beitragan alle Mitglieder des Diskussionsforums weiterleitet.Alle Antworten, die der Beitrag erhält, werden wiederumallen Teilnehmenden bereitgestellt, sodass sowohl aktiveTeilnahme am Forum als auch passives Rezipieren derDiskussionen und der darin enthaltenen Informationenmöglich ist. Elektronische Echtzeit-Diskussionen unterBetroffenen oder mit Experten in „Chatrooms“ spielendagegen bei sensiblen Gesundheitsthemen wie der Alz-heimerkrankheit bisher keine nennenswerte Rolle.

    Die meisten Informationsangebote beziehen sich explizitauf die Alzheimerkrankheit, obwohl Interessenten dortauch Informationen zu anderen Demenzformen erhalten.Nach wie vor gibt es keine Qualitätsstandards zu den imInternet angebotenen Informationen oder Expertisen.

    Studien kommen zumeist zu dem Ergebnis, dass sich diepsychische und physische Belastung der pflegenden An-gehörigen durch Telematikanwendungen signifikant verrin-gern lässt (Bass et al. 1998; Strawn et al. 1998; Thompson& Briggs 2000).

    4.4.3.3 Aktivierende Programme für Betroffene

    Kognitive Einschränkungen, insbesondere bei demenziel-len Erkrankungen aber auch infolge Erkrankungen ande-rer Genese (zum Beispiel Apraxie nach Schlaganfall),sind ein wichtiges Feld für den Einsatz von Technik, un-terliegen aber auch einer besonderen Problematik. Hierkann selbst bei vollständiger sensorischer oder motori-scher Intaktheit die Bedienung des einfachsten Kommu-nikationsmediums wie dem konventionellen Telefon fürden Betroffenen zu einem unlösbaren Problem werden.Dennoch gibt es Einsatzmöglichkeiten, die entweder aufBetroffene abgestellt sind, die noch über eine basale Lern-fähigkeit verfügen oder nur unter partiellen Beeinträchti-gungen leiden, oder aber selbst aktiv den Menschen in sei-nem Alltag unterstützen.

    Pieper & Riederer (1998) von der Sozialwissenschaftli-chen Forschungsstelle SOFOS an der Universität Bam-berg erprobten in Zusammenarbeit mit der Psychiatri-schen Klinik der TU München die Einsatzmöglichkeiteines Computersystems zur Unterstützung von dementenPersonen in der Merkfähigkeit, der Fähigkeit zur Koordi-nation und der Planung und Ausführung von Handlungen.Das Projekt stand im Kontext des Forschungsvorhabens„Technology, Ethics and Dementia“ (TED) von COST A5„Ageing and Technology“ der EU und wurde gefördertvom Bayerischen Staatsministerium für Sozialordnungund dem EU-Programm BIOMED2. Ziel war, zu erfor-schen, inwieweit ein Computer auch für kognitiv Beein-trächtigte zur Verbesserung der Lebensqualität beitragenkann. Dies würde nach Pieper & Riederer nur möglichsein, wenn es gelänge, Programme zu entwickeln, diekeine Lern- und Gedächtnisleistungen voraussetzen, son-dern intuitive Bedienungselemente anbieten. Dann wärenSpielprogramme („Beschäftigungstherapie“), Orientie-rungs- und Verhaltenshilfen im Alltag (zum Beispiel

  • – 224 –

    Tagesplanung, Einkaufen und Kochen, etc.) und therapeu-tische Programme (Unterstützung der Identität zum Bei-spiel über biografische Informationen; Selbstmedikation)auf der Basis eines PCs denkbar. Pieper und Riederer un-tersuchten, welche Effekte in Bezug auf Zufriedenheit, Ge-sundheitszustand, Angst, Aggression, Depression, Unruheetc. festgestellt werden können. Das Gerät sollte weitge-hend an ein Fernsehgerät angeglichen werden und verein-facht bedienbar sein („Touch-Screen“). In weiteren Schrit-ten sollten Einbindungen von Unterstützungsfunktionenwie zum Beispiel Tagesplanung und Erinnerungsfunktio-nen (Medikamenteneinnahme) aber auch Steuerungsaufga-ben von Haushalts- und Haustechnik einbezogen werden,wie sie in Smart-Home-Ansätzen vorgesehen sind (Meyer,S. et al. 1997, 1998). Außer einer Deskription des Projekt-ansatzes findet sich zu den Ergebnissen des Projekteskeine Literatur, die eine Umsetzbarkeit des Ansatzes er-kennen lässt.

    Bei diesem geriatrisch-gerontologisch hochrelevantenThema ist zu berücksichtigen, dass die Probleme kognitivbeeinträchtigter älterer Menschen im Alltag mitunterschon in der zeitgemäßen Organisation und Koordinationbasaler Tätigkeiten wie den selbstpflegerischen Aktivitä-ten, der Mahlzeiteneinnahme aber auch der Einhaltungmedikamentöser Behandlung liegen. Sehr häufig werdenallein stehende ältere Menschen verwirrt in Kliniken ein-gewiesen, weil sie nicht für ausreichende Flüssigkeitszu-fuhr, Nahrungsaufnahme oder ihre Regelmedikation sor-gen konnten. Die Frage stellt sich allerdings, ob diesenProblemen tatsächlich technikgestützt begegnet werdenkann, oder ob hier nicht auch schnell Grenzen ihres Ein-satzes erreicht werden. Es ist ja häufig – bei stärkeren ko-gnitiven Einbußen – nicht allein mit Erinnerungsmarkerngetan, sondern vielfach wird Flüssigkeitszufuhr und Me-dikation nur mit fantasiereichen Ideen der Darreichungakzeptiert und bedarf der persönlichen Gegenwart einerhelfenden Person.

    Elektronische Medien werden auch zur Behandlung vonVerhaltensstörungen bei Demenzkranken angewendet.Woods und Ashley (1995) entwickelten die „Simulatedpresence therapy“ (SPT), ausgehend von der Annahme,dass Angehörige, die den Kranken zuletzt betreut haben,die wichtigste Quelle seiner inneren Stabilität bilden. DieKassetten mit simulierten Telefongesprächen mit diesenAngehörigen oder Videoaufnahmen mit ihnen wirken be-ruhigend auf sozial isolierte, verbal oder tätlich aggressiveund psychomotorisch unruhige Demenzkranke. Videofilme,auf denen nahe Angehörige über vergangene familiäre Er-eignisse berichten, sich nach dem Befinden des Kranken lie-bevoll erkunden und ihm Respekt zeigen, bieten neue Mög-lichkeiten, die Familie in die Betreuung aktiv zu integrieren(Werner, P. et al. 2000). Lund et al. (1995) entwickelten Vi-deokassetten mit Schauspielern, die Demenzkranke mit-hilfe anregender Bilder von Tieren, kleinen Kindern, Mu-sikinstrumenten und anderen bekannten Utensilien, vonvertrauten oder lustigen Situationen usw. zum Singen,Tanzen, Lachen und Spielen animieren. Die vorliegendenStudien erlauben allerdings noch keine abschließende Be-urteilung der therapeutischen Wirksamkeit dieser Metho-den.

    4.4.3.4 Telemedizin bei pflegebedürftigen Demenzkranken

    Die fachärztliche Versorgung Demenzkranker in Pflege-einrichtungen (aber auch zu Hause) kann mithilfe innova-tiver Informationstechnologien erheblich verbessert wer-den (Kavanagh & Yellowlees 1995). Der Vorteil liegt inder Vereinfachung ärztlicher Konsultationen, die sonstu. U. von den Angehörigen oder den Pflegekräften nur auf-wendig zu organisieren wären, so aber regelmäßig ermög-licht werden. Laut Allen und Wheeler (1998) waren 1998insgesamt 29 Telepsychiatrieprogramme in den USA, Ka-nada, England, Norwegen und Australien aktiv. Über ein-zelne Versuche wurde auch aus China, Taiwan, Südkoreaund Hong Kong berichtet (Tang, W.K. et al. 2001).

    Als Beispiel werden hier kurz die Aktivitäten und Erfah-rungen des Dementia Telemedicine Center (DTC) inSeoul dargestellt. Diese Einrichtung am Universitätskran-kenhaus ist mit Telemedicine Service Units (TSU) in denPflegeeinrichtungen oder Beratungsstellen für Demenz-kranke verbunden. In den TSU ist jeweils eine Kranken-schwester tätig. Der Experte in DTC stellt Diagnosen an-hand der Aufnahmedaten, Laborwerte, Röntgenaufnahmenund eines Videointerviews mit dem Patienten. Die Emp-fehlungen zur Medikation und zum therapeutischem Um-gang mit dem Patienten werden ebenfalls im Videointer-view mit der Krankenschwester in TSU übermittelt.Während regelmäßiger Videokonferenzen werden Fallbe-sprechungen durchgeführt und die Nebenwirkungen derMedikamente überprüft. Die Angehörigen werden aufdiesem Wege über den Umgang mit dem Kranken infor-miert. Sie werden einzeln oder in Gruppen beraten undfortgebildet. Teleeducation Service gehört ebenfalls zuden Angeboten des DTC.

    Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass kognitive Leistun-gen und Verhaltensauffälligkeiten auch schwer Demenz-kranker mithilfe des Videointerviews mit dem Betroffenenund seinen Betreuern untersucht und diagnostisch abge-klärt werden können. Die Ergebnisse der Testuntersu-chungen über Telemedizin-System und bei persönlicherKontrolle stimmten in 76 bis 89 Prozent (abhängig vonden Tests) überein. Die Diagnose einer Demenz war in100 Prozent der Fälle korrekt. Die Beratung und Behand-lung mit Medikamenten hat in 61 Prozent der ambulantenund 53 Prozent der stationär betreuten Demenzkrankenmit erheblichen Verhaltensstörungen zu einer deutlichenBesserung der Symptomatik geführt (Lee et al. 2000).

    Anhand der vorliegenden Studien lassen sich Kosten derTelepsychiatrie noch nicht sicher beurteilen. Die Angabenschwanken zwischen einer Ersparnis von ca. 50 Prozent(Jerome 1993) und einer Ausgabenerhöhung um das Drei-bis Vierfache im Vergleich mit herkömmlichen Diensten(Werner, A. & Anderson 1998).

    Telefonisches Assessment wird in zukünftigen epidemio-logischen und longitudinalen Studien eine wichtige Rollespielen. Die zu diesem Zweck entwickelten Testinstrumente(z. B. Telefone Interview for Cognitive Status – modified,TICS-m) liefern Ergebnisse, die sowohl bei der diagnosti-schen Erfassung der Demenz als auch der Verlaufsbeob-

  • – 225 –

    achtung mit direkt durchgeführten Tests vergleichbar sind(Plassman et al. 1994). In Verbindung mit Videophonenlassen sich solche Verfahren weiter verfeinern.

    4.4.4 Bewertung und Ausblick Auch oder gerade für Hochaltrige gibt es umweltliche undtechnische Ressourcen, die die Lebensführung verbessernoder zumindest erleichtern können.

    Eine besondere Rolle nimmt hierbei die Nutzung des Autosals Verkehrsmittel ein. Es bietet für den aktiven Kraftfah-renden ein wichtiges Instrument zur Kompensation nach-lassender Mobilität, birgt aber bei gleichzeitig pathologischabnehmender kognitiver Leistungsfähigkeit ein erheblichesPotenzial für Selbst- und Fremdgefährdung. Wenngleich eskeine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse über dasAusmaß der Gefährdung gibt und Verkehrsstatistiken hiereher ein – bezogen auf den Gesamtverkehr – geringes Pro-blemausmaß annehmen lassen, so muss doch im Einzelfallimmer eine qualifizierte Diagnostik und Beratung erfolgen.Bei dem zu erwartenden Anstieg des Anteils hochaltrigeraktiver Kraftfahrender bedarf es dafür der Erarbeitung vonaktuellen wissenschaftlich fundierten Standards. Die gän-gige Aufschlüsselung der statistischen Daten mit einer un-differenzierten Zusammenfassung älterer Kraftfahrerinnenund Kraftfahrer in zwei Gruppen (60 bis 70 sowie älter als70 Jahre) entspricht nicht mehr den Anforderungen heuti-ger Altersforschung. Die besonders schnell wachsendeGruppe der über 85-Jährigen muss adäquat abgebildet wer-den. Die Aufklärung für ältere Menschen hinsichtlich derFahreignung im Alter sollte verbessert werden. Wün-schenswert wäre die Einrichtung von niederschwelligenBeratungsangeboten, die ältere Menschen nicht nur fürdas Thema sensibilisieren, sondern ihnen konkret dieMöglichkeit zur Überprüfung ihrer Fahreignung bieten.

    In der Beurteilung moderner Technologien werden zu häu-fig unkritisch die technischen Möglichkeiten gesehen, zuwenig aber die Probleme deren tatsächlicher Einsetzbar-keit durch ältere Menschen in ihren Umwelten bedacht.Ein „Smart-Home“ bleibt eben für Menschen, die in ihrervertrauten Umgebung wohnen bleiben wollen, eine Fik-tion, wenn schon die einfache nichttechnische Wohnraum-anpassung (Türschwellen, Haltegriffe etc.) auf Schwie-rigkeiten stößt.

    Es gibt mehrere Ansätze zum Einsatz von Technik im Be-reich der Betreuung von Demenzkranken. Dabei muss allerdings festgestellt werden, dass zwar auch multidiszi-plinäre und multinationale Projekte durchgeführt wurden,dass aber gerade hinsichtlich der Umsetzung im Alltagkaum wissenschaftlich fundierte Ergebnisse vorliegen. Ein-satztaugliche Anwendung professioneller Ansätze (Teleme-dizin) für den Alltag dementer Menschen und ihrer An-gehörigen (Sicherheitsaspekte) existieren noch nicht.

    Allein der Bereich der Unterstützung von Angehörigendurch elektronische Informations- und Kommunikations-systeme ist bisher untersucht worden, allerdings nicht imdeutschen Sprachraum. Hier besteht inzwischen ein um-fangreiches Angebot im Bereich der Bereitstellung vonInformationen. Allerdings gibt es dazu keine Qualitäts-kontrolle.

    Zu allen genannten Einsatzbereichen sind anwendungso-rientierte aber vor allem auch wissenschaftlich evaluierteForschungsprojekte dringend erforderlich. Dabei solltendem steigenden Bedarf an derartiger Technik, der Erwar-tung der Erkrankten und Pflegenden hinsichtlich der Be-reitstellung von modernen Systemen, aber auch demvolkswirtschaftlichen Aspekt (neue Märkte für moderneTechnologie) wesentlich mehr Beachtung geschenkt wer-den.

    4.5 Medizinische Versorgung

    4.5.1 Einleitung An verschiedenen Stellen des Berichts wurde bereits aufdie Kumulation von Risiken und die erhöhte Vulnerabilitätim hohen Alter aufmerksam gemacht. Die gesundheitli-chen Probleme Hochaltriger sind häufig mit vielschichti-gen sozialen und materiellen Problemen verbunden. Sieweisen darüber hinaus für die Altersgruppe der über 80-Jährigen einige Spezifika auf, die in Kapitel 3 bereits aus-führlich dargestellt wurden. Zu nennen ist hier vor allemdas Phänomen der Multimorbidität, die Verschiebung desKrankheitsspektrums hin zu chronischen und irreversi-blen Krankheiten und die zunehmende Entwicklung vonSymptomen, die nicht allein einer einzigen Krankheit zu-schreibbar sind und in deren Folge sich dauerhafte kom-plexe Funktionseinschränkungen ergeben.

    Daraus leiten sich für hochaltrige Patientinnen und Patien-ten zum Teil andere Behandlungsziele als bei jüngeren Pa-tienten ab. Es kann nicht immer die vollständige Wieder-herstellung der körperlichen und seelischen Gesundheiterreicht werden, sondern die Behandlung muss vor allemdarauf abzielen, ihnen die höchst mögliche Selbstständig-keit und Selbstbestimmung zu ermöglichen. „Häufig istdaher in der Geriatrie Besserung und nicht Heilung, resti-tutio ad optimum, und nicht wie bei jüngeren Patienten restitutio ad integrum das Ziel“ (Lenzen-Großimlinghaus& Steinhagen-Thiessen 2000:290).

    Gesundheitliche Probleme geriatrischer Patientinnen undPatienten fallen in der Regel aus der schematischen Vor-stellung von „sequenziellen Krankheitsverläufen“ heraus,die eine klare zeitliche Abfolge von gesundheitsfördern-den, präventiven, kurativen, rehabilitativen und pflegeri-schen Maßnahmen impliziert. Dies gilt in besonderemMaße für die Gruppe der Hochaltrigen.

    „Die für komplexe chronische Erkrankungen sowie fürchronisch kranke alte Menschen typische Multimorbi-dität beinhaltet jedoch unterschiedliche Arten undPhasen von Krankheit und Behinderung nebeneinan-der, aber immer zugleich verbleibende oder erweite-rungsfähige Potenziale selbstkompetenten Handelnsund Helfens. Die gleichzeitige Präsenz mehrerer Ge-sundheitsstörungen in unterschiedlichen Stadien er-fordert daher die gleichzeitige und gleichberechtigteAnwendung und Verzahnung von Maßnahmen derGesundheitsförderung, Prävention, Kuration, Rehabi-litation und Pflege“ (Sachverständigenrat für die Kon-zertierte Aktion im Gesundheitswesen 2001b: 66).

  • – 226 –

    Die erforderliche Gleichzeitigkeit dieser Maßnahmenlässt sich jedoch nur bedingt unter die leistungsrechtli-chen Vorgaben des SGB V subsumieren und macht inte-grierte geriatrische Behandlungsformen auch besondersanfällig für in den sozialrechtlichen Bestimmungen desSGB V und des SGB XI angelegte Schnittstellenpro-bleme. Die sektorale Trennung zwischen Krankenhausbe-handlung nach § 39 Abs. 1 SGB V und der medizinischenRehabilitation nach § 40 SGB V verursacht in der Praxisoft Auslegungs- und Zuordnungsprobleme. Ein Grunddafür liegt in der Komplexität der geriatrischen Behand-lung, die durch das multidisziplinäre Zusammenwirkenu. a. von Pflegekräften, Therapeutinnen und Therapeuten,Sozialarbeit und ständiger verantwortlicher ärztlicherPräsenz gekennzeichnet ist. Dieses geriatrische Behand-lungsteam gewährleistet sowohl die kurative wie die re-habilitative Behandlung des multimorbiden älteren Pati-enten und muss palliative Therapie mit einschliessen.

    Diese Abgrenzungsproblematik setzt sich auf institutio-neller Ebene fort. Schwierig hier ist die rechtliche undtatsächliche Unterscheidung zwischen geriatrischen Kran-kenhäusern nach § 107 Abs.1 SGB V und entsprechendenRehabilitationseinrichtungen nach § 107 Abs.2 SGB V.Diese Abgrenzungschwierigkeiten teilt die Geriatrie mitanderen Versorgungsbereichen (vgl. z. B. Quaas 1995).

    Auf Schnittstellenprobleme zwischen Krankenversiche-rung und Pflegeversicherung soll an dieser Stelle nur ex-emplarisch hingewiesen werden (vgl. hierzu auch Kapi-tel 5). Ein Problem ist das fehlende Zusammenwirken vonKrankenversicherung und Pflegeversicherung hinsicht-lich der Gewährleistung des Behandlungskontinuums beiälteren Patientinnen und Patienten. Dies hat zur Folge,dass Krankenversicherungen aus Kostenüberlegungenhäufig Krankenbehandlung verweigern, wenn sie Pflege-bedürftigkeit vermuten. Die Regelungen des „neuen“SGB IX werden hier kaum Abhilfe schaffen.

    In der Diskussion um die Rationierung von Gesundheits-leistungen wird zum Teil die Meinung geäußert, dass äl-tere Menschen von präventiven und rehabilitativen Maß-nahmen nicht mehr profitieren und eine nachhaltigeVerbesserung ihrer Lebensqualität durch sie nicht mehrerreicht werden kann. Die Kommission unterstreicht andieser Stelle, dass Menschen im hohen Lebensalter be-deutende bislang vernachlässigte Präventions- und Reha-bilitationspotenziale besitzen. Die internationale geriatri-sche Forschung hat die hohe Wirksamkeit und Effizienzpräventiver und rehabilitativer Maßnahmen bis ins hoheAlter gezeigt. Auch bei Hochaltrigen können gesund-heitsbewusstes Verhalten, die Vermeidung von Risikofak-toren, gezielte allgemeinpräventive Maßnahmen, welcheauf die Verbesserung der Lebenslage und der umweltli-chen Rahmenbedingungen zielen, Erkrankungen in Teilenverhindern oder deren Progredienz zeitlich hinausschie-ben. Früherkennung von Risikofaktoren und Erkrankun-gen sowie Therapie und Rehabilitation sind auch im ho-hen Alter notwendige sekundärpräventive Maßnahmen.Rehabilitationspotenziale im hohen Alter bestehen dabeiin physiologischer wie in psychologischer Hinsicht, so-dass geriatrische und gerontopsychiatrische Interventio-nen die Möglichkeiten für selbstständiges und selbstver-

    antwortliches Leben Hochaltriger erhalten helfen undnachhaltig verbessern können.

    Ein medizinisches Versorgungssystem, das den Anspruchhat auch für seine hochaltrigen Patientinnen und Patien-ten differenzierte und abgestufte Antworten für ihre ge-sundheitlichen Probleme bereitzuhalten, muss gezielt anden vorhandenen Präventions- und Rehabilitationspoten-zialen ansetzen und in der Lage sein, auf die spezifischenAnforderungen aus den geschilderten komplexen Pro-blemlagen einzugehen. Von angepassten Versorgungslö-sungen, welche die besonderen Anforderungen der Be-handlung chronischer Erkrankung und Multimorbidität inden Vordergrund stellen, profitieren neben älteren Men-schen alle Patienten, die chronisch krank sind oder aus an-deren Gründen einen komplexen Versorgungsbedarf be-sitzen. Sie haben insofern einen Modellcharakter.

    „Geriatrie findet zu Hause statt“ lautet der Titel einer Ver-öffentlichung aus dem Jahr 1997 (Meunier 1997). Tatsäch-lich spielen die Hausärztinnen und Hausärzte eine zentraleRolle bei der Versorgung zu Hause lebender Hochaltriger,die in der gesundheitspolitischen Diskussion häufig über-sehen wird. Kapitel 4.5.2.1 und 4.5.2.2 widmen sich daherausführlich den Fragen und Versorgungsproblemen derhausärztlichen Versorgung Hochaltriger und Demenz-kranker als dem „geriatrischen Schlüsselbereich“. Die sta-tionäre Versorgung Hochaltriger erfolgt noch immer in derRegel nicht in geriatrischen Fachabteilungen und Klini-ken, sondern in Allgemeinstationen der Krankenhäuser(siehe Kapitel 4.5.4.1). In beiden Versogungssegmentenbestehen derzeit noch Defizite hinsichtlich der Behand-lung Hochaltriger.

    Die Dominanz der akutmedizinischen Versorgung mit derstarken Ausrichtung auf ein eindimensionales biomedizi-nisch „organfixiertes“ Krankheitsmodell gilt allgemeinals negative Charakteristik des deutschen Gesundheits-wesens und wird insbesondere im letzten Gutachten desSachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Ge-sundheitswesen kritisiert. Diese Dominanz wirkt sich aufdie Gruppe der hochaltrigen Patientinnen und Patientenbesonders negativ aus. Mit dem biomedizinischen Para-digma sind aber auch die im stationären Sektor noch immerdominierenden Formen der stark hierarchischen Arbeitsor-ganisation innerhalb der Medizin und zwischen den Be-rufsgruppen eng verknüpft (Lafaille & Puyvelde 1993:861). Dies steht den Anforderungen einer wünschenswer-ten multidisziplinären Zusammenarbeit zwischen Medizin,Pflege, Therapeutinnen und Therapeuten und Sozialarbeitin der geriatrischen Versorgung im Weg (s. Kapitel 4.5.6und Kapitel 4.8).

    Effiziente geriatrische Versorgungskonzepte basieren auf ei-ner multiprofessionellen Zusammenarbeit in den so ge-nannten „geriatrisch therapeutischen Teams“ (siehe Über-sicht 4-3). „Aus diesem Grunde ist in der Geriatrie dietraditionelle hierarchische Organisationsstruktur des medi-zinischen Personals nicht nur überholt, sondern geradezudysfunktional“ (Herkommer & Steinhagen-Thiessen 1991:30).

    Die Altenberichtskommission stellt in Übereinstimmungmit dem Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion

  • – 227 –

    im Gesundheitswesen fest, dass die Einstellung der Leis-tungserbringer noch zu häufig von Vorstellungen geprägtist, Patientinnen und Patienten als passive Empfängermedizinischer Leistungen anzusehen und häufig passivie-rende therapeutische Verfahren und Empfehlungen derSchonung und Ruhigstellung mit zum Teil negativen Fol-gen eingesetzt werden. Dies kann insbesondere bei hoch-altrigen Patientinnen und Patienten unerwünschte Verlus-te an Mobilität und Kompetenzen mit sich bringen, dieeigentlich durch aktivierende Konzepte von Pflege undBehandlung erhalten werden sollten. Für den Erfolg ge-riatrischer Interventionen müssen hochaltrige Patientin-nen und Patienten wie auch deren familiales Umfeld alsKoproduzenten der medizinischen, rehabilitativen undpflegerischen Maßnahmen begriffen und ihre Beteiligungaktiv gefördert werden. In der Informationsvermittlungvon Ärztinnen und Ärzten, pflegerischem und therapeuti-schem Personal im Behandlungsprozess lassen sich heutenoch immer Defizite feststellen. Es mangelt an Patienten-und Angehörigenschulungen über die Partizipations- undEinflussmöglichkeiten. Kognitive Einbußen der Patien-tinnen und Patienten sind hier selbstverständlich zuberücksichtigen. Altersangepasste Formen der Patienten-schulung und Aufklärung, wie sie bereits in vielen geria-trischen Kliniken betrieben werden, können entscheidenddazu beitragen, „einen partiellen oder totalen Wirksam-keitsverlust an sich effektiver und indizierter präventiverund kurativer Maßnahmen infolge unzureichender Com-pliance und/oder fehlerhafter Anwendung durch Patien-ten“ zu vermeiden (Sachverständigenrat für die Konzer-tierte Aktion im Gesundheitswesen 2001b Bd. III, S. 74).

    Meier-Baumgartner (2001: 6) formuliert in einem aktuel-len Überblicksaufsatz zur „Einbettung der Geriatrie in derVersorgungslandschaft der Bundesrepublik Deutschland“folgende Anforderungen, damit die Geriatrie im Akutbe-reich wie in der Rehabilitation adäquat arbeiten kann:

    – „eine dauernd präsente fachärztliche Leitung,

    – eine Schwerpunkt-Funktionsdiagnostik,

    – einen leistungsgerechten standardisierten Personal-schlüssel,

    – ein interdisziplinär arbeitendes, qualifiziertes Teamder unterschiedlichen Fachberufe,

    – eine behindertengerechte Architektur,

    – ein rehabilitatives Milieu und

    – die Fortsetzung und Intensivierung bereits bestehen-der qualitätssichernder Maßnahmen.“

    Hinsichtlich der geriatrischen und gerontopsychiatrischenKompetenzen, der Fähigkeit, in multiprofessionellenTeams zusammenzuarbeiten, und der notwendigen Kom-petenzen zur Beratung und Aktivierung von hochaltrigenPatienten und deren Angehöriger, besteht in Deutschlandnoch erheblicher Bedarf der Weiterentwicklung der medi-zinischen Aus-, Fort- und Weiterbildung. Hier muss be-sonderes Augenmerk auf die Vermittlung entsprechenderDenk- und Arbeitsweisen gelegt werden, die sich an Funk-tionspotenzialen und -defiziten sowie Alltagsproblemen

    orientiert und sich damit deutlich von der herrschendentraditionellen organ- und krankheitsorientierten Perspek-tive unterscheidet (Stamm 2001: 43). Da die Akteure dergeriatrischen Versorgung Hochaltriger immer auch mitdem Sterben und dem Tod konfrontiert werden, müssenauch Fragen der Sterbebegleitung und der Palliativmedi-zin in der Weiterbildung angemessen berücksichtigt wer-den.

    Die wichtigste strukturelle Voraussetzung für die medizi-nische Versorgung der älteren Bevölkerung und insbeson-dere der Hochaltrigen ist der Zugang zu einem „abgestuf-ten Versorgungskonzept“, das ambulante, teilstationäre undstationäre Versorgungsinstitutionen integrativ miteinanderverbindet. Die Übergänge zwischen diesen Bereichen müs-sen mit möglichst geringem Verlust an Informationen überdie Patientinnen und Patienten und unter Vermeidung vondoppeltem diagnostischen Aufwand ermöglicht werden.

    Im ambulanten Sektor bilden die Hausärztinnen undHausärzte eine zentrale Komponente eines abgestuften Ver-sorgungungskonzeptes. Einen weiteren Baustein stellt dieambulante geriatrische Rehabilitation dar. Ambulante geria-trische Rehabilitation ist dann indiziert, wenn ein komple-xes Krankheits- und Behinderungsbild vorliegt, dessen Be-handlung die Kooperation mehrerer Berufsgruppen unterder Leitung einer Ärztin oder eines Arztes erfordert, und dieinstitutionellen und professionellen Voraussetzungen hin-reichend sind. Geriatrische Beratungsstellen, ambulantePflegedienste, niedergelassene Therapeutinnen und The-rapeuten und spezifische Angebote der Altenhilfe sind inden Prozess mit einzubeziehen.

    Im teilstationären Sektor nehmen die tagesklinische undtagespflegerische Versorgung eine Schlüsselposition ein.Sie dienen (a) der Verkürzung oder Vermeidung vollsta-tionärer Versorgung, (b) der Vermeidung von Drehtüref-fekten, (c) der Vermeidung von Immobilität der Patientin-nen und Patienten (d) der Vermeidung oder Linderung vonPflegebedürftigkeit. Diese Institutionen tragen darüberhinaus dazu bei, das informelle familiale Pflegepotenzialzu erhalten, indem sie die Hauptpflegepersonen entlastenund so Situationen der Überforderung vermeiden helfen.

    Die stationären Komponenten umfassen im Wesentlichendas Allgemeinkrankenhaus, die akutgeriatrischen Klinikenund Abteilungen, die geriatrischen Rehabilitationsklinikenund die gerontopsychiatrischen stationären Einrichtungen.Den Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft derKlinisch-Geriatrischen Einrichtungen zufolge (Meier-Baumgartner, H.-P. et al. 1998) werden im Durchschnitt pro100 000 Einwohner 50 bis 60 geriatrische Betten benötigt.Eine geriatrische Abteilung sollte dabei 60 Betten, eine ei-genständige geriatrische Klinik etwa 80 bis 120 Betten um-fassen. Im Sinne eines abgestuften Versorgungskonzeptssollten einer geriatrischen Klinik eine teilstationäre Ein-richtung (Tagesklinik, 15 Behandlungsplätze/100 000 Ein-wohner) und ein ambulanter Bereich angegliedert sein.Weitere nicht medizinische Bausteine eines abgestuftenVersorgungskonzeptes sind die Pflegeheime und die viel-fältigen Angebote des betreuten Wohnens.

  • – 228 –

    Eine Schwierigkeit bei der Bestandsaufnahme der geriatri-schen Versorgung in Deutschland liegt in der Heterogenitätder aktuellen Versorgungswirklichkeit. Es existieren bereitserfolgreiche Modelle, die eine weitgehende horizontale undvertikale Integration unterschiedlicher auf Hochaltrige zie-lender medizinischer, pflegerischer, therapeutischer und so-zialarbeiterisch-beratender Angebote erreicht haben. Dane-ben bestehen aber weiterhin fragmentierte unkoordinierteEinzelinstitutionen, deren Maßnahmen häufig nicht demheutigen geriatrischen Wissensstand entsprechen. Dies er-laubt keine einheitliche Bewertung der geriatrischen Verso-gungslandschaft.

    Im Folgenden wird auf unterschiedliche Bausteine dermedizinischen Versorgung für Hochaltrige im ambulan-ten, teilstationären und stationären Sektor eingegangen.Dabei soll zum einen versucht werden, das existierendenPatientenaufkommen im System und damit die heutigeBedeutung der betreffenden Institutionen nachzuzeich-nen. Zum anderen wird auf modellhaft entwickelte geria-trische Angebote und die ihnen zugrunde liegende Spezi-fik in Struktur und Intervention beleuchtet.

    Ein Schwerpunkt der Darstellung wird – wie schon er-wähnt – auf die hausärztliche ambulante Versorgung ge-legt. Hausärztinnen und Hausärzte genießen eine beson-dere Bedeutung, da sie nach wie vor die wichtigstenAnlaufstellen für hochaltrige Patientinnen und Patientendarstellen. Die gesundheitspolitischen Strategien zur Auf-wertung der Lotsen- oder Gate-keeper-Funktion derHausärzte lassen einen differenzierten Blick auf deren

    Versorgungsauftrag und -alltag im Hinblick auf ihre hoch-altrige Patientenschaft noch notwendiger erscheinen.Die-ser Schwerpunkt wird außerdem gewählt, weil die hausärzt-liche Versorgung, trotz der hohen Popularität der Forderungnach ihrer Funktionsstärkung, von der Versorgungsfor-schung recht stiefmütterlich behandelt wird. Die Kommis-sion hat deshalb jeweils eine schriftliche Expertise zur Frageder hausärztliche Versorgung Hochaltriger und den Alzhei-merpatienten in der hausärztlichen Praxis eingeholt (Fischer,G.C. et al. 2001).

    Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Versorgungsfragenfür demenzielle Patientinnen und Patienten. Dies ist zumeinen dem spezifischen Thema dieses Berichtes geschul-det, zum anderen sieht die Kommission die Probleme inder Versorgung Dementer als paradigmatisch an für denUmgang mit psychisch beeinträchtigten chronisch Kran-ken im deutschen Gesundheitswesen.

    Die gerontopsychiatrische Versorgung bedarf der gleichenmultiprofessionellen, mehrstufigen, integrierten Organisa-tion wie die internistisch-geriatrische Medizin, wobei engeVerbindung und Kooperation beider Teildisziplinen wün-schenswert ist. Obwohl die Betreuung und BehandlungDemenzkranker einen Schwerpunkt darstellt, dürfen da-rüber andere psychische Erkrankungen, vor allem Depres-sionen, nicht vernachlässigt werden. Auf die Ergebnisseeiner Untersuchung der Bundesarbeitsgemeinschaft derTräger Psychiatrischer Einrichtungen (BAG Psychiatrie)und die daraus resultierenden Leitlinien sei ausdrücklichhingewiesen (Bundesarbeitsgemeinschaft der Träger Psy-

    Übersicht 4-1

    Elemente eines abgestuften Versorgungskonzeptes

    Institution Versorgungsauftrag

    Ambulant

    Teilstationär

    Stationär

    Arztpraxis, Hausarzt Ambulante geriatrische Rehabilitation Ambulante Pflegedienste, Sozialstation Therapeuten-Praxis Geriatrische Beratungsstelle

    Kurzzeitpflege Tagesklinik Akutbehandlung Tagespflege

    Allgemeinkrankenhaus

    Akut-Geriatrie und geriatrische Rehabilitation Pflegeheim

    Betreutes Wohnen

    Medizinische Basisversorgung Rehabilitation, Behandlung, Prävention Pflege Rehabilitation und Erhaltungstherapie Beratung zur Gesundheitsversorgung und Altenpflege Pflege und Erhaltungstherapie Diagnostik, Rehabilitation

    Aktivierende Pflege, Erhaltungsprävention, Prävention Akutbehandlung, Diagnostik, Rehabilitation Diagnostik, Therapie, Rehabilitation, Prävention, Pflege, dauerhaftes Wohnen, Erhaltungstherapie Verschiedene Betreuungsangebote

  • – 229 –

    chiatrischer Krankenhäuser (BAG) 1997), ebenso auf dasentsprechende Kapitel der Empfehlungen der Experten-kommission zur Reform der Versorgung im psychiatrischenund psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich in derBundesrepublik Deutschland (Aktion psychisch Kranke1988) und die Expertise zum Dritten Altenbericht vonHelmchen und Kanowski (2001). Die Leitlinien der BAGPsychiatrie empfehlen als Orientierungsgröße für die Ver-sorgungsplanung einen Richtwert von 0,2 Betten/Plätzepro 1 000 Einwohner für die klinische gerontopsychiatri-sche Behandlung (30 bis 50 Betten/Plätze je Versor-gungsregion), wovon 20 bis 25 Prozent für die tagesklini-sche Behandlung vorgesehen werden sollen. Gerade indiesem Bereich besteht ein erhebliches Defizit. Von be-sonderer Bedeutung für den Vierter Altenbericht ist dasErgebnis der Erhebung der BAG Psychiatrie, dass von denin die Allgemeinpsychiatrie integrierten stationären Ver-sorgungsangeboten die Gruppe der hochaltrigen psychischKranken kaum erfasst wird (Helmchen & Kanowski 2001:57–63 und 76–80). Die Nachteile einer Versorgung psy-chisch kranker Älterer in der Allgemeinpsychiatrie zeigensich auch daran, dass sie im Vergleich zu denjenigen, diein spezialisierten gerontopsychiatrischen Abteilungen be-handelt werden, ein dreifach höheres Risiko haben, an-schließend in ein Pflegeheim verlegt zu werden.

    4.5.2 Ambulante medizinische Versorgung

    4.5.2.1 Hochaltrige als Klienten der Hausärzte35

    4.5.2.1.1 Bedeutung der hausärztlichen Versorgung für Hochaltrige

    In der aktuellen gesundheitspolitischen Diskussion wer-den unterschiedliche Konzepte zur besseren Vermittlungzwischen lebensweltlichen Gesundheitsproblemen undMedizinsystem und zur effizienteren Steuerung und Koor-dinierung der medizinischen Versorgungsangebote disku-

    tiert. Dem überwiegenden Teil der Konzepte ist gemein-sam, dass sie eine bedeutende Stärkung und Aufwertungder Rolle der hausärztlichen bzw. primärärztlichen Versor-gung ins Zentrum ihrer Reformüberlegungen stellen. Be-reits gegenwärtig nimmt die hausärztliche Versorgung derHochaltrigen einen breiten und bedeutenden Raum ein.

    Aus der Berliner Altersstudie geht hervor, dass 93 Prozentder 70-Jährigen und Älteren in regelmäßiger hausärztli-cher Betreuung stehen. 42 Prozent der betreuenden Ärz-tinnen und Ärzte waren Allgemeinmediziner oder prakti-sche Ärzte, bei 56 Prozent handelte es sich um Internisten.Die durchschnittliche Anzahl der Kontakte der 70-Jähri-gen und Älteren pro Quartal lag in der Berliner Altersstu-die bei 6,3. Allerdings nehmen auch 60 Prozent minde-stens einen weiteren (Fach-)Arzt in Anspruch. (Linden etal. 1996: 480).

    Auch innerhalb des gesamten Klientels von Hausärztinnenund Hausärzten stellen die Hochaltrigen eine bedeutendeGruppe dar. Daten des ADT-Panel-ZI Nordrhein aus demQuartal III/2000 zeigen, dass über 70-Jährige 26 Prozentder Gesamtklientel bei hausärztlich tätigen Internisten aus-machen, bei Allgemeinmedizinern bzw. praktischen Ärz-ten sind es durchschnittlich 19 Prozent (Abbildung 4-2).Die älteren Patientinnen und Patienten haben zudem häu-figer als jüngere Kontakt mit ihrem Hausarzt. Die über 80-Jährigen sehen ihre Hausärztin bzw. ihren Hausarztdurchschnittlich sechs Mal im Quartal.

    Im Stadt-Land-Vergleich zeigt sich, dass der Hausarzt fürdie Versorgung Hochaltriger im ländlichen Raum einehöheren Stellenwert hat als in städtischen Regionen.Grund dafür ist u. a., dass die spezialärztliche Versor-gungsdichte um so niedriger liegt, je ländlicher die unter-suchte Region ist (Fischer, G.C. et al. 2001). Für Allge-meinärzte lässt sich ein solcher Trend nicht nachweisen.Hierfür spielt die unterschiedliche Niederlassungsdichteeine wesentliche Rolle (siehe Tabelle 4-10, Seite 202).

    Abbildung 4-2

    Anteil der älteren Altersgruppen an der gesamten hausärztlichen Klientel

    Quelle: Fischer, G.C. et al. 2001: Datenbasis ADT-Panel-ZI Nordheim 2000.

    35 Die Ausführungen dieses Kapitels stützen sich wesentlich auf die Expertisen von Fischer, G.C. et al. 2001.

  • – 230 –

    Den KBV-Angaben ist zu entnehmen, dass in ländlichenGebieten bis zu rund 45 000 Einwohner auf einen alsFachspezialisten tätigen Internisten kommen, wohinge-gen diese Relation für Allgemeinärzte sich wenig unter-scheidet und sowohl im städtischen als auch im ländlichenRaum bei rund 1 600 liegt. Dies unterstreicht die beson-dere Bedeutung der Hausärztinnen und Hausärzte für dieVersorgung zu Hause lebender älterer Patientinnen undPatienten auf dem Lande.

    4.5.2.1.2 Charakteristik der hausärztlichen Versorgungssituation – Potenziale und Probleme

    In geriatrischen Reha-Kliniken machen Schlaganfälle,Schenkelhalsfrakturen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Dia-betes und Arthrose den Hauptteil der Diagnosen aus. Im Ver-gleich dazu ist die primärmedizinische bzw. hausärztlicheVersorgung alter Menschen mit einem wesentlich breite-ren Krankheitsspektrum konfrontiert. Die zehn häufigstenDiagnosen in der Primärversorgung machen weniger als50 Prozent des gesamten Diagnosenspektrums der über69-Jährigen aus (siehe Fischer, G.C. et al. 2001).

    Die medizinische Versorgung und Betreuung durch dieHausärztin resp. den Hausarzt ist bei den alten Menschenund Hochaltrigen durch besondere Merkmale gekennzeich-net:

    – Hausärzte sind in der Regel die erste Anlaufstelle bei gesundheitlichen und funktionellen Problemen. InDeutschland ist davon auszugehen, dass 90 % allerüber 65-jährigen Patientinnen und Patienten einenHausarzt regelmäßig konsultieren.

    – Der Hausarzt hat gerade bei den älteren und hochaltri-gen Patientinnen und Patienten eine so genannte Lot-senfunktion (gate-keeping). Er berät und führt den Pa-tienten in dem vielfältigen medizinischen Angebot.Insbesondere steht er für den Patienten im koordinie-renden Kontakt mit verschiedenen Anbietern pflegeri-scher Hilfsangebote und anderen medizinischer Leis-tungsanbietern. Fischer et al. (2001) nennen als Basisder interkollegialen Kooperation die Überweisungs-tätigkeit. Die Entscheidung, einen hochaltrigen Patien-ten zu überweisen, geht in der Regel vom Hausarzt aus.Ältere Patientinnen und Patienten vertrauen auf die Be-reitschaft ihres Hausarztes, einen Facharzt hinzuzuzie-hen, wenn es erforderlich ist (Thies-Zajonc 1995). Ne-ben der interkollegialen Kooperation kommt demHausarzt in der Versorgung Hochaltriger eine großeBedeutung zu: in der Zusammenarbeit mit Pflegekräf-ten und nicht ärztlichen Therapeutinnen und Thera-peuten, sowie den Sozialdiensten, dem MedizinischenDienst der Krankenkassen (MDK) und weiteren sozia-len Einrichtungen. Anders als bei der innerkollegialenwerden in der interdisziplinären Kooperation erhebli-

    Tabel le 4-10

    Hausarzt- und Facharztdichte (am Beispiel der Internisten) nach Regionstyp

    Fachärztlich tätige Internisten Hausärzte Regionstypen

    Einwohner je Arzt/Ärztin

    Verdichtungsräume

    1 Kernstädte 12 276 1 585

    2 Hochverdichtete Kreise 30 563 1 872

    3 Normalverdichtete Kreise 33 541 1 767

    4 Ländliche Kreise 34 388 1 752

    Räume mit Verdichtungsansätzen

    5 Kernstädte 9 574 1 565

    6 Normalverdichtete Kreise 31 071 1 659

    7 Ländliche Kreise 44 868 1 629

    Ländliche Regionen

    8 Verdichtete Kreise 23 148 1 490

    9 Ländliche Kreise 31 876 1 474

    Sonderregion

    10 Ruhrgebiet 24 396 2 134

    Quelle: Fischer, G. C. et al. 2001, Statistik der KBV und Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (1998).

  • – 231 –

    che Probleme in der Kommunikation und Zusammen-arbeit wahrgenommen. Die Auswirkungen sind gra-vierend: Sie liegen in der Diskontinuität der Versor-gung älterer Patientinnen und Patienten und in derDesintegration einzelner Aufgabenbereiche der Be-rufsgruppen (Döhner & Marben 1994, Döhner et al.1995, Kauss et al. 1998).

    – Es handelt sich in aller Regel um hausärztliche Tätigkeit,die durch eine Langzeitversorgung, z. B. regelmäßigeHausbesuche, und eine hohe Behandlungskontinuitätbei den bestehenden chronischen Erkrankungen ge-kennzeichnet ist.

    – Das komplexe Ineinandergreifen der medizinischen,psychischen und sozialen Faktoren bei der Versorgungder älteren Patientinnen und Patienten, die zu Hauseoder in Pflegeheimen leben, wird von den Hausärztenin der Regel gesehen und berücksichtigt. Eine wich-tige Rolle spielt der Hausarzt auch in der präventivenBeratung Älterer.

    – Die Behandlungspraxis muss immer die sozialen Be-ziehungen der hochaltrigen Patientinnen und Patien-ten als potenziell unterstützende oder auch belastendeFaktoren mit berücksichtigen. Hausärztliche Versor-gung ist eine familienzentrierte Versorgung.

    – Es handelt sich um eine gemeindenahe Versorgung, dadie Nutzung von Ressourcen im regionalen Umfeldsystematisch für die Organisation von kompensatori-schen Hilfen bei krankheitsbedingten Funktionsein-schränkungen herangezogen werden muss und denHausärzten hier eine koordinierende Aufgabe zufällt.

    Die geschilderten Aufgaben der primärmedizinischen Ver-sorgung zeigen, dass die Hausärztin und der Hausarzt imPrinzip in der einzigartigen Lage sind, die gesundheitlicheGesamtsituation einschließlich ihrer sozialen und funktio-nalen Auswirkungen zu überblicken und aufgrund desLangzeitkontaktes auch die psychologische Entwicklungdes Patienten zu kennen.

    Für die hausärztliche Versorgung des alten Menschen er-geben sich weitere Herausforderungen. Im Zusammen-hang mit chronischen Erkrankungen bestehen enge Wech-selbeziehungen zwischen psychischer und physischerMorbidität, Funktionseinschränkungen, sozialer Aktivitätund gesundheitsbezogener Lebensqualität. Die Multimor-bidität mit ihrer oft uncharakteristischen Ausprägung vonKrankheitserscheinungen (Bruder et al. 1994) erfordert einAbwägen zwischen umfangreichen diagnostischen Scree-ning-Maßnahmen (Schrotschuss-Diagnostik) und punktu-ell gezielter Ursachensuche (Fischer, G.C. et al. 2001).Auch im therapeutischen Bereich muss abgewogen wer-den, welche Erkrankungen primär behandlungsbedürftigsind und welche Nebenwirkungen und Interaktionendurch multiple Interventionsmaßnahmen entstehen kön-nen. Dies gilt besonders für eine kritisch abgewogene,häufig unumgängliche gleichzeitige Behandlung mit meh-reren Medikamenten. Hierbei sind unerwünschte Neben-wirkungen und Wechselwirkungen der Medikamente unter-einander zu berücksichtigen. Ärztinnen und Ärzte können

    Abbildung 4-3

    Durchschnittliche Anzahl von Gesundheitsproblemennach Alterskohorten

    Gestreifter Bereich der Balken: Anzahl der dem Hausarzt bekanntenProbleme, gepunkteter Bereich der Balken: durch ein Screening neu auf-gedeckte Anzahl von Gesundheitsproblemen.Quelle: Fischer, G.C. et al. (2001); Basisdaten: AGES Studie 1994.

    sich zudem kaum auf wissenschaftliche Evidenz zur Be-handlung von Erkrankungen im Alter stützen, da beson-ders hochaltrige Menschen in aller Regel von systemati-schen Studien ausgeschlossen werden (Earl-Slater 1998;Pientka & Friedrich 2000). Schwierig gestaltet sich auchdie Übertragbarkeit der Ergebnisse von Interventionsstu-dien für die hausärztliche Situation, da sie im experimen-tellen Setting stattfinden und nicht der ärztlichen Alltags-praxis entsprechen.

    Sowohl für die Erkrankungen als auch für die Funktions-einbußen im Alter gilt, dass sie in ihrer Entstehung undAusprägung bei Betagten und Hochaltrigen äußerst viel-fältig sind. Gerade bei den Hochaltrigen spielen altersty-pische Beschwerden und Symptome eine große Rolle, dienicht eindeutig bestimmten Erkrankungen zuzuordnen sind.Die häufigsten Beschwerden (mehr als 30 Prozent) bei über70-Jährigen und Älteren sind nach der HannoverschenAges-Befragung: Sturz, Schwindel, Atemnot, chronischerSchmerz, Inkontinenz- und Prostataprobleme, Angst, Ver-lusterlebnis und Kontaktdefizite. Aus der Sicht derHausärztinnen und Hausärzte sind Depressionen, kogni-tive Verluste, Einschränkungen der Mobilität, chronischerSchmerz und die Einsamkeit die vorrangigsten Problemein der Betreuung Hochaltriger (Fischer, G.C. et al. 2001).

    Ein für die hausärztliche Versorgung sehr relevantes Al-tersphänomen ist schließlich das so genannte „underre-porting“ (Junius et al. 1995). Etliche in Großbritanniendurchgeführte Studien belegen, dass erst bei einem arzt-in-itiierten Kontakt – z. B. bei einer Vorsorgeuntersuchung –wichtige Gesundheitsprobleme im Alter zu Tage gefördertwerden (Junius et al. 1994). Auch die Hannoversche Stu-die zum geriatrisch-gerontologischen Screening von 1994belegte, dass dem Hausarzt höchstens zwei Drittel allerGesundheitsprobleme seiner älteren Klientel vor der Un-tersuchung bekannt waren (siehe Abbildung 4-3, Fischer,G. C. et al. 1997).

  • – 232 –

    Eine weitere Herausforderung für den Hausarzt in der Be-handlung der Hochaltrigen ist die hausärztliche Versor-gung Sterbender. Ein Problem in der palliativen Betreu-ung moribunder Patientinnen und Patienten stellt dieSchmerztherapie dar, die noch immer als unzureichendanzusehen ist. Wenn es für diese Patientinnen und Patien-ten eine ausreichende ambulante Schmerztherapie gäbe,könnte ein Teil der Einweisungen in Krankenhäuser oftvermieden werden. Neben den medizinischen Problemenstellt die Versorgung dieser Personen auch eine seelischeBelastung für das Pflegepersonal und die Hausärztinnenund Hausärzte dar. Bislang wurden nur auf Modellebenepalliativmedizinische ambulante Betreuungsnetze für zuHause Sterbende erprobt. Aus hausärztlicher Sicht wäreeine Verbesserung der Zusammenarbeit mit Palliativpfle-gediensten und ambulanten Hospizdiensten geeignet, diehausärztliche Betreuung Hochaltriger zu optimieren undzu erleichtern.

    Von Bedeutung ist auch die Betrachtung des Bedarfs anärztlichen Leistungen in Abhängigkeit vom Alter. Fischeret al. (2001) haben für die SachverständigenkommissionDaten des Arzt-Panels der Kassenärztlichen VereinigungNordrhein ausgewertet, das ca. 450 Arztpraxen ein-schließt. Es ließen sich für das 1. Quartal 2001 die Verän-derungen des Leistungsbedarfs, der Arztkontakte und derLeistungsgewährung nach dem Patientenalter darstellen.Für die absolute Patientenzahl zeigt sich in dieser Region,dass ab dem 70. Lebensjahr die Zahl der Patientinnen undPatienten wegen der zunehmenden Sterblichkeit erwar-tungsgemäß stark abnimmt. Die Anzahl der abgerechne-ten Leistungsziffern (EBM-Ziffern) pro Quartal zeigt da-gegen einen entgegengesetzten Trend: im Alter von 60 bis69 Jahren werden 13,7 Leistungsziffern; im Alter vonüber 90 Jahren 20,7 Leistungsziffern pro Patient und proQuartal abgerechnet. Während also die Zahl der Patien-tinnen und Patienten mit zunehmendem Alter stark ab-nimmt, ist mit einer zunehmenden Zahl erbrachter Leis-tungen pro Patient zu rechnen.

    Mit dem Alter nimmt auch die Zahl von Arzt/Patienten-kontakten und Diagnosen je Patient zu. Während die 60-bis 69-Jährigen den Hausarzt durchschnittlich 4,2 mal proQuartal kontaktieren, steigt diese Zahl auf rund 6,6 Kon-takte/pro Quartal bei den Hochaltrigen an. Parallel steigtauch der Leistungsbedarf nach abgerechneten Punktwer-ten absolut je Patient von 1 330 Punkten bei den 60- bis69-Jährigen auf über das Doppelte mit 2 776 Punkten beiüber 89-Jährigen.

    Betrachtet man den Leistungsbedarf von allgemeinärzt-lich behandelten Patientinnen und Patienten – gegliedertnach den Leistungsblöcken der Kapitel des EinheitlichenBewertungsmaßstabs (EBM), so ergibt sich für die ein-zelnen Altersdekaden ein unterschiedlicher Verlauf desLeistungsbedarfs. Alle Arten von Leistungsanforderun-gen, außer die der Gruppe „Grundleistungen, Prävention,Sonstige Hilfen“, steigen mit zunehmendem Alter in deneinzelnen Altersgruppen kontinuierlich bis zum 60. Le-bensalter an. Dabei nehmen die der Gruppe „Grundlagen,Prävention. Sonstige Hilfen“ zugeordneten Leistungsan-forderungen bis zum 60. Lebensjahr ab. Nach dem 60. Le-

    bensjahr ändert sich der Verlauf der verordneten Leistun-gen. Leistungen der Gruppe „Grundlagen Prävention,Sonstige Hilfen“ werden wieder zunehmend angefordert,die übrigen Leistungen immer weniger. Sie beinhalten diehausärztliche Grundvergütung, Ordinations-, Konsultati-onsgebühren, hausärztliche Beratungs- und Betreuungs-grundleistungen (therapeutisches hausärztliches Gespräch),Besuche, Ganzkörperuntersuchung, Blutentnahme, Injek-tionen u. a. Die als typischerweise hausärztlich zu be-zeichnenden Leistungen werden für Patientinnen und Pa-tienten ab dem 60. Lebensjahr zunehmend angefordert,andere Leistungen, die stärker spezifisch diagnostisch ori-entiert sind, werden von den Ärztinnen und Ärzten weni-ger verordnet. Ob dieses Verhalten angemessen ist oderzunehmender diagnostisch-nihilistischer Einstellung ge-genüber hochaltrigen Patientinnen und Patienten folgt,kann aufgrund dieser Daten nicht beurteilt werden.

    4.5.2.2 Hausärztliche Versorgung Demenzkranker

    Wegen der zukünftigen Zunahme der Zahl der Hochaltri-gen, wird die Krankheit Demenz auch in der hausärztlichenVersorgung einen deutlich höheren Stellenwert bekommen.Ein breites Wissen der Diagnostik und Behandlung unter-schiedlicher Formen der Demenz ist deshalb dringend ge-fordert, denn diese Krankheit wirkt sich auf nahezu alleHandlungen und Lebensbereiche des älteren Patientenaus. Bereits jetzt, bei derzeit etwa 1 Million manifest Er-krankter, entfallen im Durchschnitt etwa 25 bis 35 De-menzpatienten auf einen Hausarzt.

    Hausärztinnen und Hausärzte spielen in der Versorgungvon Demenzkranken nicht nur deshalb eine Schlüssel-rolle, weil sie aufgrund der hohen Zahl von Patientinnenund Patienten, der somatischen Komorbidität und des imKrankheitsverlauf wachsenden Erfordernisses von Haus-besuchen hauptverantwortlich für die medizinische Lang-zeitbetreuung sind. Sie sind für die an einer Demenz er-krankten Patientinnen und Patienten in der Regel auch dieersten Kontaktpersonen im medizinischen Versorgungs-system und nehmen damit entscheidenden Einfluss aufrechtzeitiges diagnostisches und damit auch therapeuti-sches Vorgehen. Wie sie diese Rolle bei dem Erkennen,der Differentialdiagnostik und der Behandlung von De-menzen wahrnehmen, ist lediglich bruchstückhaft aus we-nigen Untersuchungen bekannt, deren Resultate einerseitsnicht unerhebliche Defizite aufzeigen, andererseits bele-gen, dass angemessene Hilfen und Leitlinien die Effizienzder Hausärzte in diesem Feld deutlich verbessern können.

    Grundsätzlich sollten Hausärztinnen und Hausärzte ambesten in der Lage sein, demenzielle Störungen frühzeitigzu erkennen, da sie regelmäßig von der Mehrheit der Al-tenbevölkerung konsultiert werden und häufig seit Jahrenmit ihren Patientinnen und Patienten vertraut sind. EineReihe von Studien weckt aber Zweifel an der rechtzeitigenEntdeckung und Diagnose. Teilweise sind Hausärztinnenund Hausärzte über einfache Grundlagen der Diagnostikund Behandlung demenzieller Erkrankungen nur unzurei-chend informiert. Dies liegt zum großen Teil daran, dasses bisher nicht gelungen ist, Forschungserkenntnisse aus-

  • – 233 –

    reichend in die Praxis zu vermitteln. Selbst Fachärztinnenund Fachärzte führen oft keine konsequente Diagnostikund somit auch keine adäquate Therapie durch (Hallauer etal. 1999). International übereinstimmend ergibt sich, dassdie Spezifität der hausärztlichen Einschätzung von Demen-zen zwar hoch ist, die Sensitivität hingegen gering (Eefstinget al. 1996, Mant et al. 1988, O’Connor et al. 1988, Wind etal. 1994), d. h. bei 40 bis 60 Prozent der Demenzkankenwird diese Erkrankung vom Hausarzt übersehen. Einejüngst von Sandholzer et al. (1999) in 67 Allgemeinpraxenaus dem Raum von Hannover und Leipzig durchgeführteUntersuchung erbrachte noch ungünstigere Ergebnisse.Bemessen an einem kognitiven Screening, betrug die Sen-sitivität der hausärztlichen Einschätzung nur 14 Prozent.Bei 86 Prozent der im Testverfahren auffälligen und somitmöglicherweise an demenziellen Störungen leidenden Pa-tientinnen und Patienten waren dem Hausarzt die kogniti-ven Beeinträchtigungen nicht bekannt. Ähnliche Resultatewurden in einer Studie mit Fallvignetten erzielt (Sandhol-zer & Stoppe 1996), in der nur 14,4 Prozent der Hausärz-tinnen und Hausärzte bei der Schilderung leichter kogni-tiver Defizite und 41,5 Prozent bei der Schilderung einermittelgradigen Demenz den Verdacht auf eine demenzi-elle Entwicklung äußerten.

    Zahlreiche Gründe dürften zu dieser ungenügenden Treff-sicherheit, die insbesondere auf eine mangelhafte Früher-kennung leichterer Demenzstadien zurückgeht, beitragen.In einer nicht publizierten Untersuchung der Anfang derNeunzigerjahre arbeitenden Gruppe „Ärzte gegen De-menz“ konnte bei einer Umfrage unter 1 000 Ärztinnen undÄrzten lediglich bei 5 Prozent ein hinreichender Kenntnis-stand zu Demenzen gefunden werden. Neuere Untersu-chungen bestätigen diese Ergebnisse. So werden erheblicheDefizite in Diagnostik, d. h. fehlender Einsatz obligater Un-tersuchungsmethoden, deutlich (Hallauer et al. 1999).

    Auch nach einer französischen Studie an 300 Allgemein-medizinerinnen und -medizinern fehlt es teilweise angrundlegenden Kenntnissen (Ledesert & Ritchie 1994).Nur 30 Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzte war dieExistenz klinischer Diagnosekriterien wie DSM-III-R be-wusst; nur 12 Prozent gaben an, sie im Praxisalltag he-ranzuziehen. Die Zahl der dementen Patientinnen und Pa-tienten, die sie im Verlauf eines Jahres sehen, beziffertensie im Mittel auf sechs Fälle, was auf eine erhebliche Un-terschätzung der Häufigkeit von Demenzerkrankungenhindeutet. Kurze kognitive Screeningverfahren, die bisheroffenbar kaum Eingang in die Primärversorgung gefun-den haben (Sandholzer & Stoppe 1996;Hallauer et al.1999), verwendeten nach eigenen Angaben nur 28 Pro-zent der Ärztinnen und Ärzte. Wenn keine aktive Früh-diagnose betrieben wird, können viele Demenzen in denAnfangsstadien der Aufmerksamkeit entgehen, da die Pa-tientinnen und Patienten nur selten über zunehmende Ge-dächtnisstörungen klagen und die Angehörigen gewöhn-lich erst bei stärker fortgeschrittenen BeeinträchtigungenRat suchen. So stellte O’Connor (1994) fest, dass älterePatientinnen und Patienten mit leichter Demenz auf ge-zielte Nachfrage zwar großenteils Gedächtnisproblemeeinräumten, diese jedoch bagatellisierten und in keinemFall spontan im Kontakt mit dem Arzt zur Sprache brach-

    ten. Die betreuenden Angehörigen bemerkten durchausdie Einbußen, hielten sie aber für eine unausweichlicheBegleiterscheinung des hohen Lebensalters, über die sichnur wenige mit einem Arzt berieten.

    Eine Studie in Mannheimer Allgemeinpraxen (Cooper, B.et al. 1992) legt hingegen den Schluss nahe, dass es nichtso sehr die fehlende Vertrautheit mit dem Zustand der Pati-entinnen und Patienten ist, die einen bedeutsamen Einflussauf die Diagnosegenauigkeit nimmt, sondern möglicher-weise die fehlende Vertrautheit mit den Diagnosekriterien.Denn eine Einschätzung der kognitiven Störungen anhandeines kurzen Leitfadens, in dem die Demenzschwereg-rade umgangssprachlich charakterisiert wurden, führtezur korrekten Identifikation von mehr als 90 Prozent derDemenzkranken (99 Prozent der schweren und 79 Prozentder leichten Formen). Den Hausärztinnen und Hausärztenist danach der kognitive Zustand ihrer Patientinnen und Pa-tienten wesentlich besser bekannt, als die zuvor genanntenResultate vermuten lassen. Sie scheinen die Diagnose De-menz aber sehr zurückhaltend zu verwenden und den fort-geschrittenen, von Pflege- und Beaufsichtigungsbedürftig-keit gekennzeichneten Erkrankungsstadien vorzubehalten.

    Auch wenn sie Verschlechterungen der kognitiven Fähig-keiten bei ihren älteren Patientinnen und Patienten beob-achten, nehmen die Hausärztinnen und Hausärzte häufigzunächst eine abwartende Haltung ein. Es scheint dieMeinung vorzuherrschen, eine Behandlung verspreche sowenig Aussicht auf Erfolg, dass für die Patientinnen undPatienten aus der Diagnose einer Demenz kein Nutzen re-sultiere. Für alle Beteiligten sei es deshalb umso besser, jeweniger man – zumindest in den frühen Krankheitssta-dien – darüber spreche und zur Abklärung der Störungenund ihrer Behandlung unternehme (O’Connor 1994). Nurselten wird eine weitere Diagnostik und Therapie einge-leitet, selbst wenn die Resultate einer objektiven Lei-stungsprüfung vorliegen (Sandholzer et al. 1999). Bildge-bende und andere apparative Diagnoseverfahren werdenbei beginnenden bzw. leichten Störungen häufig aus Ko-stengründen selten in Erwägung gezogen. Sofern sie zumEinsatz kommen, geschieht dies erst im schwereren Sta-dium der Erkrankung und auch dann in unzureichendemUmfang (Hallauer et al. 1999).

    In der Mannheimer Altenheimstudie und in der BerlinerAltersstudie zeigen sich auch erhebliche Defizite bei derBehandlung: In beiden Studien fand sich eine erheblicheUnterversorgung Demenzkranker mit Antidementiva,während Neuroleptika zur Ruhigstellung sehr häufig ver-ordnet wurden. Ebenso wurde ein erheblicher Anteil de-pressiver Patientinnen und Patienten überhaupt nicht odernicht adäquat (z.B. mit Antidepressiva) behandelt.

    Repräsentative Studien zum Überweisungsverhalten derHausärztinnen und Hausärzte fehlen bisher. Aus den aufdie Befragung von Angehörigen Demenzkranker gestütz-ten Ergebnissen einer Feldstudie ist zu schließen, dasszwar alle durch einen Hausarzt betreut werden, dass abernur ein Drittel der älteren Patientinnen und Patienten imKrankheitsverlauf in fachärztliche Behandlung gelangt(Bickel 1995a). Die Inanspruchnahmerate verhält sich in-vers zur sozialen Schichtzugehörigkeit und zum Alter bei

  • – 234 –

    Erkrankungsbeginn. Entwickelt sich die Demenz im Altervon weniger als 75 Jahren, wird in wenigstens zwei Drit-tel der Fälle ein Facharzt zu Rate gezogen, während dieAnteile mit zunehmendem Alter steil auf schließlich nurknapp mehr als 10 Prozent bei den über 90-Jährigen ab-fallen. Hieraus lässt sich für die Gruppe der Hochaltrigeneine besonders nachteilige Behandlung durch Hausärztin-nen und Hausärzte ableiten. Es ist allerdings zu beachten,dass die Regionen eine unterschiedliche Versorgungsdichtemit Fachärztinnen und Fachärzten aufweisen (siehe Tabelle4-10). Die Versorgung mit Nervenärzten und Psychothera-peuten ist in den Stadtstaaten sowie Baden-Württembergund Bayern am Besten, in den neuen Bundesländern und imNorden mit Ausnahme von Schleswig-Holstein amschlechtesten (Fritze et al. 2001).

    Die größten Chancen auf umfassende und sachgerechteVersorgung scheinen jüngere Patientinnen und Patientenzu haben. Bei Hochaltrigen, die oft ausschließlich durchden Hausarzt betreut werden, setzen diagnostische Maß-nahmen vielfach zu spät ein, sind unzureichend oder wer-den gänzlich vernachlässigt, da man glaubt, keine geeig-neten therapeutischen Konsequenzen ziehen zu könnenoder es „lohne“ sich angesichts des hohen Lebensaltersnicht mehr. Die Defizite im diagnostischen und therapeu-tischen Bereich verlangen nach einer besseren Vermitt-lung des Kenntnisstandes auf der Ebene der Primärver-sorgung.

    Helmchen & Kanowski (2001: 69) sehen für eine Verbes-serung der ambulanten Versorgung speziell der Demenz-kranken zwei Alternativen:

    „Wenn diese Aufgabe von Hausärzten/Allgemeinärztenübernommen werden sollte, verlangt dies eine inten-sive, flächendeckende Schulung derselben, bzw. einewesentlich intensivere konsiliarische Kooperation perÜberweisung mit niedergelassenen Fachärzten fürPsychiatrie, deren gerontopsychiatrische Kompetenzebenfalls im Rahmen der Weiterbildung zu stärkenwäre. Der alternative Weg wäre, Gedächtnissprech-stunden/Memory Clinics in ausreichender Zahl undFlächendeckung zu gründen, die allerdings von denregionalen Kassenärztlichen Vereinigungen im Rah-men der Sicherstellung der kassenärztlichen Versor-gung akzeptiert werden müßten, um ihre Leistungenim Rahmen des Budgets der gesetzlichen Kranken-versicherungen abrechnungsfähig zu gestalten. Mankönnte durchaus auch daran denken, die Entwicklungpsychiatrischer Praxen mit Schwerpunkt Gerontopsy-chiatrie anzuregen, die dann eine weitere Alternativefür die Lösung dieses Problems böten.“

    Was darüber hinausgehend die personelle Verbesserungder ambulanten gerontopsychiatrischen Versorgung be-triff, so sei auf die Ausführungen der genannten Autorenzu den schon von der Expertenkommission für die Psy-chiatrie (Aktion Psychisch Kranke e.V. 1988: 74–75) emp-fohlenen Gerontopsychiatrischen Zentren bzw. Geronto-psychiatrischen Versorgungsverbünden hingewiesen.Beide haben sich in der Praxis als ergänzende Einrichtun-gen bzw. integrativ im Sinne der Vernetzung wirksamer

    Zusammenschlüsse regional existierender Versorgungs-bausteine bewährt.

    Weiterbildungsordnung und Fortbildungsprogramme fürÄrztinnen und Ärzte der Allgemeinmedizin sollten ver-stärkt gerontopsychiatrisches Wissen vermitteln, gleich-zeitig aber die Grenzen der hausärztlichen diagnostischenund therapeutischen Kompetenz aufzeigen und Anhalts-punkte nennen, in welchen Fällen die Hinzuziehung ge-rontopsychiatrischen Sachverstandes angezeigt ist. Dia-gnostik und Behandlung schwieriger und komplizierterpsychischer Erkrankungen, und das gilt auch für demenzi-elle Krankheitsbilder, müssen der Kompetenz des Psychia-ters/Gerontopsychiaters vorbehalten bleiben (Kretschmar1993a, b). Ärztliche Weiterbildung über demenzielle Er-krankungen – das gilt im Übrigen auch für Depressionen –ist deshalb eine besonders dringende Aufgabe. Diese Auf-gabe wurde bislang nahezu ausschließlich durch finanzielleUnterstützung der Industrie ermöglicht. Durch die neuenRegelungen zur Vorteilsannahme (Antikorruptionsverein-barung) und der damit möglicherweise verbundenen straf-rechtlichen Probleme, ist es nicht abwegig zu befürchten,dass die Weiterbildung im Bereich Demenz gänzlich zumErliegen kommen könnte. Hieraus ergibt sich eine alter-native Konsequenz: entweder staatlich geförderte ärztlicheFortbildungsprogramme zu initiieren oder Regelungen zuschaffen, die die sonst allseits geforderte Drittmittelförde-rung nicht weitgehend unmöglich machen.

    4.5.2.3 Hausärztliche Versorgung Hochaltriger im Heim36

    Es existieren in Deutschland im Wesentlichen zwei Mo-delle für die ärztliche Versorgung von alten Heimbewoh-nern. Zum einen erfolgt die ärztliche Versorgung durchniedergelassene Hausärztinnen und Hausärzte in Formvon regelmäßigen „Hausbesuchen“ bei ihren Patientinnenund Patienten im Pflegeheim, z. B. wöchentlich bis 14-tä-gig, wobei die meisten Pflegeheime mit mehreren Hausärz-tinnen und/oder Hausärzten zusammenarbeiten. Zum ande-ren existieren oder existierten in einigen BundesländernHeimarztsysteme. Dort besteht für die Heimbewohner dieMöglichkeit, sich von angestellten Ärztinnen und Ärztendes Heimes medizinisch versorgen zu lassen. Durch diemit der Pflegeversicherung veränderten Finanzierungs-modalitäten wurden allerdings neue Probleme aufgewor-fen, die dazu geführt haben, dass Heimarztmodelle nurvereinzelt zu finden sind.

    Die hausärztliche Versorgung Hochaltriger ist unabhängigvon dieser Systemfrage bis heute ein von zahlreichen Pro-blemen und Konflikten geprägtes Versorgungsfeld. Zu-nächst unterscheiden sich die Pflegeheimbewohner ganzmassiv von der durchschnittlichen Wohnbevölkerung. Eshandelt sich in der Regel um intensiv hilfs- und pflegebe-dürftige, multipel chronisch kranke, alte bis hochaltrige

    36 Die Ausführungen dieses Abschnitts sützen sich im Wesentlichen aufdie Expertise Fischer, G.C. et al. 2001 für den vorliegenden Altenbe-richt sowie eine Expertise von Helmchen & Kanowski 2001 für denDritten Altenbericht.

  • – 235 –

    Menschen, die in ihrer Mobilität bis hin zur Bettgebun-denheit deutlich eingeschränkt sind und intensiver ärztli-cher Betreuung bedürfen. Hochaltrige Heimbewohnerkönnen in der Regel die Praxis eines niedergelassenHausarztes nicht mehr aufsuchen und so wird der aus ärzt-licher Perspektive sehr aufwendige „Hausbesuch“ bei die-sen Patientinnen und Patienten von der Ausnahme zur Re-gel.

    Aus der Sicht niedergelassener Ärzte ergeben sich weitereProbleme. Chronisch kranke, multimorbide Pflegeheim-patienten bedürfen (kosten-)intensiver Behandlung undMedikation. Sie belasten damit das diagnostische, Arznei-mittel- und sonstige Therapiebudget erheblich, vor allemunter der Bedingung der Budgetierung. Aus einer rein öko-nomischen Perspektive führt dies häufig dazu, dass Arzt-praxen sich nur die Betreuung einer begrenzten Anzahlvon Pflegeheimpatienten „leisten“ können. Ferner habendie behandelnden niedergelassenen Ärztinnen und Ärztekeinen Einfluss auf die Prinzipien der Heimführung, dietherapeutische Milieugestaltung, die allgemeine und indi-viduelle Planung und Durchführung von Pflege- und Re-habilitationsmaßnahmen.

    Für die Institution Pflegeheim verbinden sich Problememit der zum Teil großen Anzahl der Hausärzte, die Pati-entinnen und Patienten im Heim haben. Je mehr Ärztin-nen und Ärzte in einem Heim ein und aus gehen, um sounübersichtlicher ist die Handhabung der medikamentö-sen P