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4. PHILOSOPHISCHE PROBLEMATISIERUNG: ZUR KRITIK DES OFFENBARUNGSGLAUBENS
Offenbarungskritik – ein historischer Einstieg
Am 26. Juni des Jahres 363 n. Chr. stirbt eine historisch interessante Figur: Julian Apostata, ein theologischer Renegat der antiken Welt. Mit seinem Tod wird ein Schlussstrich unter eine lange Zeit offene Rechnung gezo‐gen, die das Christentum den religiösen Traditionen des römischen Impe‐riums aufgemacht hatte. Wolfram Hogrebe hat darauf aufmerksam ge‐macht, dass es sich um das vielleicht „spektakulärste Ereignis im Abriss‐geschehen der habitualisierten antiken Deutungstradition“ handelt.1 Mit diesem Kaiser stirbt nämlich der letzte Versuch, die Fundamente der alten Ordnung vor den Anfechtungen einer neuen Wissensform des Wirklichen insgesamt zu schützen. Das ehemals Etablierte kann sich freilich nicht noch einmal durchsetzen. War die Antike voller Götter, so codierte das antike Christentum diesen Wirklichkeitszugang um: Die allgemeine Of‐fenbarungsqualität der Natur wird monotheistisch beschnitten. Die ent‐sprechende Offenbarungskritik setzt sich in der Ablehnung aller Mantik durch die Kirchenväter fest. Man misstraut ihr als Aberglaube, der sich im Zwang naturaler Prozesse verliert:
„Die christliche Kritik der Mantik ist Kritik der Unfreiheit eines unter dem Bann von Naturdämonen verängstigt handelnden Menschen.“2
Ironischerweise wird diese Kritik unter radikalisierten subjekttheoreti‐schen Vorzeichen den christlichen Offenbarungsglauben später selbst er‐reichen. Man steht vor einer geschichtlichen Weichenstellung, die sich pa‐radigmatisch mit dem toten Justin verbindet. Mit ihm stirbt eine Sprache für jene Wirklichkeit aus, die sich schon zuvor mit den Mitteln seiner Of‐fenbarungspolitik nicht mehr angemessen beschreiben und besprechen ließ. Zwar lebten die nun christlich offiziell unterdrückten mantischen Le‐bensformen durchaus noch weiter, als ein anonymer Begleiter bis in die astrologischen Offenbarungsversprechen unserer Horoskope – aber hier verfällt eine antike Offenbarungsform der Kritik des Faktischen und eines neuen religiösen Wissens: Der Lauf der Dinge lässt sich so nicht mehr deu‐ten.
1 Hogrebe, Wolfram: Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, 153. 2 Ebd., 155
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Antik‐Mittelalterliche Spurensuche
Demgegenüber galt es innerhalb der Offenbarungstheologie bislang als common sense,
„daß die Offenbarungskritik als geistesgeschichtliche, literarische und öffentli‐ches Interesse fesselnde Größe erst in der Aufklärungszeit hervorgetreten und im wesentlichen auf sie beschränkt geblieben ist; ihre Wirkungsgeschichte reicht jedoch bis in die Gegenwart.“3
Natürlich wird hier ein strenger Offenbarungsbegriff eingesetzt, wie man ihn klassisch den großen Offenbarungsreligionen abliest. Mit dieser Perspektivenbildung geraten freilich die historischen Proportionen des neuzeitlichen Offenbarungsdiskurses, der sich im Zeichen emanzipatori‐scher Kritik vollzieht, zumindest tendenziell aus dem Blick. Dabei müssen gerade die antiken Vorläufer dieser kritischen Wissensform des Religiösen genannt werden, weil sie spätere Anschlussstellen auch dann noch ermög‐lichten, wenn sie nicht ausdrücklich zitiert wurden. Darüber hinaus sind die verschwiegenen Fragetraditionen nicht zu unterschätzen, über die sich die Distanz zu etablierten Offenbarungsansprüchen vermittelt. Hier wird die Selbstverständlichkeit eines Zugangs zum göttlichen Wissensraum durchbrochen, wie er exemplarisch eben in Form von mantischen Prozes‐sen vorliegt. Offenbarungskritik tritt historisch in dem Augenblick auf, als sich eine
Kultur des Fragens durchsetzt – also im eigentlichen Sinn Philosophie be‐ginnt. Die Skepsis gegenüber dem bloß Gegebenen stachelt die Frage nach dem Anspruch auf ein Wissen, das sich rationalem Einspruch zu entzie‐hen droht. Offenbarungskritik in einem weiten, aber grundlegenden Sinn liegt demnach in jeder Distanzierung von Mythos und Orakel vor. So be‐argwöhnt Cicero ausdrücklich den Traum mit seinen eigenen, ambivalen‐ten Offenbarungsqualitäten.4Offenbarungskritisch konnotiert bereits vor ihm Xenophanes (ca. 570‐
470 v. Chr.) die Rede von Gott. Sein frühes projektionstheoretisches Ar‐gument gegen die Gestalt der Götter hat ein kaum beachtetes Nebengleis: seine fundamentale religiöse Erkenntniskritik.
3 Schmitz, Josef: Offenbarung, 155. Vgl. auch Seckler, Max / Kessler, Michael: Die Kritik der Offen‐barung, in: HFTh 2: Traktat Offenbarung, 29‐59; besonders 29f.; Werbick, Jürgen: Art. Offenba‐rungskritik, in: LThK3, 998‐1000. 4 Vgl. Cicero, De div. 11, 149.‐ Hier – wie im Vorhergehenden bereits – folge ich Literaturhinweisen von Wolfram Hogrebe (Metaphysik und Mantik, 155), der allerdings an einem anderen als dem offenbarungstheologischen Zusammenhang interessiert ist, stattdessen allgemein hermeneutisch die „Deutungsnatur des Menschen“ analysiert.
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„Niemals lebte ein Mensch noch wird ein solcher je leben, Der von den Göttern und allem, wovon ich rede, Gewisses Wüßte; und spräche sogar das Vollkommenste jemand darüber, Weiß er es selbst doch nicht; nur Raten ist alles und Meinung.“5
Diese erkenntnistheoretische Begrenzung der menschlichen Rede von Gott bezieht sich indirekt auch auf die Möglichkeit, durch eine gleich wie geartete Offenbarung von Gott zu sprechen. Man steht vor einer frühen Problematisierung jeder möglichen theologischen Wissensform, die sich später zu einer vehementen Offenbarungskritik erweitern wird. Grund‐sätzlich gilt: Es gibt keine sichere Information über das Göttliche. Entspre‐chend darf man vorab schon mit keiner Offenbarungsvermittlung rechnen – auch wenn dieses Problem hier nicht eigens benannt wird. Spätere Of‐fenbarungskritiken können auf dieses Motivrepertoire zurückgreifen. So formuliert Epikur auf dieser Linie:
„die Meinungen der Menge von den Göttern sind nicht Begriffe, sondern fal‐sche Voraussetzungen“.6
Der Clou dieser Kritik: Epikur rechnet durchaus mit der Möglichkeit ei‐ner Gotteserkenntnis, aber er spielt das bloß überlieferte religiöse Wissen gegen die rationale Durchdringung des religiösen Feldes aus. Von woher es gespeist wird, markiert er an anderer Stelle:
„Aus den Traumvorstellungen während des Schlafes haben die Menschen den Begriff von Göttern entnommen.“7
Diese Vorstellungen der Masse erweisen sich jedoch als trügerisch, weil sie vernünftigem Nachdenken nicht standhalten – was Epikur wiederum mit dem Projektionsverdacht des Xenophanes stützt. Erneut steht im Üb‐rigen der Traum als angestammter Ort mit besonderen Offenbarungsqua‐litäten, als Medium eines eigenen Zugangs zum Transzendenten, zur Dis‐position; Ciceros spätere Kritik findet hier ihren Haftpunkt. Was in offenbarungskritischer Hinsicht für die Antike gilt, muss – mit
aller Vorsicht – auch für das Mittelalter in Anschlag gebracht werden. Im Allgemeinen wird das Urteil geteilt, dass „(d)ie mittelalterliche Christen‐heit… in einer Atmosphäre freudiger und problemloser Offenbarungsbe‐jahung“ lebte.8 Mindestens der Theorieanlage verschiedener mittelalterli‐ 5 Xenophanes, Fragment 14; zitiert nach: Weger, Karl‐Heinz (Hrsg.): Religionskritik (Texte zur Theologie: Fundamentaltheologie), Graz – Wien – Köln: Styria 1991, 20f. 6 Epikur: Brief an Menoikus, zitiert nach: Weger, Karl‐Heinz (Hrsg.): Religionskritik, 24. 7 Epikur: Aus unbestimmten Schriften, zitiert nach: Weger, Karl‐Heinz (Hrsg.): Religionskritik, 24. 8 Seckler, Max / Kessler, Michael: Die Kritik der Offenbarung, in: HFTh 2: Traktat Offenbarung, 29‐59; hier: 30.
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cher Ansätze muss man allerdings auch eine offenbarungstheologische Problematisierung ablesen. Mit Blick auf die Positionen des Nikolaus von Autrecourt hält etwa Peter Hünermann fest:
„Die Vernunft und die vernünftig erfasste Welt sind zur Sprachlosigkeit verur‐teilt. Offenbarung und Schöpfung sind im Grunde genommen nicht mehr ver‐mittelbar.“9
Problemformulare wie dieses sind nicht auf einen gezielt offenbarungs‐kritischen Vorgang zurückzuführen; aber hier zeichnen sich die neuzeitli‐chen Einsatzpunkte bereits ab. Im Zeichen eines hoch entwickelten Ver‐nunftparadigmas wird man exemplarisch Abelaerd als einen solchen im‐pliziten Verabschieder einer starken Offenbarungstheologie ansehen müs‐sen.10 Dies gilt u.a. im Blick auf sein methodologisches Denken11, mit dem er sich auf dem Weg zur Subjektivität des autonomen Lesers befindet – ein frühes neuzeitliches Motiv jener Offenbarungskritik, die nicht zuletzt im Zuge der aufkommenden historisch‐kritischen Relecture der Bibel an Dy‐namik gewinnen wird. Zugleich zeichnet sich allmählich eine besondere Problemkonstellation
ab, die das Offenbarungsdenken belasten wird: das Verhältnis von Natur und Gnade.12 Die Natur wird zum Problem. Im Übergang zur Neuzeit ereignet sich damit ein entscheidender Stellungswechsel des Wissens. Das mittelalterliche Heraufdämmern der Naturwissenschaft verändert allmäh‐lich, aber einschneidend die grundlegenden Wissensformen: Wissen wird empirisch verankert. Noch ist dies anders; aber der revolutionäre Vorgang selbst ist bereits eingeleitet:
„Griechisches Denken fragte umfassend wie nie zuvor nach dem Woher und Warum und Wozu der Welt und des Menschen. Obwohl es dabei die üblichen mythologischen Wurzeln zunehmend abstreifte, blieb es ihnen doch insofern verhaftet, als sein Erkenntnisinteresse stets auf die theoretische Erklärung des Kosmos als Ganzen gerichtet war. Auch als Aristoteles und andere einzelwis‐senschaftliche Methoden entwickelten, wurden die entsprechenden Diszipli‐nen auf die Erklärungsprinzipien der allgemeinen Naturphilosophie gegrün‐det. Wissenschaft verstand sich deduktiv und stellte Qualitäts‐, aber kaum Quantitätsfragen. Naturwissenschaft bestand in Beobachtung und logisch ge‐
9 Hünermann, Peter: Dogmatische Prinzipienlehre. Glaube – Überlieferung – Theologie als Sprach‐ und Wahrheitsgeschehen, Münster: Aschendorff 2003, 154. 10 Vgl. Schwöbel, Christoph: Art. Offenbarung, religionsphilosophisch, in: RGG 6, 463‐467; hier: 465. 11 Vgl. Flasch, Kurt (Hrsg.): Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung: Mittelalter, Stutt‐gart: Reclam 1982, 224. 12 „Gemeinsam ist allen Offenbarungskritikern die Aufwertung der Natur, des Diesseitigen, der Vernunft und des Vernunftmäßigen.“ (Schmitz, Josef: Offenbarung, 162.)
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bändigter Spekulation; das Experiment wurde als Eingriff in das Naturgesche‐hen abgelehnt. Obwohl Aristoteles eine Theorie der poiesis und der techne ent‐wickelte, des praktischen Handelns und der Mechanik, wurden auf Anwen‐dung bezogene Untersuchungen und ihre höchst beachtlichen technischen Er‐rungenschaften zwar geschätzt, hatten aber minderen Rang. Wissenschaftliche Ergebnisse wurden nicht durch Bewährung in praktischer Erfahrung verifi‐ziert, sondern durch die Klarheit und Schönheit ihrer Argumentation. Diese Rückbindung an die Naturphilosophie und der Vorrang qualifizierender vor quantifizierenden Fragestellungen kennzeichnete die europäische Wissen‐schaft bis weit in die Neuzeit.“13
Offenbarungsdenken muss von diesem Paradigmenwechsel in seinen Grundfesten erschüttert werden – schließlich ist es wesentlich als eine Wissensästhetik zu begreifen: als Wahrnehmungsvorgang (Hans Urs von Bal‐thasar).14 Die neue Rationalität setzt auf eine andere Logik: Zahlen statt Worte – als zentralem Offenbarungsmedium – garantieren zuverlässiges Wissen. Als Übergang dieser beiden Wissensformen wird sich noch lange die Zahlenmystik halten, aber auch nur als fragwürdiges, weil unzuver‐lässiges Relikt eines subkulturell ausgewanderten Offenbarungswissens. Die entscheidende Veränderung macht ein besonderes Muster einer neuen Rationalisierung des Alltags deutlich: das Aufkommen von Lebensversi‐cherungen im 17. und 18. Jahrhundert, vor allem in England.
„Selbstverständlich hatte auch die Vormoderne strategischen Umgang mit Ri‐siken gekannt, aber im Rahmen ihres religiösen Weltbilds ohne mathemati‐sches Kalkül. Jetzt aber handelte es sich, vollmundig formuliert, um nichts Ge‐ringeres als den Versuch der Menschheit, mittels mathematischer Rationalität des Schicksals Herr zu werden!“15
Lebensversicherungen mit Eigenverantwortung ersetzen den Offenba‐rungsglauben in Erwartung einer soteriologisch unsicheren Zukunft – ein eigenes Kapitel gelebter Offenbarungskritik als Distanzierung bahnt sich an. Naturwissenschaft kann auf Dauer selbst offenbaren, wie Wirklichkeit funktioniert. Die Mathematik liefert dafür die notwendige Grammatik. Methodisch‐implizit etabliert sich eine Offenbarungskritik in der Forma‐tierung eines anderen Weltwissens. Zugleich rückt man damit von einem Natur‐Begriff ab, der lange Zeit mit Gott selbst zu verschmelzen schien.16
13 Reinhard, Wolfgang: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München: Beck 2004, 566f. 14 Balthasar, Hans Urs von: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, I‐III, Einsiedeln: Johannes 1961ff. 15 Ebd., 574. 16 Le Goff, Jacques: Die Geburt Europas im Mittelalter, München: Beck 2004, 114.
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Natur wird zu einer eigenständigen Größe – von der Übernatur unter‐schieden. Im Namen der Natur – und ihrer Wissenschaft – kann eine na‐türliche Wissensform gegen eine übernatürliche gesetzt und autonomisiert werden. Diese neue Wissensform ist höchst erfolgreich und bewährt sich in dem Maße, in dem sich die alte, offenbarungsgestützte Wissensform auf ihrem ureigenen Feld – der Geschichte, also der Erfahrungswirklichkeit – als ambivalente, nicht zuletzt politisch belastete Größe erweist. Das Prob‐lem des neuzeitlichen konfessionellen Pluralismus und der Glaubenskrie‐ge, aber auch zuvor schon die katastrophalen Erfahrungen der großen Pest des 14. Jahrhunderts beschädigen den (christlichen) Offenbarungs‐glauben nachhaltig.17 Fortan nehmen ausdrückliche Offenbarungskritiken an Fahrt auf.
Neuzeitliche Kritikformate
Nicht zufällig sind es vor allem britische Philosophen, die mit Beginn der Neuzeit offenbarungskritische Angriffe betreiben. Das Erbe des Nomina‐lismus, der die Übereinstimmungsverhältnisse von Wirklichkeit und Sprache, also auch von konkreten Offenbarungszeichen und der gemein‐ten Realität kritisch untersucht, ist hier besonders stark ausgebildet. Auf dieser Linie konnte empirisch ausgerichtetes Denken an Boden gewinnen. Dass die genannten Versicherungsunternehmen von England ausgingen, ist demnach alles Andere als zufällig. Der ökonomisch selbständige Bür‐ger der Neuzeit generiert die Wissensformen eines autonomen Subjekts, das zum Forum jener Selbstbestimmung wird, die das wirtschaftende In‐dividuum zum Erfolg braucht. Die Erfahrungen mit einer regulierbaren Welt müssen dann das übernatürliche Durchbrechen von Naturgesetzen fragwürdig bis bedrohlich erscheinen lassen. Die neuzeitlichen Offenba‐rungskritiken stoßen sich entsprechend von diesem Punkt ab. Einen ersten bedeutenden Anlauf unternimmt Herbert von Cherbury
(1583‐1648). Er argumentiert nicht prinzipiell religionskritisch, sieht aber im praktizierten Offenbarungsglauben Wurzeln eines religiösen Missbrauchs. Die religionspolitischen Verhältnisse, aber auch die offenbarungstheologi‐sche Wissensform seiner Zeit geben seinem Einspruch Verve.
„Offenbarung ist demnach verstanden als autoritative Belehrung, näherhin als eine unmittelbare göttliche Bekanntmachung, die auf übernatürliche Art und Weise sich ereignet und deren Inhalt die Vernunft übersteigt. Herbert ist da‐
17 Vgl. Verweyen, Hansjürgen: Theologie im Zeichen der schwachen Vernunft, Regensburg: Pustet 2000, 48‐53.
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von überzeugt, daß es solche Offenbarungen gibt, aber er sucht für die beiden Aspekte der Übernatürlichkeit – das prozedural Übernatürliche im Akt der Mit‐teilung und das essentiell Übernatürliche im Inhalt der Mitteilung – nach Mög‐lichkeiten der Kontrolle. Offenbarungsbehauptungen, die sich der Verifikation entziehen, aber auch eigene Offenbarungserlebnisse können nicht ungeprüft Gegenstand einer sittlichen Bejahung sein. Was sich der Vernunftkontrolle entzieht, steht außerhalb des Bereiches sittlicher Verantwortung. Als Ort der Wahrheit ist die Vernunft zugleich das Organ der Verantwortung und das In‐strument der Kontrolle für jeden Offenbarungsglauben.“18
Herberts Konzept schraffiert bereits die Elementarformen späterer Of‐fenbarungskritik. Das Problem der autonomen Vernunft konturiert sich vor dem Hintergrund der ethischen Herausforderung des selbsttätigen Subjekts. Die Kontrolle wird nicht nur zu einer methodischen Instanz, sondern spiegelt die Souveränität des einzelnen. Seine Rolle verändert sich. Im Zuge seines politischen Erwachens gewinnen andere Interpretati‐onsmuster an Bedeutung. Vor allem die nachhaltige Erfindung der Öffent‐lichkeit muss Privatoffenbarungen ausschließen.19 Das hat politische Vortei‐le: Jeder offenbarungsfreudige Fanatismus wird sozial, erkenntniskritisch, aber auch theologisch eingedämmt. Diese Wissenstechniken spielen eine bedeutende Rolle bei der Herausbildung des modernen Subjekts und Staa‐tes. Nicht zufällig finden sich diese Motive im Folgenden bei Autoren wie
John Locke (1632‐1704), John Toland (1670‐1722) und David Hume (1711‐1776) wieder. Seine Kritik führt ein eigenes Format ein, denn er denkt ei‐nerseits vernunftkritisch, andererseits auf der Basis eines empirisch ge‐stützten Erkenntnismodells auch offenbarungskritisch – denn das Überna‐türliche entzieht sich dem Zugriff der natürlichen Vernunft, die auf sinn‐lich erschlossenen Einsichten beruht. Der skeptische Grundton Humes findet sich unter den Bedingungen der französischen Aufklärung radikali‐siert. Namentlich die Enzyklopädisten übernehmen hier eine wichtige Rol‐le:
„In Frankreich nahm in dem Maße, wie die absolutistische Verschmelzung von Thron und Altar sich als unerträglich erwies, die Kritik grundsätzlich offenba‐
18 Seckler, Max: Aufklärung und Offenbarung, in: CGG 21, 5‐78; hier: 41f. 19 Vgl. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 21990. Habermas´ Studie setzt die Entste‐hung einer „’öffentlichen Meinung’ erst im England des späten 17. und im Frankreich des 18. Jahr‐hunderts“ an (ebd., 51) an, macht aber zugleich die allmähliche Entwicklung von Öffentlichkeit als einer eigenen Wissensform kenntlich. Für England muss dabei bereits der Weg zu den voluntary associations des 18. Jh. früh angesetzt werden. Vgl. ebd., 14f.
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rungsfeindliche und antikirchliche Züge an, in der eine vernünftige Legitima‐tion für eine gesellschaftlich als Institution anzuerkennende Offenbarungsreli‐gion kaum noch erwogen wurde.“20
Die Religionsphilosophie Immanuel Kants (1724‐1804) setzt demgegen‐über differenzierter Humes offenbarungskritische Linie fort. Nach der Zerschlagung der theoretischen Gottesbeweise in seiner Kritik der reinen Vernunft schafft Kant einen Zugang zu einem möglichen Gottesbegriff und –glauben über die praktische Vernunft. Sein postulatorischer Gottesauf‐weis leitet sich dabei aus einer entscheidenden Einsicht her: Angesichts einer unbedingten sittlichen Verpflichtung kann es dem Menschen zuge‐mutet werden, sein eigenes Leben einzusetzen. Damit steht aber sein vita‐les Bedürfnis nach umfassendem Glück auf dem Spiel. Wenn nun das Sit‐tengesetz möglich sein soll, dann muss auch dem menschlichen Streben nach Glückseligkeit Rechnung getragen werden, denn es ist der konkrete Mensch, der hier ethisch beansprucht wird. Kant postuliert von daher die Existenz einer unsterblichen Seele und eines allmächtigen Gottes. Er steht für eine Gerechtigkeit ein, die kategorisch gefordert ist und nach mensch‐lichem Ermessen zugleich unmöglich erscheint. Zutage tritt ein reiner Vernunftglaube, den Kant in seiner Religionsschrift – „Die Religion inner‐halb der Grenzen der bloßen Vernunft“ von 1793 – ausdrücklich von ei‐nem Kirchenglauben abhebt. Letzterer ist auf eine Offenbarung angewiesen, die für Kant allerdings immer etwas Nachgeordnetes, im Grunde Über‐flüssiges darstellt, da das Entscheidende an der Religion, nämlich das Fundament eines allgemeinen Sittengesetzes, rein über die Vernunft ge‐deckt ist:
„Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bin‐denden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.“21
Auffällig erscheint, wie Kant Offenbarung charakterisiert. Er geht der Frage nach, ob nicht „doch noch eine durch Vernunft nicht erkennbare, sondern eine der Offenbarung bedürftige göttliche Gesetzgebung“22 not‐wendig sei – und beantwortet sie letztlich negativ. Ganz offensichtlich
20 Verweyen, Hansjürgen: Gottes letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie, Regensburg: Pustet 32000, 224. 21 Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: WA VIII, 645‐879; hier: 649. 22 Ebd., 766.
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wird Offenbarung hier gegen Vernunft ausgespielt, wobei dieser der Pri‐mat zukommt. Im selben Zusammenhang hält Kant fest: „Wenn es nun also einmal nicht zu ändern steht, daß nicht ein statuarischer Kirchenglaube dem reinen Religionsglauben, als Vehikel und Mittel der öf‐fentlichen Vereinigung der Menschen zur Beförderung des letztern beigegeben werde, so muß man auch eingestehen, daß die unveränderliche Aufbehaltung desselben, die allgemeine einförmige Ausbreitung, und selbst die Achtung für die in ihm angenommene Offenbarung, schwerlich durch Tradition, sondern nur durch Schrift , die selbst wiederum als Offenbarung für Zeitgenossen und Nachkommenschaft ein Gegenstand der Hochachtung sein muß, hinreichende gesorgt werden kann; denn das fördert das Bedürfnis der Menschen, um ihrer gottesdienstlichen Pflicht gewiß zu sein.“23
Kant sieht also den offenbarungsgestützten Kirchenglauben bestenfalls
als Prothese des eigentlichen sittlichen Bewusstseins an. Die Auseinander‐setzungen um Glaube und Vernunft besetzen unter den Vorzeichen der Aufklärung zunehmend das Feld der Offenbarungstheologie. Dieser Pro‐zess setzt sich in der Nachfolge Kants fort. So integriert Hegels kritische Umstellung, die sich als weltgeschichtlicher Offenbarungsdiskurs entfal‐tet, den Offenbarungsbegriff radikal geistphilosophisch. Er überholt die angestammte jüdisch‐christliche Offenbarungstheologie und markiert so die dekonstruktive Grundoperation neuzeitlicher Offenbarungskritik.
„Critik aller Offenbarung“? Fichte als Schaltstelle
Die eigentliche Dramatik der neuzeitlichen Offenbarungskritik liegt dabei im folgenreichen Zerfall eines Glaubensformats, das sich eng an besonders starke Wissenstechniken band. Die weitgehend selbstverständliche Alli‐anz von stabilen Gottesüberzeugungen, unzweifelhaften Erkenntnisan‐sprüchen und einer zuverlässigen sprachlichen Repräsentation dieses Glaubens in seinen Urkunden zerbrach. Dazu musste das Verhältnis von Natur und Welt neu bestimmt werden. Positiv konnte man nachträglich darauf setzen, dass nicht nur die Welt ihre säkulare Dignität zurück ge‐wonnen, sondern auch der Glaube seinen ureigenen Platz wieder einge‐nommen habe – jenseits einer zu stark aufgeladenen Ambition auf er‐kenntnistheoretische Sicherheit. Doch das eigentliche Problem lässt sich
23 Ebd., 767.
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seit der Aufklärung – auch mit diesen berechtigten Deutungsperspektiven – nicht mehr umgehen. Johann Gottlieb Fichte hat es mit seinem frühen „Versuch einer Critik
aller Offenbarung“ von 1792 auf den Punkt gebracht. Dieser Text erscheint in mehrfacher Hinsicht als eine epochale Schaltstelle des Offenbarungs‐denkens. Mit vielen Aufklärungsphilosophen teilt Fichte nicht nur den christlich grundierten Gottesglauben, sondern er sucht auch nach einer Möglichkeit, das angestammte Offenbarungsdenken theoretisch neu zu verankern. Ausgehend von Kant, dem man Fichtes zunächst anonym er‐schienenen Versuch ursprünglich zuschrieb, führt er über ihn hinaus, in‐dem er zwar die religionsphilosophischen Einsichten seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ voraussetzt, sie aber zu einem eigenen Offenba‐rungsmodell weiterentwickelt. Das wiederum ist in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: mit seiner subjekttheoretischen Basis, die cartesianische Züge trägt, aber auf moderne Konzepte vorweist; mit der Etablierung ei‐ner Wissensform, die sich an den Polen des Innen und Außen orientiert und die besondere Problematik seines idealistischen Ansatzes austrägt; schließlich mit einer streng rationalen Kriteriologie jedes möglichen Ver‐nunftanspruchs. Es ist dieses Theorie‐Ensemble, mit dem Fichte in der jüngeren Vergangenheit fundamentaltheologische Neuauflagen erlebte.24Was hat es also mit dieser spezifischen Offenbarungskritik auf sich?
Fichte übernimmt zunächst einmal als grundlegende Voraussetzung Kants Gottespostulat. Konsequent setzt er dann die Offenbarung Gottes in der Vernunft des Menschen an, denn
„schon der Begriff von Gott wird uns bloß durch unsere Vernunft gegeben, und bloß durch sie, insofern sie a priori gebietend ist, realisiert, und es ist schlechterdings keine andere Art gedenkbar, auf welche wir zu diesem Begrif‐fe kommen könnten. Ferner verbindet uns die Vernunft ihrem Gesetze zu ge‐horchen, ohne Rückweisung an einen Gesetzgeber über sie, so dass sie selbst verwirrt und schlechterdings vernichtet wird, und aufhört Vernunft zu sein, wenn man annimmt, daß noch etwas anderes ihr gebiete, als sie sich selbst. Stellt sie uns nun den Willen Gottes als völlig gleichlautend mit ihrem Gesetze dar, so verbindet sie uns freilich mittelbar, auch diesem zu gehorchen; aber diese Verbindlichkeit gründet sich auf nichts anderes, als auf die Überein‐stimmung desselben mit ihrem eigenen Gesetze, und es ist kein Gehorsam ge‐gen Gott möglich, ohne aus Gehorsam gegen die Vernunft.“ (21)
24 Vgl. vor allem Verweyen, Hansjürgen: Gottes letztes Wort. Verweyen hat auch Fichtes „Versuch einer Kritik aller Offenbarung“ in der Philosophischen Bibliothek herausgegeben und eingeleitet (Hamburg: Meiner 1983 [PhB 354]); nach dieser Ausgabe wird im Folgenden mit Seitenzahlen im Text zitiert. Vgl. Kapitel 7: Systematische Problemeröffnung: Entwicklungslinien.
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Das Problem einer Offenbarung Gottes wird hier unter zwei Gesichts‐punkten angesprochen, auch wenn der Titel nicht fällt. Zunächst stammt die Möglichkeit, über Gott etwas sagen zu können, aus dem Reflexions‐raum der Vernunft, die den Begriff Gottes hervorbringt – eben aus morali‐schem Grund. Diese formale Offenbarung bindet Gott streng an die Ver‐nunft und ihre Richterfunktion. So wird es die Vernunft sein, die im wei‐teren Fortgang der Untersuchung zur entscheidenden Beurteilungsinstanz dafür wird, was als Offenbarung anerkannt werden kann. Dafür erhält wiederum ein Kriterium Bedeutung, das Fichte hier bereits offen legt: In Fragen der Gotteserkenntnis darf keine externe Stimme einsprechen. Die Autonomie der menschlichen Vernunft steht trennscharf einer möglichen heteronomen göttlichen Überforderung gegenüber, z. B. durch ein ihr fremdes Gesetz – und natürlich muss dies den Offenbarungsbegriff betref‐fen. Fichte unterscheidet von daher natürliche und geoffenbarte Religion. Na‐
türlich kann erkannt werden, dass das göttliche Sittengesetz mit jenem ident ist, das die Vernunft aus sich selbst erarbeitet. Theologisch entspricht dem die Einsicht, dass Gott als Weltschöpfer die menschliche Natur ge‐schaffen hat, die aus eigener Freiheit das ethische Gesetz entdeckt. „Wir selbst also sind als moralische Wesen (objektiv) Endzweck der Schöpfung“ (29) und Gott ist wiederum ihre Finalität, denn
„unsere Furcht, unsere Hoffnung, alle unsere Erwartungen beziehen sich auf ihn: nur in seinem Begriffe von uns finden wir unsern wahren Wert.“ (19)
Fichte verlegt damit Gott als äußere Größe in den Innenraum der Ver‐nunftnatur des Menschen. Dieses Schema setzt sich auch für die präzisere Fassung des Offenbarungsbegriffs durch. Offenbarung im strengen Sinn begreift Fichte als etwas Äußerliches, das gegenüber einer inneren Ver‐nunftauffassung Gottes abgewertet wird. Man hat demnach zwei Optio‐nen einer möglichen Gotteswahrnehmung, „deren eines das Prinzip des Übernatürlichen in uns, das andere das Prinzip eines Übernatürlichen au‐ßer uns ist.“ (31) Offenbarung spielt dabei im Außen der Vernunft und des Subjekts:
„Der Begriff der Offenbarung ist also ein Begriff von einer durch übernatürli‐che Kausalität von Gott in der Sinnenwelt hervorgebrachten Wirkung, durch welche er sich als moralischen Gesetzgeber ankündigt.“ (33)
Formal wie material hängt diese Bestimmung von der autonom vorge‐henden Vernunft ab: formal im Blick auf den Offenbarungsprozess, der jen‐seits der reinen Vernunft, eben in der Sinnenwelt spielt; material hinsicht‐
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lich der inhaltlichen Beschreibung Gottes: Gott kann nur als Garant des Sittengesetzes auftreten. Damit wird aber auch die rationale Zuspitzung dieses Offenbarungsdiskurses deutlich. Die souveräne Vernunft bestimmt die Souveränität Gottes. Wenn Gott aber bereits als moralische Leitinstanz im vernünftigen Sub‐
jekt verfugt ist, braucht es dann überhaupt noch eine Offenbarung? Fichte stellt sich einen Fall vor, in dem die Menschheit das Sittengesetz verliert. Das erscheint denkbar, wenn die natürlichen Antriebe des Menschen seine sittlichen Impulse verdrängen.
„Dieser Widerstreit des Naturgesetzes gegen das Sittengesetz kann nach Maß‐gabe der besonderen Beschaffenheit ihrer sinnlichen Natur der Stärke nach sehr verschieden sein, und es lässt sich ein Grad dieser Stärke denken, bei wel‐chem das Sittengesetz seine Kausalität in ihrer sinnlichen Natur entweder auf immer, oder nur in gewissen Fällen, gänzlich verliert. Sollen nun solche Wesen in diesem Falle der Moralität nicht gänzlich unfähig werden, so muß ihre sinn‐liche Natur selbst durch sinnliche Antriebe bestimmt werden, sich durch das Moralgesetz bestimmen zu lassen.“ (40)
Eben das ist die Funktion einer übernatürlichen Offenbarung, die als göttliche Pädagogik zum Guten in die sinnlich erfahrbare Welt eingreift. Die Konsequenzen für den Offenbarungsbegriff sind erheblich. Die eigent‐liche Kritik Fichtes liegt in der Entmächtigung dieses Konzepts, in der Be‐schneidung seiner Reichweite, in der Unterordnung des Außen Gottes unter das Innen der Subjektvernunft. Gott behält hier zwar einen Raum seines unverfügbaren Auftritts – aber er ist nur beschreibbar unter den normativen Voraussetzungen einer moralisch imprägnierten Vernunft, die allem ihr Maß gibt, ohne sich freilich über ihre eigenen Voraussetzungen und die begrenzte Reichweite ihrer argumentativen Erschließungskraft Auskunft zu geben. Immerhin ist auch Kants Ethik nicht frei von Eviden‐zen, die sein Konzept tragen und die universale Geltung etwa des Katego‐rischen Imperativs in seinen beiden Fassungen beeinträchtigen. Fichtes Kritik ist deshalb von hoher Bedeutung, weil sie hartnäckig an
das kriteriologische Problem der Geltung von Offenbarungsansprüchen erinnert. Sie bereitet darüber hinaus transzendentaltheologische Reformu‐lierungen des Offenbarungsgedankens vor – markiert aber zugleich schon ihre Grenzen. Denn es ist das Innen des Subjekts, das Fichte als eigentli‐chen Offenbarungsort aufdeckt, um das Problem des äußeren Offenba‐rungsworts und der inneren Urteilskraft der Vernunft anzuschärfen. Iro‐nischerweise kann Fichtes Subjektinnen nicht aus sich selbst heraus die Moralität jederzeit gewährleisten. Die Autonomie als Selbstbegründung
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zerbricht material in der konkreten Offenbarungsbestimmung, formal aber vor allem darin, dass überhaupt nach einer externen Offenbarung gesucht wird. Fichtes späterer Offenbarungsbegriff liegt in der Fluchtlinie dieser Problemstellung, wenn er die Alterität des Offenbarungsvorgangs aus dem Bewusstsein des Subjekts herausfiltert. Hansjürgen Verweyen hat diese Offenbarung inhaltlich als das Wissen bestimmt, „daß alles erschei‐nende Sein Bild Gottes, des absoluten Seins, ist bzw. werden soll“.25 Es handelt sich um eine Offenbarung sui generis. Ihr Wissen
„bricht eben irgendwo in der Welt durch zum Bewußtsein, und zwar, so gewiß es der absolute Begriff ist, in einem sittlichen Bewußtsein, mit dem Auftrage: mitgeteilt zu werden und verbreitet, soweit es irgend möglich ist. Dies ge‐schieht, so gewiß es ein ursprüngliches Durchbrechen ist, dessen, was in der Welt noch nirgends vorhanden ist, auf eine unbegreifliche, an kein vorheriges Glied anzuknüpfende Weise; genialisch, als Offenbarung.“26
Entscheidend ist an dieser Stelle das „unbegreiflich“, für das der Aus‐druck „genialisch“ eine konkretisierende Metapher anbietet: Es speichert einen Differenzeintrag der Vernunft und des Subjekts angesichts einer Offenbarung Gottes ab, die eine unverrechenbare Größe bleibt. Offenbarung muss demnach als eine externe Macht begriffen werden, die das Subjekt betrifft, indem sie es mit einer Inversion der gegebenen Verhältnisse, und zwar noch ihrer vernünftigen Selbst‐ und Weltauffassung, konfrontiert.
Exemplarische Fortsetzungen – ein synchrones Panorama
Hatte Fichtes Kritik ihren Ausgang von einer Rationalisierung des Offen‐barungsdiskurses genommen, so wurde genau diese Vernunftförmigkeit zum point of no return der anschließenden philosophischen Offenbarungs‐kritiken. Die von Fichte erschlossene Spannung von Offenbarung und Vernunft spitze sich zu. Sie wurde besonders unter den Vorzeichen einer grundsätzlicheren Religionskritik – mit der Achsenzeit des 19. Jh. – disku‐tiert und führte im Gegenzug (katholisch) zu einer apologetischen Ver‐schärfung. Bis in die Gegenwart hinein finden sich Neuauflagen dieses Diskurses
mit unterschiedlichen Akzentuierungen. Karl Jaspers (1883‐1969) bean‐standet den letztlich autoritären Anspruch eines Offenbarungsglaubens,
25 Verweyen, Hansjürgen: Einleitung zu Johann Gottlieb Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenba‐rung, VII‐LXXII; hier: XLVIII. 26 Fichte, Johann Gottlieb: Nachgelassene Werke XI, hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte. 3 Bde., Bonn 1834f., 105; zitiert nach: Verweyen, Hansjürgen: Einleitung, XLVIII.
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der als objektive Wirklichkeit dem Subjekt entgegentritt.27 Zwar sieht er die menschliche Existenz durchaus unter den Vorzeichen von Transzen‐denz, sie wartet allerdings im Innen des Ich. Das Transzendente selbst lässt sich von daher ansprechen, aber nie wirklich fassen – ein Gedanke, der am biblischen Bilderverbot Maß nimmt und außerdem eine Möglichkeit dafür anbietet, den klassischen Projektionsverdacht aufzuleisten. Schließlich ist es eben der Innenraum des Subjekts, in dem sich über jede konkrete Got‐tesidee hinaus ein Vorgang unausweichlichen Transzendierens zeigt. Als Offenbarungskritiker argumentiert Jaspers damit in erstaunlicher Nähe zu transzendentaltheologischen Lösungsvorschlägen. Zugleich weist sein Ansatz auf die Notwendigkeit einer theologischen Offenbarungskritik hin, die im positiven Sprechen von Gott die Intuitionen Negativer Theologie austrägt, also an das Unsagbare in allem Gottsagen erinnert. Offenbarungskritik gehört demnach zum Eigenprofil jüdischen und
christlichen Sprechens von Gott – auf der Basis des Glaubens an den Of‐fenbar‐Verborgenen. An diesen kritischen Impuls ist vor allem zu erin‐nern, wenn materiale Offenbarungskritiken die inhumanen Anteile der kanonischen Offenbarungstexte aufdecken. Historisch‐kritische Exegese arbeitet diesen Einsprüchen nicht nur aus dem religiösen Innenbereich zu, sondern bestimmt die historische Verstrickung aller Zeichen, aus denen sich die Gottrede generiert. Ein besonderer Umstand fällt im Übrigen bei diesen Kritiken auf: Ihre
Aufklärungsversuche über die unmenschlichen Schubkräfte der Bibel werden oft polemisch aufgeladen. Ihr aggressiver Schock fasst durchaus Richtiges, unterbietet jedoch immer wieder das theoretische Niveau eines Diskurses, der gerade aus kritischem Interesse heraus die zeitbedingten Vorstellungsmuster einordnen sollte. So hat Franz Buggle in seiner Streit‐schrift „Denn sie wissen nicht, was sie glauben“ die Heilige Schrift als Of‐fenbarungsdokument analysiert und ihre destruktiven Züge beschrieben. Danach weist „die Geschichte des Christentums in unvorstellbarem Aus‐maß – für jeden, der Tatsachen noch zur Kenntnis nimmt, nehmen kann, unbestreitbar – archaische Grausamkeiten und Gewalttätigkeiten, Inhu‐manität und Intoleranz“ auf.28 Der Prozess allmählicher und mühsamer Humanisierung gerät ganz aus dem Blick, vor allem aber die Ausbildung jener menschlichen Richtwerte, aus denen sich die eigene Kritik speist.
27 Jaspers, Karl: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München: Piper 1962. 28 Buggle, Franz: Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann. Eine Streitschrift, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992, 26.
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Anders wenden Odo Marquard und Jan Assmann gegen den offenba‐rungssicheren Monotheismus ein, dass er ein Wahrheitsprivileg behaupte und sich – mindestens strukturell gewaltförmig – gegen den Pluralismus anderer Überzeugungen wende. Freilich unterschätzen beide die Gewalt‐potenziale sowohl polytheistischer Religionsformen wie auch des Plura‐lismus selbst. Angesichts dieser neuen Anfragen und zumal mit einem veränderten
öffentlichen Religionsbewusstsein wird man sich von der lange Zeit sehr selbstbewussten kritischen Einschätzung verabschieden müssen, wonach der Streit um die Offenbarung mit der Aufklärung bereits durchgekämpft sei – natürlich mit negativem Ausgang für den Glauben. Stattdessen blei‐ben die Debatten aktuell; stattdessen nehmen Offenbarungsansprüche an kultureller und politischer Dynamik zu. Umso dringender erscheinen ge‐rade deshalb kritische Analysen. Sie können darauf hinweisen, dass sich kein Offenbarungsanspruch unvermittelt, also unkritisch aufrechterhalten lässt, weil er die ursächliche Differenz in allem Sprechen von Gott – und zwar die semiotische wie die eschatologische Differenz! – zu überspielen droht. Dann aber tritt nichts Anderes als ein verbrämter Subjektivismus zu Tage und also nicht weniger als das Gegenteil des eigentlich Behaupteten.
Semiotische Differenz: Unterschied von Zeichen und Be‐zeichnetem. Eschatolo‐gische Dif‐ferenz: Gott für uns jetzt ‐ Gott am Ende der Zeit
Der soteriologische Überhang der modernen Offenbarungskritik: Adornos aporetischer Messianismus
Auf diese Spannung weist u.a. die negative Dialektik Theodor W. Ador‐nos hin. Adorno zählt neben Jaspers zu den profilierten Offenbarungskri‐tikern des 20. Jh. Nach der Shoa erstarrt für ihn die Rede von einem Gott, der ausblieb. Erfahrung zwingt zu dieser Einsicht; sie kann und muss nicht näher begründet werden:
„Das Gefühl, das nach Auschwitz gegen jegliche Behauptung von Positivität des Daseins als Salbadern, Unreecht an den Opfern sich sträubt, dagegen, daß aus ihrem Schicksal ein sei´s noch so ausgelaugter Sinn gepresst wird, hat sein objektives Moment nach Ereignissen, welche die Konstruktion eines Sinnes der Immanenz, der von affirmativ gesetzter Transzendenz ausstrahlt, zum Hohn verurteilen.“29
Adornos Kritik am gesetzten Sinn ist Einspruch gegen religiöses Offen‐
barungsdenken. Angesichts unvorstellbarer Unmenschlichkeit scheint ein 29 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 61990, 354.
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solcher Glaube den Ausweg zu verheißen, den sich die Vernunft nicht er‐finden kann. Was Adorno fürchtet, ist der Selbstausstieg einer Vernunft, die er gemeinsam mit Max Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ in ihren katastrophischen Zügen demaskiert hatte.30 Die Geschichte der Rationalität bindet an den Zwang des Begreifens, der Herrschaft, der Un‐terdrückung. Adorno will diese Vernunft kritisch an ihre Grenzen führen und sie hier verpflichten: auf eine Humanität, die sich in der Aporie auf‐richtet, dass die Opfer der Geschichte verloren bleiben. Offenbarungs‐glaube erscheint demgegenüber als Salto mortale einer utopischen Ver‐nunft, als Wunschgeschäft mit erheblichen Folgekosten. Der ins Transzen‐dente sich erlösende Gedanke bezahlt seine Freiheit mit gesteigerter Ent‐fremdung und forcierter Heteronomie:
„Die Wendung zur Transzendenz fungiert als Deckbild immanenter, gesell‐schaftlicher Hoffnungslosigkeit.“31
Der Glaube klärt sich nicht über die illusorische Selbstverneinung einer Vernunft auf, die sich aus Gründen ihrer Selbstkritik abzuschaffen droht. Dabei hat der Glaube längst selbst Züge einer Rationalisierung angenom‐men, indem er zum theologischen System avancierte. Der Abschied von der eigenen Geschichte geschieht zwar aus richtiger Intuition heraus, stiehlt sich aber im Letzten unkritisch davon, weil er auf Begründungsleis‐tungen verzichtet. Die kann er nach Adorno ohnehin nicht einlösen, was ihn in eine zusätzliche Spannung verwickelt:
„Warum einer den Glauben annehmen soll und nicht einen anderen, dafür ist dem Bewusstsein heute kein anderer Rechtsgrund gegeben als einzig sein ei‐genes Bedürfnis, das Wahrheit nicht verbürgt. Damit ich den Offenbarungs‐glauben annehmen könnte, müßte ihm meiner Vernunft gegenüber eine Auto‐rität zukommen, die bereits voraussetzte, daß ich ihn angenommen habe – ein unausweichlicher Zirkel… (D)ie Frage, woher die Autorität der Lehre stammt, ist nicht gelöst, sondern abgeschnitten“.32
Adornos Kritik unternimmt an dieser Stelle einen erstaunlichen Schwenk. Zunächst einmal kommen seine Überlegungen weitgehend oh‐ne argumentative Anschlüsse aus. Der Text funktioniert thetisch und setzt auf die Evidenz eines Gedankens, der für sich selbst einzustehen hat. Da‐mit verfällt er einem Dezisionismus eigener Art, womit das in die eigene 30 Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M.: Fischer 1989. 31 Adorno, Theodor W.: Vernunft und Offenbarung, in: ders., Stichworte. Kritische Modelle 2: Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969, 20‐28; hier: 24. 32 Ebd., 25f.
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Theorie zurückkehrt, was für Adorno gerade nach Auschwitz unmöglich wurde: jeder Positivismus. Gleichzeitig verpflichtet er auf eine Wahrheit, die er selbst bestreitet, weil sie ihrerseits auf jener metaphysischen Welt‐sicht beruht, gegen die er vorgeht. Ganz eigentümlich verwickeln sich hier erneut die Probleme von Vernunft und Offenbarung begrünungstheore‐tisch ineinander. Das zeigt sich noch an anderer Stelle, und es ist diese dritte Aporie, die
offenbarungstheologisch besonders folgenreich ist. Adorno zwingt näm‐lich der philosophischen Kritik die Notwendigkeit ab, das Undenkbare zu denken. Er kann sich mit dem Tod, zumal der unschuldigen Opfer, nicht abfinden: Er ist selbst das Undenkbare. Philosophie wäre stattdessen mit einer Option auf Erlösung zu betreiben, mit dem Blick auf einen Sinn, ge‐malt in den Farben des Bilderverbots. Was Offenbarung meinte, solche Erlösung, geht in der Geschichte unter; aber die Perspektive bleibt erhal‐ten. Sie soll das sein, was dem Unmenschlichen Stand hält. Und so behält die Theologie sogar Recht: als Widerstand gegen das bloß Gegebene.33
„Philosophie, wie sie Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantwor‐ten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von Erlö‐sung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruk‐tion und bleibt ein Stück Technik.“34
Adornos Perspektive zehrt von einem „Messianischen Lichte“35, das die Katastrophe dieser Welt erst sichtbar macht. Erkenntnis wird mit einem Mal zur Möglichkeit in der Unmöglichkeit der machtinfizierten Totalität Vernunft. Der Gedanke transzendiert sich in das, was er nicht mehr her‐stellen kann – aber er geht bei Adorno nur wieder ins erneut Aporetische, ins Unauflösbare, in Ausweglosigkeit über:
„Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der Möglichkeit willen.“36
Adorno benutzt hier formal wie material den jüdischen Gottesgedan‐ken. Er strapaziert die inhaltliche Idee in der sprachlichen Form bis in eine äußerste Paradoxie hinein und hält damit offen, wie und woher sich die Möglichkeit in aller Unmöglichkeit ergeben könnte. Zugleich gilt, dass
33 Vgl. Negative Dialektik, 371. 34 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 201991, 333. 35 Ebd., 334. 36 Ebd.
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angesichts dieser Denkform „die Frage nach der Wirklichkeit oder Un‐wirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig“ wird.37 Hier kommt es auf jedes Wort an. Ob es Erlösung tatsächlich gibt, ist
nicht bedeutungslos – und wird mit dem Schlusssatz auch nicht ausge‐schlossen. Adorno verweigert dem Denken allerdings jeden Zugriff auf eine Vorstellung dieser Option. Sonst verfiele auch diese messianische Per‐spektive begrifflich totalisierendem, einordnendem Zugriff. Die Ordnung der Dinge würde aber gerade von Erlösung durchbrochen. Das Bilderver‐bot setzt sich radikal durch und eröffnet einen kleinen Spielraum für einen Gedanken, der sich nicht mehr streng denken lässt und der in Form von Kritik den Unheilzusammenhang transzendiert. Erlösung besetzt einen utopischen Ort – als Hoffnung. Sie zielt auf „Konvergenz, das menschlich verheißene Andere der Geschichte“.38 Durch nichts ersetzbar, durch nichts garantiert, notwendig aus sich selbst heraus, taucht hier ein Alteritätskon‐zept auf, das eben noch unter offenbarungskritischen Heteronomiever‐dacht gestellt wurde. Allerdings lässt sich für Adorno auch von Gott als dem Ganz‐Anderen nicht mehr sprechen – wohl deshalb, weil er identi‐tätslogisch eingeebnet wäre. So bleiben nur die Verheißungen der Kunst, die zurückgeschraubt sind ins rein gedanklich Gegenweltliche. Immerhin:
„Kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, in dem nicht Transzendenz widerschiene. Untilgbar am Widerstand gegen die fungible Welt des Tauschs ist der des Auges, das nicht will, daß die Farben der Welt zunichte werden. Im Schein verspricht sich das Scheinlose.“39
Der offenbarungskritische Diskurs wandert mit Adorno in eine un‐scheinbare Hoffnung aus, in der sich die Vernunft nicht länger verlässt, wohl aber radikal transzendiert. Ein anderer, ein neuer Ort des Offenba‐rungsdenkens zeichnet sich ab.
Eine postmoderne Offenbarungswahrheit? Slavoy Zizeks dekonstruktive Lektüre des Christentums
Wie für Adorno, so ist auch für Slavoy Zizek der christliche Offenba‐rungsglaube um seine Plausibilität gebracht. Trotzdem behält das Chris‐tentum eine intellektuelle Faszination. Setzte Adornos Offenbarungskritik noch mit Walter Benjamins erster geschichtsphilosophischer These ein, so kehrt Zizek sie um:
37 Th. W. Adorno: Minima Moralia, 334. 38 Ebd. 39 Ebd., 396f.
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„Gewinnen soll immer die Puppe, die man >Theologie< nennt. Sie kann es oh‐ne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie den historischen Materialismus in ihren Dienst nimmt, der heute bekanntlich klein und hässlich ist und sich oh‐nehin nicht darf blicken lassen.“40
Zizeks Sympathie schlägt für einen Materialismus, der die Endlichkeit des Menschen ernst nehmen kann, ohne ihn darum zu reduzieren. Aus‐gangspunkt seiner Überlegungen ist die Einsicht, dass man es mindestens in den westlichen Kulturen „mit einer Art >suspendiertem< Glauben zu tun“ (8) hat:
„Im Hinblick auf die Religion >glauben wir also nicht mehr wirklich<, sondern befolgen einfach einige der religiösen Rituale und Sitten aus Rücksicht auf den >Lebensstil< der Gemeinschaft, der wir angehören“. (9)
Der Erklärungswert religiöser Überzeugungen hat sich erschöpft; aber ihre eingeübten Interpretationsleistungen behalten eine untergründige kulturelle Aufklärungskraft. Der ursprüngliche Offenbarungsbegriff ver‐schiebt sich damit kulturtheoretisch. Das gilt u.a. für den Kern der christlichen Gottesvorstellung. Die Ver‐
zeitlichung des Ewigen ermöglicht einen anderen Wirklichkeitszugang. Die Welt gehört einem Schöpfer, der auf sie angewiesen ist, der sich in der Geschichte selbst verliert und finden muss: der sich am Kreuz einem Tod aussetzt, der ihn überhaupt erst sterben lässt. Die Vermenschlichung die‐ses Gottes markiert die absurde Zerrissenheit einer Weltauffassung, in der Gott immer wieder Menschen dazu bringt, gegen seine Gebote zu han‐deln. Er mutet sogar dem eigenen Sohn am Kreuz die äußerste Gottverlas‐senheit zu.
„Diese >Angelegenheit, die finsterer und schlimmer ist, als dass sich leicht darüber sprechen ließe< betrifft das, was zwangsläufig als der verborgene per‐verse Kern des Christentums erscheinen muß: Wenn es verboten ist, im Para‐dies vom Baum der Erkenntnis zu essen, warum hat Gott den Baum dort ü‐berhaupt aufgestellt? Ist dies nicht Teil seiner perversen Strategie, Adam und Eva erst zum Sündenfall zu verleiten, um sie danach zu retten?“ (17)
Dasselbe gilt für den Verrat des Judas. Mit ihm wird aber die subversive Hermeneutik dieser Theologik deutlich. Die Liebe dokumentiert sich im Verrat, der die Liebe auf ihre letzte Belastungsprobe stellt. Die Wahrheit dieses Vorgangs kennzeichnet die Unmöglichkeit, direkt zu lieben:
40 Zizek, Slavoy: Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, 7. Im Folgenden mit Seitenzahlen im Text zitiert.
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„Das Paradox, das diesem Sachverhalt zugrunde liegt, besteht darin, dass die Liebe, genau deshalb, weil sie das Absolute ist, nicht als direktes Ziel postu‐liert werden, sondern den Status eines Nebenproduktes, das heißt von etwas, das uns als unverdiente Gnade zuteil wird, behalten muß.“ (21)
Hier geschieht die konsequente Profanisierung des Offenbarungsglau‐bens, der mit seiner religiösen Kritik eine neue intellektuelle Erklärungs‐kraft gewinnt. Zizek vollzieht dies in immer neuen überraschenden Wen‐dungen, die den christlichen Glauben nicht nur als kulturellen Subtext entziffern, sondern in ihm eine überaus leistungsstarke Grammatik unse‐rer Selbstauffassung zu lesen geben. Das gilt u.a. für das religionspoliti‐sche Problem des Pluralismus. Zizek referiert die geläufige Kritik an der vermeintlichen Gewaltimmanenz des Monotheismus, indem er ihn gerade als Ausdruck des bleibenden Unterschieds zwischen Gott und Welt und damit als Motor einer Kultur der Differenzen versteht:
„Was, wenn es im Gegenteil der Polytheismus ist, der den allgemein geteilten (Hinter‐)Grund der Vielfalt von Göttern voraussetzt, während nur der Mono‐theismus die Lücke als solche, die Lücke im Absoluten selbst thematisiert, die Lücke, die nicht nur (den einen) Gott von sich selber trennt, sondern die Lü‐cke, die der Gott ist. Diese Differenz ist >reine< Differenz; nicht die Differenz zwischen positiven Entitäten, sondern Differenz >als solche<. Monotheismus ist daher die einzige konsequente Theologie der Zwei – im Gegensatz zur Vielheit, die sich nur vor dem Hintergrund des Einen, ihrem neutralen Grund, zur Schau stellen kann, wie die Vielheit der Figuren vor demselben Hinter‐grund,… ist radikale Differenz die Differenz des Einen im Hinblick auf sich selbst, die Nicht‐Koinzidenz des Einen mit sich selbst, mit seinem eigenen Ort. Aus diesem Grund ist das Christentum kraft der Dreieinigkeit der einzige wahre Monotheismus. Die Lehre aus der Dreieinigkeit ist, daß Gott völlig mit der Lücke zwischen Gott und Mensch koinzidiert, daß Gott diese Lücke ist; dies ist Christus, nicht der jenseitige Gott, der vom Menschen durch die Lücke getrennt ist, sondern die Lücke als solche, die Lücke, die gleichzeitig Gott von Gott und den Mensch vom Menschen trennt.“ (27)
Das ist aber dann auch die große Offenbarung des christlichen Glau‐bens: Der Riss im System, der Bruch im Gefüge unserer Verhältnisse, das Geständnis, dass nicht alles im Einen aufgeht, sondern in der Spaltung bleibt. Die Sehnsucht nach der Vermittlung von Individualität und Totali‐tät erhält hier gültigen Ausdruck. Die trinitarische Lösung erscheint dies‐bezüglich genial – nur dass ihr leider nicht mehr als die Idee selbst ent‐spricht.41
41 Vgl. ebd., 77.
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„Es gibt einen Gott, er ist gut und reagiert auf unsere Wünsche, doch weil er nicht besonders gut hört und unsere Gebete häufig missversteht, ist er auch die Ursache des Bösen und unseres Unglücks.“ (90)
Die Offenbarungsbotschaft von der Erlösung verdoppelt nur die Not mit den Träumen und Wünschen nach gelingendem Leben, weil sich die Spaltung bis in das Gottesverhältnis fortsetzt. „Unsere radikale Erfahrung der Trennung von Gott ist genau jenes Merkmal, das uns auch mit Ihm vereint.“ (93) Immerhin trägt dieser Vorgang dazu bei, diese notwendige Entfremdung zu durchschauen – was im Übrigen auch psychoanalytisch gilt. Das aber muss auch theologisch radikalisiert werden: Wenn das Christentum die Offenbarung als angemessene Komplizierung unserer Welt betreibt, dann ist es konsequenterweise an den eigenen Enden auf‐zuhängen. Zizek spielt in diese Interesse ein Theaterstück ein – „The Man Who Sued God“ –, in dem ein Mann aufgrund höherer Gewalt – „Act of God“ – sein Boot verliert. Da ihn die Versicherung daraufhin nicht ent‐schädigen will, verklagt seine Anwältin die Kirchen als Vertreter Gottes. Das Problem: Entweder sie zahlen oder sie leugnen, Repräsentanten Got‐tes zu sein, was sie um ihre Stellung bringt – oder sie stellen ihrerseits die Existenz Gottes in Frage… „Diese reductio in absurdum verdeutlicht, was mit dieser Logik grundsätzlich nicht stimmt: Sie ist nicht zu radikal, sondern sie ist nicht radikal genug. Die ei‐gentliche Aufgabe besteht nicht darin, von den Verantwortlichen eine Ent‐schädigung zu erhalten, sondern ihnen jene Position zu nehmen, die sie zu Verantwortlichen macht. Statt von Gott (oder der herrschenden Klasse oder wem auch immer) Entschädigung zu verlangen, sollte man lieber die Frage stellen: Brauchen wir Gott wirklich?“ (190)
Zizeks Offenbarungskritik ist durchschlagend. Sie knüpft am rationalen
Kern des Christentums an, um von hierher seine inneren Widersprüche zu kennzeichnen. Damit fällt die Möglichkeit, an diesen Gott zu glauben. Die Wissensform selbst aber bewahrt ihre interpretative Bedeutung; sie muss sich freilich unter veränderten Umständen, mit wesentlichen Verschie‐bungen bewähren. Das schließt die Profanisierung des offenbarungstheo‐logisch als Allerheiligstes reklamierten Bereichs ein:
„Vielleicht besteht die eigentliche Leistung des Christentums darin, daß es ein liebendes (unvollkommenes) Wesen in den Rang Gottes, das heißt den der Vollkommenheit schlechthin erhebt. Darauf beruht der Kern der christlichen Erfahrung.“ (118)
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Damit zeichnen sich aber zugleich signifikante Verschiebungen im of‐fenbarungskritischen Diskurs der Moderne ab: (1) Der Weg von der Bezweiflung der Vernünftigkeit des Offenbarungsglaubens (klassische Aufklärungskritik) führt
(2) über die Aporetisierung der gesellschaftlichen Rationalisierungsverhältnisse und der Vernunft insgesamt (Adorno)
(3) hin zur Aufdeckung der Rationalisierungsleistungen der Religion noch in ihrer Unglaubwürdigkeit (Zizek).
Vor diesem Hintergrund, mit diesem Anforderungsprofil hat sich
christliche Offenbarungstheologie in der Gegenwart zu behaupten.