8287618 interpretation der parabel auf der galerie von franz kafka

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  • 8/17/2019 8287618 Interpretation Der Parabel Auf Der Galerie Von Franz Kafka

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    Interpretation der Parabel“Auf der Galerie” von Franz KafkaDie Parabel “Auf der Galerie” von Franz Kafka beschreibt das Gefangensein des Einzel-nen in seiner durch ¨außere Strukturen und Verhaltenserwartungen vorgegebenen Rolle,die ihm verbietet, seine eigentlichen Gef¨ uhle zu zeigen.

    Die Parabel ist in zwei Abs¨atze unterteilt. Der erste Absatz steht im Konjunktiv(“würde”, Z.4, “fortsetzte”, Z.7, “eilte”, Z.8 ...). Kafka beschreibt eine hypothetischeSituation: Eine Kunstreiterin tritt in einem Zirkus auf. Es geht ihr gesundheitlichschlecht, sie ist “hinf¨allig” und “lungens¨uchtig” (Z.1), und auch das Pferd “schwankt”(Z.2), scheint sich also zu überanstrengen.

    Dieser hypothetische Auftritt nimmt kein Ende, er dauert “monatelang ohne Unter-brechung” (Z. 3) und setzt sich “in die immerfort weiter sich ¨ offnende graue Zukunft”(Z.6.) fort, denn das Publikum ist “unerm¨ udlich” (Z.2) und der Zirkusdirektor “er-

    barmungslos” (Z.3). Das Adjektiv “erbarmungslos” impliziert, dass die Reiterin unterder Situation leidet. Zwar f¨ uhrt sie ihre Kunstst¨ ucke vor, wie sie soll: “Küsse wer-fend, in der Taille sich wiegend” (Z.4), aber auch die Beschreibung der Ger¨ ausche, diesie wahrnimmt, erzeugen den Eindruck einer feindlichen Umgebung, die f¨ ur die Reit-erin zunehmend unertr¨ aglich wird: Das “Brausen des Orchesters und der Ventilatoren”(Z.6) steigert sich in der atemlosen Aneinanderreihung von Haupts¨ atzen f örmlich zumGet öse, das in Zeile 8 seinen Höhepunkt ndet - mit dem “Beifallsklatschen der H¨ ande,die eigentlich Dampfh¨ammer sind”. Pl¨otzlich unterbricht Kafka hier den Konjunk-tiv: “sind” ist das einzige Verb im einfachen Pr¨ asens. Hier schimmert durch, dassdie Situation gar nicht wirklich hypothetisch gemeint ist, sondern “eigentlich” (Z.8)ein tats ächliches Verh¨altnis umschrieben wird. “Dampfh¨ ammer” symbolisieren lauten

    Krach und regelm¨aßig-kontinuierliche maschinelle Gewalt. An diesem H¨ ohepunkt derUnertr¨aglichkeit kommt die m¨ogliche Rettung f¨ur die Reiterin. Ein “junger Galeriebe-sucher” l äuft in die Manege und ruft “Halt!”. Wenn es so w¨ are - “vielleicht eilte” (Z.7)er dann hinab.

    “Da es aber nicht so ist”, dieser Satz beendet den hypothetischen Auftritt des er-sten Absatzes und leitet den zweiten Absatz ein, der eine andere Version des Auftrittsbeschreibt - jetzt im Indikativ und antithetisch zum ersten Absatz: Die “hinf¨ allige, lun-gensüchtige” Kunstreiterin ist jetzt eine “sch¨ one Dame” (Z. 12) und der Direktor istnicht “peitschenschwingend” und “erbarmungslos” sondern pr¨ asentiert sie und gibt sichbewundernd. Die Beschreibung seines Verhaltens gegen¨ uber der Reiterin ist zutiefstironisch. Nat ürlich ist sie nicht “seine ¨uber alles geliebte Enkelin” (Z. 15), nat¨ urlich

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    braucht ein Zirkusdirektor keine “Selbst¨ uberwindung” (Z. 17) f¨ur das Peitschenzeichen;er ist schließlich die Situation gewohnt und wird kaum mehr staunen ¨ uber “ihre Kun-stfertigkeit” (Z. 19). Nein, der Direktor verstellt sich, er muss eine Show verantstalten,das ist die Aufgabe eines Zirkusdirektors. Und auch die Kunstreiterin veranstaltet eineShow, indem sie ihre Arme ausbreitet, um “ihr Gl¨ uck mit dem ganzen Zirkus” zu teilen(Z. 26) - zu übertrieben positiv ist die Beschreibung. Ihre eigentlichen Gef¨ uhle sehenanders aus.

    Und vielleicht - die kurze Unterbrechung des Konjunktivs mit “sind” (Z.8) l¨ asstdiese Deutung zu - entsprechen sie genau der Beschreibung des ersten Absatzes: DieReiterin ist wirklich “getrieben” vom Direktor, es geht ihr tats¨ achlich gesundheitlichschlecht, ihr Auftritt scheint ihr unendlich lang und das Klatschen dr¨ ohnt ihr in denOhren wie “Dampfh¨ammer”. Aber sie darf es nicht zeigen. “Die Show muss weiterge-hen!” Illusion und T¨auschung geh¨oren zum Zirkus. Die Reiterin wird im Moment ihresAuftritts reduziert auf die Rolle, die sie zu spielen hat, ihre eigentliche Identit¨ at und ihrepers önlichen Gef ühle sind belanglos. Dieser Zwang, in der Rolle zu bleiben, resultiert

    aus der Verhaltenserwartung des Publikums: Die Leute wollen unterhalten werden undnicht bel ästigt mit pers¨onlichen Problemen, schließlich haben sie Eintritt bezahlt.

    Und so kann der Retter, der “junge Galeriebesucher” aus dem ersten Absatz, nichtaktiv werden: Die Verstellung ist perfekt, es ist kein fassbarer Grund da, um einzuschre-iten. Aber er scheint unbewusst zu sp¨ uren, wie es wirklich um sie bestellt ist: “DasGesicht auf die Br¨ustung” gelegt, “weint er ohne es zu wissen” (Z.28).

    Die Parabel l ässt sich psychologisch noch weitergehend deuten: Menschen ver-stellen sich h äug, um Verhaltenserwartungen zu erf¨ ullen, und unterdr¨ ucken ihre wahrenGefühle: “Immer nur l¨acheln! Und wie’s drinnen aussieht, geht keinen was an!” So in-terpretiert steht das Zirkungspublikum mit seinen Erwartungen f¨ ur die Gesellschaft mitihrer Moral und ihren Normen. Es ist im ersten Absatz unpers̈ onlich dargestellt, wird

    mit dem “Brausen des Orchesters und der Ventilatoren” gleichsam Teil einer Maschine,Teil der äußeren Struktur “Zirkus”, die die Reiterin in ihre Rolle zwingt.Die Reiterin und der Zirkusdirektor k¨ onnen aufgefasst werden als Teile eines ges-

    paltenen Ichs. Die Reiterin entspr¨ ache dem Freudschen “Es”, den eigenen Trieben undWünschen, der Direktor dem “ Über-Ich”, das gepr¨agt ist von der gesellschaftlichenMoral - und entwicklungspsychologisch besonders von den Erwartungen der Eltern.Kafka hatte bekanntlich eine schwierige Beziehung zu seinem Vater. Der Zirkusdirek-tor kann deshalb auch daf¨ ur stehen: Den Vater, dessen Erwartungen Kafka mit sichherumtr¨agt und denen er folgen muss, wie seine eigenen W¨unsche und Bed¨urfnisse auchaussehen m ögen. Der äußere Zwang, den der Direktor der Parabel auf die Kunstreiterinausübt, ist eigentlich ein Zwang innerhalb des eigenen Ichs.

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