8540 f wulfdiether zippel hans wagner sabine von ... · nomos herausgeber franz knöpfle peter...

137
Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland Sturm Hans Wagner Wulfdiether Zippel Aus dem Inhalt: Richard Saage Wissenschaftlich-technische und normative Grundlagen des Neuen Menschen Peter Nitschke Der Tod der demokratischen Ordnung – Eine neoklassische Rekonstruktion Zum Thema: China Thomas Heberer Institutionelle Defizite gefährden Chinas soziale und politische Stabilität – Von der Rolle einer Supermacht des 21. Jahrhunderts ist das Land noch weit entfernt Markus Taube Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen in der VR China: Das Beispiel der Township Village Enterprises Gottfried-Karl Kindermann Taiwan im Brennpunkt nationaler und internationaler Divergenzen Karl Graf Ballestrem (1939–2007) – ein Nachruf von Lothar R.Waas 2007 54. Jahrgang NF Juni 2007 Seite 121–256 ISSN 0044-3360 8540 F 2 ZfP Organ der Hochschule für Politik München Zeitschrift für Politik

Upload: others

Post on 07-Sep-2019

7 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Nomos

HerausgeberFranz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland Sturm Hans Wagner Wulfdiether Zippel

Aus dem Inhalt:Richard SaageWissenschaftlich-technische und normativeGrundlagen des Neuen Menschen

Peter NitschkeDer Tod der demokratischen Ordnung – Eineneoklassische Rekonstruktion

Zum Thema: ChinaThomas HebererInstitutionelle Defizite gefährden Chinassoziale und politische Stabilität – Von der Rolleeiner Supermacht des 21. Jahrhunderts ist dasLand noch weit entfernt

Markus TaubePrinzipien der Entstehung eindeutigerVerfügungsrechtsstrukturen in der VR China:Das Beispiel der Township Village Enterprises

Gottfried-Karl KindermannTaiwan im Brennpunkt nationaler undinternationaler Divergenzen

Karl Graf Ballestrem (1939–2007) – ein Nachruf von Lothar R. Waas

200754. Jahrgang NFJuni 2007Seite 121–256ISSN 0044-33608540 F

2

ZfPOrgan der Hochschule für Politik München

Zeits

chrif

tfür

Pol

itik

• 200

7 • H

eft2

Ich bestelle:

Bitte ausschneiden und einschicken.

Bestellung bitte per Fax oder per Post an:Fax (gebührenfrei): (0 800) 8018018Carl Heymanns Verlag GmbHPostfach 2352 • 56513 Neuwied • Telefon 02631 801-2222www.heymanns.com • E-Mail [email protected]

Name / Vorname

Straße / Hausnummer

PLZ / Ort

Datum Unterschrift

Bestellen Sie mit diesem Coupon per Fax oder Brief versandko-stenfrei innerhalb Deutschlands. Sie können Ihre Bestellung in-nerhalb von 2 Wochen ohne Angaben von Gründen in Textform(z.B. Brief, Fax, E-Mail) oder durch Rücksendung der Ware wider-rufen. Die Frist beginnt frühestens mit Erhalt dieser Belehrung.Zur Wahrung der Widerrufsfrist genügt die rechtzeitige Absen-dung des Widerrufs oder der Ware an Carl Heymanns VerlagGmbH, Luxemburger Str. 449, 50939 Köln. Im Falle eines wirksa-men Widerrufs oder einer wirksamen Rückgabe sind die beider-seits empfangenen Leistungen (Ware bzw. Kaufpreis) zurückzu-gewähren. Die Rücksendung ist für Sie in jedem Fall kostenfrei. Geschäftsführer: Dr. Christoph Knauer, Dr. Ulrich Hermann · HRB57755 Köln · DE 814685774

Zu beziehen über Ihre Buchhandlung oder direkt beim Verlag.

Band 37Schmittmann

Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta

Von Dr. Georg Schmittmann

2007. XIII, 197 Seiten, Hardcover, 1 56,-

Die vorliegende Arbeit vermittelt eine mögli-che Lösung für die Problematik der Differen-zierung zwischen Rechten und Grundsätzenin der Grundrechtecharta. Der Autor arbeitetin seiner Untersuchung die Unterschiede zwi-schen Rechten und Grundsätzen heraus undkommt zu dem Ergebnis, dass zwischen dreiverschiedenen Arten von Grundsatztypen un-terschieden werden sollte, deren Eigenartenund Unterschiede im Einzelnen vorgestelltwerden. Der Blick der Arbeit richtet sich auchauf die Verfassungen anderer Mitgliedstaa-ten. Zuletzt ist ein Teil der Arbeit demRechtsschutz gewidmet, wobei Probleme derDurchsetzbarkeit von Grundsätzen angespro-chen werden und einige Änderungen imRechtsschutzsystem, welche die Verfassungfür Europa mit sich bringt, besprochen wer-den.

______ Expl. Rechte und Grundsätze in derGrundrechtecharta1 56,- • ISBN 978-3-452-26616-3

132-

07

VES - Völkerrecht - Europarecht - StaatsrechtHerausgegeben von Prof. Dr. Stefan Ulrich Pieper,

Prof. Dr. Volker Epping

Zeitschriftfür Politik

Umschlag 27.06.2007 14:50 Uhr Seite 1

Page 2: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

2/200754. Jahrgang(Neue Folge)Seite 121–256Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und Richard Schmidt

ZfP Zeitschrift für PolitikO r g a n d e r H o c h s c h u l e f ü r Po l i t i k M ü n c h e n

Herausgeber: Prof. Dr. Franz Knöpfle, Universität Augsburg; Prof. Dr. Peter CorneliusMayer-Tasch, Universität München; Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Oberreuter, Universität Pas-sau; Prof. Dr. Dr. Sabine von Schorlemer, Technische Universität Dresden; Prof. Dr. TheoStammen, Universität Augsburg; Prof. Dr. Roland Sturm, Universität Erlangen-Nürnberg;Prof. Dr. Hans Wagner, Universität München; Prof. Dr. Wulfdiether Zippel, Technische Uni-versität München

Redaktion: Prof. Dr. Dr. Hans-Martin Schönherr-Mann, Universität München

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ulrich Beck; Prof. Dr. Alain Besançon; Prof. Dr. Dr. h.c.mult. Karl Dietrich Bracher; Dr. Friedrich Karl Fromme; Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Gumpel;Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle; Prof. Dr. Wilhelm Hennis; Prof. Dr. Peter Graf Kiel-mansegg; Prof. Dr. Dr. h.c. Gottfried-Karl Kindermann; Prof. Dr. Leszek Kolakowski; Prof.Dr. Dr. h.c. Hermann Lübbe; Prof. Dr. Harvey C. Mansfield; Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin;Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Oberndörfer; Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Jürgen Papier; Prof. Dr.Roberto Racinaro; Prof. Dr. Hans Heinrich Rupp; Prof. Dr. Charles Taylor

InhaltRichard SaageWissenschaftlich-technische und normative Grundlagen des Neuen Menschen ............................................................................................... 123

Peter NitschkeDer Tod der demokratischen Ordnung – Eine neoklassische Rekonstruktion ................................................................................................. 141

Zum Thema: ChinaThomas HebererInstitutionelle Defizite gefährden Chinas soziale und politische Stabilität – Von der Rolle einer Supermacht des 21. Jahrhunderts ist das Land noch weit entfernt ....................................................................................................... 162

Markus TaubePrinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen in der VR China: Das Beispiel der Township Village Enterprises .................. 179

Gottfried-Karl KindermannTaiwan im Brennpunkt nationaler und internationaler Divergenzen ......215

Karl Graf Ballestrem (1939–2007)Ein Nachruf von Lothar R. Waas................................................................... 236

Buchbesprechungen mit Verzeichnis ............................................................. 241

01_Inhalt Seite 1 Donnerstag, 28. Juni 2007 10:05 10

Page 3: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Zeitschriftfür PolitikZfP

Organ der Hochschule für Politik München

Redaktion: Prof. Dr. Dr. Hans-Martin Schönherr-Mann,Hochschule für Politik, Ludwigstraße 8, 80539 München.

Unaufgefordert eingereichte Manuskripte werden von min-destens zwei Experten anonym begutachtet. Die Manus-kripte sollen deshalb der ZfP-Redaktion nach Möglichkeitals Datei in einer anonymisierten Version eingereicht wer-den (vorzugsweise per E-Mail). Diese darf keinerlei Hin-weise auf die Autorenschaft enthalten; dies gilt auch fürVerweise im Manuskript auf andere Veröffentlichungen desVerfassers oder solche Hinweise, die es erlauben, auf dieIdentität des Autors schließen zu können.

Internet: www.politik-im-netz.com/zfp.htm Email: [email protected]

Verlag: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,Postfach 100 310, 76484 Baden-Baden, Telefon 0 72 21 / 2104-0, Telefax 0 72 21 / 21 04-43.

Nachdruck und Vervielfältigung: Die Zeitschrift und allein ihr enthaltenen einzelnen Beiträge sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzendes Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verla-ges unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche-rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bezugsbedingungen: Die Zeitschrift erscheint viermal imJahr. Jahrespreis 79,– €, für Studenten und Referendare(unter Einsendung eines Studiennachweises) jährlich 56,– €,Einzelheft 21,– €. Alle Preise incl. MWSt. zuzüglich Ver-triebskosten. Kündigung nur vierteljährlich zum Jahresende.

Anzeigen: sales_friendly, Verlagsdienstleistungen, BettinaRoos, Siegburger Straße 123, 53229 Bonn, Telefon 02 28 / 9 7898-0, Telefax 02 28 / 9 78 98-20, E-Mail: [email protected].

Druckerei: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,Postfach 100 310, 76484 Baden-Baden, Telefon 0 72 21 / 2104-24, Telefax 0 72 21 / 21 04-79

ISSN 0044-3360

Hinweise für Autoren zur Gestaltung derManuskripte

1. Manuskripte sollten der ZfP-Redaktionanonymisiert als Datei möglichst per E-Mail eingereicht werden.

2. Der Umfang eines Artikels sollte bei etwa25 Seiten DIN A4, 1 1/2-zeilig geschrieben,liegen. Schriftgröße: 12 pt, neue Recht-schreibung.

3. Am Ende des Manuskripts ist eine deutscheund eine englische Zusammenfassung zubringen, wobei die deutsche Fassung 10 Zei-len nicht überschreiten soll.

4. Es gibt kein Literaturverzeichnis am Endedes Manuskripts; vielmehr werden in derZfP Literaturverweise und zitierte Literaturausschließlich in den Fußnoten (FN) in nor-maler Groß- und Kleinschreibung genannt,Reihenfolge der Angaben, Hervorhebun-gen (Kursivschrift, Anführungszeichen) undInterpunktion entsprechend den folgendenBeispielen:

Bücher:Christine Landfried, Das politische Europa,Baden-Baden 2005, S. …

Artikel:Niklas Luhmann, »Das Gedächtnis der Politik«in: Zeitschrift für Politik, 2/1995, S. 109-121oder in: Buchzitation wie oben angegeben

Bei zwei oder mehr Autoren und zwei odermehr Erscheinungsorten wird der Schräg-strich/ verwendet; bei den Autoren mit jeweilseiner Leertaste vor und nach dem Schräg-strich, bei den Erscheinungsorten ohne Leer-stellen.Verwendete Abkürzungen: ebd., S. … undaaO. (FN…), S. …

Beilagenhinweis: Dieser Ausgabe liegen Pros-pekte der Nomos Verlagsgesellschaft bei. Wirbitten freundlichst um Beachtung.

Autoren dieses HeftesThomas Heberer, Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politik Ostasiens ander Universität Duisburg-Essen.Gottfried-Karl Kindermann, Professor Dr. Dr. h. c., Koordinator der Interdisziplinären Arbeits-gemeinschaft für die Geschichte und Politik Ost- und Südostasiens, LM-Universität MünchenPeter Nitschke, Professor für Wissenschaft von der Politik, Institut für Bildungs- und Sozialwis-senschaften an der Hochschule VechtaRichard Saage, em. Professor für Politikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-WittenbergMarkus Taube, Professor für Ostasienwirtschaft/China, Mercator School of Management undInstitut für Ostasienwissenschaften an der Universität Duisburg-EssenLothar R. Waas, apl. Professor für Politikwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum

01_Inhalt Seite 2 Donnerstag, 28. Juni 2007 10:05 10

Page 4: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Richard Saage

Wissenschaftlich-technische und normative Grundlagen des Neuen Menschen1

I.

Der Zusammenbruch der Herrschaftssysteme des sowjetischen Typs in Europaprovozierte die Formel vom »Ende des utopischen Zeitalters«, die Anfang der1990er Jahre die öffentliche Meinung beherrschte.2 Seit Beginn des 21. Jahrhundertssteht die Öffentlichkeit mit dem Aufstieg der Nano-, Bio-, Informations- und Neu-rowissenschaften bzw. Hirnforschung und der aus ihnen folgenden Technologienvor einer neuen Herausforderung.3 Es geht jetzt nicht mehr um die Systemkonkur-renz zwischen angeblich »utopischen« kommunistischen Planwirtschaften und demVerfassungstyp westliche Demokratie mit neoliberalem Globalisierungsanspruch.Zur Diskussion gestellt ist vielmehr die Vision eines Neuen Menschen, der aus demZusammenspiel der neuen Leitwissenschaften resultieren soll. Die Erreichung desZiels, die grundlegende Steigerung der allgemeinen Leistungsfähigkeit des Men-schen, setzt voraus, dass er Bacons Konzept der Naturbeherrschung4 nun auf sichselbst anwendet. Nano- und Biotechnologie betreiben seine Umgestaltung durchManipulation mit Atomen und an den Genen. Sie kooperieren mit den Informati-onstechnologien und der Neurowissenschaft, welche alphanumerische und selbst-lernende Steuerungsprogramme liefern sowie die Beeinflussung des menschlichenBewusstseins durch den Zugriff auf die Gehirnzellen ermöglichen.

Der Terminus des »Neuen Menschen« ist freilich älter als seine jüngste Bedeu-tungsvariante: Er stand vielmehr von Anfang an im Zentrum des utopischen Dis-kurses seit der europäischen Antike. Der Neue Mensch der Renaissance-Utopiespeiste sich aus mittelalterlichen und antiken Quellen. Als seine christlichen Wur-zeln sind neben der Bergpredigt Jesu5, der in der Feindesliebe dessen Vervollkomm-nung sah, vor allem Paulus, der den Neuen Menschen als Ebenbild des göttlichen

1 Gunnar Berg, Christopher Coenen, Walter Euchner, Randolf Menzel und Alfred Nord-mann habe ich für die kritische Lektüre des Manuskripts und für weiterführende Anre-gungen zu danken.

2 Vgl. zusammenfassend Richard Saage (Hg.), Hat die politische Utopie eine Zukunft?Darmstadt 1992.

3 Vgl. grundlegend Mihail C. Roco / William Sims Bainbridge (Hg.), Convergence Tech-nologies for Improving Human Performance. Nanotechnology, Biotechnology, Informa-tion Technology and Cognitive Science, Arlington Virginia 2002.

4 »The end of our foundation is the knowledge of causes, and secret motions of things;and the enlarging of the bounds of human empire, to the effecting of all things possible«(Francis Bacon, New Atlantis etc., London 1825, S. 364f).

5 Matthäus 5:38-48.

02_Saage Seite 123 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 5: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen124

Schöpfers visionierte6, sowie Alanus zu nennen, der in ihm eine Korrektur der gött-lichen Schöpfung erkennen zu können glaubte.7 Andererseits folgte die Renais-sance-Utopie der Option Platons, dass der Neue Mensch in Gestalt der Philosophenund Wächter nur das Produkt des idealen Staates sein könne.8 Aber bereits Campa-nella übertrug diese Vision von den Eliten auf die Mitglieder der Gesamtgesellschaftund betonte darüber hinaus wie Morus vor ihm die Ambivalenz der menschlichenNatur, die selbst unter den Bedingungen des idealen Staates von dem gefordertenSoll-Wert abweichen kann.9 Die frühe Aufklärung verharrte in ihrer archistischen,d.h. herrschaftsbezogenen Tradition im Schatten Platons, wenn der Neue Menschals Produkt der Philosophenkönige in Verbindung mit der angeblich altruistischenSozialisation durch die kommunistischen Eigentumsverhältnisse verstanden wur-de.10 Doch bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts begann sich der Edle Wilde alsutopisches Leitbild des Neuen Menschen bahn zu brechen, der – ganz unplatonisch– gerade durch die Negation staatlicher Herrschaft seine Vollkommenheit erreich-te.11 Gleichzeitig wurde diese Optimierung nicht mehr als statischer Zustand, son-dern als Prozess der perfectibilité gedacht. Im Zeitalter der Industrialisierung wolltedas utopische Denken angesichts der Entfaltung der Produktivkräfte auf maschinel-ler Basis die gesellschaftliche Harmonie, wie das Beispiel von H. G. Wells »A Mo-dern Utopia«12 und »Menschen Göttern gleich« sowie A. Bogdanows »Der RotePlanet« und »Ingenieur Menni« zeigt13, durch die weitgehende Subsumtion desNeuen Menschen unter das Homogenitätsgebots des Kollektivs erreichen – sei esmit Hilfe eugenischer Maßnahmen (Wells) oder mittels Bluttransfusionen (Bogda-now). Allerdings lässt die Struktur der Neuen Menschen z.B. bei Fourier und beiCabet deutlich individualisiertere Züge erkennen: Fourier optierte für den absolutenVorrang des Lustprinzips als Entfaltungsmaxime des Individuums14, und Cabet ließeine erstaunliche Bandbreite der individuellen Bedürfnisbefriedigung zu.15 WilliamMorris schließlich machte am Ende des Jahrhunderts als Reaktion auf den NeuenMenschen in Bellamys sozialistischem Staatsroman16 erneut die anarchistische Liniedes utopischen Denkens stark: Ihm zufolge kann der einzelne nur jenseits etatisti-scher und institutioneller Zwänge seine schöpferische Potenz entfalten.17

6 Kolosser 3:1-14.7 Alanus, Der Anticlaudian oder Die Bücher von der himmlischen Erschaffung des Neuen

Menschen, Stuttgart 1983, S. 114f u. 202.8 Platon, Der Staat, ùbersetzt v. August Horneffer, Stuttgart 1973, S. 160f, 211f u. passim.9 Tommaso Campanella, Der Sonnenstaat, in: Klaus Heinisch (Hg.), Der utopische Staat,

Reinbek 1960, S. 122ff, 131f, 134.10 Vgl. Denis Vairasse. Geschichte der Sevaramben. 2 Bde., Itzehoe 1783, Bd. I, S. 100,

102f, 337f, 343 u. passim.11 Vgl. Louis Armand de Lahontan, Gespräche mit einem Wilden, Frankfurt am Main

1981, S. 28, 35f., 45-47, 52f. 12 Vgl. Herbert George Wells, A Modern Utopia, Lincoln 1967.13 Vgl. Alexander Bogdanow, Der rote Planet. Ingenieur Menni, Berlin 1989.14 Vgl. Richard Saage, Utopische Profile: Industrielle Revolution und Technischer Staat im

19. Jahrhundert, Münster 2002, S. 61-85.15 Vgl. Etienne Cabet, Reise nach Ikarien, Berlin 1979, S. 254.16 Edward Bellamy, Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887, Stuttgart 1983.17 Vgl. William Morris, Kunde von Nirgendwo. Eine Utopie der vollendeten kommunisti-

schen Gesellschaft aus dem Jahr 1890, 2. Aufl., Reutlingen 1982.

02_Saage Seite 124 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 6: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen 125

Die große dialektische Wende in der utopischen Konzeption des Neuen Men-schen erfolgte nach dem Ersten Weltkrieg in den drei klassischen Dystopien, nämlichin Samjatins »Wir«18, in Huxleys »Schöne neue Welt«19 und in Orwells »1984«20: Siebezeichneten den »Nullpunkt« des Neuen Menschen in der utopischen Denktraditi-on. Der »utopische Altruismus« schlug ins Gegenteil des ursprünglich Intendiertenum: An die Stelle der allseitig gebildeten, hochintelligenten und körperlich wohlge-stalteten Persönlichkeit tritt die durch Gehirnoperation um ihre Menschlichkeit ge-brachte Nummer (Samjatin), der depravierte Apparatschik als willenloser Arm einertotalitären Partei (Orwell) und der genetisch manipulierte Konformist (Huxley).Dieser Umschlag, der nicht nur eine Reaktion auf Faschismus und Stalinismus ist,sondern auch als Selbstkritik der bisher vorherrschenden archistischen Linie des uto-pischen Denkens gelesen werden kann, hat den postmateriellen Utopiediskurs seitden 1970er Jahren nachhaltig geprägt.21 Der jetzt kreierte Neue Mensch nähert sichimmer mehr dem realen Menschen mit seinem Freiheitsstreben, seiner Spontaneitätund seinem individuellen Selbstverwirklichungsanspruch an. Zwar ist der utopischeAltruismus nach wie vor Dreh- und Angelpunkt des utopischen Diskurses. Dochder Neue Mensch wird zunehmend selbstreflexiv, weil er ein Bewusstsein davon hat,dass er zu Machtmissbrauch, Egoismus, Ruhmsucht und Hass fähig ist. Diese Ten-denz der stetigen Annäherung an den realen Menschen in seiner biologischen, gene-tisch auf individuelle Selbstherhaltung angelegten Verfasstheit ist der bisher letzteParadigmenwechsel dieses zentralen Topos der utopischen Denktradition.22

Dennoch ist unübersehbar, dass dieser Topos im Fokus der Konvergenz bzw. dessich gegenseitig befruchtenden und den wissenschaftlich-technologischen Fort-schritt vorantreibenden Zusammenspiels von Nano-, Bio-, Neuro- und Computer-technologie aus seinem originären Zusammenhang mit dem klassischen Utopiedis-kurs seit Platon und Morus gelöst und nachhaltig neu interpretiert wurde. Derkonvergenztechnologische Neue Mensch gewinnt sein spezifisches Profil durch fol-gende Differenzen zu seinem utopischen Entstehungskontext.23 1. Im utopischenDiskurs gelangte der Neue Mensch zu seiner Entfaltung nur im Kontext ebenfalls»neuer« Institutionen, die eine grundlegende kollektivistische Veränderung der Ei-gentums- und Wirtschaftsstrukturen, der Erziehungsinstitutionen, des politischenSystems, der Justiz etc. voraussetzte. Diese gesellschaftliche und institutionelle Dif-ferenz zur Herkunftsgesellschaft entfällt bei der Konzeption des konvergenztech-nologischen Neuen Menschen: Er tritt in Erscheinung, ohne die Brücken zu den Ei-

18 Jewgenij Samjatin, Wir. Mit dem Essay »Über Literatur und die Revolution«, Köln 1984.19 Aldous Huxley, Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft, Franfurt am Main 1985.20 Vgl. George Orwell, 1984, Frankfurt/M. u.a. 1984.21 Vgl. hierzu Richard Saage, Politische Utopien der Neuzeit, mit einem Vorwort zur zwei-

ten Auflage: »Utopisches Denken und kein Ende? «, Bochum 2000, S. 292-384.22 Vgl. hierzu neuerdings Martin d’Idler, Die Modernisierung der Utopie. Vom Wandel des

Neuen Menschen in der politischen Utopie der Neuzeit, Diss. Martin-Luther-Universi-tät Halle-Wittenberg 2007.

23 Vgl. hierzu Richard Saage, »Konvergenztechnologische Zukunftsvisionen und der klas-sische Utopiediskurs« in: Alfred Nordmann / Joachim Schummer / Astrid Schwarz(Hg.), Nanotechnologien im Kontext. Philosophische, ethische und gesellschaftliche Pers-pektiven, Berlin 2006, S. 179-194.

02_Saage Seite 125 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 7: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen126

gentumsverhältnissen und den institutionellen Arrangements seiner kapitalistischenHerkunftsgesellschaft zu sprengen. 2. Die technischen Mittel zur Schaffung desNeuen Menschen sind im konvergenztechnologischen Futurismus unter der Kon-trolle privater Konzerne, während im utopischen Diskurs der dem Allgemeinwohlverpflichtete Staat die Verantwortung trägt, womit die Gestaltung des Neuen Men-schen nicht das private Privileg weniger, sondern zu einem öffentlich relevanten Guterhoben wird, wenn auch mit autoritären und nicht selten mit menschenverachten-den Mitteln. 3. Der utopische Neue Mensch orientierte sich an dem Ideal der allsei-tig gebildeten Persönlichkeit, der sich nicht nur körperlich, sondern auch geistigund moralisch im Sinne eines umfassenden Altruismus optimieren sollte, ohne sei-nen biologischen Status quo zu verändern. Auf seine Subjektivität und sein eigenesWohlbefinden zentriert, sieht dagegen der konvergenztechnologische Diskurs denMenschen vor allem als Produkt seiner biologischen Evolution, deren Naturwüch-sigkeit freilich durch den künstlichen Eingriff in sein Genom zu beenden ist24, wäh-rend er seine zweite Natur, nämlich seine kulturell-gesellschaftlich vermittelten Ei-genschaften, marginalisiert.25 4. Für die Utopisten stehen Wissenschaft und Technikim Dienst der gesellschaftlich vermittelten Bedürfnisse des Menschen, die im Kernaus seinen unveränderlichen, von Natur aus gegebenen Defiziten resultieren. Mitnatürlichen Mängeln behaftet, treibt er die Technik zur Steigerung seiner Lebens-

24 »Was bisher als organische Natur ›gegeben‹ war und allenfalls ›gezüchtet‹ werdenkonnte, rückt nun in den Bereich der zielgerichteten Intervention. In dem Maße, wieauch der menschliche Organismus in diesen Eingriffsbereich einbezogen wird, erhältHelmuth Plessners phänomenologische Unterscheidung zwischen ›Leib-sein‹ und›Körper-haben‹ eine überraschende Aktualität: Die Grenze zwischen der Natur, die wir›sind‹ und der organischen Ausstattung, die wir uns selber ›geben’, verschwimmt. Fürdie herstellenden Subjekte entsteht damit eine neue, in die Tiefe des organischen Subst-rats hineinreichende Art des Selbstbezuges. Nun hängt es nämlich vom Selbstverständ-nis der Subjekte ab, wie sie die Reichweite der neuen Entscheidungsspielräume nutzenwollen – autonom nach Maßgabe normativer Erwägungen, die in die demokratischeWillensbildung eingehen, oder willkürlich gemäß subjektiven Vorlieben, die über denMarkt befriedigt werden« (Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Aufdem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 2005, S. 27f.)

25 »Eine Betrachtung, die dem Verhältnis von Natürlichkeit und Artifizialisierung bei der-artigen Manipulationen nachgeht, kommt um die Frage nach der Natur des Menschennicht herum. Zwei Irrwege sind zu vermeiden: der der älteren ›philosophischenAnthropologie’, die den Menschen allein durch das Geistige definiert, sowie der desgentheoretischen Soziobiologismus, der die Gestaltung des geistig-kulturellen Lebensauf das den Menschen nicht bewusste Bestreben der Gene zurückführt, sich fortzu-pflanzen. Unbestreitbar gibt es eine ›erste Natur‹ des Menschen, die er der Evolutionverdankt. Doch sein eigentliches Leben führt er in der kulturellen Welt, die ihm zur›zweiten Natur‹ geworden ist. ›Das auf allen Stufen enthaltene Natürliche ist nicht ausseiner gesellschaftlichen Form herauszuoperieren ohne Gewalt gegen die Phänomene‹(Adorno). Für die Verfechter einer futuristischen life science spielt der Unterschied zwi-schen ›erster‹ und ›zweiter Natur‹ keine Rolle. Ziel ist die Veränderung der ›erstenNatur‹ mit den avanciertesten Methoden der Gen-, Computer- und Robotertechnik.Was daraus für die soziale und kulturelle Welt folgt, ist selten Gegenstand vertiefterReflexionen, es genügt die Meliorisierungserwartung für Gesundheit und Intelligenz«(Walter Euchner, »Der künstlich verbesserte Mensch und die künstliche Intelligenz –Vorgeschichte und aktuelle Diskussion« in: Leviathan, 33. Jg. 2005, S. 48f.).

02_Saage Seite 126 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 8: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen 127

qualität voran, indem er z.B. menschenunwürdige Arbeit wegrationalisiert. Insofernfindet auch bei den Utopisten die wissenschaftlich-technische Entwicklung in derGeschichte statt; sie ist in ihr ein Faktor – wenn auch ein wichtiger – unter vielenanderen. Dagegen kann sich Geschichte für die konvergenztechnologischen Futu-risten nur im Rahmen der technischen Entwicklung ereignen: Der Neue Menschbeherrscht sie nicht, sondern macht sich bedingungslos von ihr abhängig, ob er nunals cyborg, transhuman oder als Siedler im Weltraum in Erscheinung tritt. 26

Diese Trennlinie zum utopischen Menschenbild vorausgesetzt, erheben die kon-vergenztechnologischen Konstrukteure des Neuen Menschen den Anspruch, es seimöglich, die Struktur, die Funktion und die Fähigkeiten des menschlichen Körpersund Gehirns auf ein grundsätzlich höheres, die bisherige Evolution qualitativ über-windendes Niveau zu heben. Nicht nur die Heilung physischer Gebrechen undKrankheiten stehe auf der Tagesordnung. Vielmehr wollen die Konvergenztechno-logien einen perfektionierten Körper ermöglichen, welcher den der leistungsfähigs-ten Athleten der Gegenwart bei weitem übertrifft. Mit künstlicher Intelligenz (KI)ausgestattet, soll er mehr Informationen als bisher aufnehmen und direkt mit Com-putern kommunizieren können. Dem Bericht der großen Nationalen Konferenz inden USA unter dem Titel »Converging Technologies« aus dem Jahr 200227 zufolgewerden diese auf Nano-Grundlage die menschliche Leistungsfähigkeit nicht nur amArbeitsplatz, in den Sportstätten und in den Klassenzimmern, sondern auch aufdem Schlachtfeld signifikant erhöhen. Dramatisch lasse sich auch, so die konver-genztechnologische Prognose, die Lebenszeit der Menschen steigern. Diese betrugum 1800 lediglich 37 Jahre. Dadurch, dass die Biologie reprogrammiert werde, pro-gnostizieren die so genannten »Transhumanisten« eine zukünftige Welt, in der dasLeben der Menschen bei bester Gesundheit mehr als 100 Jahre dauert. AufladbareIntelligenz und herunterladbare Gedächtnisspeicher, so die Prognose, könnten eserforderlich machen, zu einer neuen, revidierten Definition unserer Gattung, des»homo sapiens«, zu gelangen, da die Spezies »Mensch« in ihrer gegenwärtigen Ver-fassung eine verhältnismäßig frühe Phase ihrer Evolution darstelle.28 Noch findendiese Techniken im nano-medizinischen Bereich Anwendung auf Menschen, die an

26 Auf diesen wichtigen Unterschied zwischen technischen Verbesserungen für den Geistund den Körper des Menschen in der Geschichte und denen des menschlichen Geistesund Körpers innerhalb einer technischen Entwicklung, welche die Geschichte konsu-miert, hat neuerdings Alfred Nordmann nachdrücklich hingwiesen. Vgl. Alfred Nor-mann, If and Then: A Critique of Speculative NanoEthics (unveröffentlichtesManuskript, Darmstadt 2007).

27 Vgl. Convergence Technologies, aaO. (FN 3)28 Demgegenüber bestreitet Alfred Normann, dass die konvergenztechnologischen Opti-

mierer ihr Ziel, einen Neuen Menschen zu kreieren, überhaupt erreichen können.Fokussiert auf die vorwiegend männliche Gemeinschaft weißer Ingenieure und derenWertesystem projizierten sie die eigenen Vorstellungen physischer und mentaler Leis-tungsfähigkeit in das Konstrukt des Neuen Menschen. Vgl. Nordmann: If and Then,aaO. (FN 26). Was als Weiterentwicklung der biologischen Evolution des Menschenausgegeben wird, so kann man Nordmanns Befund interpretieren, entlarvt sich alsRückbindung an Eigenschaften von Menschen, wie sie die kapitalistische Marktgesell-schaft hervorgebracht hat.

02_Saage Seite 127 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 9: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen128

einer Krankheit leiden. In naher Zukunft aber, so die Erwartung, werde es schwerersein, zu definieren, was eine Krankheit und was ein Zustand unterhalb der Ebeneder optimalen Gesundheit ist.29

Doch die Frage ist, ob diese Visionen eine reale Basis im Forschungsprozessselbst haben. Handelt es sich um haltlose Spekulationen, die – wie das Beispiel dessüdkoreanischen Genexperten Hwang Woo Suk30 zeigt – betrügerische Heilsver-sprechen nicht ausschließen? Oder sind wir mit Antizipationen konfrontiert, derenRealitätsgehalt uns zwingt, sie ernst zu nehmen?

II.

Wer einen kritischen Blick auf den Stand der konvergenztechnologischen Bemü-hungen wirft, den optimierten Neuen Menschen zu kreieren, kommt in der Tat umernüchternde Einsichten nicht herum. Wenn Ray Kurzweil z. B. die These vertritt,in absehbarer Zeit werde es aufgrund exponentiell gesteigerter Computerleistungenmöglich sein, eine Simulation des Gehirns zu erreichen, dann muss er sich den Vor-wurf gefallen lassen, einem »riesigen Missverständnis«31 aufzusitzen. Die bloße Ver-mehrung der Rechengeschwindigkeit führe keineswegs zu einem qualitativen Um-schlag. Gehirn und Computer führten zwar logische Operationen aus. AberComputer arbeiteten nach anderen Algorithmen als biologische Systeme.32 Es ist al-lerdings schwer vorstellbar, dass es der binären Logik des Computers jemals gelin-gen wird, ein Gedicht zu interpretieren. Die Genforschung hat ferner gezeigt, dassbestimmte Eigenschaften des Menschen nicht auf ein einziges, sondern auf eineKombination vieler Gene zurückführbar sind. Niemand war bisher in der Lage,eine solche Synthese zu entschlüsseln. Eineiige Zwillinge können bekanntlich trotzidentischer Genstruktur in ihren menschlichen Qualitäten und Interessen sehr un-terschiedlich sein, weil diese auch bestimmt werden von kulturell-sozialen Einflüs-sen, die sich der genetischen Kontrolle entziehen.33 Möglich ist also nach dem bishe-rigen Forschungsstand nicht der Neue Mensch als Totalität. Real machbarerscheinen lediglich punktuelle Veränderungen, die an sehr wenige Gene gebundensind, wie Heilung von Erbkrankheiten, Erschließung neuer Nahrungsquellen durchgenetische Manipulation von Pflanzen, die Erzeugung bestimmter Enzyme, alsochemischer Wirkstoffe etc.

29 Vgl. hierzu ETC group, »Nanotech Rx. Medical Applications of Nano-scale Technolo-gies: What Impact on Marginalized Communities?« September 2006, S. 15 u. passim.

30 Vgl. hierzu kritisch Alexander Kissler, Der geklonte Mensch. Das Spiel mit Technik,Träumen und Geld, Freiburg/Basel/Wien 2006, S. 31-61.

31 Wolf Singer, »Zu wissen, wie eine streuende Katze in Frankfurt überlebt. Ein Gesprächmit Wolf Singer« in: Frank Schirrmacher (Hg.), Die Darwin AG. Wie Nanotechnologie,Biotechnologie und Computer den neuen Menschen träumen, Köln 2001, S. 150.

32 Ebd.33 Vgl. hierzu Karl Deutsch, »Politische Aspekte der gentechnologischen Entwicklung«

in: Alexander Schuller / Nikolaus Heim (Hg.), Der codierte Leib. Zur Zukunft dergenetischen Vergangenheit, Zürich/München 1989, S. 170.

02_Saage Seite 128 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 10: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen 129

Den realen und durchaus begrenzten konvergenztechnologischen Forschungs-stand im Blick hat Alfred Nordmann die bisher stringenteste Kritik der Vision destranshumanen Neuen Menschen vorgelegt.34 Er warnt vor einer Überbewertungkonvergenztechnologischer Zukunftsvisionen, die ihre Plausibilität aus einem feh-lerhaften Wenn-Dann-Szenario bezögen. Dessen suggestive Kraft beruhe auf einemTrick. Die Wenn-Dann-Ausage der konvergenztheoretischen Protagonisten begin-ne zwar mit der Behauptung einer möglichen technischen Zukunft (»wenn«). In derzweiten Hälfte des Satzes (»dann«) jedoch werde unter der Hand der Konjunktivdurch den Indikativ vertauscht. Die Konsequenzen dieser Manipulation lägen aufder Hand: Die bloß imaginierte Zukunft überwältige die Gegenwart. Am Ende do-miniere dann die Suggestion, die konvergenztechnologische Entwicklung überrolleuns als unwiderstehlicher Sachzwang wie eine Naturgewalt. Diese Kritik ist ebensozutreffend wie die Konsequenz, die Nordmann aus ihr zieht: Anstatt eine weit ent-fernte unwahrscheinliche Zukunft moralisch auf spekulativer Grundlage zu evaluie-ren und damit wertvolle ethische Ressourcen zu verschwenden, komme es vielmehrdarauf an, die neuen Technologien zu befragen, was sie unter Beachtung normativerGesichtspunkte zur Lösung gegenwärtiger Probleme der Herkunftsgesellschaft bei-tragen können.

Dennoch darf das Problem der technischen Machbarkeit des Neuen Menschenauf konvergenztechnologischer Grundlage nicht unterbewertet werden. DessenProtagonisten geht es vor allem darum, zentrale Begriffe der postindustriellen Ge-sellschaft politisch mit den eigenen Inhalten zu besetzen. Diesen Tatbestand könnenauch diejenigen, die zu Recht von den realen Bedürfnissen der Herkunftsgesell-schaft ausgehen, nicht ignorieren. Wenn sie sich von der konvergenztechnologi-schen Offensive nicht überrollen lassen wollen, sind sie gut beraten, ihnen auf ihremeigenen Territorium zu begegnen. Zudem müssen wir uns die Frage stellen, warumdie fehlerhafte Wenn-Dann-Logik mit ihrer stillschweigenden Umwandlung desKonjunktivs in den Indikativ eine so hohe Akzeptanz vor allem in der anglo-ameri-kanischen Öffentlichkeit erlangen konnte. Bezieht sie nicht ihre Kraft aus der Dy-namik des wissenschaftlich-technischen Fortschritts selber? Und geht dadurchnicht auch ein gewisser Realitätsgehalt in diese transhumanistischen Szenarien ein?Technische Probleme stellten in der Geschichte der modernen Naturwissenschaftennie eine absolute Barriere für deren Weiterentwicklung dar. Wer hätte in der erstenHälfte des 17. Jahrhunderts geglaubt, dass die technischen Errungenschaften in Ba-cons »Neu-Atlantis« jemals Wirklichkeit werden könnten? Sie reichen bekanntlichvom Kunstdünger und Treibstoffen, der Technik des Umwandelns von Salz- inSüsswasser und umgekehrt über Pfropfungen und Inokulationen von Wald- undObstbäumen, der synthetischen Herstellung von Heilmitteln aller Art bis hin zurKonstruktion von Maschinen und Triebwerken, von Tauchausrüstungen und Un-terseeboten sowie von durch Gleichmaß und Feinheit ausgezeichnete Automaten35:Technische Errungenschaften, die heute zum Alltag der Weltzivilisation gehören.

34 Vgl. Nordmann, If and Then, aaO. (FN 26).35 Vgl. Bacon, New Atlantis, aaO. (FN 4), S. 364-379.

02_Saage Seite 129 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 11: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen130

Die konvergenztechnologischen Visionen des Neuen Menschen, insbesondere inihrer Ausprägung als Lebenswissenschaft (life sciences), sind aber noch aus einemanderen Grund in sich selbst bedeutsam als Legitimationsstrategie einer so genann-ten post-aufklärerischen Gesellschaft. Was ist darunter zu verstehen? Das 19. undfrühe 20. Jahrhundert stand im Zeichen der Bändigung kapitalistischer Ausbeutungdurch sozialstaatliche Interventionen und Verbürgungen. Der Ergänzung der indi-viduellen Menschenrechte durch soziale Grundrechte trat ein Staat zur Seite, der dieArbeitslosenunterstützung und die öffentliche Erziehung regelte. Diesen Strukure-lementen korrespondierte die Hegemonie der sozialen Imagination, wie sie sich ide-altypisch rein im utopischen Denken niederschlug. In ihrem Umkreis entstand einganzes Netz sozialer Institutionen, die, wie z.B. im Roten Wien der 1920er Jahre,das Leben der Menschen von der Wiege bis zur Bahre begleitete. Um die Fülle sei-ner sozialen Funktionen bewältigen zu können, trieb der Nationalstaat anonymebürokratische Strukturen aus sich hervor, die darüber hinaus die Beziehungen zwi-schen Kapital und Arbeit in einer tendenziell klassengespaltenen Gesellschaft zu re-geln hatten. Diese Epoche der »sozialen Imagination«, so lässt sich heute der NeueMensch des konvergenztechnologischen Futurismus interpretieren, sieht sich voneiner Gesellschaftsformation überlagert, die durch eine massive Individualisierungcharakterisiert ist. Das staatliche Leistungssystem weicht graduell der Option, dassdie Individuen zunehmend für ihr eigenes Wohl zu sorgen hätten. Dem entsprichtein subjektzentrierter Mentalitätswandel, der von den Impulsen der individuellenNutzenmaximierung lebt, wie in den Sozialwissenschaften der Aufstieg der »ratio-nal-choice«-Theorien zeigt. Und schließlich ist ein Trend zu beobachten, diese Nut-zenmaximierung auf die individuellen Lebensumstände im weitesten Sinn zu über-tragen.36

Es geht jetzt also nicht mehr nur – wie in der Epoche der Aufklärung – um eineOptimierung der Vernunft im engeren Sinn, begleitet durch eine der Autonomieverpflichteten sozio-politischen Praxis. Gefragt ist vielmehr eine weit gefasste Ver-besserung der Lebensumstände, die genetische Manipulation, Drogen zur Steige-rung der Emotionen und des Selbstgefühls sowie biotechnische Mittel zur Verlänge-rung des Lebens mit einschließt. Die aus diesen »neuen« Bedürfnissen gespeistenfuturistischen Imaginationen laufen, wie wir sahen, auf eine neue Spezies Menschhinaus: mag er nun cyborg, posthuman oder trans-human genannt werden. »DieseSchöpfungen sind Abkömmlinge der Menschen, verbessert durch Biotechnik inKombination mit den Informationswissenschaft und der Gehirnforschung«.37 Wieschon angedeutet, kann man diese Antizipationen als bloße Spekulation abtun.Aber wer die vorgetragenen Gründe akzeptiert, es nicht zu tun, kommt um derenBeurteilung nicht herum. Damit haben wir die Ebene der Werte erreicht, in derenLicht unser Thema im Folgenden zu diskutieren ist.

36 Vgl. Karin Knorr Cetina, »The Rise of a Culture of Life« in: Modern Biology and Visi-ons of Humanity, Brüssel 2004, S. 29-41.

37 Ebd.

02_Saage Seite 130 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 12: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen 131

III.

Im Kern werden drei Argumente gegen den konvergenztechnologisch optimier-ten Neuen Menschen vorgebracht:

1. Konvergenztechnologische Versuche, den Neuen Menschen zu kreieren, zer-störten die Autonomie des Individuums; es verliere seinen Status als selbstbestimm-tes Subjekt, das seiner Integrität beraubt sei. Zum Objekt degradiert, mutiere es mitHilfe der Computertechnologie und biochemischer sowie gentechnologischer Test-verfahren zum gläsernen Menschen. »Mit der Möglichkeit der genetischen Vorsor-tierung und der auf das genetische Programm abgestimmten Lebensplanung unter-wirft das Individuum sich einer instrumentellen Verfügung, sei es durch andere oderdurch sich selbst, die kein Miteinander und keine Geschichte kennt. Das Recht aufden eigenen Körper entlarvt sich als Scheinfreiheit, und das Sich-selbst-zum-Objekt-Machen erweist sich als ein Schritt der Voranpassung an die Angleichungs- und Nor-mierungsprozesse in das Organisationsgefüge der modernen Industriegesellschaft«.38

2. Der konvergenztechnologische Versuch einer optimierenden Rekonstruktiondes Menschen verstoße gegen dessen Würde, wie sie zwingend aus dem Naturrechtfolge. Die einfachste Definition des Begriffs »Würde« aus der Sicht des modernenNaturrechts hat Kant vorgelegt. Sie erhebt den Menschen zum Zweck an sich selbstund bleibt nur gewahrt, wenn man ihn nicht zum Mittel degradiert. Das genau seiaber der Fall, wenn Experimente nicht am, sondern mit dem Menschen durchge-führt werden. »Für jede geborene Person steht die Trägerschaft der Menschwürdekraft der Zugehörigkeit zur Spezies ›Mensch‹ außer Frage, unabhängig von geistigenoder körperlichen Fähigkeiten, sozialen Merkmalen oder der Befähigung zu sinnhaf-tem Leben«.39 Die Würde des Menschen sei also vorgegeben, und nicht gesetzt. Siekönne daher auch nicht kontextuell uminterpretiert und dem Zeitgeist im Interesseder Lebenswissenschaften angepasst werden. Wer dieses Axiom aufgebe, habe einenhohen Preis zu zahlen. Ohne ein so verstandenes Konzept der menschlichen Würdesei es ein schweres, wenn nicht gar zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, eine uni-versale Richtschnur der Integrität des Menschen in einer globalisierten Welt zu fin-den. Ihre Relativierung oder Preisgabe stelle wesentliche Errungenschaften der west-lichen Zivilisation wie die Geltung der Menschenrechte, Folterverbot etc. in Frage.

3. Bei den Versuchen einer »lebenslangen Krankheitsprävention« zur Verlänge-rung des Lebens stünden die zentralen Werte der Autonomie und der Gleichheit dereinzelnen auf dem Spiel. Es handele sich um ein graduelles Übergleiten in ein Züch-tungsmodell, in dessen Genuss unter den Bedingungen einer liberalen Eugenik nur

38 Rainer Hohlfeld, »Die zweite Schöpfung des Menschen – eine Kritik der Idee der bio-chemischen und genetischen Verbesserung des Menschen« in: Schuller / Heim, aaO.(FN 33), S. 244.

39 Ernst-Wolfgang Böckenförde, »Die Würde des Menschen war unantastbar. Zur Neu-kommentierung der Menschwürdegarantie des Grundgesetzes« in: Ders., Recht, Staat,Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Frank-furt/M. 2006, S. 379-388, hier S. 379 sowie Ders., »Menschenwürde als normatives Prin-zip. Die Grundrechte in der bioethischen Debatte« aaO., S. 389-406.

02_Saage Seite 131 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 13: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen132

diejenigen gelangen, welche es sich materiell leisten können, da sich die technologi-sche Genmanipulation nicht in den Händen des Staates befinde, sondern unter Kom-merzialisierungsgesichtspunkten von privaten Firmen betrieben werde. Genetischkonditioniert, stehe die Autonomie künftiger Generationen zur Disposition, selbst-bestimmt über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden. Somit seien irreversible Faktengeschaffen, die es unmöglich machten, die Rollen zwischen dem genetischen Mani-pulator und seinem Produkt zu tauschen.40 Andererseits zeichneten sich die Umrisseeiner das Prinzip der Gleichheit zerstörenden Zweiklassen-Gesellschaft ab. Die De-mokratie unter sich begrabend, stünden am Ende diejenigen, welche sich die Opti-mierungstechniken leisten könnten, denjenigen gegenüber, die als Parias den Boden-satz der Gesellschaft bildeten.41 Eine solche Perspektive aber verstoße gegen dasGebot der Gleichbehandlung der Menschen in der Wahrung ihrer Lebenschancen.

Diesen Argumenten liegt eine im Kern dem Naturrecht verpflichtete Moral zu-grunde. Ein solcher Zusammenhang ergibt sich zwanglos aus der Tatsache, dass unsdie Vorstellung, der Mensch sei eine Art »biologischer Maschine« innerhalb seinernatürlichen und heute zunehmend künstlich gesteuerten Evolution, immanent kei-ne Kriterien bieten kann, die so entstandene Situation kritisch zu hinterfragen. Einaußerhalb dieser Entwicklungslogik stehender Standpunkt ist nur durch den Rekursauf das Naturrecht begründbar42: Erst dieser Schritt ermöglicht es auch, im Men-

40 Vgl. hierzu Kissler, Der geklonte Mensch, aaO. (FN 30), S. 124-126, der die einschlägigeDiskussion zwischen Habermas und Dworkin zusammenfasst. Niemand hat dezidierterauf die Gefahr des Verlusts der Autonomie des Individuums im Zuge der Manipulationunseres Genoms verwiesen als Jürgen Habermas. Immer wieder hebt er hervor, dass eineTechnisierung unserer Natur ein verändertes gattungsethisches Selbstverständnis provo-ziere, »das mit dem normativen Selbstverständnis selbstbestimmt lebender und verant-wortlich handelnder Personen nicht mehr in Einklang gebracht werden kann«(Habermas, Die Zukunft, aaO. (FN 24), S. 76). Die konvergenztechnologische Aufrüs-tung des menschlichen Genoms ziehe nämlich zwei mögliche Konsequenzen nach sich:»dass sich programmierte Personen nicht länger selbst als ungeteilte Autoren ihrer eige-nen Lebensgeschichte betrachten, und dass sie sich im Verhältnis zu vergangenen Genera-tionen nicht mehr uneingeschränkt als ebenbürtige Personen betrachten können« (aaO.,S. 132f.). Die Autonomie der Eltern im Rahmen einer liberalen Eugenik, als Designerihrer Kinder zu agieren, habe ihre Grenzen in deren Autonomie, weil nur ohne ein künst-lich vorgegebenes genetisches Korsett das eigene Leben selbstbestimmt gestaltbar sei.

41 Bill Joy, »Warum die Zukunft uns nicht braucht. Die mächtigsten Technologien des 21.Jahrhunderts – Robotik, Gentechnik und Nanotechnologie – machen den Menschenzur gefährdeten Art« in: Schirrmacher: Die Darwin A.G., aaO. (FN 31), S. 47.

42 Randolf Menzel bestreitet genau diese Konsequenz. Die kulturelle und damit natur-rechtliche sowie die biologische Information seien »so innig miteinander verschränkt,dass es keinen Sinn macht (,) sie trennen zu wollen, insbesondere dort, wo die Traditi-onsbildung, die ja zu guten Teilen aus dem individuellen Lernen erwächst, zum Selekti-onsfaktor für die biologische und kulturelle Evolution wird« (Randolf Menzel in einemBrief an den Verfasser v. 26.1.2007). Doch andererseits löst er diese Einheit wieder auf,wenn er der kulturell vermittelten Natur des Menschen eine gewisse (offenbar selbstän-dige) Steuerungskapazität konzediert. Er macht nämlich die »Erhaltung (vielleicht sogardie Fortentwicklung) des Menschen«, welche auch scheitern und zur Auslöschung seinerSpezies führen könne, nicht nur von der biologischen, sondern »besonders« auch vonder kulturellen Evolution abhängig, »die die Rahmenbedingungen dafür setzt« (ebd.).

02_Saage Seite 132 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 14: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen 133

schen mehr zu sehen als eine Maschine. Es ist genau dieses naturrechtlich fundierte»Mehr«, dem der Mensch seinen Subjektcharakter und damit seine hervorgehobeneStellung in der Natur verdankt.43 Zu Recht ist festgestellt worden: »Die Konfronta-tion der Bioethik mit der konstruktiven Biologie zeigt auf unerwartet neue Weise,welche Bedeutung die Natur des Menschen für unsere Moral besitzt. (...) Eben dieseunverzichtbare normative Rolle der Natur kann nicht rekonstruiert werden, wennwir uns auf einen szientifischen Naturalismus beschränken«.44 In der Tat könnenwir auf einen Begriff der »zweiten Natur« nicht verzichten, die mehr ist als »die denGegenstand der Biologie bildende Natur«.45 Ohne diese Annahme würde derMensch »zum Sozialfall der Gesellschaft«46 heruntergestuft werden, hoffnungslosder Künstlichen Intelligenz von Maschinen unterlegen.

Dass dabei die einschlägige Diskussion nicht immer zwischen dem christlich-tra-ditionellen und dem modernen subjektiven Naturrecht unterscheidet, ist nicht zu-fällig: Obwohl die Differenzen zwischen beiden Varianten beträchtlich sind47, kon-vergieren sie in der Einschätzung der Einzigartigkeit der menschlichen Würde. Dastraditionelle Naturrecht leitet sie her aus der dem einzelnen von Gott verliehenenStellung im Kosmos; das moderne Naturrecht sieht sie im Individuum als demselbstverantwortlichen Vernunftträger verankert. Doch ist dieser Moraltypus nichtdurch einen irreversiblen Geburtsfehler stigmatisiert? Das traditionelle Naturrecht,nachhaltig von Hobbes und Spinoza kritisiert, hat sich bereits im 17. Jahrhundertals Ideologie der adligen Ständegesellschaft erwiesen, während das moderne Natur-recht als Legitimationsmuster der modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesell-schaft historisch relativiert worden ist. Es trifft somit zu, dass »sich die Existenzüberzeitlicher und vorstaatlicher Menschenrechte nicht nachweisen lässt«.48 Ist da-mit aber das Naturrecht, insbesondere in seiner egalitären Spielart, als regulativesPrinzip obsolet? Niemand kann bestreiten, dass aus ihm rationale Standards entwi-ckelt wurden, auf deren Folie »der weltweite Stand der politischen und sozialenEmanzipation«49 und damit die Qualität einer Zivilgesellschaft gemessen werdenkann. Auch steht außer Frage, dass es als Rechtsethik, nicht als Teil des positiven

43 Vgl. Bernd Mahr, »Die Menschwerdung der Maschine« in: Arbeitsstelle für historischeKulturforschung der Universität des Saarlandes (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöp-fungsträume und Körperbilder 1500-2000, Wien/Köln/Weimar 1998, S. 575f.

44 Ludger Honnefelder, »Bioethik und die Frage nach der Natur des Menschen« in: Gün-ter Abel (Hg.), Kreativitàt. XX. Deutscher Kongress für Philosophie 2005, Kolloquien-beiträge., Hamburg 2006, S. 336f.

45 Ebd. Vgl. hierzu auch FN 25.46 Mahr, »Menschwerdung«, aaO. (FN 43), S. 575.47 Vgl. hierzu grundlegend Walter Euchner, Naturrecht und Politik bei John Locke,

Frankfurt/M. 1979, S. 14-42.48 Walter Euchner, »Vom Nutzen der Natur- und Menschenrechtsidee für die Linke« in:

Komitee für Grundrechte und Demokratie: Jahrbuch 1986, Einhausen 1987, S. 114.49 AaO., S. 116.

02_Saage Seite 133 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 15: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen134

Rechts, Maßstäbe »der Kritik und eventuellen Delegitimierung des positiven Rechtsund der Anstöße zur Änderung und Verbesserung des Rechts«50 zur Verfügungstellt.51

In diesem Sinne ist die naturrechtlich fundierte Moral selbstreflexiv in einemdoppelten Sinne: Einerseits findet die Freiheit als Autonomie ihre Grenze in derSelbstbestimmung des anderen. Andererseits ist sie sich der Grenzen der Vernunft,von der sie sich ableitet, bewusst: Ihre limitierte Reichweite geht aus Kants Unter-scheidung zwischen der praktischen und theoretischen Vernunft zwingend hervor.So steht der Welt der Erscheinung, in der allein positive Erkenntnis möglich ist, dieSphäre des Dinges an sich gegenüber, aus der die positiv nicht beweisbaren prakti-schen Postulate der Moral, der Ethik und des Rechts, aber auch der Religion folgen,die als normative Richtschnur das Handeln der Individuen in der historisch-empiri-schen Welt anzuleiten vermögen. Zugleich ist damit einem Vernunfttotalitarismusim Sinne des instrumentellen Rationalismus der Boden entzogen. In diesem Sinnehaben Adorno und Horkheimer auf die »Dialektik der Aufklärung« verwiesen, de-ren Ziel es war, nicht die Aufklärung zu diffamieren, sondern Aufklärung über de-ren eigene Selbstgefährdung und Grenzen zu betreiben.

Demgegenüber beruhen die Werte der Protagonisten des konvergenztechnolo-gisch ausgerichteten Neuen Menschen auf einer so genannten evolutionären Ethik.Ihr Referenzsystem ist nicht der Universalismus der Aufklärung, sondern die Not-wendigkeiten der Evolution im Kontext ihrer jeweiligen Entwicklungsstadien. Da-her wird das Kantsche System der praktischen Vernunft rigoros abgelehnt: »FürKant selbst war oberste Norm, stets so zu handeln, dass die Maxime des eigenenTuns zum Gesetz für alle Menschen erhoben werden könnte. Von solchen univer-sellen moralischen Prinzipien, die absolute Gültigkeit beanspruchen, müssen wiruns verabschieden. Wie Mackie lapidar feststellt: ›Es gibt keine objektiven Werte’«.52

50 Böckenförde, »Bleibt die Menschwürde unantastbar?« aaO. (FN 39), S. 416.51 Ähnlich argumentiert Jürgen Habermas. Zwar verneint er im Zusammenhang mit der

Manipulation des menschlichen Genoms die Vorstellung, es existiere eine naturrechtli-che oder ontologische Ordnung, »die frevelhaft ›übertreten‹ werden könnte« (Haber-mas: Die Zukunft, aaO. (FN 24), S. 144). Doch diese Distanzierung vom traditionellenNaturrecht vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass sein eigenes Kritikmuster eineWeiterentwicklung des Kantschen Vernunftrechts darstellt, welches insofern als Vollen-dung der säkularisierten Tendenz des modernen Naturrechts verstanden werden kann,als er dessen Verbindlichkeit zum ersten Mal – gleichsam an Gott vorbei – a priori aus-schließlich durch die menschliche Vernunft begründet. In diesem Sinne spricht Haber-mas von der »abstrakten Vernunftmoral der Menschenrechtssubjekte«, die ihrerseits »ineinem vorgängigen, von allen moralischen Personen geteilten ethischen Selbstverständnisder Gattung ihren Halt« (aaO., S. 74) findet. Explizit bezieht er sich zudem auf Kantskategorischen Imperativ und dessen Aufforderung, »jede Person ›jederzeit zugleich alsZweck an sich selbst‹ zu betrachten und ›niemals bloß als Mittel‹ zu gebrauchen« (aaO.,S.96). Die Spuren des modernen Naturrechts wirken auch nach, wenn er den einzelnenthematisiert, der »sich als autonomes und ebenbürtiges Mitglied einer Assoziation vonFreien und Gleichen« (aaO., S. 132) versteht oder wenn er auf den »egalitären Universa-lismus (...) als große Errungenschaft der Moderne« (aaO., S. 155) abhebt.

52 Franz M. Wuketits, Bioethik. Eine kritische Einführung, München 2006, S. 7.

02_Saage Seite 134 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 16: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen 135

Die evolutionäre Moral, so wird argumentiert, beruhe auf der Einsicht Darwins,dass der Mensch wie alle Lebewesen das Resultat der Evolution durch die natürlicheAuslese sei. In deren Kontext habe sich auch die Moral im Dienst des Überlebensentwickelt. Vorstufen moralischen Verhaltens seien bereits bei den Schimpansenund Primaten auszumachen53: Nur durch Kooperation sei ein Überleben möglichgewesen. Zu unseren in der Stammesgeschichte entstandenen solidarischen Neigun-gen, die stets den Egoismus der Gene zur Voraussetzung hätten, folgten gleichsamautomatisch moralische Prinzipien wie die Sicherung der Fortpflanzung, die Bereit-stellung von Ressourcen sowie das Wir-Gefühl. Neuere Forschungsrichtungen ge-hen sogar von der Hypothese aus, das Sozialverhalten von Mensch und Tier direktaus den Genen abzuleiten. Doch steckt die soziale Neurowissenschaft, Sozialgene-tik genannt, noch in den Anfängen. So konnte man zwar zeigen, dass Neuropeptideim Bienenhirn eine wichtige Rolle spielen, »aber dass tatsächlich ganz bestimmteGene die soziale Funktion (im Bienenstaat, R.S.) bestimmen, wurde bisher nichtnachgewiesen«.54 Läge ein solcher Befund vor, wäre in der Sicht der Evolutionsthe-orie naturrechtlich verankerten Werten vollends der Boden entzogen. Ihr Geltungs-anspruch, so das Argument, steht und fällt vielmehr mit den gesellschaftlichen Be-dingungen, unter denen er Akzeptanz erlangt.

Doch woraus folgt die Legitimation, steuernd in die Evolution des Menscheneinzugreifen? Sie resultiert aus dem Privileg, dass der Forscher in einem histori-schen Augenblick lebt, in dem der Prozess »der natürlichen Zuchtauswahl oder desÜberlebens des Tüchtigsten«55 seine Naturwüchsigkeit verloren hat, weil er dessenMechanismen durchschaut und sie dadurch auch zu beherrschen vermag. Erst jetzterwächst ihm die moralische Pflicht, zum vermeintlichen Wohl der Menschheit diedefizitären Resultate der bisher blind ablaufenden Evolution mit konvergenztechni-schen Mitteln auszumerzen und alle Barrieren auf der Grundlage einer minimalisti-schen Moral im Namen der Forschungsfreiheit und des wissenschaftlichen Fort-schritts aus dem Weg zu räumen. Zugleich werden auf der Rezipientenseitepragmatische und utilitaristische Ethikkonzepte, die sich auf Locke, Bacon undHume berufen, reaktiviert. Als höchster Wert fungiert das Diktum Benthams, wo-nach es darauf ankommt, das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl zuverwirklichen. Die evolutionäre Moral fühlt sich nicht für die selbstreflexive Kritik,sondern für die Akzeptanz des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zumZweck des Vorantreibens der Evolution zuständig. Entsprechend wird eine norma-tive Ausrichtung gefordert, die sich ankoppelt an den Selbstlauf des wissenschaftli-chen Fortschritts. Wie dieser ständig dem Wandel unterworfen, handelt ethisch,»wer die Optimierung des Menschseins erleichtert, wer den homo sapiens stärker,gesünder, glücklicher macht. Der Transhumanist hat laut Julian Huxley die Aufga-be, ›die maximale Erfüllung dieses evolutionären Prozesses auf der Welt zu fördern‹

53 Vgl. aaO., S. 39.54 Joachim Müller-Jung, »Wer, wenn nicht wir? Die »Soziogenomik« sucht den Schlüssel

zum Gemeinsinn« in: FAZ, 8.11.06, S. N1.55 Charles Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtauswahl, Stuttgart

1963, S. 120-188.

02_Saage Seite 135 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 17: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen136

und besonders ›die volle Realisierung seiner eigenen, ihm innewohnenden Möglich-keiten‹ anzustreben. Das ›Aufblühen des Individuums‹ nennt Huxley offen den›Endzweck‹«.56

Wie es scheint, stehen sich die naturrechtlich fundierten Argumente der Kritikerder Konvergenztechnologien und die evolutionäre Ethik ihrer Befürworter unver-söhnlich gegenüber. Was lehrt uns diese Konfrontation über das Verhältnis vonWissenschaft und Werten?

IV.

Angesichts der polemisch zugespitzten und nicht selten emotional geführtenAuseinandersetzungen über den Neuen Menschen zwischen den beiden skizziertenideenpolitischen Lagern ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass ausein-ander bricht, was zusammengehört: die sozio-kulturelle und die biologische Naturdes Menschen.57 Ein Vertreter des evolutionären Ansatzes schreibt: »Wenn nun an-geblich auch alles Verhalten von den Genen abhängt, woher haben dann die ver-schiedenen Kulturen die unterschiedlichen Moralsysteme, wie kommt es zu dem re-

56 Kissler, Der geklonte Mensch, aaO. (FN 30), S. 116. Huxley konkretisierte diese Pers-pektive, die das Gegenszenario zu Aldous Huxleys dystopischem Furchtbild einerzukünftigen gen-manipulierten Gesellschaft der »Schönen neuen Welt« darstellt, 1962in einer Rede wie folgt: »Wir haben das Vorrecht, in einem entscheidenden Augenblickder Geschichte des Kosmos zu leben; jenem, in dem der gewaltige Evolutionsprozess inder Person des forschenden Menschen seiner selbst bewusst wird. (...) Die Verbesse-rung der genetischen Qualität des Menschen durch eugenische Verfahren würde einegroße Last an Leiden und Qual von den Schultern der Menschheit nehmen und zurSteigerung der Lebensfreude und der Tüchtigkeit beitragen. (...) Für mich ist es eineerregende Tatsache, dass der Mensch, nachdem er seiner Vorherrschaft und seiner zen-tralen Stellung im Weltall beraubt war und die Rolle eines unbedeutenden Bewohnerseines kleinen, abseits liegenden Planeten unter vielen Millionen von Sternen erhaltenhatte, jetzt wieder in eine Schlüsselstellung gerückt ist; er wurde zu einem der seltenstenVorläufer und Fackelträger im kosmischen Prozess der Evolution« (zit. n. Kissler, Dergeklonte Mensch, aaO. (FN 30), S. 116).

57 Wie bereits in FN 24 angedeutet, hat Helmuth Plessner bekanntlich diese beiden Sphä-ren, die den Menschen konstituieren, durch die Unterscheidung zwischen »Leib-sein«und »Körper-haben« analytisch zu fassen versucht. »Leib-sein« meint die biologischeExistenz des Menschen, »Körper-haben« impliziert die kulturell vermittelte Fähigkeit,die eigene Physis zu »objektivieren« und sich dadurch über das Tierreich zu erheben.»Künstlichkeit im Handeln, Denken und Träumen ist das innere Mittel, wodurch derMensch als lebendiges Naturwesen mit sich in Einklang steht. Mit der erzwungenenUnterbrechung durch gemachte Zwischenglieder hebt sich der Lebenskreis des Men-schen, dem er als selbständiger Organismus von Bedürfnissen und Trieben auf Tod undLeben eingeschmiedet ist, in eine die Natur überlagernde Sphäre und schließt sich dortin Freiheit. (...) Nur weil der Mensch von Natur halb ist, und (was damit wesensver-knüpft ist) über sich sieht, bildet Künstlichkeit das Mittel, mit sich und der Welt insGleichgewicht zu kommen... (...) Was also in die Sphäre der Kultur eingeht, zeigtGebundenheit an das menschliche Urhebertum und zugleich (und zwar in demselbenAusmaß) Unabhängigkeit von ihm« (Helmuth Plessner, Der Mensch als Lebewesen(1928), zit. n. Mahr »Die Menschwerdung« aaO. (FN 43), S. 576).

02_Saage Seite 136 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 18: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen 137

lativ raschen Wandel im zivilisatorischen Prozess? Die Antwort: Mit besondersguter verhaltensgenetischer Ausstattung – wie der Mensch sie in ausgefeilter Weisebesitzt – kann man zusätzlich nützliche Programme durch Lernen sammeln undschließlich Kompetenz im einsichtigen Handeln erwerben. (...) Dadurch wird derMensch unabhängig von seinem Genom. Man darf dabei aber keinesfalls vergessen,dass diese Unabhängigkeit vollkommen angewiesen ist auf eben dieses Genom«.58

Man sieht: In dem Bemühen, den genetischen Monismus aufrecht zu erhalten, wer-den die einfachen Regeln der Logik außer Kraft gesetzt und die kontradiktorischeAussage in Kauf genommen, dass der Mensch als kulturelles Wesen unabhängig undzugleich abhängig vom Genom sei.59 Die Wirklichkeit sieht anders aus. Als der Ho-henstaufer Friedrich II. auf der Suche nach der Ursprache der Menschheit ein Expe-riment mit einer Gruppe von Babys anordnete, gehörte es zur Versuchsanlage, jegli-che verbale Kommunikation der Amme mit den Neugeborenen und zwischenihnen zu unterbinden. Das Resultat war eindeutig: Die Säuglinge starben, weil nichtdie Gene, sondern die kulturelle Vermittlung der Sprache konstitutiv ist für derenIndividuierung. Als die Menschen lernten, das Feuer zu kontrollieren, hatten sieeine große kulturelle Revolution vollzogen. Wer kommt auf den absurden Gedan-ken, diesen Durchbruch auf eine Veränderung der Erbanlagen zurückzuführen?

Karl W. Deutsch hat die Mechanismen der Entwicklung der sozio-kulturellenNatur des Menschen überzeugend beschrieben: »Der Mensch lernt, indem er Erfah-rungen speichert. Wichtig ist dabei die Rückkoppelung: vom Individuum, das etwasNeues ausprobiert (wie etwa den Umgang mit dem Feuer), zur Gesellschaft, die die-ses Neue annimmt oder auch ablehnt. Von der Gesellschaft wiederum werden dieseneuen Dinge an die nächste, die nachwachsende Generation vermittelt. (...) Die ver-schiedenen Lerngeschwindigkeiten sind alle in der Natur des Menschen verfügbarund gegenwärtig: das langsame Lernen des Erbgutes, das schnelle Lernen der Kul-tur, das noch schnellere Lernen des Einzelmenschen. Je mehr eine Gesellschaft alsoden Einzelmenschen einengt und unterdrückt, desto langsamer lernt sie. Je mehr siedie Kultur erstarren lässt, desto langsamer lernt sie. Wenn sie schließlich sowohlkulturelles als auch biographisches Lernen zum Erliegen brächte, wären wir wiederauf dem Niveau der Tierwelt angelangt«.60 Deutschs lerntheoretischer Ansatz zeigt,dass wir zwischen der biologischen und der sozio-kulturellen Natur des Menschendifferenzieren müssen. Gerade dass uns die letztere entscheidend mitbestimmt,trennt den Menschen von der Maschine und dem Tier: eine Differenz, welche dieevolutionäre Moral zumindest zu relativieren sucht61 und sich dadurch in Wider-

58 Bernhard Verbeek, »Evolutionsfalle oder: Die ewige Hoffnung auf den Neuen Men-schen« in: Universitas, 47. Jg. 1992, S. 430.

59 Dieser logische Widerspruch ließe sich nur dann auflösen, wenn man zugäbe, dass dasGenom nicht »Verhalten und Fähigkeiten des Menschen determiniert, sondern dasSpektrum der Möglichkeiten festlegt« (Gunnar Berg in einem Brief an den Verfasservom 12.2.2007).

60 Karl Deutsch, »Politische Aspekte der gentechnologischen Entwicklung« in: Schuller /Heim (Hg.): Der codierte Leib, aaO. (FN 33), S. 164.

61 Vgl. Wuketits, Bioethik, aaO. (FN 52), S. 105f.

02_Saage Seite 137 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 19: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen138

sprüche verwickelt. Einerseits negiert die Evolutionstheorie die Sonderstellung desMenschen: Nicht mehr wesensverschieden vom Tier, ist »er selbst Tier, mit zwarspezifischen Merkmalen, denen aber keine zu große Bedeutung beigemessen wer-den darf, weil jede Tierart über eigene, besondere Merkmale verfügt und einmaligist«.62 Andererseits wird dem Menschen aber attestiert, er sei ein moralfähiges We-sen.63 Wie gezeigt, versucht die Evolutionstheorie diese Eigenschaft ebenfalls ausdem Kampf ums Überleben abzuleiten, das z.B. Kooperation und Solidarität für dieGefahrenabwehr des jeweiligen Individuums voraussetzen kann. Doch die restlicheTierwelt, denselben Bedingungen unterworfen, treibt analoge Verhaltensweisen aussich hervor, ohne jene moralischen Qualitäten zu entwickeln, die den Menschencharakterisieren.

Ein Lehrstück des evolutionstheoretischen Monismus ist auch die Kernaussageder Sozialbiologie: Sie bestreitet den Unterschied zwischen der ersten (biologi-schen) und der zweiten (sozio-kulturellen) Natur des Menschen.64 Die Differenzzwischen »evolutionär und deshalb biologisch« einerseits und »erlernt und kultu-rell«65 andererseits sei obsolet. Die wirklich spannende Frage bestehe vielmehr indem Problem, »welche Lernprozesse aus welchen Gründen von der natürlichen Se-lektion hervorgebracht worden sein könnten«. Lernen, so die These, exekutiere le-diglich »den biologischen Imperativ auf eine ganz besondere Weise«.66 Diese Argu-mentation kann aus zwei Gründen nicht überzeugen. 1. Hervorzuheben istzunächst ihr hochgradig hypothetischer Charakter. Immer wieder muss sie auf For-mulierungen rekurrieren, die auf neuere Untersuchungen verweisen, welche denunterstellten sozialbiologischen Monismus »vermuten lassen« oder »nahe legen«,ohne ihn mit empirischen Beweisen verifizieren oder falsifizieren zu können. 2. Dersozialbiologische Ansatz ist nicht in der Lage, die unterschiedlichen Lerngeschwin-digkeiten des Erbgutes, der Kultur und des Individuums zu erklären, auf die bereitshingewiesen wurde. Es bleibt auch undiskutiert, welche Auswirkungen das langsa-me Lernen der Gene und das wesentlich schnellere Lernen der sozio-technischenKultur und – diese übertreffend – des Individuums auf die Bestimmung dermenschlichen Natur hat. Legen sie nicht die analytische Unterscheidung zwischender biologischen Evolution und der Entwicklung unserer Werkzeuge nahe? Es gehtnicht darum, dem alten Leib-Seele-Dualismus das Wort zu reden. Doch alle empiri-schen Belege sprechen dafür, dass der genetische Bauplan die »künstlich« geschaffe-ne Technikkultur keineswegs konsumiert hat: Jedenfalls ist der Beweis, dass sich un-ser Genom restlos von der von Menschen gestalteten Sozial- und Technikgeschichtelösen konnte, bisher nicht geführt worden.67 Dass es aber Korrelationen zwischen

62 AaO.,S. 106.63 AaO., S. 112.64 Vgl. Eckart Voland, »Lernfähig, aber nicht belehrbar« in: FAZ vom 31. 01. 2007, S. 32.65 Ebd.66 Ebd.67 Vgl. Charles Lumsden, »Das posthumane Zeitalter: Das Spiel der Werkzeuge und geno-

mische Vergessen einer utopischen Spezies« in: Rudolf Maresch / Florian Rötzer, Renais-sance der Utopie. Zukunftsfiguren des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2004, S. 134f.

02_Saage Seite 138 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 20: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen 139

beiden Sphären gibt, scheint außer Frage zu stehen. Die Spannungen und Beeinflus-sungen zwischen beiden Bereichen in empirischer Absicht zu erforschen, scheintmir eine lohnendere Aufgabe zu sein, als einen sozialbiologischen Monismus zukonstruieren.

Wir können noch einen Schritt weiter gehen. Das Gegenteil des biologistischenMonismus der evolutionären Moral scheint nämlich zutreffend zu sein: Erst musstedie Entwicklung der sozio-kulturellen Natur so weit vorangeschritten sein, dass derforschende Mensch intellektuell in der Lage war, die Mechanismen seiner eigenenbiologischen Evolution zu durchschauen. Insofern spricht alles für die naturrechtli-che These, dass die Optimierung des Menschen im Gleichklang mit seiner biologi-schen und seiner kulturellen bzw. sozialen Natur erfolgen müsse. Aber auch dieEntstehung eines naturrechtlich fundierten Wertekanons in seiner egalitären Spielartsetzt ein hohes Maß an sozio-kultureller Differenzierung voraus: So ist der Univer-salismus der individuellen Grund- und Menschenrechte seit Mitte des 17. Jahrhun-derts die relative späte Frucht kultureller und zivilisatorischer Lernprozesse. Ob-wohl die evolutionäre Moral einen solchen Universalismus ablehnt, muss ein demDarwinschen Ansatz zutiefst verpflichteter Bio-Ethiker zugeben: »Nirgends aufder Welt will ein Mensch misshandelt, gequält und getötet werden. Geschieht diesdennoch, so ist es moralisch falsch, völlig unabhängig von der kulturellen Zugehö-rigkeit des Betroffenen. (Das wäre übrigens das einzige halbwegs verlässliche objek-tive Kriterium für Normen und Werte) «.68

Die Stärke des naturrechtlichen Ansatzes, so kann zusammenfassend festgestelltwerden, besteht darin, dass er sowohl den evolutionären als auch den sozio-kultu-rellen Monismus vermeidet. Erst die Konkordanz beider ermöglicht den Status desMenschen als eines selbstverantwortlichen Subjekts, das in der Lage ist – jenseits ge-netischer Determination und Instinktgebundenheit – kategorische Imperative zuformulieren und sich ihnen gemäß zu verhalten. Umgekehrt ist der naturrechtlichemit dem evolutionären Ansatz durchaus vereinbar, sofern der letztere auf die biolo-gische Natur des Menschen begrenzt bleibt. Wenn sich der evolutionäre Standpunktder Ingenieure des konvergenztechnologisch visionierten Neuen Mensch aus dieserSpannung zu befreien sucht, ist deren Konstrukt nichts weiter als das Signum einesIrrweges.

Zusammenfassung

Der Zusammenbruch der Herrschaftssysteme des sowjetischen Typs in Europaprovozierte die Formel vom »Ende des utopischen Zeitalters«, die Anfang der1990er Jahre die öffentliche Meinung beherrschte. Seit Beginn des 21. Jahrhundertssteht die Öffentlichkeit mit dem Aufstieg der Nano-, Bio-, Informations- und Neu-rowissenschaften bzw. Hirnforschung und den aus ihnen folgenden Technologienvor einer neuen Herausforderung. Es geht jetzt nicht mehr um die Systemkonkur-renz zwischen angeblich »utopischen« kommunistischen Planwirtschaften und dem

68 Wuketis, Bioethik, aaO. (FN 52), S. 122.

02_Saage Seite 139 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 21: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Richard Saage · Grundlagen des Neuen Menschen140

Verfassungstyp westliche Demokratie mit neoliberalem Globalisierungsanspruch.Zur Diskussion gestellt ist vielmehr die Vision eines Neuen Menschen, der aus demZusammenspiel der neuen Leitwissenschaften resultieren soll. Der Beitrag will nichtnur die Wurzeln des Terminus Neuer Mensch in der Utopietradition freilegen. Dar-über hinaus soll die Differenz zu seiner neuesten Bedeutungsvariante ebenso erör-tert werden wie die anthropologischen und ethischen Probleme, die aus der Visioneines technisch aufgerüsteten Neuen Menschen folgen.

Summary

The collapse of the Soviet-style regimes in Europe led some to claim the end ofthe utopian age, a topic that dominated public opinion at the beginning of the 1990s.Since the beginning of the twenty-first century, the public has been confronted by anew challenge, one that is associated with the rise of the nano-, bio-, computer, andneurosciences and of brain research and the technologies that these have broughtabout. At issue is no longer the competition between two systems, namely betweenthe allegedly utopian communist planned economies and the constitutional type ofsociety embodied by Western democracies with their neoliberal claim to global ap-plicability. At issue is the vision of a new man that is supposed to result from the in-teraction of these new primary sciences. The aim of this article is not just to revealthe roots of the term new man in the utopian tradition. It also discusses the diffe-rences in the most recent variant of meaning as well as the anthropological and ethi-cal problems which follow from the vision of a technically enhanced new man.

Richard Saage, Scientific-Technical and Normative Foundations of the New Man

02_Saage Seite 140 Mittwoch, 27. Juni 2007 8:19 08

Page 22: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Peter Nitschke

Der Tod der demokratischen OrdnungEine neoklassische Rekonstruktion

I. Krise

Gibt es eine politische Ordnung, die von Dauer ist? – Alle modernen politischenTheorien argumentieren so, als ob die jeweils intendierte Ordnung zielgerichtet bisin alle Ewigkeit beibehalten werden könnte. Insbesondere die liberale Demokratie,die sich im Rahmen der Aufklärungsphilosophie als teleologischer Mittelpunkt desEmanzipations- und Fortschrittsprozesses der Moderne versteht, wurde (und wird)seit dem Ende des Ost-West-Konflikts als konkurrenzloses Modell der politischenHerrschaftsordnung begriffen. Doch diese mehr im Westen als tatsächlich globalbegriffene Lesart zur Demokratie wird nicht nur durch das Wiedererstarken einerzutiefst religiösen Deutung von politischer Ordnung (wie im Islam), sondern auchdurch zwar säkularistische, aber grundsätzlich undemokratische Regimeformenetwa in Asien systematisch herausgefordert. Zudem steht empirisch außer Frage:Der Tod einer politischen Ordnung kommt immer. Keine Ordnung ist von (ewiger)Dauer, auch nicht die der Demokratie. Dieser systemischen Erkenntnis, die wir inden richtungsweisenden Debatten zur griechischen (d.h. attischen) Demokratie undzur Römischen Republik vorfinden, entzieht sich die gegenwärtige Demokratiethe-orie. Sie formuliert keineswegs das Ende ihrer eigenen Existenz. Dabei wäre diesepistemologisch wichtig, um die Erfolgsaussichten für die Fortexistenz realistischeinschätzen zu können. Jede gute Prognose lebt schließlich von den Einsichten indie Gefährdungslagen zum Thema, um das es jeweils geht.

Wenn selbst Rom mit einer fast eintausendjährigen Geschichte in seiner politi-schen Existenz einem anderen Ordnungsgebilde weichen musste, und auch die er-folgreichste Republik des Abendlandes, die Republik von Venedig, ausgerechnetdann den Todesstoß erhielt, als die nationale Einigung Italiens das Tor aufmachtefür eine moderne Form der demokratischen Ordnung, warum sollte dann unser bis-heriges Verständnis von Demokratie für das 21. Jahrhundert weiterhin tatsächlicherfolgreich sein? – Anlass also genug, sich Gedanken zu machen über die existenzi-ellen Herausforderungen, die der heutigen Demokratie mit auf den Weg gegebensind.1 Sollte Lord Bolingbroke mit seiner Bemerkung von 1749 Recht haben, dannbesteht eine Gefährdung der Demokratie gerade darin, dass (wie bei allen übrigenHerrschaftsformen auch) in ihren eigenen Betriebsmechanismen der Untergang in

1 Vgl. auch Martin van Creveld, The Rise and Decline of the State, Cambridge 1999.

03_Nitschke Seite 141 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 23: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung142

Form einer Selbstschädigung strukturell enthalten ist.2 Im Grunde ist dies eine pla-tonische Lesart von Politik: So, wie die Tyrannis auf den eigenen Untergang hinar-beitet, ist auch die demokratische Ordnung, wenn sie ihre Grundlagen nicht kritischstets von neuem aufarbeitet, geradezu prädestiniert, sich selbst zu zerstören.

Für eine kritische Analyse liefert die eigene unmittelbare Gegenwart genügendBeispiele. Erstmals hat sich bei einer Umfrage eine knappe Mehrheit der bundes-deutschen Bürger mit 51 Prozent negativ zu den Erfolgschancen der eigenen demo-kratischen Ordnung geäußert. In Bezug auf Vertrauen und Enttäuschung ist dies diehöchste, bis dato befragte Quote.3 In einem Streitgespräch über die Substanz des po-litischen System Deutschlands äußerten sich Warnfried Dettling und Arnulf Baringim Herbst 2005 düster in ihrer Prognose: Der Hauptvorwurf lautet, dass von beidengroßen Volksparteien die »Mottenkisten des 19. Jahrhunderts« bedient werden.4Kein Grand Design, kein klarer Blick in die Zukunftsfähigkeit der Demokratie, diesich den veränderten Bedingungen im globalen Zeitalter anpassen muss. Immer nochwird so getan, als könne man mit ein wenig Umbau, den so genannten Reformen,das bisherige Staatsmodell erhalten. Dabei ist die gesellschaftliche Fixierung auf denStaat das zentrale Problem. Was soll ein Staat noch ausrichten, wenn er sich weltweitin einem Leistungswettbewerb befindet, bei dem ihm die Besten seines Demosstrukturell abhanden kommen, indem sie sich mit ihren Möglichkeiten einfach umo-rientieren, anderswo leben und anderswo investieren? Insbesondere Baring betontdie Diskrepanz zwischen den strukturellen Herausforderungen und dem faktischenVerhalten des handelnden politischen Personals. Für ihn ist »nicht sicher, ob dasLand nicht entschlossen ist, den Bach runterzugehen«.5 In der Tat erinnern die Dis-kussionskämpfe ums Kanzleramt an das Verhalten in den Niederungen der Römi-

2 »The best institutional governments, like the best constituted animal bodies, carry inthem the seeds of their destruction: and, tho they grow and improve for a time, theywill soon tend visibly to their dissolution. « – Henry St. John Bolingbroke, The Idea ofa Patriot King, Indianapolis 1965, S. 40. – Ausführlich zu diesem Aspekt vgl. Terence E.Cook, The Rise and Fall of Regimes. Towards Grand Theory of Politics, New York u. a.2000.

3 Vgl. zu dieser Forsa-Studie Günther Lachmann, »Bedingt regierungsfähig« in: Welt amSonntag, 5. November 2006, S. 3. – Norbert Lammert hat in seiner Amtseigenschaft alsPräsident des Bundestages das Ergebnis dieser Befragung mit der Einschätzung kom-mentiert, dass jede »faire Betrachtung« zeige, »dass die Probleme, mit denen sich diePolitik heute auseinandersetzen muss, objektiv größer und schwieriger sind als früher«(hier zit n. ebd.). – Diese Interpretation mag die handlungstheoretischen wie prakti-schen Probleme früherer Demokratien verniedlichen, doch unbestritten spricht aus die-ser Äußerung ein vorsichtiges Erahnen, dass die bisherigen Status-Quo-Linien in derSelbstinterpration zur demokratischen Ordnung nicht mehr genügend verstanden undeingehalten werden. Für den Parteienforscher Franz Walther liefert die Forsa-Studie garden Beleg dafür, dass Deutschland sich »am Abschluss der klassischen parlamentari-schen Epoche« befinde (hier zit. n. ebd.). – Vgl. hierzu auch Jan Fleischhauer u.a.,»Koalition der Kraftlosen« in: Der Spiegel, 30.10.2006, Nr. 44, S. 20 ff.

4 »„Das Bürgertum hat seine Strahlkraft verloren«. Ein Streitgespräch mit Arnulf Baring,Warnfried Dettling und Tobias Dürr« in: Die Welt, 6. Oktober 2005, S. 4.

5 Ebd.

03_Nitschke Seite 142 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 24: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung 143

schen Republik. Als wenn es am Staatskuchen irgendetwas noch groß zu verteilengäbe, tut die Mehrzahl der beteiligten Akteure so, als wenn nur mit ihnen (und sonstgar nicht) das Staatsschiff wieder flott gemacht werden könnte. Dieser Befund giltmehr oder weniger für weite Teile der westlichen Welt: »Am Anfang des neuen Jahr-tausends werden politische und ökonomische Probleme sichtbar, mit denen es diebisher bekannten demokratischen Gemeinwesen noch nicht oder nur andeutungs-weise zu tun hatten.«6 Es ist gerade die strukturelle Externalisierung der politischenDezision im Rahmen der Globalisierung, welche die klassische Legitimation von de-mokratischer Politik durch den nationalen Souverän faktisch ins Leere laufen lässt.Zugleich geht mit dieser Legitimationskrise eine beispiellose Desintegration der amdemokratischen Prozess partizipierenden Bürger und Bürgerinnen einher. Diesestrukturelle Desintegration macht sich dann auch funktionslogisch bemerkbar, wennviele Amerikaner die sozialen Auswirkungen einer Naturkatastrophe wie beim Hur-rikan Katrina als Fehlplanung der zuständigen Behörden, sei es im kommunalen, re-gionalen oder bundesstaatlichen Bereich, empfinden. Für den Soziologen RichardSennett ist dies ein Kennzeichen des »staatlichen Niedergangs«, der schon seit einemVierteljahrhundert praktiziert werde und dessen schlimmste Erscheinung die kogni-tive Dimension sei:7 »Die Unfähigkeit, diese Krise zu bewältigen, ist eines der erstenAnzeichen für den Verfall der USA. Ich spreche nicht von Dekadenz im römischenSinne, aber im Sinne eines Unvermögens, sich der Realität zu stellen. Ein Mangel anRealismus hat Amerika erfasst, von der Außen- bis zur Stadtpolitik. Nach 25 Jahrenstaatlicher Erosion scheinen wir als Gesellschaft die Fähigkeit verloren zu haben, diegroße Frage, wie der öffentliche Raum strukturiert werden soll, anzugehen. « Manmag diese Einschätzung als zu pessimistisch ansehen oder vielleicht als Frustrationeines sozialromantischen Diagnostikers, doch der Hinweis auf die sinkende Stabili-tät des öffentlichen (politischen) Raumes ist nicht eilfertig abzuweisen. Auch nichtfür die europäischen Demokratien. Bevor sich hier manch ein Lordsiegelbewahrerdes europäischen Sozialstaatsmodells darüber mokiert, dass dies ein typisch us-ame-rikanisches Problem sei, sollte man genauer hinsehen. Die kognitive Verweigerungvor der Realität bzw. die Illusion, dass das gepflegte Selbstbild schon die Realität sei,gehört gerade auch in den europäischen Breiten zum Kern des Dilemmas.

II. Die neoklassische Perspektive

Ausgehend von dieser Diagnose ist die Frage angebracht, welche Antwortendenn die Politische Theorie und Ideengeschichte hierzu liefert? – Sucht man nachsystematischen Aussagen, dann fällt sehr schnell auf, dass eigentlich nur eine be-

6 Walter Euchner, »Zur Notwendigkeit einer Ideengeschichte der Demokratie« in:Richard Saage, Demokratietheorien. Historischer Prozess – Theoretische Entwicklung –Soziotechnische Bedingungen. Eine Einführung, Wiesbaden 2005, S. 20.

7 Richard Sennett, »„Zeichen des Verfalls“. Ein Interview mit dem Soziologen R. Sen-nett« in: Die Welt, 24. September 2005, S. 30.

03_Nitschke Seite 143 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 25: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung144

stimmte Gruppe in der Politischen Theorie überhaupt den Tod der politischen Ord-nung eigens thematisiert hat. Wir könnten diese Gruppe von Autoren klassischer-weise als normativ-ontologisch bezeichnen, doch ist dieser Begriff zu Rechtkritisiert worden, weil hierdurch ein einseitiges Verständnis von Normativität fest-gelegt wird.8 Dieses Muster suggeriert zudem eine hermeneutische Differenz zwi-schen theoretischer Betrachtung und praktischer Handlung, weshalb Henning Ott-mann für die Bezeichnung neoklassisch plädiert.9 Autoren, die man dieser Richtungmethodologisch zurechnen kann, wären dann u. a. Hannah Arendt, Eric Voegelinund Leo Strauss. Es ist gerade der hermeneutische Ausgangspunkt dieser Autoren,nämlich die griechische Antike, die von einem Wirklichkeitsverständnis geprägtwar, in der die (moderne) Unterscheidung von Theorie und Praxis in dieser Weisenicht vorkommt. Wenn beispielsweise Platon von der Idee des Guten redet, dannmeint dies eben nicht eine Sollensperspektive im Sinne des deutschen Idealismus,sondern ein spezifisches Verständnis der Inklusion von empirischer und noetischerWelt. Streng genommen kennt das klassische (antike) Verständnis von Politik keineUnterscheidung zwischen Theorie und Praxis. Selbst alle Metaphysik ist letztlichunmittelbare Praxis bzw. hat ihren Ort im Diesseits. Dies ist die klassische Aus-gangsposition gegenüber der Moderne: theoria cum praxi, eine Perspektive, wie siesich noch der Universalgelehrte Leibniz auf die Fahnen geheftet hat, ist in der Mo-derne, schon durch den Siegeszug der Naturwissenschaften, getrennt. Bei ThomasHobbes, auf den im Verlauf unserer Argumentation noch zurückzukommen seinwird, sieht man diese Trennung in ganz eigentümlicher Weise: indem er ein in derKomplexitätsdichte reduktionistisch verkürztes Szenario formuliert und dies szien-tistisch hervorhebt, ist er der erste Moderne in der Politikwissenschaft.10

Dieses moderne Verständnis von Politik und politischer Ordnung hat aber zu-gleich die antike Hermeneutik ausgeschaltet – was keineswegs immer von Vorteil ist.Gerade die heutige Politikwissenschaft sollte sich, darin sind sich neoklassische Au-toren einig, um im globalen Wettbewerb der Ideen als demokratische Wissenschaftbestehen zu können, von dieser (antiken) normativen Version nach wie vor (oder bes-ser: erneut) inspirieren lassen. Was nützt z. B. »eine Wissenschaft, die zwischen Dik-tatur und Demokratie nicht werten will«?11 Um eine Bewertung kommt man geradeim Rahmen des demokratischen Profils nicht herum. Menschenrechte erlauben keineWertfreiheit des handelnden Subjekts, erst recht nicht der politischen Ordnung, die

8 Vgl. Henning Ottmann, Platon, Aristoteles und die neoklassische politische Philosophieder Gegenwart, Baden-Baden 2005.

9 Vgl. ebd. S. 7.10 Nicht zufällig stößt sich daher Voegelin heftig an Hobbes, dem er eine fast schon escha-

tologische Gleichsetzung des Staates mit der Legitimation vom guten Sein (der Seele)vorwirft. – Vgl. hier Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung,4. Aufl. Freiburg/München 1991, S. 232 ff. – Es ist hier nicht der Ort, um über die Ange-messenheit dieser Interpretation Voegelins zu streiten, doch unzweideutig resultiert diegnostische Zuordnung des Thomas Hobbes in der Lesart Voegelins aus der unterschied-lichen Auffassung, was denn die Antike als Paradigma für die Politik leistet oder nicht.

11 Ottmann, Die neoklassische politische Philosophie, aaO. (FN 8), S. 8.

03_Nitschke Seite 144 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 26: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung 145

doch Werte dieser Art schützen will. Insofern meint die Wiedergewinnung einer neo-klassischen Perspektive keinen Antimodernismus.12 Das ist die falsche, und im Grun-de oberflächliche Schublade, unter der insbesondere in den deutschen Einführungenzur Politikwissenschaft die normative Dimension allzu oft verortet worden ist. Na-türlich gibt es eine Grenze der neoklassischen Perspektive zur Moderne: sie bestehtin der Relation der Basisfaktoren bzw. wie diese zugeordnet werden. Hier gibt esdurchaus hermeneutische Grunddifferenzen, die aus der Relation zur antiken Positi-on resultieren. Im Sinne einer dialektischen Klassifizierung mit antagonistischen Ef-fekten kann man das Differenzmuster mit den Basisfaktoren wie folgt anzeigen:

Das moderne Modell ist im Prinzip offen, weil sich die Mehrheitsverhältnisse im-mer nur aus der Dynamik eines pluralistischen Interessensdiskurses ergeben. Das be-deutet zugleich aber auch, dass der Kampf um die jeweilige Mehrheitsfähigkeit zen-trales Kriterium für den Politikbegriff darstellt. Demokratische Politik ist demnacheine Angelegenheit des Interessenkampfes. Die Wahrheitsfrage ist hierbei von unter-geordneter Bedeutung. Die jeweilige Mehrheit kann qua Mehrheit auch Entschei-dungen tätigen, die dem spezifischen Sachgegenstand wenig zuträglich sind. Beispie-le dafür finden sich beliebig in der aktuellen Politik. Die von vornherein strukturierteGrundtendenz der Behandlung politischer Fragen als reine, nach Mehrheitskompro-missen auszuhandelnde Interessenssachverhalte führt zu einer Reduktion der Wahr-heitskomponente. Es geht vorrangig nicht darum, was sachlich richtig ist, sondernwas eine Bündelung der Willensforen in der jeweiligen Mehrheit erzeugt. Demge-genüber ist er kantsche Anspruch auf eine nach wie vor tugenhafte Aufklärung umder Wahrheit willen geradezu antimodern und kann hier als neoklassisch verstandenwerden, weil tugendhaftes Handeln in der starken Verschränkung mit dem Vernunft-Begriff auf eine, wenn nicht schon ontologische, doch zumindest auch empirischgrößere Wahrheit dringt. Bei Kant ist dieses Modell bekanntlich nicht inhaltlich limi-tiert – insofern können sich moderne Kantianer wie Habermas mit dem Diskursmo-dell für eine offene Gesellschaft hier zweifellos bedienen. Andererseits zeigt aber derBlick auf Kants Vorgänger, etwa Montesquieu, Rousseau oder eben auch Leibniz,dass diese neoklassische Interpretation von der Grundannahme einer kulturell ho-mogenen (also im Prinzip relativ geschlossenen) Gesellschaft ausgeht. Vielleicht istder Begriff geschlossene Gesellschaft zu sehr durch Fichtes Handelsstaat und dannerst recht durch Poppers pauschale Kritik diskreditiert. Man muss hier eher in denKategorien von Gemeinschaftsfähigkeit denken, um dieses Modell adäquat verstehen

12 Vgl. auch ebd. S. 9.

Moderne Klassik

Interesse statt Tugend

Wille statt Vernunft

Mehrheit statt Gemeinsamkeit

03_Nitschke Seite 145 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 27: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung146

zu können. Die Gemeinschaftsfähigkeit heißt eben nicht, dass die soziale Gemein-schaft hermetisch geschlossen wäre. Es ist kein Totalitätsmodell, was die neoklassi-schen Autoren auf der Basis der Lektüre von Platon und vor allem von Aristoteleshierzu formulieren. In einem Punkt sind sie sich aber einig, dass nämlich die Größeder Gemeinschaft nicht beliebig ist. Je unmittelbarer der Wille des Demos sein soll,umso klarer wird man kleine Ordnungseinheiten anstreben müssen. Graf Sieyèsbringt dies in seiner berühmten Rede zum Dritten Stand auf den Punkt, wenn erkonstatiert, dass eine wahre Demokratie »bei einem großen Volk nicht möglich ist«.13

Einig sind sich neoklassische Analysen auch in ihrem Bezugspunkt, dem Anlassfür die Rekonstruktion der politischen Ordnung. Es ist jeweils die Krise bzw. derAbgrund, an dem die eigene zeitgenössische Politik steht. Ob nun Platon, Aristote-les, Cicero oder selbst Machiavelli, sie argumentieren stets vor dem Hintergrund desfunktionalen Notstands des politischen Regimes – der im Grunde einen Ausnahme-zustand darstellt. Selbst ein moderner Autor wie Hobbes ist hiervon zutiefst geprägt.

Allerdings, der englische Denker ist auch zugleich die eigentliche Schnittstelle fürdie moderne Demokratieinterpretation gegenüber der Antike: Er wettert gegen dieAntike (und bemüht sie doch konsequent). Er argumentiert behavioristisch, empi-risch – und doch eigentlich immer nur abstrakt. Wenn er sich gegen die Antikestellt, dann vor allem auch deswegen, weil er die Ansichten Platons oder die vonAristoteles allzu sehr von den scholastischen Autoren okkupiert sieht. In unsererArgumentation macht es dennoch Sinn, bei Hobbes zu verweilen, manifestiert sichdoch in seiner Lehre ein systematisches Stück aus der antiken Kritik an der Demo-kratie – nunmehr im neuen Gewand.14

Die methodologische Neuausrichtung, die Hobbes vornimmt, ist allerdings auchzugleich neoklassisch, denn die nominalistische Methode, vermittelt durch das axio-matische Prinzip vom more geometrico, versteht sich in Frontstellung gegen den eige-nen wissenschaftstheoretischen Zeitgeist, dem Mainstream der nach wie vor neoscho-lastischen Politikinterpretation an den englischen Universitäten des 17. Jahrhunderts.15

Gleiches gilt für die Neoklassiker des 20. Jahrhunderts: Ob das Arendt ist, Voegelin

13 Emmanuel Joseph Sieyès, »Was ist der Dritte Stand?« in: ders., Politische Schriften1788-1790 mit Glossar und kritischer Sieyès-Bibliographie, 2., überarb. u. erweit. Aufl.München/Wien 1981, S. 179.

14 Zu Hobbes dezidiert Richard Tuck, Hobbes, Freiburg/Basel/Wien 1999.15 Jene Kommunikationsform, die durch Dunkelheit besticht, aber eben nicht durch die

Klarheit der Ziele (und Methoden), vermitteln die Neoscholastiker seiner Zeit, die mitihren metaphysischen Unterscheidungen und schwerverständlichen Begriffsakrobatikmehr Nebel als Aufklärung erzeugt haben. – Zur Kritik hieran vgl. Thomas Hobbes, Levi-athan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Neuwied/Berlin 1966, S. 250 u. passim. – Zur Einschätzung des methodologischen Kontrastpro-gramms gegen die aristotelische Universitätsbildung vgl. u. a. Richard Tuck, Philosophyand Government 1572-1651, Cambridge 1993, S. 279 ff. – Horst Hegmann, PolitischerIndividualismus. Die Rekonstruktion einer Sozialtheorie unter Bezugnahme auf Machia-velli, Bodin und Hobbes, Berlin 1994, S. 242 ff. – Anja Lemke, »Überlegungen zur Sprach-philosophie bei Thomas Hobbes« in: Zeitschrift für Politik 43, H. 1 (1996), S. 1 ff.

03_Nitschke Seite 146 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 28: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung 147

oder Strauss, stets ist die Botschaft mit der Orientierung an die Antike sowohl metho-dologischer wie auch inhaltlicher Art.16 Insofern ist auch die jeweilige Krise Anlass füreine methodologische wie heuristische Bestandsaufnahme und Neuausrichtung: So,wie wir es gewohnt waren, die Dinge zu verstehen, können wir sie nicht mehr weiterdeuten. Die Rekonstruktion der eigentlich richtigen Ordnung ist folglich das Grund-motiv für alle neoklassischen Bemühungen in der Interpretation von Politik.17

III. Die Freiheit und ihre Gefährdung

In der Lesart neoklassischer Politik kommt den Basisfaktoren des demokrati-schen Staates eine durchaus ambivalente Positionierung zu. Dies sieht man unmit-telbar bei der Bewertung des Faktors Freiheit. Zwar soll der Staat die Freiheitsrech-te des Einzelnen schützen und garantieren, zugleich dringt der moderne Staat aberüber seine fürsorglichen Mechanismen in immer weitere Bereiche der (an sich) pri-vaten Existenz der Individuen ein. Sozial-, gar Wohlfahrtsstaat und die Freiheits-rechte des Individuums sind nicht komplementär. Die kritische Interpretation desNeoklassikers Tocqueville, der in den Prinzipien von Gleichheit und Freiheit zweidurchaus antinomische Beweggründe für politisches Handeln verortet,18 wird vorallem gern von Liberalen aufgegriffen. Ralf Dahrendorf hat dies mehr als einmal amBeispiel des deutschen Wohlfahrtsstaatsmodells gerügt: Die personale Freiheit wer-de in Deutschland angesichts eines großzügig auftretenden Wohlfahrtsstaats, derhierzulande sein »lächelndes Antlitz« zeige, viel zu sehr eingeengt.19 Demnach stehthinter der netten Maske einer paternalistischen Fürsorge der gewaltige Hunger nachnoch mehr Steuern für den Staat. Die Politik wird solchermaßen etatistisch ausge-richtet und orientiert sich mehr an den systemischen Bedarfslagen des Staates als andem (eigentlich) verfassungsrelevanten Grundsatz der Freiheit der Individuen.20

16 Natürlich entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn z. B. Voegelin sein Programmeine New Science of Politics nannte, tatsächlich war und ist dies eine klassische Politik-auffassung. In Zeiten eines positivistischen Mainstreams tut man allerdings gut daran,das scheinbar Alte als etwas durchaus Neues zu verstehen. – Vgl. hier Hans. J. Lietz-mann / Peter Nitschke, (Hg.), Klassische Politik. Politikverständnisse von der Antikebis ins 19. Jahrhundert, Opladen 2000.

17 Insofern ist auch die platonische Frage nach der Sinnexistenz der Philosophie auf demGebiet der Politik tatsächlich zeitlos, weist sie doch auf die strukturelle Unmündigkeit vonPolitikern hin, den Legitimationskern ihres jeweiligen Tuns aus sich selbst heraus ange-messen begründen zu können. – Vgl. hier auch Theo Stammen, »Zeitdiagnose und politi-sche Philosophie« in: Aufgang – Jahrbuch für Denken, Dichten und Musik 3 (2006), S. 473.

18 Vgl. Alexis de Tocqueville, Democracy in America and Two Essays on America, Lon-don/New York 2003.

19 Ralf Dahrendorf, »„Wir leben in normalen Zeiten – die sind schlecht für Liberale«. EinGespräch über den Begriff der Freiheit« in: Die Welt, 28. Januar 2006, S. 8.

20 Allein die begriffliche Tatsache, dass man von einem Etatismus reden kann, zeigt die para-digmatische Umorientierung des modernen Politikbegriffes an: Nicht die Bürger reprä-sentieren den Staat, sondern der Staat repräsentiert sich selbst durch die Bürger. Für dieseSelbstrepräsentation bedarf es eigener etatistischer Maximen – und vor allem Ressourcen.

03_Nitschke Seite 147 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 29: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung148

In dieser vom demokratischen System eigentlich nicht gewollten Konstellationoffenbart sich das Machtparadoxon der Demokratie mit einer dysfunktionalenKomponente: Menschen legitimieren andere Menschen, über sie zu herrschen, zu-gleich wird ihnen dabei aber eine Kontrolle ihrer selbst auferlegt.21 Streng genom-men ist es eine wechselseitige Kontrolle: wie im republikanischen Modell Cicerosbeherrscht hier jeder jeden:22 Die Regierung das Volk und das Volk die Regierung.Funktionieren kann dieser dialektische Zusammenschluss allerdings nur, wenn dieFreiheitsräume wechselseitig gesichert bleiben: Die Freiheit des Einzelnen wie auchdie Freiheit der Regierung, im Zweifelsfall gegen den Einzelnen handeln zu können.Das Freiheitsmoment ist, wie bereits Aristoteles dies ganz richtig betont hat, für dieDemokratien konstitutiv:23 Ohne eine starke Freiheit kann es keine starke Demo-kratie geben. Strong Democracy im Sinne von Benjamin Barber ist folglich nur mög-lich,24 wenn die freiheitlichen Interessen der Individuen in gut geschützten Zonenvon der Verfassung (und vom Staat) gewährleistet werden. Das ist keine Ein-bahnstrasse, sondern gilt auch umgekehrt für die Selbstverpflichtung der Individuenuntereinander – spezifisch aber hier: in Bezug auf den Staat. Wenn nun jedoch derStaat monopolistisch die Freiheitsräume definiert und ausdifferenziert – ohne dassdie Individuen substantiell hierzu beitragen können, etwa in Form eines öffentli-chen Diskurses, durch Bekundungen oder Wahlverhalten, dann verschiebt sich dieFreiheit nicht nur rhetorisch zur strukturierten Unfreiheit.

Der Blick auf die neoklassische Interpretation bestätigt diese Analyse. Nehmenwir zuerst hierfür als Beispiel einen ansonsten nicht gerade unter Demokratiever-dacht stehenden Autor wie Niccolò Machiavelli. Auch wenn der Renaissancedenkerden Begriff der Demokratie nicht verwendet, so behandelt er doch den klassischenrepublikanischen Politikentwurf.25 In dieser Hinsicht wäre die Demokratie einge-bettet zwischen den Prinzipien der Alleinherrschaft, der Freiheit und der Anarchie.Das grundsätzliche Interesse des Volkes ist es, nicht unterdrückt zu werden.26 Des-halb bedarf es hier einer ständigen Vorsicht, nicht zwischen Anarchie und Tyranniszerrieben zu werden. Die Freiheit ist in dieser Analyse ein höchst dynamischesPrinzip: sie kann stets zu der einen oder der anderen Seite ins Extrem hin ausfallen.Interessanterweise sieht Machiavelli die Freiheit in den Republiken als Ergebnis

21 Vgl. auch Tilo Schabert, »Die Freiheit und ihre Verfassung« in: Die Gazette, Nr. 8(Dezember 2005), S. 17 ff.

22 Vgl. zu Cicero immer noch sehr geeignet Viktor Pöschl, Römischer Staat und griechi-sches Staatsdenken bei Cicero. Untersuchungen zu Ciceros Schrift De re publica,Nachdr. der ersten Aufl. 1936, Darmstadt 1990. – Neuerdings auch Emanuel Richter /Rüdiger Voigt, (Hg.), Res Publica und Demokratie. Die Bedeutung Ciceros für das heu-tige Staatsverständnis, Baden-Baden 2007.

23 Vgl. Aristoteles, Politik, 6. Aufl. München 1986, 1310 a.24 Vgl. Benjamin Barber, Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg

1994.25 So etwa im Kapitel IX über die Eigenschaften einer »bürgerlichen Fürstenherrschaft«;

vgl. Niccolò Machiavelli, Il Principe / Der Fürst, Stuttgart 1986, S. 75. 26 Vgl. ebd. S. 77.

03_Nitschke Seite 148 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 30: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung 149

lang anhaltender innerer Auseinandersetzungen.27 Ständische Kämpfe, die auf mate-riellen wie ideellen Interessensgegensätzen beruhen, erbringen somit erst Freiheit.Eine »gute Erziehung« muss alsdann dafür Sorge tragen,28 dass der Wert dieser er-strittenen Freiheit von den nachfolgenden Generationen nicht vergessen, sondernstets reformuliert und von neuem behauptet wird. Je klarer man sich hierzu stellt,desto besser wird eine Republik existieren können:29 »Wer einem Staatswesen eineVerfassung zu geben hat, tut immer klug daran, Vorsorge für den Schutz der Frei-heit zu treffen«. Da aber diese Freiheit von allen nicht in gleicher Weise betriebenwird, weil jeder sich etwas anderes darunter vorstellt, ist es gefährlich, wenn sich dieRepublik auf politische Führungskräfte einlässt, denen es mehr um sich selbst alsum das Gemeinwesen geht. Insbesondere vor der Vergötterung von Personen in po-litischen Führungspositionen warnt Machiavelli eindringlich.30 Man kann dieseWarnung vor dem Führungspersonal unmittelbar zu jener Argumentation von Pla-ton zurückführen, der bekanntlich für die demokratische Ordnung wenig übrighatte, allerdings auch zu allen politischen Systemen seiner Zeit eine kritische Positi-on bezogen hat.

Platons Beschäftigung mit den Untergangsbestimmungen der Demokratie erfolgtim 8. Buch der Politeia, wo er sich systematisch mit den fünf Herrschaftsformen(Aristokratie, Timokratie, Oligarchie, Demokratie und Tyrannis) auseinandersetzt.Die Oligarchie, aus der schließlich die Demokratie hervorgeht, scheitert in seinerAnalyse an der nicht gelösten Frage von Armut und Reichtum. Zuviel Armut führtzu einer strukturellen Kriminalität, die letztlich die oligarchische Ordnung hinweg-spült. Es ist interessant, sich dieses frühe sozialrevolutionäre Argumentationspoten-tial anzuschauen, denn hiermit wird im Kern bei Platon (wie auch bei Aristoteles)die Logik des demokratischen Systems begründet: Die Demokratie erscheint als einSieg der Armen über die Reichen.31 In ihr herrscht die Freiheit als oberstes Prinzip:Jeder kann in dieser Ordnung »tun was er will«.32 Das ist dann allerdings auch dasDilemma. Der Sinn einer solchen Ordnung kann nicht darin bestehen, allen wirk-lich alles zu geben. Auch wenn dies versprochen wird, gibt es doch Unterschiede –eben zwischen arm und reich. Die demokratische Ordnung antwortet auf dieses Pa-radoxon, indem verschiedene Herrschaftsformen je nach Lage miteinander instituti-onalisiert werden. Wir nennen es heute gehoben eine Mischverfassung, für Platon istdies eine »Trödelbude von Staatsverfassungen« gewesen.33 In diesem Durcheinandervon z. T. unausgewogenen politischen Bestimmungsformen gibt es eine generelle

27 Vgl. hier Niccolò Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, 2.,verbesserte Aufl. Stuttgart 1977, S. 19.

28 Ebd.29 Ebd. S. 21.30 Vgl. ebd. S. 22.31 Vgl. Platon, Politeia. Sämtliche Werke V, Frankfurt/M./Leipzig 1991, 557 a.32 Ebd. 557 b.33 Ebd. 557 d. – Ausführlich zum Modell der Mischverfassung Alois Riklin, Machtteilung.

Geschichte der Mischverfassung, Darmstadt 2006.

03_Nitschke Seite 149 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 31: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung150

»Nachsicht des Staates« in Bezug auf den Freiheitswillen seiner Bürger.34 Auchwenn Platon das Wort Interesse so nicht kennt, ist dies das Problem der Freiheit.Welche Interessen vertragen sich mit der demokratischen Ordnung und welchenicht? Hier ist eine Nachsicht des Staates fehl am Platze, insbesondere bei der Frage,welcher Typus von Politiker denn die demokratische Ordnung inhaltlich erfüllensoll? Unmissverständlich wird der Fingerzeig auf die Achillesverse der Demokratiegegeben, wenn sie derart nachsichtig oder wohlwollend ignorantisch ist, mit »wasfür Bestrebungen und Geschäften einer herkomme, der an die Staatsgeschäfte geht,[…] wenn er nur versichert, er meine es gut mit dem Volk«.35 Die Lesart, die Platonhier einschlägt und im Politikos anschliessend noch verstärkt, ist deutlich:36 Geradedie Demokratie, die ohnehin nicht auf das Kriterium der Bestenauswahl setzt,müsste eigentlich sich genau dieses Prinzip zu Eigen machen – andernfalls wird dasVolk schnell Beute eigensüchtiger Politiker. Da aber die demokratische Ordnungstrukturell eine Pleonexie der individuellen Begierden begünstigt, kommt es garnicht zur Optimierung demokratischer Politik, sondern zu einer sukzessiv fort-schreitenden Verfallsprogrammatik: Unter dem Anspruch auf Gleichheit manifes-tieren sich dann eben doch ungleiche Besitzansprüche, die solipzistisch vorangetrie-ben werden. Platon kennt keine ökonomische Theorie der invisible hand für dieWohlfahrt des Gesamtsystems und würde diese auch abgelehnt haben. Eben weildie Demokratie zur Hingabe an die individuell differenten Affekte verleitet, es letzt-lich allen Gruppen oder Individuen recht machen will, verliert sie über die Zeit ihreGemeinschaftsfähigkeit. Die negativen Faktoren, individuell sozialpsychologischformuliert (Übermut, Unordnung, Schwelgerei und Unverschämtheit), überwiegendann strukturell und pervertieren alle gut gemeinten Ansprüche auf demokratischeTugenden.37 Ein »Gleichgewicht der Lüste« macht sich allenthalben breit, das indi-viduell mal hierhin, mal dorthin neigt – und damit das Gesamtsystem zu labilenSchwankungen führt.38 So lange das Gleichgewicht tatsächlich im Sinne einer Mäßi-gung eine stabile Mittelzone aufweist, so lange ist die Orientierung auf die Lüste ansich noch nichts Negatives. Schließlich versteht Platon darunter auch die Lust ander Wahrheit oder die Lust zur Wissenschaft. Problematisch wird es erst, wenn die-se Mäßigung strukturell aus dem Blick gerät, das Gleichgewicht nicht mehr funktio-niert und extreme Ansprüche (auf materiellen Gewinn, Ehre etc.) zu der einen oderanderen Seite radikal ausschlagen. Genau dazu aber wird es nach Platons Auffas-sung notwendigerweise kommen, da die Freiheit als oberstes Prinzip gilt und dieMenschen in der reinen Demokratie sich der Zwangsverpflichtung der Gesetze so-wohl normativ wie praktisch nicht stellen.39 Alle behaupten von sich gleich zu sein –

34 Platon, Politeia, aaO. (FN 31), 558 a.35 Ebd. 558 c.36 Vgl. hier auch Platon, »Politikos (Der Staatsmann)« in: ders., Werke Bd. 6, 2., unverän-

derte Aufl. Darmstadt 1990, S. 403-579.37 Vgl. Platon, Politeia, aaO. (FN.31), 560 c.38 Ebd. 561 b.39 Vgl. ebd. 562 b – 564 e.

03_Nitschke Seite 150 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 32: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung 151

und sind es doch nicht! Indem ein Jedermann auf seine äußerste Freiheit pocht,wird die Willkür zum Lebensprinzip und gerät zur Selbstanmaßung über Andere.40

Der politischen Tyrannis geht also eine soziale Tyrannei des Einzelnen voraus. DasFreiheitsprinzip ist in der platonischen Diagnose für die Demokratie somit ein Ord-nungsproblem in systematischer Hinsicht – und zwar in doppelter Weise, weil hier-bei a) der individuelle Anspruch nach Innen hin gelöst werden muss und b) dieswiederum in Einklang mit der Struktur des Ganzen als einer freiheitlichen Strukturbegriffen werden muss. Das führt zur Frage nach den Austauschmechanismen in-nerhalb der Ordnung. Da Platon (wie alle antiken Autoren) hierbei gruppenspezi-fisch argumentiert, illustriert seine Analyse ein fraktionelles, kollektivistisches Sozi-almodell. Demzufolge existieren in der Demokratie drei verschiedene Gruppen ineiner wechselseitigen Rivalität um die Herrschaft:41

• die Oligarchen• die Politiker (Drohnen)• das Volk (als Mehrheit der an sich gleichberechtigten Bürger).

Die Funktion der Drohnen besteht darin, den materiellen Austausch zwischen denarmen und den reichen Bürgern zu organisieren. Sie tun das aber in einer Weise, »in-dem sie das meiste für sich behalten«,42 und nur den Rest unter das Volk verteilen! Da-mit stehen alle drei Gruppen in einem tendenziell antagonistischen Verhältnis zuein-ander: Die reichen Oligarchen müssen grundsätzlich um ihr Vermögen fürchten,welches Politiker im Namen des Volkes von ihnen einfordern. Die Politiker wiederumagieren zwar für das Volk – aber auch zum eigenen Vorteil. Das Volk will immer vonallem Etwas, schädigt aber durch die Pleonexie seiner Leidenschaften und Bedürfnissedie fragile Stabilität zu den beiden anderen Gruppen – und bekommt in der Summeauch nicht das, was ihm zusteht. Insofern ist die platonische Lesart der demokrati-schen Ordnung die eines potenziell jederzeit ausbrechenden Bürgerkriegs, der unterder Oberfläche der formellen Gesetzmäßigkeiten intentional betrieben wird. DieRuhe im Rahmen des Gleichgewichts der Lüste ist nur vordergründig und trügerisch,nie stabil, weil sie kein wirkliches Zentrum für die Mäßigung aller Beteiligten aufweist.

40 Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich noch in der »modernen« Analyse bei Tocqueville,der allerdings unter der Leitidee des individuellen Interesses hier zu einer wesentlich posi-tiveren Gesamtbewertung kommt. In einem Brief an Ernest de Chabrol, den er bereitswährend seiner Amerikareise nach Frankreich schickte, notiert Tocqueville den zentralenPunkt für die Neuartigkeit des Demokratieverständnisses. Nicht der Anspruch aufGemeinwohl mache die Republik aus, sondern die Formulierung und Durchsetzung vonpartikularen Interessen, die in der Summe irgendwie eine tragfähige Konstante ergeben:»Was dient als Band dieser verschiedenen Elemente? Was macht aus all diesem ein Volk?Das Interesse. Hierin liegt das Geheimnis. Das Sonderinteresse, das in jedem Augenblickdurchbricht, das Interesse, das sich übrigens augenscheinlich bezeugt und sich selbst wieeine soziale Theorie ankündigt. Damit sind wir von den antiken Republiken, man muss esgestehen, weit entfernt und trotzdem ist dieses Volk republikanisch, und ich zweifle nichtdaran, dass es dies noch lange sein wird. « – Hier zitiert n. J. P. Mayer, Alexis de Tocque-ville. Analytiker des Massenzeitalters, 3., veränderte u. erw. Aufl. München 1972, S. 28.

41 Vgl. Platon, Politeia, aaO. (FN 31), 564 d – 565 d. 42 Ebd. 565 a.

03_Nitschke Seite 151 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 33: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung152

Die Zerstörung des politischen Gleichgewichts erfolgt nach platonischer wieauch aristotelischer Diagnose immer durch das Individuum selbst. Bevor also derTyrann politisch zum Tyrannen wird, ist er es schon privat gewesen. Dieser Toposwiederholt sich bei den Klassikern der Antike. Cicero wirft Caesar gerade dessenunerträglichen Machthunger vor, der die Grundlagen der Republik zerstört. BeideKontrahenten, Pompeius wie Caesar, sieht Cicero hierbei als Eiferer einer Pleonexieder Macht für sich selbst: »Um Alleinherrschaft geht es dem einen wie dem anderen,nicht darum, dass die Bürgerschaft in Ehren glücklich sei«.43 Auch Hobbes, obwohldoch eigentlich ein Mitgebründer der Moderne, argumentiert hier ähnlich.44 Wenner von den »Dingen, die einen Staat schwächen oder zu seiner Auflösung führen«spricht,45 dann meint er über weite Strecken seiner Argumentation die demokrati-sche Ordnung. Zunächst einmal fällt hier auf, dass Hobbes die Verfasstheit des Staa-tes im Sinne einer Analogie zur Medizin formuliert: Der politische Körper ist wieder menschliche Körper »durch innere Krankheiten« bedroht.46 Der Mensch musssich zur Bekämpfung dieser (ihm immanenten) Krankheiten an die »Gesetze derNatur oder die Gerechtigkeit« halten.47 Demnach kommt seiner Logik ein hoherStellenwert zu. Fast hat man den Eindruck, als würde Hobbes hierbei einem biolo-gischen Kreislauf das Wort reden: aus dem Gesunden geht das Kranke hervor undumgekehrt das Gesunde aus dem Kranken. Dies ist möglich, weil es einen perfektenOrganismus nicht gibt. Übertragen auf die politische Welt impliziert dies, dass dieGenese von Staatlichkeit auch deren jeweiligen Untergang mit präjudiziert! EinHauptübel, quasi ein intrinsisches Leiden bzw. ein solcher Defekt, liegt in dem an-thropologischen Begehren begründet, dass ein Jeder sein eigener Richter sein möch-te.48 Durch eine solche Maxime gerät der Staat zwangsläufig »in Verwirrung undwird geschwächt«.49 Die strukturelle Schädigung des Staates durch private Interes-sen kann nur überwunden bzw. in Zaum gehalten werden, wenn der Staat seiner-seits über Mittel verfügt, die der Einzelne so nicht hat. Zentral ist daher für Hobbesdas Gewaltmonopol des Staates. Ohne ein Gewaltmonopol kein Staat. Dieses Mo-nopol ist aus seiner Sicht nur dann gegeben, wenn es zu keiner Aufteilung der Ge-walten kommt:50 »Geteilte Gewalten zerstören sich nämlich gegenseitig«, womit erinsbesondere die Mischverfassungen meint. Da geteilte Gewalten ein funktionales,d. h. systemisches Interesse haben, für sich selbst zu sorgen und nicht mehr dasGanze im Blick haben, streben sie eine fragmentierte Nutzenorientierung ihrer je-weiligen Positionen an. Daher sieht Hobbes besonders in demokratischen Ordnun-

43 Hier zitiert n. Manfred Fuhrmann, Cicero und die Römische Republik. Eine Biographie,4., durchgesehene u. bibliographisch erweiterte Aufl. Düsseldorf/Zürich 1997, S. 189/190.

44 Zentral hierzu das 29. Kapitel des Leviathan.45 Hobbes, Leviathan, aaO. (FN 15), S. 245.46 Ebd.47 Ebd.48 Ebd. S. 246.49 Ebd. S. 247.50 Ebd. S. 248 u. 252.

03_Nitschke Seite 152 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 34: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung 153

gen eine fatale, weil »mangelhafte Politik« am Werke,51 die darin besteht, statt derSachfragen personales Wohlergehen der jeweiligen sektoralen Führungskräfte überdie Ordnung selbst zu stellen.

V. Der Tod der politischen Ordnung

Symptomatisch besteht demnach für die neoklassische Perspektive das Problemder Demokratie darin, die Ansprüche zwischen (individueller) Freiheit und derKonsistenz des Systems selbst dauerhaft zu organisieren. Die Schnittstelle, an derdieses Problem offenkundig wird, ist das politische Führungspersonal. Aber mankann das Problem noch ausdehnen auf den Repräsentationsaspekt in der Moderneund der daraus folgenden Machtlogik für den demokratischen Staat.

Das Repräsentationsmodell schließt den ursprünglichen Willen des Individuums– aber auch des Demos selbst – aus. Es ist nur ein indirekter Wille, der sich hier an-zeigt. Man kann natürlich auch fragen, was denn ein ursprünglicher Wille, wieRousseau ihn gefordert hat, überhaupt sei? Tatsächlich würde es schwierig, dies ex-akt zu beantworten: ist die Wahl bzw. Abstimmung zu einem konkreten Gegen-stand in der politischen Debatte schon der ursprüngliche Wille eines Bürgers? –Wohl kaum. Schon die Reduzierung der Komplexitätsdichte im Falle einer Abstim-mung mit ja und nein geht an der Originalität des erkennenden Subjekts vorbei.Was übrig bleibt, ist dann zunächst nur eine formalisierte Willensbekundung. Dieviel gerühmte Authentizität freier, gleicher und geheimer Wahlen ist insofern auchnur formal authentisch, weil man im spezifischen Sinne gar nicht sagen kann, wasman wirklich möchte. Die Parteien fungieren somit als mediale Kommunikatorenund Kommunikationsforen, um die Individualität und Originalität der Stimmen zuformalisieren. Damit ist aber die Individualität auch zurückgedrängt, mediadisiertzugunsten korporativer Formen, eben der Parteien, der factions. Zwischen den di-versen Factionen ist das Interesse auf den Machtzugang gleich: da keine Seite allesallein haben kann, muss notwendigerweise in einem pluralistischen System die re-präsentative Demokratie auf eine Gewaltenteilung hinaus laufen. Ohne diese könn-te sie nicht existieren. Ein reiner Kontraktualismus hingegen, wie er bei Rousseauformuliert wird, bedarf keiner Gewaltenteilung, sondern setzt weitgehend die Ho-mogenität des Publikums voraus.52 Die Homogenität besteht dann in der kulturel-len Übereinstimmung qua Sprache, Sitten (und Religion). Insofern ist Rousseau indieser Hinsicht weitaus prämoderner bzw. neoklassischer als z. B. die Autoren deramerikanischen Verfassung. Das Grunddilemma haben aber auch die amerikani-schen Verfassungsväter nicht ausräumen können: Wie soll der Minimalkonsens imVolk bei all den differenten Factionen aussehen? – Sofern man die hobbesischeSchutzformel als reinen Funktionalismus verwirft und auf eine normative Begrün-

51 Ebd. S. 249.52 Vgl. hier auch Richard Saage, Demokratietheorien. Historischer Prozess – Theoretische

Entwicklung – Soziotechnische Bedingungen. Eine Einführung, Wiesbaden 2005, S. 109.

03_Nitschke Seite 153 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 35: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung154

dung setzt, wird es schwierig. Im Grunde schon bei Hobbes selbst: In der Hobbess-chen Theorie bildet die Geometrie die Welt der Figuren ab, die Physik die der Be-wegungen und die Ethik die der Regungen. Der Leviathan muss all diese dreiBedeutungsebenen systematisch beherrschen, sonst kann seine Gewalt nicht funkti-onieren. In der Figur des einen body politic manifestieren und arrangieren sich folg-lich Bewegungen und Regungen der Menschen kongruent und eben auch kongenial– denn schließlich ist es genau diese Symbiose, die den Menschen zu einem animalrationale (und damit zum politischen Tier) macht.

Das, was den body politic zusammen hält, ist in erster Linie das formale Recht,basierend auf dem originären Kontrakt. Da Moralvorstellungen individualisiertsind, spielen sie für den Funktionsablauf im kontraktgeordneten politischen Körperkeine Rolle mehr. Zunächst jedenfalls nicht, so lange sie minimalistische Überzeu-gungsformen nicht (noch) unterschreiten. Das ist z. B. im religiösen Bereich in derHobbesschen Theorie der Überzeugungssatz »Jesus is the Christ«.53 Wer hier ver-sagt, also nicht zustimmt, der diskreditiert auch alles Weitere. Insofern ist es ebendoch nicht beliebig, was die Bürger im Leviathan denken und fühlen. Wahrschein-lich, so könnte man mit Hobbes argumentieren, würden sie, sofern ihnen dieserSatz wichtig ist, diesen auch in den Urkontrakt mit hinein nehmen. Über Selbstver-ständliches allerdings spricht man nicht, man behält hierzu vielmehr einen still-schweigenden Konsens. Das Problem taucht auch nur dann und dort auf, wo dieserdurchbrochen wird. Dann allerdings tritt der Leviathan mit Macht in Szene. Daaber die Vertragspartner in Generationenfolge sich von dem einen Urkontrakt em-pirisch durchaus entfernt haben können, sowohl normativ wie durch faktischesVerhalten, entsteht das Problem der Anerkennung des neuen Status Quo. Alle Bür-ger sind Steuerzahler – und wer die Steuern zahlt, bestimmt mit Mehrheit, welcheneuen Grundsätze in den Vertrag aufgenommen werden sollen oder nicht. Alsowird die Minderheitenfrage, besonders in ihrer ethnischen oder religiösen Dimensi-on, zum eigentlichen Problem der Kontraktdemokratie. Faktisches Verhalten einergrößeren Gruppe im Volk, die sich als Gemeinschaft innerhalb der Gemeinschaftversteht, kann die Rahmenbedingungen nachhaltig ändern bzw. gefährden. Wennder Leviathan durch seine rechtsformalen Regeln keine angemessene Zivilität mehrherstellen kann, auch nicht die Aufrechterhaltung des Gewaltmonopols zur Er-zwingung von Mindeststandards, dann droht der Rückfall in den Naturzustand, derja nie aufgehoben, sondern strukturell nur verhindert worden ist.54

53 Die zentrale Bedeutung, die dieser Satz für die Vertragslehre bei Hobbes einnimmt, fin-det sich u. a. in der Argumentation des 32. Kapitels des Leviathans »Von den Grundsät-zen christlicher Politik«; vgl. Hobbes, Leviathan, aaO. (FN 15), S. 285 ff. Überhauptwird kein Autor von Hobbes so häufig erwähnt wie Jesus Christus. Man kann daherhier durchaus von einer latenten (säkularen) Christologie sprechen.

54 Ausführlich dazu an anderer Stelle, vgl. Peter Nitschke, »Identität und Verneinung. Diekulturellen Herausforderungen für eine Globalisierung des Westens (Teil 2)« in: Auf-gang – Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik 3, (2006), S. 478 ff.

03_Nitschke Seite 154 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 36: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung 155

Das Sicherheitsinteresse an der Aufrechterhaltung des body politic wird vonHobbes für den Staat wie für die Bürger gleichermaßen hoch veranschlagt. »Tat-sächlich war Hobbes von dem Gedanken, dass das Sicherheitsinteresse des Souve-räns mit dem Sicherheitsinteresse seiner Bürger zusammenfallen und dieses in sichaufheben würde, so fest überzeugt, dass er dazu neigte, die realen Schwierigkeitendes Verhältnisses zwischen einem um den Erhalt seiner Macht bemühten Souveränund den um ihre Selbsterhaltung besorgten Bürgern zu verleugnen«.55 Die Synthesezwischen dem Schutzinteresse der Bürger und dem Selbstinteresse des Staates aufBewahrung seiner Gestaltungsmittel ist in der konkreten Situation immer nur funk-tional. Strukturell gesehen besteht aber ein asymmetrisches Verhältnis schon alleindeshalb, weil der Staat Gewaltmittel quasi auf Vorrat ansammelt, um im entschei-denden Fall in der Konsequenz als Sieger dazustehen. Die Potenzierung seiner Ver-fügungsmacht kommt nahe an die Omnipotenz der Gottesfrage heran. Auch wennder Staat ein Negativum in Bezug auf die göttliche Allmacht darstellt, ist er gemes-sen an seiner eigenen Legitimation per Kontrakt der Individuen das Non-Plus-Ult-ra. Die Ausgestaltung der Wahrheitsfrage wird vom Leviathan nach seinen Geset-zen geregelt. Jeder Versuch von Seiten der Individuen als Bürger, dies anders zugestalten, setzt eine systematische Veränderung am Urkontrakt voraus. Das aber istinsofern schwierig, weil der Staat mit seinen Mitteln und Möglichkeiten die Bürgergeradezu auf den Urkontrakt hin konditioniert. Wie in der platonischen Höhle ha-ben sie nichts anderes kennen gelernt als das, worauf sie sich begründen. Insofernein fulminanter Zirkelschluss, der hier von Hobbes angelegt worden ist. Allerdingssteht genau jene Tautologie in der Postmoderne unter enormen Legitimationsdruck.Das internationale Migrationsgeschehen lässt tautologische Begründungen aus ei-nem in sich geschlossenen nationalen System nicht mehr zu. Unter dem Handlungs-druck einer Effizienz des globalen Marktgeschehens steht der jeweilige nationaleUrkontrakt unter permanenten Rechtfertigungszwang. Je größer und je zahlreicherdie ethnischen Minderheiten sind, die in ein nationales System immigrieren, destostärker die Erosion des Urkontrakts der autochthonen Bevölkerung. Je schnellerder Demos in seinen Interessenslagen rotiert, umso deutlicher wird die Notwendig-keit zu einem fortwährenden Diskurs über die Grundlagen des sozialen Zusammen-seins bzw. über die Nachhaltigkeit der Argumente. Das ist die Geburtsstunde derdeliberativen Demokratie.56 Aber auch sie kommt um die Notwendigkeit erst rechtnicht herum, den Bürgerinnen und Bürgern die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeitzugunsten des Demos deutlich zu machen. Das Gewaltmonopol wird also gerade inpluralistischen Gesellschaften noch wichtiger als in absolutistischen Monarchien.

55 Tuck, Hobbes, aaO. (FN 14), S. 111.56 Vgl. hier u. a. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie

des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 4. Aufl. Frankfurt/M. 1994, S. 349 ff. –Rainer Schmalz-Bruns, Reflexive Demokratie. Die demokratische Transformationmoderner Politik, Baden-Baden 1995. – David Strecker / Gary S. Schaal, »Die politischeTheorie der Deliberation – Jürgen Habermas« in: André Brodocz / Gary S. Schaal,(Hg.), Politische Theorien der Gegenwart II, Opladen 2001, S. 89 ff.

03_Nitschke Seite 155 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 37: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung156

Dies auch deshalb, weil die Durchsetzung der im Prinzip universalistischen An-sprüche des individuellen Interesses faktisch kontingent bleibt – und nur über denUmweg mit der Repräsentation des staatlichen Souveräns einigermaßen befriedi-gend eingelöst werden kann.57

Obwohl Hobbes in der Person des Staates die zentrale Qualität für die menschli-che Existenz sieht, bleibt selbst der unpersönliche Gott, der hier nur philosophischartikuliert wird, von grundlegender Bedeutung.58 »Man versteht die Hobbes’scheIdee einer natürlichen Religion wohl am besten, wenn man sie als eine Form desDeismus, d. h. als einen Gottesglauben aus Vernunftgründen begreift«.59 Religionund Zivilreligion werden hier von Staatswegen synthetisiert. Die Moderne kennt al-lerdings beide Wege: a) die strikte Trennung von Verfassungsmoral und religiöserMoral, b) die Übereinstimmung dieser beiden Moralitäten. Oft genug existieren bei-de Varianten als komplexe Mischformen, was es auch so schwierig macht, den Pro-zess der Säkularisierung als eindeutig für eine Richtung auszulegen. Säkularisierungist aber gerade deshalb auch nicht gleichzusetzen mit der Demokratisierung, wieviele Analysten zur Demokratietheorie meinen.60 Der Bauernaufstand von 1525 z.

57 Tuck urteilt dazu: »Der begrenzte Umfang der Rechte jedes einzelnen Bürgers gegenü-ber dem Souverän, der allen liberalen Grundsätzen zu widersprechen scheint (und auchtatsächlich widerspricht), resultiert also aus dem begrenzten Umfang der universal gül-tigen Rechte jedes einzelnen Menschen; und deren begrenzter Umfang wiederum resul-tiert, […] aus dem Unvermögen, eine allgemein zustimmungsfähige, widerspruchsfreieund zwingend begründete Moraltheorie von hinreichender Differenziertheit und Kom-plexität zu entwickeln. Vielleicht wird nirgends so deutlich wie hier, dass ein morali-scher Relativismus – den vermutlich viele moderne Liberale intuitiv durchausbefürworten würden – sehr wohl in einer illiberalen Politik münden kann – einUmstand, der den maßgeblichen Repräsentanten des Relativismus damals sehr wohlbewusst war. « – Tuck, Hobbes, aaO. (FN 14), S. 119. – Vgl. hierzu auch die Problemanalyse beiGiuseppe Duso, Die moderne Repräsentation – Entstehung und Krise des Begriffs, Ber-lin 2006.

58 Vgl. auch Tuck, Hobbes, aaO. (FN 14), S. 122.59 Ebd. S. 124.60 Dies gilt im Grunde für die meisten demokratietheoretischen Abhandlungen. Sowohl

Saage (2005), als auch Frevel (2004), Höffe (2002) oder Schmidt (2000) formulieren ihreBestandsaufnahme zur Demokratie ideenhistorisch vor dem unausgesprochenen Para-digma einer Geschichtsphilosophie, derzufolge die Moderne das Produkt von Säkulari-sierung (= Individualisierung + Aufklärung) sei, was wiederum mit den demokratischenPrinzipien gleichgesetzt wird. Diese Verengung, die in mancherlei Hinsicht einem hege-lianischen Reflex sowohl von postmarxistischer wie von liberalkonservativer Seitegeschuldet ist, wird den Erscheinungsformen nicht gerecht. Zumal dann nicht, wennschließlich noch ein ökonomischer Mehrwert mit dem demokratischen Programmgleichgesetzt wird. Der wirtschaftliche Erfolg Singapurs hat nichts mit den Menschen-rechtsstandards zu tun, auch wenn Singapur bei alledem (noch) eine Demokratie seinmag. – Vgl. zur Literatur Saage, Demokratietheorien, aaO. (FN 52). – Bernhard Frevel,Demokratie. Entwicklung – Gestaltung – Problematisierung, Wiesbaden 2004. –Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, überarb. u. aktualisierteNeuausgabe München 2002. – Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien. Eine Einfüh-rung, 3. Aufl. Opladen 2000.

03_Nitschke Seite 156 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 38: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung 157

B. hatte nichts mit Säkularisierung zu tun, wohl aber mit einer naturrechtlichen Be-gründung der Rechte des gemeinen Mannes, die in ihrer radikalen Formulierungsehr wohl demokratisch genannt werden können. Das die Individualisierung in derjüngeren Geschichte zu einer Gleichsetzung mit Demokratie geführt hat, solltenicht zu dem Schluss verleiten, dass ohne eine Individualisierung kein demokrati-sches Profil möglich sei. Tatsächlich legt das Ausmaß der Parteiendemokratie insbe-sondere in Deutschland gerade für die aktuelle Situation den Umkehrschluss nahe,dass Individualinteressen sehr wohl (und außerdem recht nachhaltig) in korporatis-tische Interessenslagen verwandelt werden können. Insofern ist auch der Hinweis,dass die Demokratiefrage als eine offene prozessuale Frage betrachtet werden sol-le,61 zwar ein schöner Gemeinplatz für die emanzipatorische Perspektive von demo-kratischer Ordnung, ändert aber nichts an der Notwendigkeit einer Beantwortungihrer Quintessenz – nämlich zu welchem Zweck das Ganze betrieben wird?

Wenn der Zweck gemeinhin mit dem Volk als Adressaten von selbstimmanenterHerrschaftsausübung gleichgesetzt wird, dann ist die Frage nach der Dauerhaftig-keit dieser Herrschaft um so berechtigter, je mehr das Verständnis dafür, wer oderwas das Volk spezifisch ist, in Zeiten eines weltweit hohen Migrationsdruckes kaummehr in den traditionellen Legitimationsbahnen des 19. oder 18. Jahrhunderts fi-xiert werden kann. Hierzu lohnt noch einmal abschließend der Blick auf einen anti-ken Klassiker, dieses Mal auf Aristoteles.

Die zentralen Fragen zum Untergang der Demokratie (oder besser: der politi-schen Ordnung an sich) werden von Aristoteles im fünften Buch der Politik abge-handelt. Das Grundproblem, vor dem sich jede politische Ordnung gestellt sieht,besteht in der Inkongruenz von Stabilität und der Dynamik des Lebens. Auch einnoch so gut eingerichteter Staat wird eines Tages an die Leistungsgrenze seiner aus-tarierten Ordnungsformen kommen – und dann wird sich erweisen, ob die Verfas-sung von (weiterer) Dauer ist, ob sie mit Modifikationen überlebt – oder stirbt. Daes keine politische Ordnungsform sub specie aeternatis gibt, die so von Dauer ist,dass sie ewig wäre, stellt sich der Tod der Ordnung gerade für die Demokratie mitbesonderer Dringlichkeit, denn hier stirbt nicht nur ein einzelner Monarch oder Ty-rann, sondern möglicherweise ein ganzes Volk. Das ist zunächst nicht physisch imexistenziellen Sinne gemeint, obwohl dies auch der Fall sein kann, wofür es genü-gend historische Beispiele gibt. In erster Linie ist der Tod des Demos zunächst ein-mal kognitiver Natur: Das Volk stirbt, weil es sich nicht mehr als Demos verstehtbzw. in einer solchen Weise artikulieren kann (oder will). Gesetze und die Strukturder öffentlichen Ämter sind hierfür ganz entscheidend. Insbesondere eine Demo-kratie muss ein nachhaltiges Interesse daran haben, dass nur diejenigen in öffentli-che Ämter kommen, die sich auch an die bestehende Verfassung halten werden.62

Doch die Frage, wie man zum richtigen Politiker wird, steht hier nicht im Vorder-

61 Vgl. hier Saage mit einem Verweis auf Fetscher von 1973, Demokratietheorien, aaO.(FN 52), S. 31, bes. Anm. 20.

62 Vgl. Aristoteles, Politik, aaO. (FN 23), 1302 b – 1303 b.

03_Nitschke Seite 157 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 39: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung158

grund, sondern die Perspektive auf die Systematik bzw. Inkongruenzen der demo-kratischen Ordnung selbst. Für Aristoteles liegen alle Fehler schon im Anfang be-gründet.63 Insofern stellt sich für ihn die Frage nach der Ausgangslage für ein Volk,dem originären Zusammenschluss, als Frage nach der Substanz der Verfassung undihrer jeweiligen Genese. Hierbei sind ihm zwei Dinge elementar: a) die Qualität derTugend im Staate, b) die Relation zwischen Reichtum und Armut. Man kann mitguten Gründen bereits in Aristoteles den ersten Begründer eines wohlfahrtsstaatli-chen Politikbegriffs sehen, da die Demokratie nicht ohne die materielle Kompetenzfür alle als Gleichberechtigte auskommt:64 »Der wahrhafte Demokrat muss alsovielmehr darauf schauen, dass das Volk nicht gar zu arm werde. Denn dies ist dieUrsache, wenn eine Demokratie schlecht wird.« Der Niedergang der Demokratiebedingt sich demnach durch eine schleichende Selbstreferentialität des handelndenPersonals, wenn diese (relational) mehr Leistungen für sich selbst im Namen desStaates verbrauchen, als sie effizient an die Bedürftigen im Staat ausschütten. Einedamit rhetorisch wie strukturell organisierte wohlfahrtstaatliche Politik erscheintdann als das Einfallstor für massive Schädigungen im Volk selbst:65 »Die Demokra-tien verändern sich hauptsächlich durch die Zügellosigkeit der Volksführer. Dieseführen Prozesse gegen die Wohlhabenden und treiben sie zum Zusammenschluss[…], oder sie hetzen allgemein das Volk gegen sie auf.« Das Aufhetzen von armengegen reiche Bürger trägt letztlich nur zur Zerrüttung des Gemeinwesens bei, denndamit wird der bereits von Platon diagnostizierte tendenzielle Bürgerkrieg zur Er-scheinung gebracht. Der populare Interpret der angeblichen Bedürfnisse der breiten(verarmten) Masse ist dabei noch stets der (zunächst gezügelte) Tyrann: Ob Caesar,Robespierre, Lenin, Hitler oder Mao, die meisten Tyrannen »haben als Volksführerbegonnen«.66 Hier bedarf es gerade für die demokratische Ordnung einer besonde-ren Wachsamkeit, denn die Vorboten späterer Tyrannei sind zunächst immer diescheinbar harmlosen Veränderungen der Begrifflichkeiten in der Verfassung. Inso-fern kommt (wie bei Platon) auch bei Aristoteles der »Erziehung zur Verfassung«ein hoher integrativer wie normativer Stellenwert zu.67 Dies ist für demokratischeOrdnungen deshalb so wichtig, weil sie ohne die Tugend nicht auskommen kann.Schließlich werden alle Unterschiede zwischen Arm und Reich eben nicht durchmaterielle Verteilungsfragen allein gelöst. Die Freiheit besteht auch in der Differenzdes Privatbesitzes. Hier darf es deshalb nicht hemmungslose Aneignungsmaßnah-men geben. Vielmehr ist der richtige Umgang mit Privatbesitz für alle Bürger ent-scheidend. Insofern kommt der Selbstregulierung im Sinne der wechselseitigen An-erkennung ein hoher normativer Stellenwert zu. Für die Politik bedeutet dies, dasssie notwendige Anerkennungsprozesse in der Gesellschaft gerade in der Relationzwischen Arm und Reich stimulieren und auf ihre wechselseitige Akzeptanz hin

63 Vgl. ebd. 1303 b. 64 Ebd. 1320 a.65 Ebd. 1304 a.66 Ebd. 1305 a.67 Ebd. 1310 a.

03_Nitschke Seite 158 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 40: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung 159

kommunizieren und koordinieren muss. Im praktischen Alltag einer Demokratiedarf tugendhaftes Handeln kein Widerspruch zur Freiheit – und Gleichheit keinWiderspruch zum Privatbesitz sein, sondern muss vielmehr als deren reziprokesKorrelat aufgefasst werden. Die Verfassung gibt die Parameter des tugendhaften Be-wusstseins insgesamt vor (wie dies im Prinzip auch für die Grundgesetzartikel gilt);eben deshalb ist ein »Gehorsam gegen die Verfassung […] nicht als Knechtschaftaufzufassen, sondern als Rettung der Verfassung«.68 Aber genau hieran mag es imZuge postmoderner Befindlichkeiten mangeln: die Einsichtsfähigkeit in die norma-tive Berechtigung der Tugendprinzipien einer Verfassung darf erst recht in einer De-mokratie nicht allein Sache einiger Weniger sein. Demokratie als Regierung derMenge, wie Platon es formuliert hat,69 hat ein strukturelles kognitives Problem, wasauch alle Umfragen nicht aufheben können: Die Menge kann nicht wirklich poli-tisch sein, weil ihr dazu epistemologisch die Grundlagen fehlen.70 Gibt es dann je-manden, der wie Sokrates alle übrigen kognitiv weit überragt, dann ist der Tod oderdoch zumindest die Verfemung die Folge, denn die Menge duldet im Sinne derGleichheit keinen überragenden Geist in ihrer Mitte. Umso mehr bedarf es geradein der Demokratie einer richtigen Anleitung zur guten Ordnung und ihrer Aus-Bil-dung für alle Beteiligten: Paideia bleibt eine zentrale Aufgabe für den demokrati-schen Verfassungsstaat, will er nicht einfach nur existieren, sondern nachhaltigüberleben.

VI. Rückblick auf das Weitere

So lange eine Demokratie tatsächlich funktioniert, ist die Sache auch für die hiergenannten Autoren unproblematisch. Doch während der Philosophenkönig Platonsoder etwa der weise Monarch der Fürstenspiegelliteratur des Mittelalters frühzeitigmerken sollte, wenn etwas mit der Ordnung nicht mehr richtig gewesen ist, stelltsich die Frage: Wann merken es die Demokraten? – Und zwar in ihrer Mehrheit alsBürger? – Hier wird es schwierig in Bezug auf die epistemologischen Grundlagen.Konsequenterweise positioniert sich daher die neoklassische Perspektive – ausge-hend von der antiken Vorbildfunktion – in zweierlei Hinsicht systematisch mit ei-nem Appell an das Volk als handelnden Akteur:

A) In der Formulierung eines skeptischen Potentials gegenüber der jeweils eige-nen zeitgenössischen Politik, insbesondere mit deutlichen Kritikpunkten am jeweilshandelnden politischen Personal. Nach der Demokratie droht hier noch stets dasAbgleiten in die Tyrannis, Despotie, Diktatur, wobei die unterschiedlichen Begriffenur Synonyme für die Schreckensherrschaft des einen, fehlgeleiteten, seiner maßlo-sen Triebstruktur folgenden Politikers sind. Anarchie ist die andere Konsequenz,die aus dem Tod der demokratischen Ordnung folgt. Am Ende steht gar der Bürger-

68 Ebd.69 Platon, Politikos, aaO. (FN 36), 291 d.70 Vgl. ebd. 292 d.

03_Nitschke Seite 159 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 41: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung160

krieg (stasis), der hier historisch als empirische Größe für die griechischen Poliswel-ten ebenso wie für das Ende der Römischen Republik (bei Cicero) oder aber für dieNeubegründung des Politischen bei Machiavelli wie für den Leviathan bei Hobbesstrukturell den Ausschlag gibt. Demokratisches Denken lässt sich von hierher alsDenken und Argumentieren im Bewusstsein einer Krise diagnostizieren. Und zwareiner strukturellen Krise, die nicht einfach mit kleinen Reformen austariert werdenkann.71 Demokratisches Bewusstsein ist folglich ein Bewusstsein der Krisenhaftig-keit menschlicher Existenz im Sinne der anthropologischen Anfälligkeiten. Derhomo defectus als homo democraticus ist demnach eine Sichtweise, die sich sowohlbei den Federalists als auch bei Spinoza paradigmatisch durchformuliert findet.72

Die systemische Balance liefert die ordnungspolitisch strukturierte Mäßigung allerAffekte sowie (gleichzeitig) deren plurale Öffnung.

B) Da der Mensch defizitär ist (und bleibt), muss man das Beste aus seinen Mög-lichkeiten machen. Dies stellt eine erhöhte Anforderung an die strukturelle Organi-sation der demokratischen Ordnung. Wenn die Freiheit des Ganzen wie des Einzel-nen oberste Maxime ist – und dabei die Gleichheit gewahrt werden soll, dann istFreiheit aber nicht identisch mit der Gleichheit.73 Der Unterschied zwischen Armund Reich, den alle hier veranschlagten Autoren thematisieren, muss im Sinne einescompositum mixtum gelöst werden. D. h., keine Seite darf zuviel bekommen – erstrecht nicht die als Vermittlungsagenten auftretenden Politiker! – Da der Zustandder strukturierten Mäßigung nie stabil ist, sondern auf den Kommunikationsbedin-gungen der (modern gesprochen) deliberativen Variante von Demokratie beruht,die sich vom Phänotyp bereits in der attischen Demokratie mit ihrem unmittelbarenbasisdemokratischen Appell findet, sind die Schwankungen, die es hier geben kann,Motor der dynamischen Veränderung. Im Gegensatz zur Einpersonenherrschaft istdaher die Demokratie am Besten geeignet, auf Veränderung der Lebensformen vomProzedere her in der wechselseitigen Akzeptanz adäquat einzugehen. Das bedeutetaber zugleich auch, sich die Frage nach dem jeweils Besseren in der Entscheidungs-findung möglichst schonungslos zu stellen. Denn nur dann, wenn der Diskurs breit,offen und um der Wahrheit willen geführt wird, ist das Modell der positiven Pro-

71 So gesehen ist es auch nicht verwunderlich, dass sich neoklassische Denker des 20. Jahr-hunderts wie Arendt, Voegelin, Strauss oder auch Collingwood an der Auseinanderset-zung mit der Hitlerdiktatur orientiert haben. Der 2. Weltkrieg ist in dieser Hinsichttatsächlich ein Weltbürgerkrieg gewesen, der das zivilisatorische System des Abendlan-des in eine interne Stasis verwandelt hat. Sehr systematisch hierzu der in Deutschlandleider in der Rezeption völlig ignorierte Collingwood; vgl. R. G. Collingwood, TheNew Leviathan or Man, Society, Civilization & Barbarism, revised Edition, Oxford2000.

72 Vgl. Baruch de Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat, 2. Aufl. Hamburg 1984. – Ale-xander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist Papers, Darmstadt 1993.

73 Die Eigenständigkeit der Freiheit wird bei Tocqueville schon im Vorwort interessanter-weise mit der religiösen Fundierung in Verbindung gesetzt: »the reign of liberty cannotbe established without morality, nor morality without beliefs«! – Tocqueville, Demo-cracy in America, aaO. (FN 18), S. 21.

03_Nitschke Seite 160 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 42: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Peter Nitschke · Der Tod der demokratischen Ordnung 161

gression in Sachen Demokratie strukturell nachhaltig – und bleibt damit der Todder demokratischen Ordnung, wenn auch nicht für alle Ewigkeit aufgehoben, sodoch in der Zeitachse aufgeschoben.

Zusammenfassung

Kein politisches System existiert ewig. Jede politische Ordnung stirbt einmal –das gilt auch für die demokratische Ordnung. In der antiken Reflexion über Auf-stieg und Niedergang politischer Ordnungen ist nach der Analyse von Platon undAristoteles ein solches Sterben natürlich, weil jede Form von Politik selbstimma-nente Schädigungen induziert. In der Rekonstruktion der maßgeblichen Theoremezeigt der Beitrag, auf welchen Feldern die klassische Politikinterpretation dieseSelbstschädigungen der Demokratie verortet und wie sie im aktuellen Bezug einervon systemischen Krisen gekennzeichneten Gegenwart erneut dechiffrierbar sind.Die Kritik am handelnden politischen Personal tritt hierbei ebenso in den Vorder-grund wie das axiomatische Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit,an dem die Demokratie bei nicht angemessener Berücksichtigung der Eingangspos-tulate zugrunde gehen kann.

Summary

There is no eternity for a political system. Every political order dies one day –this is also true for the polity of Democracy. Relating to the analysis of Plato andAristoteles, the antique interpretation about the upcoming and decline of polities isa natural act in perspective towards the death because every form of polity suffersunder self-immanent conflicts. In the reconstruction of the basic theoretical sen-tences this article demonstrates the topics of the classical interpretation of politicsrelating to the disarrangements of Democracy and how they can be identified againin the actual scenario for the contemporary crisis of modern democracy. The cri-tique classified the acting personnel in doing politics and the substantial antagonismbetween liberty and equality as the main aspects for the final decline of a democraticpolity.

Peter Nitschke, The Death of Democracy: A neoclassical Reconstruction

03_Nitschke Seite 161 Mittwoch, 20. Juni 2007 7:50 07

Page 43: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Thomas Heberer

Institutionelle Defizite gefährden Chinas soziale und politische Stabilität

Von der Rolle einer Supermacht des 21. Jahrhunderts ist das Land noch weit entfernt

Das jährliche Wachstum Chinas von über 9% und seine Expansion auf den Welt-märkten rufen Ängste hervor: »Chinas Aufstieg – Deutschlands Abstieg«; »Angriff ausFern-Ost« oder »Weltkrieg um Wohlstand« sind einige jüngst in die Diskussion gewor-fenen Termini. Der chinesische Staat wird als »Angreifer-« oder »Termitenstaat« klassi-fiziert, der ohne Rücksicht auf Menschenleben und globale Umwelt und mit Hilfe billi-ger, rechtloser Arbeitskraft zum Angriff auf die westlichen »Absteigergesellschaften«blase.1 Zwar stellt der Aufstieg Chinas eine große Herausforderung für die westlichenWirtschaften dar, gleichwohl profitiert Europa enorm von dessen Aufschwung. Unddennoch bleibt Chinas Entwicklung ambivalent: Seine Wirtschaftskraft wächst ebensowie sein innerer Problemberg: wachsende soziale Ungleichheit, Umweltkatastrophen,Korruption, Kaderwillkür und zunehmende soziale Proteste.2 Von daher stellt sich dieFrage nach der Stabilität des politischen und gesellschaftlichen Systems. Die politischeFührung selbst betont immer wieder, dass Stabilität die Grundvoraussetzung für weite-re Entwicklung sei. Ohne Stabilität drohe ein systemischer Zusammenbruch.3

Im Folgenden soll an den Beispielen innere Probleme und gesellschaftliche Dyna-mik die Ambivalenz der gegenwärtigen Entwicklung Chinas vor dem Hintergrundder Stabilitätsfrage verdeutlicht werden. Zunächst werden wir unser Verständnisvon Stabilität erläutern. Anschließend zeigen wir, dass China nach wie vor als Ent-wicklungsland zu begreifen ist. Den wachsenden sozialen Protesten versucht diechinesische Führung mit dem Konzept einer »harmonischen Gesellschaft« zu be-gegnen. Der party-state4 betätigt sich gleichwohl als Entwicklungsmotor, auchwenn die Rolle der Gesellschaft kontinuierlich wächst. Kritische Stimmen fordern

1 Jochen Buchsteiner, Die Stunde der Asiaten. Wie Europa verdrängt wird, Reinbek beiHamburg 2005; Frank Sieren, Der China Code, Berlin, 2006; Gabor Steingart, WieMacht und Reichtum neu verteilt werden, München/Zürich, 2006.

2 Thomas Heberer / Anja Senz, »Die Rolle Chinas in der internationalen Politik. Innen- undaußenpolitische Entwicklungen und Handlungspotenziale« Discussion Paper 3, DeutschesInstitut für Entwicklungspolitik, Bonn, 2006; Thomas Heberer / Gunter Schubert, »Politi-cal Reform and Regime Legitimacy in Contemporary China« in: ASIEN, 11 (2006), S. 9-28.

3 Jiangang Huang, / Fujun Song / Baiqi Li / Xieguo Gu, Shehui wending wenti yanjiu(Untersuchung zur Frage sozialer Stabilität), Peking 2005, S. 243ff.

4 Wir wählen hier den englischen Begriff party-state, weil dieser besser als der deutscheBegriff »Parteistaat« die enge Verflechtung von Partei und Staat in China verdeutlicht.

04_Heberer Seite 162 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 44: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Thomas Heberer · Institutionelle Defizite gefährden Chinas soz. u. pol. Stabilität 163

eine schnelle Institutionalisierung vor allem von Rechten. Ein Fazit, das auch dieFrage einer möglichen Rolle Europas im Institutionalisierungsprozess Chinas auf-wirft, rundet den Beitrag ab.

Was heißt Stabilität?

Das Konzept der Stabilität ist eng mit dem politischen System verbunden. Politi-sche Systeme befinden sich in Interaktion mit einer sie umgebenden Umwelt, die siebeeinflussen und von der sie beeinflusst werden. Wandlungsprozesse in oder Krisendieser Umwelt »dynamisieren« oder »stören« ein System und generieren auf dieseWeise Instabilität. Von daher meint Stabilisierung, dass ein System im Falle von Stö-rungen in der Lage ist, zu einem neuen Gleichgewichtszustand zu finden. Aller-dings lässt sich Stabilität nicht nur systemstrukturell definieren, sondern auch sys-temfunktional im Sinne politischer Performanz. Faktoren wie Effizienz,Legitimität, Ordnung und Beständigkeit wirken sich förderlich auf Stabilität aus.Auch das Fehlen gewalttätiger sozialer Konflikte, institutionelle Kontinuität, dieDauerhaftigkeit von Regierungen und allgemeiner Wohlstand lassen sich als Aus-druck von und als Erfordernis für politische Stabilität begreifen.

Wolfgang Merkel hat einen stärker funktionalen, praxisorientierten politischenStabilitätsbegriff formuliert. Seiner Meinung nach ist Voraussetzung für Stabilität,dass die »innere Konstruktion der vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Struk-turen und Akteuren so angelegt sein« (muss), dass »sie in der Lage sind, jene Aufga-ben zu lösen, die dem System aus der ›Umwelt‹ (Wirtschaft, Gesellschaft, internati-onale Staatenwelt) gestellt werden«. Merkel zufolge sind fünf zentraleHerausforderungen zu bewältigen: politische und gesellschaftliche Integration; Mo-bilisierung von Ressourcen; Beziehungen mit anderen Staaten auf der Basis friedli-cher Regelungen; politische Partizipation der Bevölkerung; sozial relativ gerechteVerteilung des Sozialproduktes durch staatliche Umverteilungsmaßnahmen.5

Wird Stabilität in diesem Sinne als ein »Prozess dynamischen Gleichgewichts«verstanden, in dem sich ein System befinden soll, so geht es Merkel vor allem umseine Anpassungsfähigkeit und um die Bestimmung der Bedingungen, die eine sol-che Flexibilität erlauben oder behindern.6 Ein solcher Stabilitätsbegriff ist nicht anBewahrung und Beharrung, sondern an Wandel geknüpft. Wandel ist hier einerseitsim Sinne von Änderungspotenzialen zu verstehen, die von politischen und sozialenAkteuren genutzt werden können; andererseits als Potenzial von Eliten, die – wie inChina – Wandel bewusst einleiten wollen und können.

Dabei sind es im Wesentlichen Institutionen, die stabilisierende und zugleich in-tegrative Funktion besitzen, da sie das Zusammenleben der Menschen regeln unddem Einzelnen wie der Gruppe eine Erwartungssicherheit geben. Institutionelle

5 Wolfgang Merkel, Systemtransformation, Opladen 1999, S. 57-58.6 AaO., S. 58.

04_Heberer Seite 163 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 45: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Thomas Heberer · Institutionelle Defizite gefährden Chinas soz. u. pol. Stabilität164

Stabilität setzt dabei voraus, dass die jeweils Betroffenen daraus kollektiven bzw. in-dividuellen Nutzen ziehen.

China – noch immer Entwicklungsland mit institutionellen Defiziten

Ein Blick in den Weltentwicklungsbericht 2006 verdeutlicht, dass China nach wievor ein Entwicklungsland ist: 16,6% der Bevölkerung Chinas verdienen weniger als1 US-$/Tag und leben den Kriterien der Weltbank zufolge in absoluter Armut.46.7% verdienen weniger als 2 US-$/Tag. Damit befindet sich China auf dem Ni-veau von Ländern wie der Elfenbeinküste, den Philippinen oder dem Jemen. Mit ei-nem Bruttonationaleinkommen von 1.290 US-$ pro Kopf (2004) zählt China zu denLändern mit niedrigem Einkommen. Statistisch gesehen lag es damit noch hinterKolumbien, Ecuador oder der Dominikanischen Republik und etwa auf dem Ni-veau der Philippinen und Indonesiens. Rund 10% der Kinder unter 5 Jahren geltenals unterernährt und die durchschnittliche Schulbesuchszeit beträgt gerade einmal6,5 Jahre, ein Durchschnittswert ärmerer Entwicklungsländer.7 China benötigtWachstum, um die jährlich steigende Zahl an Arbeitskräften (10-12 Mio.) in Be-schäftigung bringen und soziale Stabilität wahren zu können. Der rasche und er-folgreiche Übergang von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft hat die politischeFührung vor enorme Herausforderungen gestellt: Ausweitung sozialer Ungleich-heit, Korruption, Stadt-Land-Gefälle, Arbeitslosigkeit, Verfall traditioneller sozia-ler Sicherungssysteme, Überalterung usw.

Auch wenn China seit den 1980er Jahren durch neue Regelwerke, neue Ord-nungswerte und neue Rechtsinstitutionen einen raschen Prozess institutionellenWandels eingeleitet hat, bleibt das Institutionengefüge hinter den ökonomischenund gesellschaftlichen Erfordernissen zurück: Rechte und Regeln wirken relativ un-verbindlich, weil die Partei über Recht und Regeln steht, das Recht nicht unabhän-gig ist und daher die Bevölkerung ungenügend Nutzen daraus zieht. Zudem hat dasdurch den rapiden Wandel entstandene Wertevakuum ein hohes Maß an sozialerOrientierungslosigkeit mit sich gebracht.

Wachsende Proteste

Seit das Ministerium für Öffentliche Sicherheit die Zahl der »Massenproteste«dokumentiert, soll sich deren Zahl von ca. 10.000 im Jahre 1994 auf 87.000 (2005)erhöht haben. Der Soziologe Sun Liping sprach davon, dass 2005 in den Städten proTag zwischen 120 und 250 Proteste mit mehr als hundert Protestierenden stattge-funden hätten, im ländlichen Raum 90-160.8 Laut Berichten der International La-

7 Weltbank (Hg.), »Chancengerechtigkeit und Entwicklung«, Düsseldorf 2006, S. 334ff.8 The Economist 31.12.06 (http://www.economist.com/displaystory.cfm?story_id=

4462719; aufgerufen am 31.12.06).

04_Heberer Seite 164 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 46: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Thomas Heberer · Institutionelle Defizite gefährden Chinas soz. u. pol. Stabilität 165

bour Organization (ILO) verdoppelte sich zugleich die Zahl der Arbeitskonfliktevon 2001 knapp 155.000 auf 300.000 2005.9

Obgleich die Zahl der Proteste zunimmt, handelt es sich überwiegend um Protes-te gegen lokale Funktionäre, nicht aber um Unmutsäußerungen gegenüber dem po-litischen System. Untersuchungen im städtischen und ländlichen Raum haben erge-ben, dass die Menschen nur geringes Vertrauen in die lokalen Funktionäre besitzen,hingegen relativ hohes in die zentrale Führung.10 Von daher sind diese Proteste eherals Ausdruck einer sich pluralisierenden Entwicklungsgesellschaft zu begreifen, inder Entwicklung soziale Konflikte mit sich bringt und Konflikte sich in zunehmen-den Unmutsäußerungen und Protesten niederschlagen, ohne dass das politischeSystem per se in Frage gestellt würde.

Gegenwärtig bilden der ländliche Raum und die Bauernschaft das entscheidendeFeld für soziale und gewaltsame Unruhen. Ein im Jahre 2004 erschienener und vonzwei chinesischen Journalisten verfasster Bericht über die Lage der Bauernschaft(am Beispiel der Provinz Anhui in Zentralchina) hat das Ausmaß an Willkür ländli-cher Kader auf drastische Weise verdeutlicht.11 Er hat auch gezeigt, dass sich an demKernproblem der Rechtlosigkeit der Landbevölkerung bislang wenig geändert hat.Auch dass es für die Bauernschaft noch immer keinen eigenen Interessenverbandgibt, ist Ausdruck dieser Rechtlosigkeit. Ohne eine solche Interessenorganisationwird sich der schwelende Konflikt zwischen Staat und Landbevölkerung allerdingsweiter verschärfen.

In einer Analyse über die Lage der Bauernschaft kam der SozialwissenschaftlerYu Jianrong zu dem Schluss, dass sich die Protestformen der Bauernschaft in denletzten Jahren gewandelt hätten: von spontanen Formen des Widerstandes vor den90er Jahren hin zu »gerechtfertigter Rebellion« (bei der versucht worden sei, durchBerufung auf staatliche Politik oder Gesetze der Willkür lokaler Funktionäre entge-genzutreten) und seit 1998 zu Formen, bei denen die Bauern »durch Anwendungvon Recht und Gesetzen aktiv für ihre Rechte kämpften«. Das Letztere beziehesich, so Yu, auf den Kampf für politische Rechte und die Durchsetzung bestehenderGesetze und Vorschriften. Diese Auseinandersetzung richte sich primär gegen loka-le Funktionäre und nicht gegen das politische System an sich. Die Bauern organi-sierten über einzelne Dörfer hinausreichende Netzwerke und griffen zu Mitteln wie

9 Antoaneta Bezlova, »China grapples with a labor dragon« in: Asia Times Online (2006),http://www.atimes.com/atimes/China_Business/HD27Cb06.html (aufgerufen am4.1.07).

10 Lianjiang Li, »Political Trust in Rural China« in: Modern China, 30 (2) (2004), S. 228-258; Wenfang Tang, Public Opinion and Political Change in China, Stanford, 2005, S.76ff. und 102; Heberer / Schubert, »Political Reform and Regime Legitimacy in Con-temporary China« aaO. (FN 2); Thomas Heberer, »Institutional Change and Legiti-macy via Urban Elections? People’s Awareness of Elections and Participation in UrbanNeighbourhoods« Duisburg Working Papers on East Asian Studies, University of Duis-burg-Essen, No. 68 (2006).

11 Guidi Chen / Tiao Chun, Zhongguo nongmin diaocha (Untersuchungsbericht überChinas Bauern), Peking 2004.

04_Heberer Seite 165 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 47: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Thomas Heberer · Institutionelle Defizite gefährden Chinas soz. u. pol. Stabilität166

Demonstrationen oder Sit-ins, um ihre Ziele zu erreichen. Ihre Methoden seien ge-setzlich erlaubt, politisch jedoch verboten. Dieses Agieren der Bauernschaft könne,so Yu, in Zukunft aber dazu führen, dass die Bauernschaft zu einer starken Trieb-kraft für die Erweiterung gesellschaftlicher Partizipation werden könne.12 Dieseskollektive Verhalten des »Rightful Resistance«,13 bei dem die Bauern lokale Funkti-onäre mit Gesetzen, Erlassen, Richtlinien oder Dokumenten der zentralen Führungkonfrontieren, hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Dabei nutzt dieLandbevölkerung institutionelle Defizite und unterschiedliche Interessen und Ein-stellungen innerhalb des fragmentierten party-state, um lokal Interessen durchzu-setzen.

Auch im städtischen Raum gewinnen Proteste einen neuen Charakter. In den1980er und 90er Jahren appellierten Arbeiter, die ihren Arbeitsplatz verloren hatten,an den gesellschaftlichen Wert einer »Moralwirtschaft« (moral economy), an beste-hende soziale Normen und forderten Gerechtigkeit. Die kalte Privatisierung vonStaatsbetrieben14 durch geschickte Manager, die entweder Staats- in privates Eigen-tum verwandeln, indem sie die Vermögenswerte eines Unternehmens bei weitem zuniedrig veranschlagen oder veranschlagen lassen, oder private Firmen gründen, indie sie staatliche Vermögenswerte transferieren, führen zunehmend zu Protestenunter Belegschaften. Häufig sind damit Schließungen von Unternehmensteilberei-chen, Massenentlassungen und die Unterschlagung von Abfindungen für die Be-schäftigten durch Funktionäre verbunden. Auch unter der Arbeiterschaft wächstdas Moment des o.g. »Rightful Resistance«: Da die politische Führung sich nachwie vor verbal gegen eine »Privatisierung« ausspricht, die sich de facto jedoch seitlangem vollzieht,15 nutzen die Arbeiter das Lippenbekenntnis der Führung zum So-zialismus und wehren sich im Namen politischer Richtlinien gegen die schleichendeUnterhöhlung des Staatseigentums, das immer noch als »Volkseigentum« gilt. DieVerschlechterung der Arbeitsbedingungen bringt die Belegschaften zugleich in eineoppositionelle Haltung gegenüber den privaten Eignern. Deren ausbeuterischesVerhalten bewirkt, dass die Arbeiterschaft sie zunehmend mit »Kapitalisten« identi-fiziert. Bei ihren Protesten berufen sich die Arbeiter auf Aussagen von Parteifüh-rern bzw. offizielle Parteidokumente, in denen es heißt, Privatisierung sei abzuleh-nen und die Rechte der Arbeiter müssten geschützt werden.16 Chen schildert die

12 Jianrong Yu, »Social Conflict in Rural China Today: Observations and Analysis on Far-mers‹ Struggles to Safeguard Their Rights« in: Social Sciences in China, Autumn (2005),S. 125-136.

13 Kevin O’Brien, »Rightful Resistance« in: World Politics, 49 (October) (1996), S. 31-55;Kevin O’Brien / Lianjiang Li, Rightful Resistance in Rural China, Cambridge 2006.

14 Kalte Privatisierung steht hier für einen schleichenden Privatisierungsprozess, bei demder Staat keine geeigneten Maßnahmen dagegen ergreift.

15 Thomas Heberer, Private Entrepreneurs in China and Vietnam. Social and PoliticalFunctioning of Strategic Groups, Leiden 2003, S. 11ff.

16 Feng Chen, »Privatization and Its Discontents« in Chinese Factories, in: The ChinaQuarterly, March 2006, S. 42-60.

04_Heberer Seite 166 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 48: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Thomas Heberer · Institutionelle Defizite gefährden Chinas soz. u. pol. Stabilität 167

Besetzung einer heimlich privatisierten Fabrik durch Arbeiter unter der Losung»Reform erlaubt nicht Privatisierung«.17

Unter den Bedingungen wachsender ländlicher und urbaner Proteste bei gleich-zeitigen institutionellen Defiziten ist ein starker Staat gefragt, um den zentrifugalenKräften gegensteuern zu können. Die politische Führung versucht, soziale Konflik-te in Stadt und Land durch politische Maßnahmen abzufedern. Was den ländlichenRaum anbelangt, so wurde bereits 2004 der »Bauernfrage«, d.h. der Lösung ländli-cher Probleme und Entwicklung Priorität eingeräumt. Es wurden Maßnahmen er-griffen, um die Einkommen der Bauern zu erhöhen (u.a. durch Abschaffung derAgrarsteuern) und der Umwidmung und dem illegalen Verkauf von Boden18 Einhaltzu gebieten. Der im Frühjahr 2006 vom Parlament verabschiedete 11. Fünfjahrplansieht u.a. vor, dass die Schulgebühren für Kinder im ländlichen Raum abgeschafftund bis zum Jahre 2010 wieder nahezu flächendeckend ein genossenschaftliches Ge-sundheitswesen auf dem Land eingeführt werden soll, an dem sich der Zentralstaat,die Provinzen, Städte und Kreise finanziell beteiligen sollen. Die Städte wurden inNachbarschaftsviertel reorganisiert, die sich bürgernah um die Belange der sozialSchwachen kümmern und Vorsorge gegen soziale Unsicherheit und Überalterungtreffen sollen.19 Sozialhilfe wurde eingeführt und die neuen Nachbarschaftsviertelsollen auf »Bürgerebene« soziale Lösungen suchen: Sie sind nunmehr für die sozialSchwachen, für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Umschulung u.a. andere sozialeFragen zuständig.20 Zudem hat China erklärt, es werde in den kommenden fünf Jah-ren die Arbeitssicherheit im Land mit ca. 50 Mrd. Euro verbessern.21

»Harmonische« Gesellschaft?

Neue Grundlage für Stabilität soll das Konzept der »harmonischen Gesellschaft«bilden, das erstmals auf einer Plenarsitzung des Zentralkomitees im September 2004vorgetragen und von Ministerpräsident Wen Jiabao in seinem Rechenschaftsberichtan den Nationalen Volkskongress im Februar 2005 erläutert wurde. Demokratie,rule of law,22 Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit (im Gegensatz zu Korruption) und sozi-

17 AaO., S. 54.18 Landenteignungen durch lokale Behörden stellen den Hauptfaktor für Petitionen in

China dar, vgl. Renmin Ribao unter http://english.people.com.cn/200701/30/eng20070130_346166.html (aufgerufen am 5.2.07).

19 Thomas Heberer, »Soziale Sicherung und Sozialhilfe: Schritte zur Harmonisierung derGesellschaft im gegenwärtigen China« in: China Heute, 4-5 (2005), S. 152-160; Heberer,»Institutional Change and Legitimacy via Urban Elections? People’s Awareness ofElections and Participation in Urban Neighbourhoods« aaO. (FN 10)

20 Heberer, »Soziale Sicherung und Sozialhilfe: Schritte zur Harmonisierung der Gesell-schaft im gegenwärtigen China« aaO. (FN 19).

21 Renmin Ribao 9.11.06.22 Wir verwenden hier den englischen Begriff, weil rule of law nicht dem deutschen

Begriff »Rechtsstaat« entspricht (obwohl es in der Regel so übersetzt wird), sonderneher dem Begriff der »Herrschaft mit Hilfe des Rechts«.

04_Heberer Seite 167 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 49: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Thomas Heberer · Institutionelle Defizite gefährden Chinas soz. u. pol. Stabilität168

aler Ausgleich soll diese Gesellschaft auszeichnen. Parteichef Hu Jintao hat das imJuni 2005 präzisiert: Aufbau einer »geistigen Moral«, korrekte Behandlung der Wi-dersprüche im Volk, Verstärkung des ökologischen und Umweltaufbaus, good go-vernance und soziale Stabilität nannte er als weitere Faktoren.23

Im Prinzip geht es um die Frage, auf welche Weise gesellschaftliche Widersprüchegelöst sowie die Ursachen dieser Widersprüche aufgehoben und gesellschaftlicheStabilität erreicht werden können. Dies soll durch Schaffung einer soliden ökono-mischen Grundlage, einer neuen Moral, die Herstellung ökonomischer und sozialerGerechtigkeit, ein funktionierendes Rechtssystem und die kontinuierliche Anhe-bung des Bildungsstandards erreicht werden.24 Im Rahmen dieses Konzeptes sollen– wie der Soziologe Hang Lin betont hat – die Mittelschicht verbreitert, die Zahl derAngehörigen unterer Einkommensgruppen verringert und Korruption bekämpftwerden.25

Dieses neue gesellschaftspolitische Ziel bedeutet nicht nur ein Eingeständnis, dassdie Gesellschaft sich in einem sozial konfliktären Zustand befindet. Es ersetzt auchdas Ziel des »Kommunismus« durch das jahrtausendealte chinesische Idealbild einerharmonischen Großen Gemeinschaft. Begleitet wird diese Zielsetzung von demstaatlichen Bemühen, ein neues Wertesystem zu etablieren, das Fragen von Gleich-heit, Gerechtigkeit und Bürgersinn in den Mittelpunkt rückt. Eine harmonische Ge-sellschaft soll Kontrast zu einer neoliberalen Marktgesellschaft sein, wobei die Letz-tere durch Maximierung von Profit, übermäßigen Konsum und Umweltzerstörunggekennzeichnet sei. Im Rahmen dieses Konzeptes soll dem Umweltschutz und -be-wusstsein auch auf der Bürgerebene mehr Raum gegeben werden (chinesischeAgenda 21). Bei uns wenig wahrgenommen, entwerfen Denkfabriken und NGOsbereits entsprechende Konzepte, die mittelfristig zu Veränderungen im politischenDenken und Gefüge Chinas führen sollen.

Staat als Entwicklungsmotor

Der Staat fungiert seit den 1980er Jahren als das, was die Entwicklungspolitik imUnterschied zum Begriff des »Entwicklungslandes« »developmental state« oderEntwicklungsstaat nennt. Solche (autoritären) Staaten zeichnen sich durch einenstarken Willen zur ökonomischen Entwicklung aus und handeln zielgerichtet. Süd-korea, Taiwan, Singapur oder Malaysia sind Beispiele dafür. Entwicklungsstaatenwissen zugleich, wann Politikwechsel eingeleitet werden müssen. Bezogen auf Chi-

23 Vgl. Renmin Ribao, 27.6.05 und 8.5.06.24 Wei Qiang, »Zuohao weihu wending gongzuo, cujin hexie shehui jianshe« (Die Arbeit

zur Bewahrung von Stabilität und Förderung einer harmonischen Gesellschaft gutdurchführen) in: Renmin Ribao, 23.12.2004; verschiedene Beiträge dazu im Rahmen derDiskussion über den Rechenschaftsbericht der Regierung an den Nationalen Volkskon-gress im März 2005, Renmin Ribao, 7-9.3. 03.

25 Weiping Wang / Lin Zhu, China aims at harmonious society (Internetversion), aufgeru-fen am 17.12.2004 unter http://news.xinhuanet.com/english/2004-12/17/content_2348778.htm; Renmin Ribao, 9.3.05.

04_Heberer Seite 168 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 50: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Thomas Heberer · Institutionelle Defizite gefährden Chinas soz. u. pol. Stabilität 169

na erklärt dies nicht nur den institutionellen Wandel von einer Plan- zu einerMarktwirtschaft, sondern auch die Aufgabe des Klassencharakters der Partei Endeder 90er Jahre, die verfassungsmäßig inzwischen nicht mehr die Interessen einerKlasse, sondern die des ganzen chinesischen Volkes vertritt.26 Dieser Wandel desCharakters der Partei ist im Westen nur unzureichend wahrgenommen worden.

Entwicklungsstaaten werden zugleich als lernende Staaten definiert: Sie lernen –auch institutionell – aus vergangenen Fehlern und leiten entsprechende Kursände-rungen ein. So hat der chinesische Staat gelernt, dass privates Wirtschaften erfolgrei-cher als staatliches ist, Ideologie Entwicklung behindert, Verrechtlichung die Ge-sellschaft stabilisieren hilft. Ein wesentliches Merkmal der politischen KulturChinas ist politischem Richtungswechsel förderlich: politischer Pragmatismus.Überkommene Strukturen und Ideologien werden aufgegeben, wenn sie der Ent-wicklung von Staat und Gesellschaft entgegenstehen.

Der Umbau eines so riesigen Landes kann nur mit Bedacht erfolgen. Den Men-schen ist primär an der Erhöhung ihres Lebensstandards, an politischer Stabilitätund sozialer Sicherheit gelegen. Diesem Sicherheitsgefühl, nicht zuletzt eine Folgeder permanenten Umbrüche der Mao-Zeit, versucht der Staat Rechnung zu tragen,indem er einerseits soziale Stabilität zu erzwingen und soziale Konfliktaustragungzum Teil mit autoritären Methoden zu unterbinden trachtet; andererseits bemüht ersich um institutional engineering, indem er versucht, von oben Strukturen durchzu-setzen, durch die sich kontrolliert Wandel herbeiführen lässt. So war der Beitritt zurWTO nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Maßnahme, dieden Fortgang der Marktwirtschaft, die Reform des Staatssektors und den Umbauder Verwaltungsstrukturen beschleunigen soll. Innenpolitisch verdeutlichen Maß-nahmen wie materielle Anreize für lokale Funktionäre, die lokale Wirtschaft anzu-kurbeln, die Förderung des Privatsektors in den 80er und 90er Jahren, Bestrebungeneiner Verrechtlichung, die Einführung von Basiswahlen in den Dörfern und Nach-barschaftsvierteln oder die Zulassung von Vereinigungen und nicht-staatlichen Or-ganisationen, wie der Staat durch von oben eingeleitete Strukturreformen institutio-nelle Entwicklungen erst ermöglicht oder erleichtert hat.

Staat – Gesellschaft

Gleichwohl ist der Staat nicht alleiniger Akteur. Zum einen ist er fragmentiert,denn er unterteilt sich in unterschiedliche Interessengruppen (Ministerien, Zentral-,Provinz- und Lokalbehörden), die nicht immer im Gleichklang arbeiten. Die größe-re Selbständigkeit für Landkreise und Städte bewirkte, dass diese zunehmend eineeigene Interessenpolitik verfolgen und die Politik der zentralen Führung nicht mehroder nur noch halbherzig durchführen. Viele der gegenwärtigen Probleme wie die

26 Nach den sog. »Drei Vertretungen« repräsentiert die Kommunistische Partei Chinas diefortgeschrittenen Produktivkräfte, die fortgeschrittene Kultur Chinas sowie dasgesamte chinesische Volk.

04_Heberer Seite 169 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 51: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Thomas Heberer · Institutionelle Defizite gefährden Chinas soz. u. pol. Stabilität170

Verfolgung lokaler Fürsprecher entrechteter Bevölkerungsgruppen, diktatorischeDorfverhältnisse, Bergwerksunglücke, Organhandel oder Fälschungen von Mar-kenprodukten im Windschatten der Interessen lokaler Funktionäre sind keineswegseinfach zentral beschlossene staatliche Politik, sondern dienen häufig den Interessenlokaler Funktionäre.

Zugleich entstehen Ansätze einer öffentlichen Sphäre und damit einer öffentli-chen Meinung, u.a. durch das Internet. Ende 2006 soll es bereits über 137 Mio. In-ternetnutzer gegeben haben. Auch wenn nur ein Teil das Netz zur Informationsge-winnung und –verbreitung nutzt. Eine kritische Öffentlichkeit beginnt sichherauszubilden, wobei Internetnutzer Informationen über soziale Ungerechtigkei-ten, vertuschte lokale Katastrophen, Straftaten oder Korruptionsfälle aufgreifen, In-formationen verbreiten und zur Diskussion stellen. Der chinesische Politologe WuQiang spricht sogar von »e-social movements«, einer vom Internet getragenen sozi-alen Bewegung. Mittlerweile hätten sich organisierte Formen der Interessendurch-setzung herausgebildet, die z.B. Online-Petitionen veröffentlichten und einreichten.Überdies bildeten sich seit Mitte der 90er Jahre autonome virtuelle NGOs im Inter-net heraus, die Online-Kongresse und Online-Partys organisieren.27

Allerdings besitzt das Internet nicht per se politisch-öffentlichen oder gar sys-temkritischen Charakter. Einer Untersuchung des China Internet Network Infor-mation Center (CNNIC) von 2003 zufolge nutzten 46,2% das Netz aus Gründender Informationsgewinnung, 32,2% aus Unterhaltungsgründen.28 Selbst chinesischeUntersuchungen weisen mittlerweile auf negative Faktoren hin wie Internetnatio-nalismus, Gewaltspiele oder Pornographie.29 Von daher lässt sich in Bezug auf diepolitische Funktion des Internets keineswegs auf einen technologischen Determi-nismus im Sinne einer systemverändernden Funktion schließen. Das Internetschafft neue Möglichkeiten für die Bürger im Sinne von Transparenz, Partizipationund Gesellschaftskritik. Aber es ist nicht per se Instrument des Systemwandels.

Zwar versucht der Staat das Internet zu kontrollieren, blockiert er immer wiedergesellschaftspolitische Diskussionen und systemkritische ausländische Websites.

27 Caroline M. Cooper, »This is Our Way In: The Civil Society of Environmental NGOsin South-West China« in: Government and Opposition 1 (2006), S. 109-136, S. 123ff.;Qiang Wu (2004), From virtual community to real society: An online interrogation ofeforum-based civic associations in China (unveröffentlichtes Manuskript); dazu auch:Guobin Yang, »The Internet and Emerging Civil Society in China«, in: Suisheng Zhao(ed.), Debating Political Reform in China. Rule of Law vs. Democratization, Armonk,London 2006, S. 196-214.

28 China Internet Network Information Center (CNNIC), 13th Statistical Survey on theInternet Development in China, 2004, http://www.cnnic.net.cn/download/manual/en-reports/13.pdf, abgerufen am 3.1.07; mehr zum Internet-Verhalten vgl. die Studie vonLiang Guo / Wei Bu, »Internet Use in China – A Comparative Analysis«, in: JunhuaZhang / Martin Woesler (Hg.), China’s Digital Dream: The Impact of the Internet onChinese Society, Bochum 2003, S. 121-144.

29 Jun Wang, »Shixi dangdai Zhongguo de wangluo minzuzhuyi« (Testanalyse des gegen-wärtigen Internetnationalismus‹ in China) in: Shijie jingji yu zhengzhi, 2 (2006), S. 22-29.

04_Heberer Seite 170 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 52: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Thomas Heberer · Institutionelle Defizite gefährden Chinas soz. u. pol. Stabilität 171

Auch verhaftet er zu Abschreckungszwecken von Zeit zu Zeit Cyber-Dissidenten.Die Grundstimmung der Internetnutzer und die gesellschaftspolitischen Debattenlassen sich dadurch nicht eindämmen. Der Staat muss daher zunehmend Rücksichtauf gesellschaftliche Meinungen und Stimmungen nehmen.

In einer sich differenzierenden Gesellschaft kann ein Staat nicht mehr alles vonoben organisieren. Der Umbau der Gesellschaft und die Lösung sozialer Problemeverlangen zunehmend das, was bei uns »Bürgerbeteiligung« genannt wird. So hateine vom Ministerium für Zivilverwaltung herausgegebene Zeitschrift argumentiert,aus Bewohnern müssten »Bürger« werden, die sich ihre Leitungen selbst wähltenund kontrollierten und sich selbstbewusst an den Angelegenheiten in ihren Dörfernund Wohnvierteln beteiligten.30 Bürger und Bürgersinn erfordern – neben Bürger-rechten – Bereitschaft zur Mitgestaltung des Gemeinwesens (Partizipation) undEinsatz für Mitbürger (Bürgersinn). Beides verlangt Partizipationsbereitschaft und -fähigkeit, zivilisatorische Kompetenz, die einerseits erlernt werden muss, anderer-seits Informationen und Wissen voraussetzt. Doch auch wenn die Menschen sich –vor allem im städtischen Raum – gegenwärtig von »Massen« zu »Bürgern« zu ent-wickeln beginnen, wobei Massen ein politischer, Bürger ein rechtlicher Begriff ist:Der Grad an Bürger- und Gemeinsinn ist immer noch gering. Während in westli-chen Gesellschaften 35-40% der Bevölkerung in freiwillige oder (ehrenamtliche)Tätigkeiten involviert sind, engagieren sich in China gegenwärtig nur ca. 3%.31 Ei-nerseits hat dies historische Gründe, da anders als in christlich geprägten Gesell-schaften, in denen der Gedanke der Nächstenliebe und Barmherzigkeit eine großeRolle spielte, das Mitempfinden mit Personen außerhalb unmittelbarer Bezugsgrup-pen (Clan, Familie, Dorf) eher gering war. Bereits in den 1930er Jahren beklagte derPhilosoph Lin Yutang entsprechend das Fehlen einer sozialen Gesinnung. Familien-sinn sei für Chinesen zentral, nicht Gemeinsinn. Von daher sei dem chinesischenDenken das Konzept der Gesellschaft fremd.32 Zum zweiten führten Modernisie-rungsprozesse zum Zerfall traditionaler Gemeinschaften und Werte und damit zueiner Zunahme individualistischer Verhaltensweisen. Und schließlich fehlen bislangInstitutionen, die einer freiwilligen sozialen Betätigung förderlich sein könnten wierechtliche Sicherheit, ein nicht-korruptes Beamtensystem und ein Wertesystem, indem unentgeltlicher Einsatz für Mitmenschen ein hohes Gut darstellt; dies behin-dert die Ausbildung zivilisatorischer Kompetenz im Sinne von Bürgerpflichten, ei-nes Bürger- und Gemeinsinns.

Da sich differenzierende Gesellschaften aber auf Freiwillige, die sich in sozialenFeldern engagieren, angewiesen sind, versucht der Staat unter den Bedingungen in-stitutionellen Defizits Freiwillige zu mobilisieren. So sollen zunächst Parteimitglie-der und Studenten als sozial Freiwillige fungieren und als Vorbilder, an denen sichandere Gesellschaftsmitglieder orientieren sollen. Wo institutionelle Strukturen der

30 Weidong Chen, »Min ping guan: rang jumin chengwei gongmin« (Bürger beurteilenBeamte: lasst aus Bewohnern Bürger werden) in: Shequ (Community), 2-4 (2004), S. 11.

31 Renmin Ribao, 17.7.06.32 Yutang Lin, Mein Land und mein Volk, Stuttgart o.J, S. 217ff.

04_Heberer Seite 171 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 53: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Thomas Heberer · Institutionelle Defizite gefährden Chinas soz. u. pol. Stabilität172

Freiwilligkeit nicht gegeben sind, versucht der Staat als sozialer Architekt sie vonoben zu initiieren: durch Mobilisierung von Freiwilligen, die in Vereinen zusam-mengefasst und denen feste soziale Aufgabenfelder zugewiesen werden. Dies bildetTeil eines staatlichen Programms zur Erziehung und Heranbildung von Freiwilli-gen.33

Wachsende Umweltbewegung

Über die katastrophale Umweltlage ist viel publiziert worden, so dass wir unsEinzelheiten darüber ersparen.34 Es ist in den letzten Jahren immer deutlicher ge-worden, dass der Staat auch beim Umweltschutz zunehmend die Gesellschaftbraucht. In China schälen sich mittlerweile Konturen einer Umweltbewegung her-aus. Ausgangspunkt sind die großen Städte, aber auch von sichtbaren ökologischenKrisen betroffene Gebiete. Im Jahre 2005 sollen über 2.000 nicht-staatliche Um-weltorganisationen existiert haben, eine erstaunliche Zahl, wenn man bedenkt, dasses sie erst seit den 1990er Jahren gibt. Auch wenn sie aufgrund der politischenStrukturen noch fragmentiert und häufig lokal orientiert sein mögen, so leisten siedoch wichtige Beiträge zum Umweltschutz. Zugleich ist seit den 90er Jahren einegroße Vielfalt sozialer Organisationen und Stiftungen entstanden, die sich u.a. fürbedrohte Tierarten, soziale Randgruppen, Aidskranke, Drogenabhängige, ethnischeMinderheiten, die Erhaltung von Kulturgütern und Landschaften oder den Ver-braucherschutz engagieren. Erfolgreich agierten in den letzten Jahren u.a. Initiati-ven gegen Wasserkraftwerke in der Provinz Yunnan, eine Initiative gegen die Verle-gung des Pekinger Zoos oder eine Bewegung »Klimaanlage 26 Grad« (zurEindämmung der Energieverschwendung durch Klimaanlagen), um nur einige Bei-spiele zu nennen.35 Solange nicht explizit politische oder politisch brisante Zieleverfolgt werden, unterstützt der Staat (in der Regel der Zentralstaat) solche Initiati-ven, weil sie auf lokaler Ebene Fragen aufgreifen, die der Staat nicht zu lösen ver-mag. Gleichwohl geraten solche Vereine häufig in Konflikt mit lokalen Behörden,wenn sie Probleme aufgreifen, die die Pfründe oder Interessen lokaler Behördenoder Funktionäre beeinträchtigen. Immerhin hat im Mai 2006 die Parteizeitung»Renmin Ribao« hervorgehoben, dass ohne öffentliche Partizipation der Bürger derUmweltschutz nicht zu verbessern sei,36 eine Aussage, die zu aktiver Bürgerbeteili-gung ermuntert.

33 Thomas Heberer / Gunter Schubert, Von »Massen« zu Bürgern? Politische Partizipa-tion und Regimelegitimität in der VR China, Bd. 1: Der urbane Raum, Wiesbaden 2007(in Druck).

34 Elizabeth Economy, The River Runs Black: The Environmental Challenge to China’sFuture, Ithaca/New York 2005; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.01.07, S. 12

35 http://www.chinadevelopmentbrief.com/mode/157 aufgerufen am 02.06.200636 Renmin Ribao, 18.05.2006

04_Heberer Seite 172 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 54: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Thomas Heberer · Institutionelle Defizite gefährden Chinas soz. u. pol. Stabilität 173

Kritische Stimmen fordern institutionellen Wandel

Seit Jahren fordern parteinahe Intellektuelle und Think Tanks institutionellenWandel und einen Wandel politischer Strukturen.37 Dabei gehen kritische Stimmenin ihren Wandlungsvorstellungen relativ weit. Auf einer Tagung von hochrangigenWissenschaftlern und Funktionären im März 2006 in Peking z.B., die der Beratungder chinesischen Führung dienen sollte, äußerten sich Regierungsberater höchst kri-tisch. Die Kritik richtete sich u.a. gegen den »schleichenden Kapitalismus« in China.Die wachsende politische und gesellschaftliche Instabilität sei ohne echte »Rechts-herrschaft« und deutliche Ausweitung der Partizipation der einfachen Bürger nichteinzudämmen. Li Shuguang von der Chinesischen Universität für Politik und Rechterklärte, die Wirtschaftsreformen seien weitgehend abgeschlossen, nunmehr bedür-fe es einer tiefgehenden Reform des Rechtssystems sowie politischer Reformen. DerJurist He Weifang (Peking-Universität) konstatierte, die Struktur der Parteiherr-schaft verstoße gegen die Verfassung, da die Partei von der Kontrolle durch die Ver-fassung ausgenommen werde. Er votierte für die Aufspaltung der Partei in verschie-dene Parteien, für Pressefreiheit und die Abschaffung der Parteikontrolle über dieStreitkräfte.38 Bei chinesischen Umfragen in den letzten Jahren hat eine wachsendeZahl von Funktionären auf der Provinzebene sich ebenfalls für die vorrangigeDurchführung von Reformen des politischen Systems ausgesprochen.

Wichtig ist gleichwohl, dass bislang kein einheitliches Konzept für politische Re-formen existiert. Drei grundlegende Positionen lassen sich unterscheiden: (a) da esunterschiedliche Interessen im Hinblick auf solche Reformen gebe, sollten eine ge-ordnete Wirtschaftsentwicklung und die Schaffung geeigneter Institutionen für die-se Entwicklung im Vordergrund stehen; (b) sofortige politische Reformen seien er-forderlich, um wirtschaftliche Stagnation zu verhindern und Korruptioneinzudämmen; (c) eine erfolgreiche Marktwirtschaft sei Voraussetzung für politi-sche Reformen und Demokratisierung und Demokratisierung der Partei müsse derDemokratisierung der Gesellschaft vorausgehen. Jüngere Intellektuelle sprechenauch von einer »schleichenden Demokratisierung« (incremental democratization),die sich auf Grund des ökonomischen Umbaus und des damit verbundenen sozialenWandel quasi spontan vollziehe.39 Die Vertreter dieser Auffassung berufen sich u.a.auf Adam Przeworskis Theorie der minimal democracy, d.h. einer graduellen Aus-weitung von Partizipation und politischer Transparenz ohne negative Auswirkun-

37 Heberer / Schubert, »Political Reform and Regime Legitimacy in ContemporaryChina« aaO. (FN 2); Nora Sausmikat, »The Impact of Discourses, Institutional Affilia-tion and Networks among New and Old Elites for Political Reform in China« in: Clau-dia Derichs / Thomas Heberer (Hg.), The Power of Ideas. Intellectual Input andPolitical Change in East and Southeast Asia, Copenhagen 2006, S. 276-299.

38 http://hp1995.com/ShowArticle.asp?ArticleID=61.39 Keping Yu, »Toward an Incremental Democracy and Governance: Chinese Theories and

Assessment Criteria« Project Discussion Paper No. 3 (Orange Series: Discourses on Politi-cal Reform and Democratization in East and Southeast Asia in the Light of New Proces-ses of Regional Community Building), Duisburg: Institute of East Asian Studies 2000.

04_Heberer Seite 173 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 55: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Thomas Heberer · Institutionelle Defizite gefährden Chinas soz. u. pol. Stabilität174

gen auf die politische Stabilität.40 Regierungsberater Zheng Bijian sprach von ca. 25Jahren, bis das große Ziel «demokratischer Politik« erreicht werden könne.41

In China wird die gegenwärtige Entwicklung also durchaus kritisch und kontroversdiskutiert. Die Lage der Unterschichten, wachsende Ungleichheit, Rechtlosigkeit dersozial Schwachen, Ursachen der Korruption, die Frage der Unabhängigkeit des Rechts-wesens oder die Abschaffung der Todesstrafe sind nur einige von vielen Themen, diemittlerweile auch in Teilen der Öffentlichkeit diskutiert werden. Stimmen nach Eindäm-mung frühkapitalistischer Phänomene und Abbau sozialer Ungleichheit werden lauter.

Die Kritik erfasst auch die offiziellen Wirtschaftsstatistiken. So äußerte selbst dieParteizeitung im August 2006 Zweifel an den hohen ökonomischen Wachstumszah-len. Nicht nur verfügen die Landkreise über zwei Statistiksätze: einen, der an dienächst höhere Verwaltungsebene weitergereicht wird und geschönt ist und einen in-ternen, der den wahren Sachverhalt wiedergibt. Häufig erklären sich hohe Wachs-tumsraten auch durch ein enormes Maß an Verschwendung im Energie- und Mate-rialsektor. Das Blatt fragte, weshalb auch in Regionen mit kontinuierlich hohenWachstumszahlen viele Menschen noch in tiefer Armut lebten.42

Massive Kritik gibt es auch an dem im Ausland oftmals überschätzten Bildungs-sektor. So zeichnete ein Bericht über ein Forum chinesischer Universitätspräsidentenim Sommer 2006 ein desolates Bild von der chinesischen Hochschullandschaft: kor-rupt, wenig qualifizierte Hochschullehrer, weite Verbreitung von Plagiarismus imwissenschaftlichen Publikationswesen, praxisferne Ausbildung.43 Junge Wissen-schaftler kritisierten in einer populären Zeitschrift Misserfolg und Darniederliegendes Bildungssektors. Ausbildungsmethoden und –inhalte seien veraltet, Studierendewürden zum Nachahmen erzogen und nicht zu selbständigem Denken; sinnlose Prü-fungen orientierten die Studierenden nicht auf den Erwerb von Bildung und Wissen,sondern förderten das Auswendiglernen von Prüfungsstoff, der danach rasch wiedervergessen werde. Dem Erziehungsministerium warfen sie vor, die dramatische Quali-tätsverschlechterung hinter falschen Erfolgsphrasen zu kaschieren.44 Hochschulabso-venten finden auf Grund praxisferner Ausbildung kaum noch eine Anstellung.

40 See e.g. Guogang Wu, From Partial Liberty to Minimal Democracy: The PoliticalAgenda of Post-Mao Reform, Paper Presented to the international Conference »TheResponses of Intellectuals to the Challenges of the 21st Century in China and EasternEurope – A comparative Approach«, Hong Kong 15. – 16. Dezember 2000; mehr überdiese Debatte: Heberer / Schubert, »Political Reform and Regime Legitimacy in Con-temporary China« aaO. (FN 2).

41 Bijian Zheng, »China’s Peaceful Rise to Great-Power Status« in: Foreign Affairs, 18(Sept./Oct.) (2005) , S. 18-24; Bijian Zheng, »Zhongguo gongchandang zai 21 shiji dezouxiang« (Entwicklungsrichtung der chinesischen kommunistischen Partei im 21.Jhdt.), in: Renmin Ribao, 22.11.2005.

42 Renmin Ribao 1.8.06.43 Vgl. Renmin Ribao Onlinedienst, 15.7.07 (http://english.people.com.cn//200607/15/

engl20060715_283320.html), aufgerufen am 29.12.06.44 Wei Huang, »Daxue de shibai xuanyan« (Manifest des Scheiterns der Hochschulen), in:

Quanheng (Pro und contra), 9 (2006), S. 23-24; Zhizhu Yang, »Zhongguo daxue bingxi-ang« (Krankheitssymptome chinesischer Hochschulen) in: Quanheng (Pro und contra),9 (2006), S. 25-31.

04_Heberer Seite 174 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 56: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Thomas Heberer · Institutionelle Defizite gefährden Chinas soz. u. pol. Stabilität 175

In diese Klagen reiht sich der Beitrag einer chinesischen Tageszeitung im Oktober2006 ein, mit der Überschrift »Auch wenn die Professoren nicht zum Unterricht er-scheinen, ist es den Studenten verboten, sie zu verprügeln«. Professoren jagten vor-nehmlich Nebenverdienst außerhalb der Hochschulen nach und überließen die Lastder Lehre den Jüngeren.45 An den Schulen wiederum unterliegen nicht nur dieSchüler einem gnadenlosen Leistungsdruck (Schulzeiten von 7 bis 22 Uhr, Aufbes-serungskurse am Wochenende und in den Ferien). Das gesellschaftliche Verlangennach höherer Bildung bewirkt, dass Eltern und Schüler auch auf die Lehrer einenenormen Druck ausüben. Die Parteizeitung meldete im November 2006, eine Un-tersuchung in der Provinzhauptstadt Wuhan habe ergeben, dass 80% der Grund-schullehrerinnen krank seien und 40% an psychischen Störungen litten.46

Fazit

Die sozialen Probleme und Verwerfungen, denen sich China gegenübersieht, sindgewaltig. Auch in den kommenden Jahrzehnten wird das Land noch primär mit sei-ner inneren Entwicklung beschäftigt sein. Die Zahl lokaler Unruhen wächst, weilkeine Kanäle für die Artikulation von Unzufriedenheit vorhanden sind. Das betrifftvor allem die Landbevölkerung, die von lokalen Funktionären zum Teil rücksichts-los ausgebeutet wird. Immer deutlicher wird, dass das politische System nur überle-ben kann, wenn es die dringenden gesellschaftlichen und politischen Probleme zulösen vermag (Sicherstellung politischer Stabilität, Verbesserung der Lebens- undUmweltbedingungen, soziale und öffentliche Sicherheit, zunehmende politische Li-beralisierung und Rechtssicherheit). In einer komplexen und sich zunehmend diffe-renzierenden Gesellschaft reicht es nicht aus, wenn die politische Führung versucht,Entscheidungen vertikal, hierarchisch und autoritär durchzusetzen. ZunehmendeKlagen, dass die unteren Verwaltungsebenen (Provinzen, Städte und Kreise) zentralbeschlossene Politik nicht mehr durchführen, komplettiert diese Problematik. Esbedarf der Zulassung einer »Öffentlichkeit«, die nicht nur für Transparenz und grö-ßere gesellschaftliche Kontrolle sorgt, sondern auf lokaler Ebene auch partizipativmitgestalten kann. Partizipation ist dabei nicht mehr nur ein Mittel zur Verbesse-rung der Qualität politischer Beschlüsse und ihrer Umsetzung, sondern auch einMittel zur Konfliktreduzierung.

Kehren wir zu den fünf zentralen Herausforderungen für Stabilität von Merkelzurück, die wir eingangs vorgestellt haben: politische und gesellschaftliche Integra-tion; Mobilisierung von Ressourcen; Beziehungen mit anderen Staaten auf der Basisfriedlicher Regelungen; politische Partizipation der Bevölkerung; sozial relativ ge-rechte Verteilung des Sozialproduktes durch staatliche Umverteilungsmaßnahmen.Im Hinblick auf Ressourcenmobilisierung im Interesse wirtschaftlichen Auf-schwungs und der ökonomischen Besserstellung großer Teile vor allem der Stadtbe-

45 Xinjing Bao, 11.10.06.46 Renmin Ribao, 14.1.06 und 1.8.06.

04_Heberer Seite 175 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 57: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Thomas Heberer · Institutionelle Defizite gefährden Chinas soz. u. pol. Stabilität176

völkerung, im Hinblick auf friedliche Außenbeziehungen, graduell wachsende poli-tische Partizipation der Bevölkerung (durch Einführung von Basiswahlen in Stadtund Land, größere Möglichkeiten zu sozialer Partizipation in Verbänden, Vereinenund NGOs) lässt sich eine positive Bilanz ziehen. Was die politische und gesell-schaftliche Integration sowie eine gerechte Verteilung des Sozialprodukts anbelangt,so haben divergierende Faktoren (Anwachsen der Unterschiede und Einkommenzwischen Stadt und Land sowie innerhalb der städtischen und ländlichen Bevölke-rung) ebenso zugenommen wie andere Faktoren der Ungleichheit, etwa im Hin-blick auf die o.e. Bodenenteignungen durch lokale Behörden im ländlichen Raum,Arbeitsbeziehungen (Arbeiter-private Unternehmer) oder die Kommerzialisierungvon Bildung, Kultur und Werten. Wer keine ausreichenden Finanzquellen besitzt,dem bleiben Aufstieg, Bildung und Wohneigentum meist verwehrt. Von daher gibtes in China starke Faktoren der Instabilität, die nur durch eine Institutionalisierungvon Recht, ein höheres Maß an sozialer Gerechtigkeit, die Reduzierung von Kor-ruption und einen neuen Wertekanon verringert werden könnten.

Eine der Kernfragen der künftigen Entwicklung Chinas besteht darin, zivilisato-rische Kompetenz der Organisationen, Funktionäre und Bürger auszubilden undzu institutionalisieren. Es trifft immer noch weitgehend das zu, was der SoziologeFei Xiaotong bereits in den 1940er Jahren konstatiert hat: Dass die chinesische Ge-sellschaft von bäuerlichem Denken geprägt und damit eine rurale Gesellschaft sei.Eine solche Gesellschaft sei gekennzeichnet durch die Dominanz persönlicher Be-ziehungen (guanxi) im alltäglichen Leben, bäuerliche Moralvorstellungen, Selbstbe-zogenheit von Individuen und Gruppen, Familienegoismus, Dominanz des Ritualsgegenüber dem Recht, Seniorität, Priorität von Verwandtschaft und lokaler Her-kunft.47 Der rapide ökonomische und soziale Wandel hat die traditionellen Werteaufgeweicht, ohne dass neue, urban und bürgerlich geprägte Werte bereits an dieStelle der tradierten Werte und Verhaltensweisen getreten wären. Die enorme Rolle,die Gesellschaftsferne, fehlender Bürgersinn, soziale Beziehungen und Netzwerkeim Hinblick auf Korruption, mangelndes Rechtsbewusstsein, Streitkultur, Toleranzund Empathie bislang spielen, erschwert die Durchsetzung von Modernität ganz er-heblich. Die Bändigung des ungezügelten Kapitalismus durch zivilisatorische Kom-petenz ist von daher eine zentrale Aufgabe des chinesischen party-state.

Gleichwohl ist China keine politisch wandlungsresistente Diktatur mit einem imInnern und Äußeren rücksichtslos agierenden Staat, wie im Westen häufig behaup-tet wird. Vielmehr beginnt sich vor allem die städtische Gesellschaft allmählich ineine Richtung zu bewegen, in der graduell auch der Grad an Partizipation, rechtli-cher Sicherheit und individueller Autonomie (jedenfalls solange ein Individuumoder eine Gruppe nicht gegen das herrschende System aktiv wird) zunimmt. AufGrund der Problemfülle ist eine Prognose, wohin sich China in den kommendenJahrzehnten entwickeln wird, schwierig. Letzteres hängt primär von der innerenEntwicklung ab. Solange sich die Wirtschaft weiter erfolgreich entwickelt, das insti-tutional engineering im Sinne rechtlicher Sicherheit und sicherer Regelwerke ausge-

47 Xiaotong Fei, From the Soil, The Foundations of Chinese Society, Berkeley 1962.

04_Heberer Seite 176 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 58: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Thomas Heberer · Institutionelle Defizite gefährden Chinas soz. u. pol. Stabilität 177

baut wird und der Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung wächst, der Gradan Partizipation zunimmt und gesellschaftliche und politische Stabilität gewährleis-tet werden können, kann sich China zu einem zuverlässigen und berechenbarenPartner auch in der internationalen Politik entwickeln. Sollte dies scheitern, dannwären die Folgen für China, seine Bewohner und nicht zuletzt für die gesamte Weltdramatisch.

Sun Yat-sen (1866-1925), einer der einflussreichsten chinesischen Staatsmännerdes 20. Jahrhunderts, schrieb einmal, Menschlichkeit und Brüderlichkeit seien echtechinesische Tugenden. Chinesen müssten aber vom Ausland lernen, wie sie in dieTat umgesetzt werden könnten.48 Damit formulierte er ein Programm, das einerstrategischen und gleichberechtigten Partnerschaft zwischen China und Europaheute zugrunde gelegt werden kann. Auch wenn der Aufstieg Chinas zunehmendeine Herausforderung für den Westen darstellen mag: Einerseits müssen die Indus-triestaaten auf diese Herausforderung reagieren. Andererseits können dadurch neuePartnerschaften entstehen, die nicht nur den institutionellen Wandel in China be-gleiten, sondern auch in gemeinsamer Verantwortungsethik an der Lösung globalerProbleme arbeiten. So könnte etwa im Energiebereich im Rahmen einer europäisch-chinesischen Partnerschaft in eine neue Generation effizienter, CO2-armer Ener-gieinfrastrukturen investiert werden, die die Energiezufuhr ohne Verschärfung derKlimakatastrophe sicherstellt. Die strategische Partnerschaft der EU mit China soll-te entsprechend auch eine Energiepartnerschaft beinhalten.49

Eine aktive Politik der Einbindung Chinas in internationale Verantwortlichkeitenist eine zentrale politische Aufgabe der EU. Man überlege: Würde China zu einem»failing state«, einem gescheiterten, in innere Wirren verstrickter Staat mit den Fol-gen verheerender Hungersnöte und Massenflucht ins Ausland – ein solcher Staatstellte zweifellos eine globale Bedrohung dar. Chinas gegenwärtiger Wirtschaftsauf-stieg sollte von daher nicht als Bedrohung begriffen werden, sondern als Chance füreine neue Partnerschaft im Sinne Sun Yat-sens.

Eine strategische Partnerschaft – wie sie die EU vorsieht – erfordert somit, dassChina bei seinem Umbau weiterhin unterstützt und in internationale Diskussions-und Aushandlungsprozesse eingebunden wird. Europa sollte China dabei helfen,zivilisatorische Kompetenz auszubilden und international Verantwortung zu über-nehmen. Dann könnten China und Europa gemeinsam darangehen, im Sinne SunYat-sens der Menschlichkeit und Brüderlichkeit ein Programm zu geben. Der Lern-effekt für China würde dann darin bestehen, globale Probleme gemeinsam mit an-zupacken und zu lösen.

48 Yat-sen Sun, »Drei Grundlehren vom Volk: San min chu-i« in: Gottfried-Karl Kinder-mann (Hg.), Konfuzianismus, Sunyatsenismus und chinesischer Kommunismus, Frei-burg 1963, S. 90-119.

49 John Ashton, »Another Angle« in: E!SHARP, May-June (2006), http://www.e3g.org/images/uploads/another_angle_May_2006.pdf (aufgerufen am

31.12.06).

04_Heberer Seite 177 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 59: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Thomas Heberer · Institutionelle Defizite gefährden Chinas soz. u. pol. Stabilität178

Zusammenfassung

Zwar weist China gegenwärtig weltweit eine der höchsten Wirtschaftswachtums-raten auf, gleichwohl bleibt seine Entwicklung ambivalent. Seine Wirtschaftskraftwächst ebenso wie sein innerer Problemberg: wachsende soziale Ungleichheit, Um-weltkatastrophen, Korruption, Kaderwillkür und zunehmende soziale Proteste.Von daher stellt sich die Frage nach der Stabilität des politischen und gesellschaftli-chen Systems. Die politische Führung selbst betont immer wieder, dass Stabilität dieGrundvoraussetzung für weitere Entwicklung sei. Ohne Stabilität drohe ein syste-mischer Zusammenbruch. Dieser Beitrag verdeutlicht an den Beispielen innere Pro-bleme und gesellschaftliche Dynamik die Ambivalenz der gegenwärtigen Entwick-lung Chinas vor dem Hintergrund der Stabilitätsfrage. Er zeigt zunächst, dassChina nach wie vor als Entwicklungsland zu begreifen ist. Den wachsenden sozia-len Protesten versucht die chinesische Führung mit dem Konzept einer »harmoni-schen Gesellschaft« zu begegnen. Der party-state betätigt sich gleichwohl als Ent-wicklungsmotor, auch wenn die Rolle der Gesellschaft kontinuierlich wächst.Kritische Stimmen fordern eine schnelle Institutionalisierung vor allem von Rech-ten. Ein Fazit, das auch die Frage einer möglichen Rolle Europas im Institutionali-sierungsprozess Chinas aufwirft, rundet den Beitrag ab.

Summary

Currently, China exhibits one of the highest economic growth rates on a world-wide scale. Nevertheless, her development remains ambivalent. Both, her economicpower and her internal problems are growing. Social inequality, ecological calami-ties, corruption, arbitrariness of party and state officials and social protests are sig-nificantly increasing. Accordingly, the issue of the stability of the political and socialsystem arises. The political leadership constantly emphasizes that stability is theprincipal precondition for any further development and progress. Without stabilityChina might even face the collapse of her political system. By means of her internalproblems and social dynamics this paper examines the ambivalence of China's cur-rent development against the background of political and social stability. It revealsthat according to the standards of the World Bank China can still be conceived as adeveloping country. Recently, the political leadership has put forward the conceptof creating a »harmonious society« so as to encounter growing social protests. Al-beit the party-state is still functioning as the driving-force of development processesthe role of society is continuously gaining weight. Increasingly, critical voices (forinstance of intellectuals) are demanding a rapid institutionalization of legal rights. Inits conclusion the article discusses the possible role which Europe might play insuch a process of institutionalization.

Thomas Heberer, Institutional constraints put China's social and political stabilityat risk – China is still far off from becoming a superpower of the 21st century

04_Heberer Seite 178 Freitag, 1. Juni 2007 4:55 16

Page 60: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube

Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen in der VR China: Das Beispiel der Township Village Enterprises

I. Einleitung

Während des vergangenen Vierteljahrhunderts hat die VR China einen Prozess ra-dikalen institutionellen Wandels durchlaufen in dessen Zuge der bestehende zentral-verwaltungswirtschaftliche Ordnungsrahmen in einen (netzwerkorientierten) markt-wirtschaftlichen überführt worden ist. Festzuhalten ist, dass dieser – erfolgreiche –Transformationsprozess keinesfalls auf der Grundlage eines ex ante ausgearbeitetenMasterplans von statten ging.1 Im Gegenteil, in der Frühphase dieses Prozesses be-stand seitens der politischen Führung nicht im Geringsten die Absicht, die bestehen-de Zentralverwaltungswirtschaft in eine Marktwirtschaft zu überführen. Die beste-hende Ordnung sollte lediglich durch den partiellen Einbau von markorientiertenInstitutionen in ihrer (an Outputgrößen gemessenen) Leistungsfähigkeit gestärktwerden.2 Aus diesem originären Impuls entwickelte sich im Verlauf der Jahre eineDynamik institutionellen Wandels, die ihre Initiatoren letztlich mit sich riss. Die Ent-stehung eines als »marktwirtschaftlich« zu klassifizierendes Satzes von zu einanderkomplementären Institutionen ist von daher nicht das Ergebnis eines zentralstaatlichexekutierten Planes oder gar eines top-down orchestrierten »big bang« gewesen, indem mit einem Schlag das bestehende System »zentralverwaltungswirtschaftlicher«Institutionen mit einem neuen, in sich geschlossenen Satz von Institutionen ausge-tauscht wurde. Die chinesische »Marktwirtschaft« ist vielmehr über ein Vierteljahr-hundert hinweg langsam gewachsen. Dabei bildete die durch dezentrales Unterneh-mertum angestoßene kontinuierliche bottom-up Innovation der der Volkswirtschaftzugrunde liegenden institutionellen Arrangements die entscheidende Triebkraft.3

1 Vgl. World Bank, China. Reform and the Role of the Plan in the 1990s, Washington1992.

2 Vgl. Michael W. Bell, et al., China at the Threshold of a Market Economy, IMF Occasi-onal Paper, No. 107, Washington 1993, und Yingyi Qian, »The Process of China’s Mar-ket Transition (1978-1998): The Evolutionary, Historical, and Comparative Perspecti-ves« in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, Vol. 156 (2000), S. 151-171.

3 Es wird hier die Position vertreten, dass die durch hoheitliche Träger zu bewerkstelli-gende Setzung formaler institutioneller Regelungen (Gesetze, Bestimmungen, etc.) imchinesischen Transformationsprozess i.d.R. einem dezentral artikulierten Ordnungsbe-dürfnis und der Ausbildung informeller Koordinationsmechanismen nachfolgte undweniger pro-aktiv neue Ordnungsstrukturen eingeführt hat.

05_Taube Seite 179 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 61: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen180

Im vorliegenden Beitrag soll dieser Prozess exemplarisch an Hand der Evolutionder Verfügungsrechtsstrukturen dargestellt werden, die den Township Village En-terprises (TVE)4 zugrunde gelegen haben. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen so-mit alle jene in den ländlichen Regionen Chinas angesiedelten Unternehmungen, diezum einen ihren Tätigkeitsschwerpunkt nicht im Agrarsektor, sondern in den Be-reichen Industrie bzw. Dienstleistungen hatten/haben und zum anderen von ihrerUnternehmensverfassung her nicht explizit dem staatlichen oder privaten Unter-nehmenssektor zugezählt werden konnten/können. Der TVE-Sektor hat seineWurzeln in kleinen dienstleistungsorientierten Werkstätten innerhalb der Volks-kommunen, die während der 1960er und 1970er Jahre die zentrale politisch-admi-nistrative wie auch ökonomische Organisationseinheit in den ländlichen RegionenChinas darstellten. Mit dem Beginn der Reform- und Öffnungsperiode erlebtendiese Werkstätten einen explosionsartigen Aufschwung und begründeten eine inno-vative Unternehmensform in der chinesischen Volkswirtschaft. Im Zuge seiner suk-zessiven Weiterentwicklung erlebte der TVE-Sektor zur Mitte bzw. zweiten Hälfteder 1990er Jahre dann seinen Höhepunkt. Heute sind diese Unternehmungen fastvollständig in einem privatwirtschaftlich organisierten Unternehmenssektor aufge-gangen. Im Zuge dieses Lebenszyklus5 haben die diesem Unternehmenstypus zu-grunde liegenden Verfügungsrechtsstrukturen und »corporate governance« Verfas-sungen eine Abfolge von Abwandlungen und Metamorphosen erfahren, mittelsderer jeweils zeitpunktbezogen spezifische institutionelle Bedarfe gedeckt wurden.Grundsätzlich kann dabei allerdings – im Einklang mit dem in Richtung Marktwirt-schaft schreitenden gesamtwirtschaftlichen Transformationsprozess – eine Entwick-lungslinie von unklar definierten und nicht eindeutig bestimmten Akteuren zuge-teilten Verfügungsrechten hin zu klar spezifizierten und unmissverständlichzugewiesenen exklusiven Verfügungsrechten nachgezeichnet werden. Dieser Evolu-tionsprozess soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Zu diesem Zweck werdenin Abschnitt II zunächst auf theoretischer Ebene grundlegende Parameter des insti-tutionellen Nachfrage- und Angebotsprozesses herausgearbeitet. Abschnitt III stelltdann die grundlegenden Rahmenbedingungen institutionellen Wandels in der post-Mao Ära dar, bevor in Abschnitt IV dann die Evolution der TVE und ihrer Verfü-gungsrechtsstrukturen nachgezeichnet wird. Eine Destillation der zentralen Para-meter dieses Prozesses wird in Abschnitt V vorgenommen. Abschnitt VI beschließtdie Diskussion mit einigen grundlegenden Überlegungen zum chinesischen Trans-formationsprozess.

4 »xiangzhen qiye«. Es wird im Weiteren auf eine deutsche Übersetzung verzichtet undstattdessen der in der Literatur übliche englische Begriff verwendet.

5 Zum Topos institutioneller Lebenszyklen vgl. ausführlich: Matthias Schramm / MarkusTaube, »Institutioneller Wandel als unternehmerische Aufgabe: Der Fall ›China‹« in:Werner Pascha / Cornelia Storz (Hg.), Wirkung und Wandel von Institutionen: DasBeispiel Ostasiens, Stuttgart 2005, S. 163-190, und Markus Taube, »InstitutionelleLebenszyklen im chinesischen Transformationsprozess. Aufstieg und Fall der TownshipVillage Enterprises« in: Uwe Vollmer (Hg.), Globalisierung und Wandel von Institutio-nen, Berlin, erscheint 2007.

05_Taube Seite 180 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 62: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 181

II. Institutioneller Wandel im Spannungsfeld von ökonomisierender Nachfrage und unternehmerischem Angebot

Institutioneller Wandel ist letztlich eine zwingende Notwendigkeit, insofern dieinnerhalb einer Wirtschaftsgemeinschaft zu lösenden Koordinationsprobleme kei-neswegs statisch, sondern einem beständigen Wandel unterworfen sind.6 Dieser aufden verschiedensten Ebenen von Wirtschaft und Gesellschaft permanent auftreten-de – latente – Bedarf an neuen bzw. veränderten Institutionen kann dabei durch eineVielzahl von Faktoren hervorgerufen sein. So können technische Innovationen ge-nauso wie ökonomische und politische Entwicklungen die relative Transaktions-kostenbelastung von Geschäftsmodellen und Institutionen radikal verändern. Aberauch Veränderungen auf der Ebene gesamtgesellschaftlicher Präferenzen und religi-ös/ideologischer Überzeugungen (shared mental maps7) können die relative Eig-nung spezifischer institutioneller Lösungen massiv beeinflussen bzw. die Relevanzeines Koordinationsproblems und der zu seiner Lösung entstandenen Institutioneninsgesamt in Frage stellen.

Auf jedem real existierenden institutionellen Arrangement lastet somit ein Wand-lungsdruck, der zunächst funktionalistisch umrissen werden kann: institutionellerWandlungsdruck wird aufgebaut, wenn immer der Nutzen aus einem neuen institu-tionellen Arrangement größer ist als die Summe aller Umstellungskosten (inklusiveOpportunitätskosten). Genauer: Die Akteure werden sich für einen neuen Koordi-nationsmechanismus entscheiden, wenn der durch die Reorganisation der ökono-mischen Interaktion erzielte Ertrag den durch Beibehaltung der alten Institution zuerwirtschaftenden Ertrag übersteigt und zudem die im Zuge der Neuordnung anfal-lenden Umstellungskosten voll kompensiert.8 Der Wandlungsdruck, dem eine Insti-tution unterliegt, ergibt sich aus dieser Perspektive also daraus, • zu welchem Grade sie das Koordinationsbedürfnis ›technisch‹ befriedigen kann,

also einem bestimmten funktionalen Leistungsprofil entspricht, und• in welchem Maße sie hierfür Ressourcen verzehrt, die dem übrigen Wirtschafts-

prozess entzogen werden; wie hoch mithin die Transaktionskostenbelastungdurch die Institution (relativ zu alternativen institutionellen Lösungen) ist.Diese funktionalistische Perspektive muss allerdings erweitert werden, denn die

Empirie zeigt, dass es trotz technischer oder transaktionskostenbedingter Subopti-malitäten und Ineffizienzen zu großen Beharrungstendenzen bestehender instituti-

6 Vgl. Justin Yifu Lin, »An Economic Theory of Institutional Change: Induced andImposed Change« in: Cato Journal, Vol. 9 (1989), S. 1-33.

7 Vgl. Arthur T. Denzau / Douglass C., »Shared mental models: ideologies and instituti-ons« in: Kyklos, Vol. 4 (1994), S. 3-31 und Masahiko Aoki, Toward a comparative insti-tutional analysis, Cambridge, MA 2001.

8 Vgl. Douglass C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance.Cambridge 1990, und Douglass C. North / John J. Wallis, »Integrating InstitutionalChange and Technical Change in Economic History – A Transaction Cost Approach«in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, Vol. 150 (1994), S. 609-624.

05_Taube Seite 181 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 63: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen182

oneller Arrangements kommen kann. David9 hat erstmals auf den Topos der Pfad-abhängigkeit hingewiesen und gezeigt, dass die – in der funktionalistischen Pers-pektive zwar durchaus beachteten, aber in ihrer Dimension unterschätzten – Um-stellungskosten leicht prohibitive Größenordnungen annehmen können und vondaher die Einführung leistungsstärkerer Institutionen blockieren können. Olson10

zeigt, dass ineffiziente Institutionen über einen langen Zeitraum hinweg »überle-ben« können, da potenzielle Gewinner institutionellen Wandels sich nicht zu orga-nisieren vermögen und letztlich am Problem der »collective action« scheitern. Ace-moglu / Robinson11 und Acemoglu12 legen dar, wie politische Eliten bewusst dieAblösung ineffizienter Institutionen verhindern, um ihre bevorzugte Einkommens-situation und ihren Herrschaftsanspruch zu bewahren. Granovetter u.a. schließlichbetonen die Bedeutung der sozialen Einbindung (social embeddedness) einer (öko-nomischen) Institution in das gesamtgesellschaftliche Gefüge. Grundsätzlich, sostellen sie fest, gilt, dass je stärker eine Institution auch einen sozialen Koordinati-onsanspruch erfüllt und sie Teil eines übergeordneten Normen- und Wertekodexist, desto geringer ist der Wandlungsdruck, den ein streng ökonomisches Effizienz-kalkül auf sie ausüben kann.13

Werden diese Faktoren mit aufgegriffen, so kann der Wandlungsdruck, der auf ei-ner spezifischen Institution bzw. dem gesamten institutionellen Gefüge lastet, dem-nach verstanden werden als Funktion • ihrer technischen Eignung, • der ihr eigenen (relativen) Transaktionskostenintensität , • der Organisationsfähigkeit potenzieller Nutznießer institutionellen Wandels,• der Interessenslage und Macht politischer Eliten,• ihrer sozialen Einbettung in das gesamtgesellschaftliche Gefüge.

Eine derart über die Nachfrageseite her konstatierte Notwendigkeit oderWünschbarkeit institutioneller Innovation allein kann allerdings nicht erklären, wieeine solche tatsächlich zustande kommt. Um der Falle einer Lamarckschen Evoluti-onstheorie zu entkommen, gilt es, auch die auf der Angebotsseite wirkenden Kräftezu betrachten: Institutionelle Innovation benötigt Unternehmer, die bereit sind,

9 Vgl. Paul A. David »Clio and the economics of QWERTY« in: American EconomicReview, Vol. 75 (1985), Nr. 2, S. 332-337.

10 Vgl. Mancur Olson, The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory ofGroups, Cambridge, MA 1971.

11 Vgl. Daron Acemoglu / James Robinson, »Why Did the West Extend the Franchise?Democracy, Inequality, and Growth in Historical Perspective« in: Quarterly Journal ofEconomics, Vol. 115 (2000), S. 1167-1199.

12 Vgl. Daron Acemoglu, »Modeling Inefficient Institutions« erscheint in: Proceedings of2005 World Congress). http://econ-www.mit.edu/faculty/download_pdf.php?id=1288(download: 02.08.2006).

13 Vgl. Mark Granovetter, »Economic action and social structure: the problem of embed-dedness« in: American Journal of Sociology, Vol. 91 (1985), S. 481-510 und Brian Uzzi,»The Sources and Consequences of Embeddedness for the Economic Performance ofOrganizations: The Network Effect« in: American Sociological Review, Vol. 61 (1996),S. 674-698.

05_Taube Seite 182 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 64: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 183

Ressourcen in risikobehaftete Verwendungszwecke zu investieren.14 Die Problema-tisierung institutionellen Wandels ist somit letztlich auch immer eine Auseinander-setzung mit Thema »institution building«. 15 Es gilt von daher also auch zu klären,welche Faktoren auf das unternehmerische Innovationsverhalten einwirken undwodurch sich die Intensität institutionellen Angebotsverhaltens in einer Wirt-schaftsgemeinschaft insgesamt bestimmt.16

Das Augenmerk der Diskussion liegt in diesem Beitrag nicht auf der hoheitli-chen, top-down Einsetzung neuer Institutionen, sondern vielmehr auf der sich in-nerhalb von Gesellschaft und Wirtschaft Bahn brechenden unternehmerischenFindigkeit.17 Dementsprechend wird auch die Fragestellung, ob bestimmte Instituti-onen zur Verfolgung von Zwecken eingeführt werden, die als predatory oder aberdevelopmental zu klassifizieren sind, 18 weitgehend ausgeblendet. Die hier im Zen-trum der Betrachtung stehende institutionelle Innovation erfolgt eben nicht aus ei-ner Position (weitgehend unbeschränkter) hoheitlicher Macht, sondern wird ausdem Kontext eines Handlungsoptionen einschränkenden, mehr oder minder wett-bewerblich organisierten Umfelds heraus vorgetragen. Unter dieser Maßgabe ist da-von auszugehen, dass eine in erster Linie aus ökonomisch begründeten Motivenheraus begrenzt rational agierende Unternehmerpersönlichkeit ihr Angebot an in-stitutionellen Innovationen in erster Linie nach folgenden Parametern ausrichtenwird. Die Intensität des Angebotsverhaltens wird dabei positiv angeregt durch: • eine geringe Komplexität der technologisch-organisatorischen Umsetzbarkeit ei-

ner gegebenen institutionellen Neuerung; • eine als hoch eingeschätzte Differenz des Transaktionskostenverzehrs zwischen

der hergebrachten und der neuen Institution, d.h. der Erwartungshaltung bezüg-lich des absoluten Umfangs des zu erschließenden, gegenwärtig brachliegendenund nicht umgesetzten Transaktionspotenzials;

• die Verfügbarkeit von Sozialkapitalstrukturen, Netzwerken, etc., die genutztwerden können, um eine individuelle Nutznießung von im Rahmen der Bereit-stellung bzw. Nutzung der neuen institutionellen Lösung realisierten materiellenGewinne bzw. Macht zu gewährleisten;19

14 Vgl. Schramm / Taube, »Institutioneller Wandel als unternehmerische Aufgabe: DerFall ›China‹«, aaO. (FN 5).

15 Vgl. Barbara Krug / Hans Hendrischke, Institution Building and Change in China,ERIM Report Series Research in Management ERS-2006-008-ORG, http://hdl.handle.net/1765/7331 (download: 24.07.2006).

16 Vgl. Douglass C. North, Understanding the Process of Economic Change, Princeton2005.

17 Vgl. Israel M. Kirzner, Discovery and the Capitalist Process, Chicago 1985.18 Vgl. Peter B. Evans, »Predatory, Developmental and Other Apparatuses: A Compara-

tive Political Economy Perspective on the Third World State« in: Sociological Forum,Vol. 4 (1989), S. 561-587.

19 Vgl.: Elinor Ostrom, Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Coll-ective Action, New York 1990.

05_Taube Seite 183 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 65: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen184

• das Wissen um die Existenz von shared mental maps, die nicht im Widerspruchzu der neuen institutionellen Lösung stehen und nicht die Annahme und Verbrei-tung derselben in der Gesellschaft blockieren.Eine das Angebotsverhalten dämpfende Wirkung haben demgegenüber:

• die Höhe der (erwarteten) Kosten der Einführung einer institutionellen Instituti-on und der Umfang des (erwarteten) Zeitbedarfs der Einführung einer neuen in-stitutionellen Lösung, d.h. dem Zeitpunkt des ersten aus dieser resultierendenpositiven Einkommensstroms; 20

• ein in dem polit-ökonomischen System herrschender hoher Grad an prozedura-ler Unsicherheit,21 der es dem Unternehmer erschwert, einzuschätzen, inwiefernseine Innovation auf politischen bzw. administrativ-bürokratischen Widerstandtreffen wird.Grundsätzlich kann somit argumentiert werden, dass unternehmerische Aktivität

zum einen durch ökonomische Parameter determiniert wird: Inwiefern ist es demUnternehmer möglich, einen gegebenen Transaktionskostenpegel zu senken undsomit brachliegendes Transaktionspotenzial zu aktivieren?!22 Zum anderen ist dieunternehmerische Innovationstätigkeit zwangsweise auf Neuerungen beschränkt,die ein Mindestmaß an Kompatibilität mit dem herrschenden ideologischen Dogmaaufweisen. Dezentrales Unternehmertum wird durch den politischen Sektor inSchranken gewiesen.23 Auf der letzteren Ebene ist es dem Unternehmer allerdingsmöglich, je nach den ihm zugängigen Sozialkapitalstrukturen, formal gesetzteGrenzen zu überschreiten und seinen faktischen Freiraum auszuweiten.

In der Empirie zeigt sich nun, dass die Intensität institutioneller Innovationspro-zesse über verschiedene Typen von Institutionen hinweg sehr unterschiedlich aus-geprägt ist. Roland24 spricht in diesem Kontext von fast-moving bzw. slow-movinginstitutions. Soziale Normen und Werte, Kultur gelten hier als Beispiele für sich nurlangsam, aber kontinuierlich verändernde Institutionen, während politische Institu-

20 Vgl. Schramm / Taube, »Institutioneller Wandel als unternehmerische Aufgabe: DerFall ›China‹«, aaO. (FN 5).

21 Vgl. Oliver E. Williamson, »Calculativeness, trust and economic organisation« in: Jour-nal of Law and Economics, Vol. 36 (1993), S. 453-486 und Barbara Krug / Laszlo Polos»Emerging Markets, entrepreneurship, and uncertainty: the emergence of a private sec-tor in China« in: Barbara Krug (Hg.), China’s Rational Entrepreneurs. The develop-ment of the new private business sector, London 2004, S. 72-96.

22 Vgl. Kirzner, Discovery and the Capitalist Process, aaO., Lothar Wegehenkel, Transakti-onskosten, Wirtschaftssystem und Unternehmertum, Walter-Eucken-Institut, Vorträgeund Aufsätze, Bd. 74 (1980), Tübingen, und ders., Gleichgewicht, Transaktionskostenund Evolution: eine Analyse der Koordinierungseffizienz unterschiedlicher Wirtschafts-systeme, Tübingen 1981.

23 Vgl. Barbara Krug, Enterprise Ground Zero in China, ERIM Report Series Research inManagement ERS-2006-024-ORG, http://hdl.handle.net/1765/7853 (download:24.07.2006).

24 Vgl. Gerard Roland, »Understanding Institutional Change: Fast-moving and slow-moving institutions« in: Studies in Comparative Economic Development, Vol. 38 (2004),Nr. 4, S. 109-131.

05_Taube Seite 184 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 66: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 185

tionen und insbesondere solche, die durch einen hoheitlichen Akt herbeigeführtwerden können, zur Kategorie der sich schnell und diskontinuierlich veränderndenInstitutionen gezählt werden.

Im Allgemeinen scheint es, als ob eine gegebene Institution eine umso höhereWahrscheinlichkeit besitzt, für einen längeren Zeitraum Koordinationsfunktionenzu übernehmen, desto stärker sie in dem gesamtgesellschaftlichen Werte- undNormensystem integriert ist (social embeddedness), desto größer die Macht derherrschenden Elite, institutionelle Entwicklungen, die andere Gesellschaftsgruppenrelativ besser stellen würden, zu unterdrücken, und desto geringer die Organisati-onsfähigkeit potenzieller Nutznießer institutioneller Veränderung ausgeprägt ist.Gleichzeitig weisen »träge« Institutionen i.d.R. eine geringe Sensibilität für techno-logische Innovationen und Veränderungen der relativen Transaktionskostenbelas-tung auf. Die relative geringe intertemporale Persistenz der fast-moving Institutio-nen steht demgegenüber im Zusammenhang mit einer hohen Sensibilität fürtechnologische Innovationen und sich verschiebende Transaktionskostenrelationensowie einen hohen Grad der Organisationsfähigkeit betroffener gesellschaftlicherGruppen. Im Gegenzug ist hier die soziale Einbettung und die Macht bzw. das Inte-resse der herrschenden Elite, institutionellen Wandel zu verhindern, nur schwachausgeprägt.

Im Folgenden soll nun untersucht werden, inwiefern die hier skizzierten ange-bots- und nachfrageseitigen Kräfte bei der Evolution der Verfügungsrechtsstruktu-ren im chinesischen TVE-Sektor zusammengewirkt haben.

III. Parameter institutionellen Wandels in China während der post-Mao Ära

Als die politische Elite zum Ende der 1970er Jahre auf drei Jahrzehnte kommu-nistischer Herrschaft in China zurückschaute, konnte sie keine erfreuliche Bilanzziehen. Die Einheit des Landes war zwar (mit Ausnahme Taiwans) sichergestelltund China zur Atommacht aufgestiegen, die ökonomischen Fundamente von Staatund Gesellschaft aber waren nicht geeignet, das Land in die Zukunft zu führen.Nachdem bereits mit dem katastrophalen Fehlschlag des »Großen Sprungs nachVorne« (1958-1959) die Volkswirtschaft nachhaltig geschwächt worden war,25 warsie anschließend im Rahmen der »3.-Front-Strategie« (1964-1979) in Strukturenüberführt wurden, die in keiner Weise geeignet waren, die der Volkswirtschaft zurVerfügung stehenden Ressourcen in effizienter Weise einer produktiven Verwen-

25 Mittels dieser Kampagne sollte innerhalb kürzester Zeit der Entwicklungsvorsprungder führenden Industrienationen aufgeholt werden. Systemimmanente Informations-und Koordinationsdefizite sowie ideologische Verblendung führten letztlich zu einemKollaps der Volkswirtschaft, an dessen unmittelbaren Folgen mindestens 30 MillionenMenschen ihr Leben verloren. Siehe hierzu ausführlich Mark Y. An /; Li Wie / DennisT. Yang, China’s Great Leap: Forward or backward? Anatomy of a Central PlanningDesaster, Centre for Economic Policy Research, Discussion paper Series No. 2824(2001), www.cerp.org/pubs7dps//DP2824.asp, download 1. Juli 2006.

05_Taube Seite 185 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 67: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen186

dung zuzuführen.26 Über ein gutes Jahrzehnt hinweg war Chinas Kapitalstock nachMaßgabe eines militärstrategischen Kalküls gebildet worden und hatte Ende der1970er Jahre schließlich jeglichen Bezug zu den bestehenden gesamtwirtschaftlichenKnappheitsrelationen verloren.27 China partizipierte auch nicht an den wohlfahrts-fördernden Effekten der internationalen Arbeitsteilung und war faktisch kein kon-stituierender Bestandteil der Weltwirtschaft. Die Versorgungslage der chinesischenBevölkerung hatte sich seit Beginn der 1950er Jahre nicht grundlegend verbessert.Im internationalen Vergleich war Chinas Anteil am globalen Output noch weiter,unter die Werte des Jahres 1952 abgerutscht.28

Als sich nach dem Ableben Mao Zedongs dann auch schnell abzeichnete, dass dervon seinem Nachfolger Hua Guofeng eingeleitete neuerliche Versuch, mit einer in-vestitionsgetriebenen, schwerindustriell ausgerichteten Entwicklungsstrategie dieökonomischen Probleme des Landes zu lösen, zum Scheitern verurteilt war,29 warder Boden für eine grundlegende Neuausrichtung bereitet. Die entscheidende Ab-kehr vom bisherigen Entwicklungsmodell erfolgte schließlich mit dem 3. Plenumdes Zentralkomitees im Dezember 1978 auf dem die Reformkräfte unter der Füh-rung Deng Xiaopings die Oberhand erlangten und die Prioritätenliste aller politi-scher Arbeit neu definierten. Mit der Feststellung, dass mittlerweile nicht mehr derAntagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat den Hauptwiderspruch inner-halb der chinesischen Gesellschaft darstelle, sondern vielmehr das Missverhältniszwischen der mangelnden Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft und den materiel-

26 Während der ersten Hälfte der 60er Jahre wurde das internationale Umfeld als der VRChina gegenüber zunehmend feindlich eingestuft. Durch Grenzstreitigkeiten ausgelöstebewaffnete Auseinandersetzungen mit Indien und der UdSSR, indirekte Drohungender USA, das chinesische Atombombenprogramm durch einen atomaren Erstschlag zustoppen, eine eskalierende Verwicklung in den Vietnamkonflikt und nicht zuletzt dieBefürchtungen, der auf Taiwan neu erstarkte Bürgerkriegsgegner könne die Schwä-chung der festlandschinesischen Volkswirtschaft im Zuge des »Großen Sprungs nachVorne« zu einem militärischen Schlag ausnutzen, ließen die Möglichkeit eines neuenKrieges als sehr wahrscheinlich erscheinen. Mit der 3.-Front-Strategie sollte daher dertraditionellen Konzentration ökonomisch-industrieller Ballungszentren im strategischungünstigen und nur schlecht zu verteidigenden Küstenstreifen entgegengewirkt wer-den. Stattdessen sollte im chinesischen Hinterland eine neue industrielle Basis errichtetwerden, die nach einer möglichen Besetzung des Küstenstreifens durch feindliche Trup-pen einen lang gezogenen Guerillakrieg ermöglichen sollte. Dieses militärstrategischePrimat führte zur Bildung eines weder betriebs- noch volkswirtschaftlichen Effizien-zerwägungen folgenden Kapitalstocks. Während im Küstenstreifen leistungsfähige Pro-duktionsanlagen und Infrastruktureinrichtungen abgebaut wurden, wurden imHinterland Fabrikanlagen auf Dutzende von Kilometern entfernte Standorte aufgeteiltund in unzugänglichen Seitentälern und Höhlen versteckt. Für eine detaillierte Analysedieser Strategie siehe Barry Naughton, »The Third Front: Defense Industrialization inthe Chinese Interior« in: China Quarterly, No. 115 (1988), S. 351-386.

27 Vgl. Markus Taube, Erscheinungsformen und Bestimmungsgründe makroökonomischerZyklen in der VR China. Planungs-, Transformations-, Konjunkturzyklen, Teil I:Wachstumszyklen in einem zentralverwaltungswirtschaftlichen Regime (1952-1978),Duisburger Arbeitspapiere zur Ostasienwirtschaft, Nr. 62, Duisburg 2002.

28 Vgl. Angus Maddison, Chinese Economic Performance in the Long Run, Paris 1998.

05_Taube Seite 186 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 68: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 187

len Bedürfnissen der Bevölkerung, stieg die Förderung der wirtschaftlichen Ent-wicklung quasi über Nacht zum Primat aller politischen Arbeit auf. Der Fortfüh-rung des Klassenkampfs wurde nur noch sekundäre Bedeutung zugesprochen.30

Bereitschaft und Befähigung der herrschenden Elite bzw. einzelner Fraktionen der-selben, im Sinne Acemoglus31 leistungsstarke institutionelle Innovationen innerhalbdes ökonomischen Sektors zu unterdrücken, waren somit ausgangs der 1970er Jahreentscheidend reduziert worden.

Ende der 1970er Jahre wurde somit in der VR China auf der Ebene der grundle-genden Herrschaftsideologie der politischen Elite ein radikaler Bruch mit der Ver-gangenheit vollzogen und begonnen, ein neues konsensuales Werte- und Normen-system zu etablieren. Hiermit wurde letztlich die entscheidende Ablösung von dembisherigen Entwicklungskontinuum vollzogen und der unternehmerische Freiraumeröffnet, in dem sich der Prozess dynamischen institutionellen Wandels, der sichüber das vergangene Vierteljahrhundert in China Bahn gebrochen hat, entfaltenkonnte. Mit diesem ideologischen »Befreiungsschlag« und der Aufhebung bislangbestehender Tabus konnte letztlich jedoch nur eine Grundvoraussetzung für dieEntfaltung neuartiger unternehmerischer Aktivität gelegt werden. Andere Faktorenmussten hinzukommen, um diesen Prozess in Gang zu setzen. Vier Parameter wa-ren dabei von besonderer Bedeutung:1. Der institutionelle Aufbau der Volkswirtschaft war zum Zeitpunkt x nicht auf die

Maximierung ökonomischer Leistungsparameter ausgerichtet, sondern verfolgteletztere nur im Kontext starker, ideologisch definierter Nebenbedingungen. Erwar zudem »technisch« nicht geeignet, die Volkswirtschaft »sinnvoll« in die

29 Unter der Führung des zum Nachfolger Mao Zedongs gekürten Hua Guofeng kam eszunächst noch nicht zu einer richtungsweisenden Neuorientierung der chinesischenWirtschaftspolitik. Stattdessen wurde im März 1978 zunächst in der Tradition der vor-angehenden Jahre ein neuer Großer Sprung proklamiert, der die chinesische Volkswirt-schaft in kürzester Zeit in die Moderne katapultieren sollte. Um dieses Ziel zuerreichen, wurde zum einen im gleichen Stil wie bei den vorangehenden Kampagnen diestaatliche Investitionstätigkeit massiv ausgedehnt. Die Investitionsaufwendungen, diefür die 120 in Hua Gofengs Zehn-Jahres-Entwicklungsplan aufgelisteten Schlüsselpro-jekten insgesamt vorgesehen waren, entsprachen den gesamten Kapitalaufwendungender vorangehenden 28 Jahre. Dieses vollkommen überambitionierte Programm führtegeradezu umgehend zu einer Überbelastung der Volkswirtschaft. Zum anderen solltedurch die Einfuhr zahlreicher kompletter Industrieanlagen (turn-key-plants) aus demAusland der technologische Entwicklungsstand der Volkswirtschaft nach Vorne kata-pultiert werden. Dieses Unterfangen musste allerdings nach kurzer Zeit wieder abge-brochen werden da (a) eine exzessive Defizitierung der Handelsbilanz befürchtetwurde, (b) die Verfügbarkeit von Devisen (d.h. internationaler Liquidität) aufgrundunerwartet niedriger Erlöse aus dem Erdölexport eingeschränkt wurde, und (c) esoffenbar wurde, dass die für die Inbetriebnahme der zu importierenden Industrieanla-gen notwendigen komplementären inländischen Investitionen trotz aller Anstrengun-gen nicht bewältigt werden konnten. Vgl. Cheng Chuyuan, China’s EconomicDevelopment, Growth and Structural Changes, Boulder 1982, und Carl Riskin, China’sPolitical Economy, New York 1987.

30 Vgl. Bell, et al., China at the Threshold of a Market Economy, aaO. (FN 2).31 Vgl. Acemoglu, »Modeling Inefficient Institutions«, aaO. (FN 12).

05_Taube Seite 187 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 69: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen188

marktwirtschaftlich organisierte internationale Arbeitsteilung zu integrieren. 32

Das institutionelle Gesamtgerüst war von daher aus dem Blickwinkel einer Maxi-mierung der gesamtgesellschaftlichen materiellen Wohlfahrt grundsätzlich sub-optimal konzipiert. Die Volkswirtschaft wies somit einen hohen Transaktions-kostenpegel33 auf, der im Zuge institutioneller Innovation erodiert werdenkonnte. Erfolgreiches unternehmerisches Agieren konnte damit mit hohen Erlö-sen rechnen.

2. Der vorhandene institutionelle Rahmen bot hinreichende Freiräume zur Einfüh-rung innovativer Konzepte zur horizontalen Ausgestaltung ökonomischer Inter-aktion. Die chinesischen Planträger haben es nie vermocht, die Produktion undDistribution von mehr als gut 750 Gütern zentral voll durchzuplanen und zu or-ganisieren.34 Auch im Rahmen einer dominierend zentralverwaltungswirtschaftli-chen Organisation des Wirtschaftsgeschehens waren somit immer Freiräume fürdezentral organisierte, horizontale Transaktionsbeziehungen. Hier ergaben sichnatürliche Andockmöglichkeiten für institutionelle Innovationen.

3. Potenzielle Nutznießer institutioneller Innovationen konnten sich von Anbeginnan in bereits bestehenden – und ausbaufähigen – Netzwerken organisieren. DieAusrichtung der politischen Arbeit an ökonomischen Zielgrößen gepaart mit derImplementierung starker Anreize für dezentrale Kader, ökonomische Entwick-lung zu fördern, 35 ermöglichte die Bildung von Allianzen zwischen politischenund ökonomischen Unternehmern zum Ziel der Umsetzung innovativer Institu-tionen und Geschäftsmodelle. Hiermit konnte nicht nur in bestimmten Bereichendas Problem der collective action überwunden, sondern über das aufgebaute Sozi-alkapital auch zugleich eine hinreichende Absicherung formal nur unzureichendspezifizierter – und spezifizierbarer – Verfügungsrechte erreicht werden.

4. Die Dynamik des institutionellen Wandlungsprozesses wurde nicht entscheidenddurch das Entstehen einer neuen mächtigen Gruppe von »Reformverlieren« be-einträchtigt. Durch die Implementierung starker Anreizmechanismen ist es zu-mindest in der entscheidenden Startphase bis hinein in die frühen 1990er Jahregelungen, eine »reform without losers« 36 zu realisieren. Im Sinne der in Abschnitt II dargestellten Parameter war somit ausgangs der

1970er Jahre eine Konstellation entstanden, der gemäß nicht nur der auf dem beste-

32 Vgl. Markus Taube, Ökonomische Integration zwischen Hongkong und der ProvinzGuangdong, VR China. Der chinesische Transformationsprozeß als Triebkraft grenzü-berschreitender Arbeitsteilung, München 1997.

33 Vgl. Wegehenkel, Transaktionskosten, Wirtschaftssystem und Unternehmertum,aaO.(FN 22), und ders., Gleichgewicht, Transaktionskosten und Evolution: eine Analyseder Koordinierungseffizienz unterschiedlicher Wirtschaftssysteme, aaO. (FN 22).

34 Vgl. Audrey Donnithorne, China’s Economic System, New York 1967.35 Vgl. Barry Naughton, »Market Economy, Hierarchy, Single Party Rule: How Does the

Transition Path in China Shape the Emerging Market Economy«, Paper presented atthe International Economic Association, Hong Kong, January 14-15, 2004, mimeo.

36 Vgl. Lawrence J. Lau / Yingyi Qian / Gerard Roland, »Reform Without Losers: AnInterpretation of China’s Dual Track Approach to Transition« in: Journal of PoliticalEconomy, Vol. 108 (2000), No. 1, S. 120-163.

05_Taube Seite 188 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 70: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 189

henden institutionellen Gerüst lastende Wandlungsdruck ein exorbitantes Ausmaßangenommen hatte. Auch auf der Angebotsseite waren die Rahmenbedingungendergestalt, dass unternehmerische Aktivität gefördert und somit eine hohe Intensitätinstitutioneller Innovation erreicht werden konnte.

IV. Evolution von Verfügungsrechtsstrukturen im chinesischen TVE-Sektor - Versuch einer Chronologie

Die Entstehung und Entfaltung der TVE stellt zweifelsohne eine der erfolg-reichsten Episoden des chinesischen Transformationsprozesses dar. Quasi aus demNichts entstanden, ist über diese Unternehmensform eine zweite industrielle Säuleim ländlich geprägten Hinterland Chinas geschaffen worden, die zu ihrer Blütezeitzur Mitte bzw. zweiten Hälfte der 1990er Jahre über die Hälfte des industriellenBruttoproduktionswertes Chinas und Arbeitsplätze für gut ein Viertel der erwerbs-tätigen Bevölkerung in den ländlichen Regionen bereitstellte.37 Zu Beginn des 21.Jahrhundert ist diese Unternehmensform nun aber wieder faktisch vollständig ver-schwunden und im privaten Unternehmenssektor aufgegangen. Der Lebenszyklusder TVE sowie Aufstieg und Niedergang spezifischer Ausprägungen der zugrundeliegenden Verfügungsrechtsstrukturen werden im Folgenden zunächst im Kontexteiner chronologischen Darstellung spezifischer Entwicklungsphasen diskutiert, be-vor in Abschnitt V dann abschließend die grundlegenden Entwicklungslinien nocheinmal in der Gesamtschau analysiert werden.

1. Ländliche Industriebetriebe in der Vor-Reform-Ära

Der industrielle Sektor war während der Vor-Reform-Ära letztlich eine urbaneAngelegenheit und unterlag vergleichsweise strenger (zentralstaatlicher) Kontrolleund Anleitung. Die ländlichen Regionen waren demgegenüber weitestgehend aufdie Bereitstellung landwirtschaftlicher Produkte spezialisiert und seit den späten1950er Jahren in relativ autarken Volkskommunen organisiert. Der Zentralstaat unddas zentrale Planungswesen waren hier deutlich wenig präsent. Ein erster Versuch,den industriellen Sektor auch in Chinas ländlichen Regionen zu verankern, erfolgteerstmals im Kontext des »Großen Sprungs nach Vorne« (1958-1959). Im Einklangmit dem schwerindustriellen Entwicklungsparadigma Mao Zedongs wurden inner-halb der Volkskommunen größere (schwerindustrielle) Betriebe eingerichtet. DieseEpisode endete allerdings in einem desaströsen Kollaps der Volkswirtschaft,38 in de-ren Kontext diese ländlichen Industriebetriebe sich in der Mehrheit wieder auflös-ten. Erst mit Abschluss der heißen Phase der Kulturrevolution (1966-1969), die in

37 Vgl. Nongyebu xiangzhen qiye ju [Abteilung für TVE des Landwirtschaftsministeri-ums], Zhongguo xiangzhen qiye tongji ziliao (1978-2002 nian) [Statistische Materialienzu Chinas TVE, 1978-2002], Beijing 2003.

38 S. Fn 25.

05_Taube Seite 189 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 71: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen190

erster Linie die Ordnung in den Städten und damit den industriellen Sektor in Mit-leidenschaft gezogen hatte, kam es zu einem neuerlichen Aufleben industriellerStrukturen in den ländlichen Regionen. Vor dem Hintergrund eines danieder liegen-den urbanen Industriesektors, der seine Versorgungsfunktionen nicht mehr erfüllenkonnte, und gelockerter politischer Vorgaben aus Beijing wurden nun erneut aufEbene der Kommunen bzw. der diese konstituierenden Brigaden Betriebe einge-richtet, die für diese Versorgungsaufgaben erfüllen sollten, die grundsätzlich eher alsindustriell oder dienstleistungsorientiert zu klassifizieren waren. 39 Typische Aktivi-täten waren z.B. die Instandhaltung und Reparatur von Traktoren, Wasserpumpen,Bewässerungsanlagen, Schmiedearbeiten etc.40 Z.T. waren diese Betriebsstätten be-reits zu diesem frühen Zeitpunkt faktisch privat geführt, wurden aber aufgrund feh-lender rechtlicher Grundlage und prohibitiv hoher Kosten der Sicherung exklusiverEigentumsrechte unter dem Mantel der Volkskommune betrieben.

Die Wanxiang Gruppe aus Xiaoshan, Provinz Zhejiang, ist z.B. aus einer derarti-gen Konstellation hervorgegangen. Das Unternehmen wurde 1969 – inmitten derWirren der Kulturrevolution – von Lu Guanqiu und drei weiteren Personen mit4.000 Yuan RMB Startkapital als Schmiede und Reparaturwerkstätte für Fahrräderund landwirtschaftliches Gerät gegründet. Das Unternehmen erbrachte seineDienstleistungen während dieser Periode quasi ausschließlich für die Volkskommu-ne und ihre Brigaden und wurde damals mangels gangbarer Alternativen als »Ning-wei Volkskommune Landwirtschaftsmaschinenwerk« eingetragen. Eine vertragli-che Fixierung der individuellen Kapitaleinlagen sowie des Wertes der von derVolkskommune zur Verfügung gestellten Landnutzungsrechte erfolgte zu diesemZeitpunkt nicht.41

Eine ganz ähnliche Genese weist auch die Hengdian Unternehmensgruppe auf.42

Keimzelle dieser Unternehmung ist die 1974 in der Volkskommune Hengdian (Pro-vinz Zhejiang) von deren Parteisekretär Xu Wenrong gegründete »Kreis DongyangSeidenfabrik«. Die Gründung dieser Fabrik erfolgte in unmittelbarer Reaktion aufdie durch die kulturrevolutionären Kampagnen hervorgerufenen Werksschließun-

39 Vgl. He Kang, Zhongguo de xiangzhen qiye [Chinas Ländliche Unternehmen], Beijing2003.

40 Vgl. Louis Putterman, »On the Past and Future of China’s Township and Village-Owned Enterprises« in: World Development, Vol. 25. (1997), S. 1639-1655.

41 Vgl. Lu Guanqiu, »Wanxiang jituan zenyang fazhan qilaide« [Wie die WanxiangGruppe aufgestiegen ist] in: Xiangzhen qiye daobao, Heft 1/1997, S. 7-9, wieder abge-druckt in: Fuyin Baokan Ziliao F 22 Xiangzhen qiye yu nongchang guanli, Heft 4/1997,S. 24-26, und Li Ping, »Zhongguo feiguoying qiye jituan zhili jiegou tezheng – Zhejiangxiangzhen qiye jituan xianxing zhili jiegou« [Charakteristika der Verwaltungsstrukturin chinesischen nicht-staatlichen Unternehmensgruppen – Zu den derzeit praktiziertenVerwaltungsstrukturen der ländlichen Unternehmensgruppen Zhejiangs], in: Zhongguonongcun guicha, Heft 1/1998, S. 1-5, wieder abgedruckt in: Fuyin Baokan Ziliao F 22Xiangzhen qiye yu nongchang guanli, Heft 9/1998, S. 54-58

42 Vgl. Markus Taube, »Principles of Property Rights Evolution in China’s Rural Indus-try« erscheint in: Thomas Heberer / Gunter Schubert (Hg.): Institutional Change andPolitical Continuity in Contemporary China.

05_Taube Seite 190 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 72: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 191

gen im staatlichen Unternehmenssektor. Die Volkskommune hatte sich auf die Pro-duktion von Seidenraupen spezialisiert, konnte diese nun jedoch nicht zur Weiter-verarbeitung an den staatlichen Unternehmenssektor weiterleiten. Nur durch dieGründung einer eigenen Seidenraupenverarbeitung konnte die Volkskommuneletztlich Einkommen und materielle Versorgung ihrer Mitglieder sichern.43

Die Eigentumsstrukturen des Unternehmens waren von Anbeginn an hochgradigintransparent. Explizite Eigenkapitaleinlagen wurden von keiner Partei vorgenom-men. Den Grundstock der Vermögenswerte des Unternehmens bildete stattdessenein Darlehen über 50.400 Yuan RMB, das die 39 Brigaden der Volkskommune zurVerfügung stellten,44 sowie ein Darlehen über 2.000 Yuan RMB, welches die Volks-kommune direkt zur Verfügung stellte. Zusätzlich wurde bei der lokalen Kreditko-operative ein Kredit in Höhe von 245.400 Yuan aufgenommen. Diese und alle zuspäteren Zeitpunkten aufgenommenen Kredite wurden zurückgezahlt.45

Grundsätzlich geht während dieser Periode die Gründung industriell ausgerich-teter Betriebe innerhalb der Strukturen der Volkskommunen offensichtlich in ersterLinie auf eine Unterversorgung der ländlichen Regionen durch den urbanen staatli-chen Industriesektor zurück. Einzelne Unternehmerpersönlichkeiten mit zumeistausgezeichneten Beziehungen zum formalen Herrschaftsapparat legten das Funda-ment für die Gründung industrieller Betriebe innerhalb der bestehenden landwirt-schaftlichen Organisationsstrukturen. Ohne einen bedeutsamen Bestand an Sozial-kapital innerhalb der Volkskommune und in deren Außenverhältnis wäre esunmöglich gewesen, diese Betriebe zu etablieren. In den frühen 1970er Jahren lo-ckerte sich zudem das politisch Klima etwas auf, als die Zentralregierung den ländli-chen Regionen größere Freiheiten zubilligte – in der Hoffnung hierdurch derenSelbstversorgungskapazität zu steigern und den danieder liegenden staatlichen Un-ternehmenssektor zu entlasten. Die unternehmerische Initiative traf somit auf einzumindest stillschweigend akkomodierendes politisches Umfeld. Dessen ungeach-tet blieb die prozedurale Unsicherheit während dieser Periode noch extrem hoch.Im Rahmen von ideologischen Richtungsschwenks hätten die neu geschaffenen Un-ternehmungen innerhalb von Tagen (inklusive ihrer Gründer) wieder von der Bild-fläche verschwinden können. Die Evidenz von Unternehmensgründungen bleibtwährend dieser Periode somit schwach.

Es ist festzuhalten, dass bedingt durch die politisch-ideologischen Rahmenbedin-gungen der damaligen Zeit eine eindeutige Definition und individuell-exklusive Zu-weisung von Verfügungsrechten mit prohibitiv hohen Transaktionskosten belegt

43 Vgl. Chen Jianbo, »Zhidu bianqian yu xiangcun feizhenggui zhidu – lai zi Zhongguoxiangcun de jingyan: xiangzhen qiye de caichan xingcheng« [Systemwandel und infor-melle institutionelle Arrangements in den ländlichen Regionen – Erfahrungen aus Chi-nas ländlichen Regionen: Kapitalakkumulation in township village enterprises], in:Zhang Shuguang (Hg.) Zhongguo zhidu bianqian de anli yanjiu [FallstudienbasierteForschung zum Systemwandel in China], Beijing 2002, S. 34-82.

44 Dies entsprach 2,40 Yuan RMB pro Kommunemitglied.45 Vgl. Chen, »Zhidu bianqian yu xiangcun feizhenggui zhidu – lai zi Zhongguo xiangcun

de jingyan: xiangzhen qiye de caichan xingcheng«, aaO. (FN 43).

05_Taube Seite 191 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 73: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen192

war und nicht erfolgte. Ausgangspunkt der Unternehmensentwicklung war von da-her in beiden hier vorgestellten Fällen eine in höchstem Masse unklare Verfügungs-rechtsstruktur, die dem aus der klassischen Property Rights Theorie hergeleitetenAnspruch an die einem funktions- und wettbewerbsfähigen Unternehmen zugrun-de liegende Verfügungsrechtsstruktur in keiner Weise gerecht wurde.46 Dessen un-geachtet haben sich die Betriebe keineswegs innerhalb kurzer Zeit wieder aufgelöst.Die Wanxiang Unternehmensgruppe hat sich mittlerweile unter der Führung vonLu Guanqiu zu Chinas drittgrößtem Privatunternehmen weiterentwickelt. Sie istheute der größte Automobilzulieferer des Landes und verfügt über Niederlassun-gen in Europa und Nordamerika. Die Hengdian Unternehmensgruppe umfasstheute mehr als dreißig Unternehmen im In- und Ausland und zählt ebenfalls zu denerfolgreichsten Privatunternehmen des Landes. Ihr Gründer Xu Wenrong selbst ge-hört zu den reichsten Unternehmern Chinas.

2. Aufstieg im liberalisierten, aber undefinierten Raum: 1978-1983

Die unter der Ägide Deng Xiaopings eingeleitete Reform- und Öffnungsbewe-gung konzentrierte sich in der Anfangsphase neben einer selektiven Öffnung zumWeltmarkt in erster Linie auf die ländlichen Regionen Chinas. Während die Haupt-stoßrichtung der Reformbewegung sich zwar mit dem »Haushaltsverantwortlich-keitssystem«47 auf die landwirtschaftliche Produktion konzentrierte, erfuhr auchder ländliche Industriesektor eine wichtige Bestätigung. Die in den vorangegange-nen Jahren zu verzeichnende politische »Duldung« industrieller Aktivitäten unterdem Dach der Volkskommunen erlebte mit der Machtübernahme der Reformfrakti-on um Deng Xiaoping nun eine qualitative Verstärkung: Aus Duldung wurde Aner-kennung und explizite Förderung. In einem auf dem richtungweisenden 3. Plenumdes Zentralkomitees im Dezember 1978 verabschiedeten »Entschluss des Zentral-komitees zu einigen Fragen der Förderung der landwirtschaftlichen Entwicklung«wird explizit gefordert, dass die Kommunen- und Brigadeunternehmen bis 1985 ih-ren Anteil am ländlichen Output auf 50% ausweiten sollten. Auf diesem Weg soll-

46 Vgl. Harold Demsetz, »Toward a Theory of Property Rights« in: ders. (Hg.), Owner-ship, Control, and the Firm. The Organization of Economic Activity, Oxford 1967, S.104-116, und Erik G. Furubotn / Steve Pejovich, The Economics of Property Rights,Cambridge 1974.

47 Im Rahmen des »Haushaltsverantwortlichkeitssystems« wurde es ländlichen Haushal-ten gestattet, zuvor kollektiv bestellte Landparzellen nun eigenverantwortlich zubebauen (unter Erfüllung bestimmter Ernteablieferungsquoten an die Regierung).Innerhalb kurzer Zeit wurde dieses System immer weiter ausgebaut bis schließlich derGroßteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche sowie der individuellen Arbeitszeit ineine »privatwirtschaftlich« eigenverantwortliche Sphäre überführt worden war. Kom-plementär zur Einführung des »Haushaltsverantwortlichkeitssystems« kam es zur Ein-richtung von Märkten für eigenverantwortlich produzierte Lebensmittel sowie einersubstantiellen Erhöhung der staatlichen Ankaufspreise für quotierte Ablieferungen anden Staat.

05_Taube Seite 192 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 74: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 193

ten sie durch technische Hilfe des staatlichen Industriesektors aus den Städten her-aus unterstützt und zusätzlich durch Steuererleichterungen in ihrer Entwicklunggefördert werden.48 Die politischen Signale aus Beijing standen somit eindeutig auf»grün«, reduzierten signifikant die prozedurale Unsicherheit und bereiteten somitdas Fundament für eine substantielle Intensivierung der ländlichen Industrialisie-rungsbewegung.

Der in Kommunen- und Brigadeunternehmen erwirtschaftete industrielle Brut-toproduktionswert verdoppelte sich vor diesem Hintergrund von 33,2 Mrd. YuanRMB im Jahr 1977 auf 75,4 Mrd. Yuan RMB in 1983. Dabei ist allerdings zu beto-nen, dass jenseits der politisch-ideologischen Unterstützung, »[t]he emergence ofTVEs was not designed or guided by the state, even not known to the latter«. 49 DieGründung und erfolgreiche Führung dieser Unternehmen basierte auf (institutio-nellen) Unternehmern, die innerhalb des politisch-ideologisch geschaffenen Frei-raums aktiv wurden. Diese unternehmerischen Aktivitäten erfolgten innerhalb einesRahmenwerks von institutionellen und gesamtwirtschaftlichen Parametern, die in-nerhalb der einzelnen Landesregionen keineswegs vollständig identisch waren undsomit bereits in der Frühphase der Entwicklung zu einer regionalen Ausdifferenzie-rung des Modells »TVE« führten.50 Die folgenden Ausführungen stellen von daherzentrale Entwicklungslinien dar, die auf lokaler Ebene vielfältige Variationen erfah-ren haben. Es werden drei Parameter betrachtet:1. Anreizstrukturen und Unternehmerpersönlichkeiten2. Verfügbarkeit und Zugang zu Produktionsfaktoren3. Verfügbarkeit und Zugang zu Absatzkanälen

Anreizstrukturen und Unternehmerpersönlichkeiten. Während der hier themati-sierten Periode und insbesondere zu ihrem Beginn waren industrielle Unternehmun-gen grundsätzlich eine Aktivität unter dem Dach und unter Kontrolle der Volks-kommunen bzw. der in deren Nachfolge stehenden lokalen Gebietskörperschaften.Obwohl der eingangs zitierte »Entschluss des Zentralkomitees zu einigen Fragen derFörderung der landwirtschaftlichen Entwicklung« mit der Sanktionierung des »Sys-tems der persönlichen Verantwortung« bei gleichzeitiger Implementierung einesQuotenablieferungssystems durchaus Freiraum für private Initiativen geschaffenhatte, entstammte der überwiegende Anteil der Industrieunternehmer den lokalenpolitischen und administrativen Führungseliten.51 Tatsächlich hatte diese Gruppeauch die stärksten Anreize sich zu engagieren. Während primär materiell motiviertesUnternehmertum durch die hohen (z.T. prohibitiven) Transaktionskosten einer indi-viduellen Zurechenbarkeit sowie eine noch unzureichende soziale Akzeptanz hoher

48 Vgl. He, Zhongguo de xiangzhen qiye [Chinas Ländliche Unternehmen], aaO. (FN 39).49 Vgl. Zou Wei, TVEs as an Alternative Approach to Rural Industrialization, mimeo 2002, S. 8.50 Vgl. Jean C. Oi / Andrew G. Walder, »Property Rights in the Chinese Economy: Con-

tours of the Process of Change« in: dies. (Hg.), Propery Rights and Economic Reform inChina, Stanford 1999, S. 1-24, und Hans Hendrischke, »How local are local enterpri-ses? Privatisation and translocality of small firms in Zhejiang and Jiangsu« in: ProvincialChina, Vol. 8., No. 1, S. 27-39.

51 Vgl. Zou, TVEs as an Alternative Approach to Rural Industrialization, aaO. (FN 49).

05_Taube Seite 193 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 75: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen194

individueller Einkommen innerhalb der unmittelbaren Lebensgemeinschaft negativbetroffen wurde, konnten Mitglieder der Partei- und Regierungselite individuelleErfolgsprämien in Form von Machtzuwachs und Karriereförderung realisieren.

Verfügbarkeit und Zugang zu Produktionsfaktoren. Arbeitskraft und Bodenkonnten in den ländlichen Regionen vergleichsweise unproblematisch in neue in-dustrielle Verwendungszwecke überführt werden. Während in Hinblick auf Ar-beitskraft ein Überangebot gegeben war, das ohne Ausbringungsverluste im land-wirtschaftlichen Sektor genutzt werden konnte, war Land zwar relativ knapp.Aufgrund seiner vergleichsweise unproduktiven Nutzung waren die Opportuni-tätskosten einer Umwidmung allerdings gering. Durch eine industrielle Nutzungvorhandener Bodenressourcen konnten i.d.R. deutlich höhere Einkommen realisiertwerden. Problematisch war hingegen die Verfügbarkeit von Kapital. Zum Ausgangder 1970er Jahre war nicht nur die Kapitalakkumulation der Volkskommunen unddie Befähigung privater Haushalte, Ersparnisse zu bilden, kaum ausgeprägt, auchder ländliche Bankensektor war stark unterentwickelt. Der ländliche Industriesek-tor musste von daher in der Anfangsphase auf knappe Kreditlinien des formalenBankensektors sowie kaum verfügbare individuelle Darlehen zurückgreifen (vgl.den Fall der Hengdian Unernehmensgruppe oben). Diese Konstellation änderte sichmit dem Erfolg des »Haushaltsverantwortlichkeitssystems« allerdings innerhalbkurzer Zeit. Mit rasch wachsenden Einkommen erhöhte sich die Ersparnisbildungder privaten Haushalte und kam es nicht nur zur Stärkung des formalen Bankensek-tors. Noch stärker als dieser wuchsen letztlich informelle Kreditgenossenschaften,»Rotating Savings and Credit Associations« u.ä. Institutionen.52 Die Verfügbarkeitvon Fremdkapital verbesserte sich in dieser Periode faktisch von Jahr zu Jahr. Wäh-rend der formale Bankensektor dabei nur formal registrierten Kollektivbetriebenund Persönlichkeiten der lokalen politischen Führung zugängig war, bot der infor-melle Finanzsektor allen – lokal ansässigen – Akteuren die Möglichkeit von Fremd-finanzierungen. Aufgrund der engen sozialen Bindungen innerhalb vergleichsweisekleiner Gemeinden und der durch das hukou-System53 faktisch gegebenen Unmög-lichkeit einer (fluchtartigen) Verlagerung des Wohnsitzes waren diese informellenKreditorganisationen weitestgehend vor opportunistischem Verhalten gefeit undkonnten mit einem geringen (variablen) Transaktionskostenniveau operieren.54

52 Vgl. Timothy Besley / Stepen Coate / Clenn Loury, »The Economcis of RotatingSavings and Credit Associations« in: The American Economic Review, Vol. 83 (1993), S.792-810; Kellee S. Tsai, Back-Alley Banking. Private Entrepreneurs in China, Ithaca2002, und Feng Xingyuan, Toushi Zhedong hehui xianxiang [Durchleuchtung des Phä-nomens der ROSCA in Ost-Zhejiang], mimeo 2004.

53 Im Rahmen des hukou-Systems wird in China bis zum heutigen Tage die freie Wahl desWohnplatzes eingeschränkt. Während der hier thematisierten Periode hatten Bürgernur am eingetragenen Wohnsitz (hukou) Zugang zu staatlichen Sozialleistungen sowieWohnraum und Arbeit.

54 Vgl. Yoram Ben-Porath, »The F-Connection: Families, Friends, and Firms and theOrganization of Exchange« in: Population and Development Review, Vol. 6 (1980), S. 1-30, und Jack L. Carr / Janet T., »The Economics of Symbols, Clan Names, and Reli-gion« in: Journal of Legal Studies, Vol. 12 (1983), S. 135-156.

05_Taube Seite 194 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 76: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 195

Verfügbarkeit und Zugang zu Absatzkanälen. In der hier thematisierten Früh-phase bedienten die ländlichen Industriebetriebe zumeist die lokale Nachfrage. DerAbsatzradius beschränkte sich i.d.R. aufgrund lokalen Verwaltungsprotektionismussowie einer mangelhaften Transportinfrastruktur auf die (ehemaligen) Volkskom-munengrenzen. Es bestand somit ein zwar eng beschränkter, aber grundsätzlich»gesicherter« und keinem Konkurrenzdruck ausgesetzter Absatz»markt«. DieserAbsatz»markt« und der Zugang zu diesem wurde allerdings grundsätzlich durch lo-kale Regierungsvertreter kontrolliert.55

Im Überblick ergab sich somit ein durchaus günstiges Umfeld für unternehmeri-sche Initiativen und somit die Etablierung innovativer Institutionen sowie industri-eller Strukturen in den ländlichen Regionen Chinas. Persönlichkeiten der lokalenpolitischen Führungselite blieben allerdings mit weit reichenden diskretionärenEntscheidungsspielräumen ausgestattet. Angesichts einer Konstellation, der gemäßdie Politik entscheidenden Einfluss auf den Erfolg eines Industriebetriebs nehmenkann, stellten Persönlichkeiten mit engen Verbindungen in die Politik die Mehrzahlder Unternehmer. Ihre Vernetzung im politisch-administrativen Überbau und ihreErfahrungen in einem halb-plangesteuerten-halb-marktorientierten Umfeld stattetesie mit größeren Erfolgsaussichten aus, als rein private Unternehmer ohne entspre-chende Vernetzung zum politischen Sektor.

Die den ländlichen Industriebetrieben während dieser Periode zugrunde liegen-den Verfügungsrechtsstrukturen waren vor diesem Hintergrund kaum transparen-ter als jene der Vor-Reform-Ära. Unabhängig von den faktisch sowieso sehr hohenTransaktionskosten einer Durchsetzung privater Verfügungsrechte, muss die vor-herrschende Intransparenz bzw. Ambiguität aber letztlich als eine grundsätzlich dengegebenen Rahmenbedingungen angepasste und durchaus zielführende Konstellati-on bewertet werden. Im Kontext politisierter »grauer« Märkte auf der Beschaf-fungs- und Absatzseite entschied sich der Erfolg einer Unternehmung nicht überdie kaufmännische Qualifikation des Managements, sondern vielmehr über die Be-fähigung, politisches »Kapital« für die Unternehmensziele zu sichern. 56 Die »Inter-nalisierung«57 bzw. Kooptierung politischer Akteure im Rahmen unklar spezifizier-ter Verfügungsrechtsstrukturen erscheint von daher als dominante Strategie, die mitgeringen Transaktionskosten zentrale Faktoren einer erfolgreichen Geschäftsent-wicklung sicherte.

55 Vgl. Tan Qiusheng, Xiangzhen jitiqiye chanquanjiegou de tezheng yu gaige [Charakte-ristika und Reform der Verfügungsrechtsstrukturen kollektiver TVE], Changsha 1998.

56 Vgl. Tan, Xiangzhen jitiqiye chanquanjiegou de tezheng yu gaige, aaO. (FN 55), LiuGuoliang, Zhongguo xiangzhen qiye zengzhang yu xiaolü [Wachstum und Effizienz derTVE in China], Beijing 2001, und Barbara Krug / Judith Mehta, »Entrepreneurship byAlliance«, in: Barbara Krug (Hg.), China’s Rational Entrepreneurs. The development ofthe new private business sector, London 2004, S. 50-71.

57 Vgl. Oliver E. Williamson, The Economic Institutions of Capitalism: Firms, Markets,Relational Contracting, London 1985.

05_Taube Seite 195 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 77: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen196

3. Durchbruch in den formalen Sektor: 1984-1988

Auf der Basis der Erfahrungen der vorangehenden Jahre erfuhr der ländliche Indus-triesektor im Jahr 1984 eine entscheidende politische Aufwertung. Nicht nur wurdeihm der Status einer wichtigen Ergänzung des staatlichen (urbanen) Industriesektorszuerkannt, auch eine offene Konkurrenzsituation zwischen diesen beiden Sektorenwurde von Beijing zugelassen und als positiv bewertet. 58 Noch entscheidender war je-doch die mit der im März 1984 verlautbarten offiziellen Umbenennung von »Kom-mune- und Brigeadebetrieben« in township village enterprises (TVE) einhergehendeÄnderung der Definition des ländlichen Industriesektors. Dieser umfasste nun im of-fiziellen Verständnis der Zentralregierung nicht nur Unternehmen unter der Führungvon Kreisstädten und Dörfern, d.h. Kollektivbetriebe, sondern nun auch von Regie-rungseinheiten losgelöste bäuerliche Genossenschaften und privat geführte Betriebe.Hiermit war jetzt endgültig auch für Unternehmer ohne unmittelbare Verbindung inden lokalen Partei- und Regierungsapparat der Boden bereitet. Tatsächlich explodiertedie Anzahl der offiziell registrierten TVE von 1,65 Mio. im Jahr 1984 auf 18,9 Mio. imJahr 1988. Im gleichen Zeitraum stieg der im TVE-Sektor erwirtschaftete industrielleBruttoproduktionswert von 102 Mrd. Yuan RMB auf 499 Mrd. Yuan RMB an. 59

Die sich den einfachen Bauern bietenden Anreizstrukturen verschoben sich in die-ser Periode auch jenseits der auf zentralstaatlicher Ebene erfolgten politisch-ideologi-schen Legitimierung zugunsten eines unternehmerischen Engagements. Mit der fiskal-politischen Dezentralisierung und der flächendeckenden Verbreitung eines Systems,der gemäß lokale Gebietskörperschaften einen fixen Betrag an übergeordnete Einhei-ten abführen mussten, weitere Einnahmen aber weitgehend einbehalten und nach ei-genen Prioritäten verwenden konnten (›tax farming‹), veränderte sich die Einstellunggegenüber privatem Unternehmertum. Entscheidend für das Wohlwollen der Lokal-regierung wurde nun weniger die Eigentumsform eines Unternehmens als vielmehrdessen Befähigung, Steuerzahlungen zu leisten.60 Andererseits war die Bauernschaftaber auch zunehmend Push-Faktoren ausgesetzt, die unternehmerische Aktivitätenimmer attraktiver erscheinen ließen. Ursache war die Mitte der 1980er Jahre begonne-ne Reduzierung staatlicher Ankaufspreise für Getreide und die sich so verschlechtern-de Einkommenssituation im landwirtschaftlichen Sektor.61 Ab Mitte der 1980er Jahrestagnierten hier die Realeinkommen, während der Industriesektor aufgrund verzerrterterms-of-trade zum ländlichen Sektor hohe Einkommenszuwächse realisierte. 62

58 Vgl. He, Zhongguo de xiangzhen qiye, aaO. (FN 39).59 Vgl. Nongyebu xiangzhen qiye ju, Zhongguo xiangzhen qiye tongji ziliao (1978-2002

nian). aaO. (FN 37).60 Allzu erfolgreiche Privatbetriebe liefen allerdings auch Gefahr, von Lokalregierungen

zwangskollektiviert oder übernommen zu werden. Vgl. Ole Odgaard, »Collective Con-trol of Income Distribution: A Case Study of Private Enterprises in Sichuan Province«in: Jorgen Delman (Hg.), Remaking Peasant China, Aarhus 1990

61 Vgl. Guo Jiann-Jong, Price Reform in China, 1978-1986, London 1992.62 Vgl. Barry Naughton, Growing out of the Plan. Chinese Economic Reform, 1978-1993,

Cambridge 1995.

05_Taube Seite 196 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 78: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 197

Privat geführte TVE waren Mitte der 1980er Jahre formal legitimiert und alsnützliche Ergänzung der staatlichen und kollektiven Industrie bewertet worden.Dessen ungeachtet blieben aber auch während dieses Zeitraum die den Unterneh-men zugrunde liegenden Verfügungsrechtsstrukturen zumeist hochgradig intrans-parent und in ihrer Spezifikation und individuellen Zuweisung nicht eindeutig.Zahlreiche privat geführte TVE betrachteten es als opportun – auch ohne explizitenZwang – stakeholder aus der lokalen Partei- und Regierungshierarchie zu kooptie-ren und/oder sich einen »roten Hut« aufzusetzen, d.h. sich gegen Zahlung einer»Gebühr« als Kollektivbetrieb registrieren zu lassen. De facto war auch in der zwei-ten Hälfte der 1980er Jahre die Bedeutung »politischen Kapitals« für den Unterneh-menserfolg von grundlegender Bedeutung. Zwar hatte im Zuge der fortschreitendenReformbewegung die Bedeutung kaufmännischer Qualifikationen deutlich an Be-deutung gewonnen, das Umfeld blieb aber weiterhin durch politisierte »graue«Märkte geprägt. 63 Bestimmte für den Betriebsablauf benötigte Inputs waren für Pri-vatbetriebe entweder gar nicht erhältlich oder aber nur zu deutlich erhöhten Prei-sen. Güter der Grundstoffindustrie wie Stahl, Zement, Bauholz, etc. unterlagenstrengen Allokationsmechanismen und blieben aufgrund ihrer grundsätzlichenKnappheit für private Betriebe nur schwer erhältlich.64 Ein ›level playing field‹, indem alle Unternehmen nach gleichen Regeln miteinander im Wettbewerb gestandenhätten, war zu diesem Zeitpunkt noch ferne Utopie.

Die Diskriminierung privat geführter Betriebe blieb dabei keineswegs auf dieEbene des freien Zugangs zu Beschaffungsmärkten oder Preisforderungen be-schränkt. Lokalregierungen schreckten auch nicht davor zurück, private Unterneh-mer aus dem Markt zu drängen oder zum Verkauf ihrer Betriebe zu zwingen, wennletztere in starker Konkurrenz zu eigenen, kollektiv geführten Unternehmen stan-den oder aber sehr lukrative Geschäftsfelder erschlossen hatten.65 Die Kooptierungvon Regierungsorganisation über uneindeutige Verfügungsrechtsstrukturen warvon daher in dieser Periode auch als simple Versicherung gegen Expropriation einesinnvolle Maßnahme.66

Im Überblick ist letztlich festzustellen: Die Transaktions- bzw. Opportunitäts-kosten der eindeutigen Spezifizierung und Zuweisung von Verfügungsrechten ver-harrten in dieser Periode für die meisten Akteure noch auf einem prohibitiv hohenNiveau. Trotz der weiterhin grundsätzlich unzureichend spezifizierten Verfügungs-rechtsstrukturen und uneindeutigen Abgrenzung von Entscheidungsbefugnissen,zeichneten sich im Hintergrund dieser Strukturen aber bereits zukunftsweisendeneue Entwicklungen ab. Insbesondere auf der Dorfebene, auf der der Einfluss derRegierungskader aufgrund des nun die Produktionsstrukturen dominierenden

63 Vgl. Tan, Xiangzhen jitiqiye chanquanjiegou de tezheng yu gaige, aaO. (FN 55), undLiu, Zhongguo xiangzhen qiye zengzhang yu xiaolü, aaO. (56).

64 Vgl. Hu Biliang, Fazhan lilun yu Zhongguo [Entwicklungstheorie und China], Beijing1998.

65 Vgl. Odgaard, »Collective Control of Income Distribution: A Case Study of PrivateEnterprises in Sichuan Province«, aaO. (FN 60).

66 Vgl. Krug, Enterprise Ground Zero in China, aaO. (FN 23).

05_Taube Seite 197 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 79: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen198

»Haushaltsveranwortlichkeitssystems« und die Industrialisierungsbewegung sub-stantiell zurückgegangen war, erhielten nicht nur privat geführte Betriebe zuneh-menden Freiraum, sondern erlebten insbesondere Kollektivbetriebe eine einschnei-dende Veränderung ihrer Führungsstrukturen.67 Während kollektiv geführte TVE inder Frühphase von Geschäftsführern geführt wurden, die über Fix-Lohn-Verträgevon der Dorfregierung eingestellt worden waren, setzten sich bereits nach wenigenJahren ›sharecropping‹ Verträge durch, 68 die auf eine unternehmerische Aufteilungder Residualgewinne zwischen Dorfregierung und Geschäftsführern hinausliefern.Die Grundlage hierfür lieferte das von der Zentralregierung sanktionierte Modelldes »Systems der persönlichen Verantwortung«. Hiermit war eine konvergentereVerteilung von Verfügungsrechten im Sinne der Koppelung von Verfügungsrechtender Dimension usus mit der des usus fructus erreicht worden, von der auch im Kon-text von »unklaren« Gesamtstrukturen stärkere Leistungsanreize und von dahereine bessere Ressourcennutzung ausging. Beginnend auf der Dorfebene bewegtensich die im TVE-Sektor anliegenden Verfügungsstrukturen nun offensichtlich inRichtung der in der klassischen Property Rights Theorie postulierten Strukturen.

Zum Ende der Periode tauchte neben diesen Modellen, die mittels spezifischerVertragskonstruktionen zwischen Lokalregierung und Unternehmensführung aufeine graduelle Klarifizierung der Verfügungsrechtsstrukturen hinausliefen, noch einweiterer Entwicklungsstrang auf, der dieses Ziel auf anderem Wege verfolgte: Ak-tien-Genossenschaften.69 Aktien-Genossenschaften boten die Möglichkeit, einer-seits einen »roten Hut« aufzubehalten, anderseits aber eine eindeutige Abgrenzungder Eigentumsansprüche der Lokalregierung und anderer stakeholder an die Unter-nehmung herbeizuführen. Mit der hierdurch gewonnenen (höheren) Transparenzwurde die Unternehmensführung in die Lage versetzt, sich besser vor beliebigen In-terventionen der Lokalregierung zu schützen. Eine eindeutige Definition und Zu-weisung von Verfügungsrechten wurde hiermit allerdings – zumindest formal –noch nicht erreicht. Das Beispiel der oben bereits vorgestellte Wanxiang Unterneh-mensgruppe macht dies deutlich. Nachdem die Eigentümerstruktur des Unterneh-mens im Verlauf der 1980er Jahre durch die an die Belegschaft gerichtete Aufforde-rung, Teile ihres Lohnes im Unternehmen zu investieren, noch komplexer undintransparenter geworden war, änderte das Unternehmen 1988 seine Unterneh-mensverfassung in eine Aktien-Genossenschaft.70 Im Zuge dieser Umwandlung

67 Vgl. Zou, TVEs as an Alternative Approach to Rural Industrialization, aaO. (FN 49).68 Vgl. Armen A. Alchian / Harold Demsetz, »Production, Information Costs, and Eco-

nomic Organization«, in: American Economic Review, Vol. 62 (1972), S. 777-795.69 Vgl. Carsten Herrmann-Pillath / Kato Hiroyuki, Ein »Dritter Weg« in Chinas Dörfern? Das

»Aktien-Genossenschaftssystem« und Transformation der ländlichen Unternehmen, Duis-burger Arbeitspapiere zur Ostasienwirtschaft Nr. 31/1996, Duisburg, und Eduard B. Ver-meer, »Shareholding Cooperatives: A Property Rights Analysis«, in: Jean C. Oi / AndrewG. Walder (Hg.): Property Rights and Economic Reform in China, Stanford 1999, S. 123-144.

70 Vgl. Lu, »Wanxiang jituan zenyang fazhan qilaide«, aaO., und Li, »Zhongguo feiguoy-ing qiye jituan zhili jiegou tezheng – Zhejiang xiangzhen qiye jituan xianxing zhili jie-gou«, aaO. (FN 41).

05_Taube Seite 198 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 80: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 199

wurde der Großteil der Aktien der abstrakten Größe »Belegschaft« zugesprochen.Die Wanxiang Unternehmensgruppe wurde somit offiziell in den Mehrheitsbesitzihrer Belegschaft überführt. Hiermit gingen jedoch keine individualisierbaren Rech-te für einzelne Belegschaftsmitglieder einher. Weder hatten sie Kontrollrechte überdie Geschäftsführung noch konnten sie Einfluss auf die Verwendung operativer Ge-winne nehmen. Auch ein Transferrecht war nicht definiert: Der individuelle Eigen-tumstitel erlosch mit Ableben oder Verlassen des Unternehmens.

Mit ihrer Umfirmierung als Aktien-Genossenschaft hatte die Wanxiang Gruppesomit letztlich eine Eigentumsstruktur geschaffen, der gemäß formaljuristisch eineanonyme Masse die Mehrheitsrechte an der Unternehmung besaß. Eine Untermi-nierung der Leistungsfähigkeit des Unternehmens durch massenhaftes ›free-riding‹und die Allmende-Problematik des »Alles-gehört-Allen« wurde jedoch dadurchverhindert, dass der »Gehalt«, d.h. das über die jeweiligen Aktienanteile definierteBündel an Verfügungsrechtskomponenten der den unterschiedlichen Parteien zuge-sprochenen Aktien stark variierte. Dem Großaktionär »Belegschaft« wurden de fac-to keine operationalen Verfügungsrechte übertragen. Die Interessen der »Beleg-schaft« wurden vielmehr durch die Unternehmensführung – quasi »treuhänderisch«– wahrgenommen.71 Die Ausdünnung der Verfügungsrechte der Belegschaft gingalso einher mit einer korrespondierenden Konzentration von Entscheidungsbefug-nissen bei der Unternehmensführung.72 Faktisch war mit diesem Modell derAktien-Genossenschaft somit bereits ein hoher Grad der Exklusivität von Eigen-tumsrechten erreicht – formal bot sich allerdings weiterhin das Bild ausgeprägterIntransparenz und Ambiguität.

4. Polit-ideologische Eiszeit: 1989-1991

Die Periode 1989-1991 bezeichnet die schwerwiegendste Krise des gut zehn Jahrezuvor von Deng Xiaoping initiierten Reform- und Öffnungsprozesses. Letztlichgeschürt durch makroökonomische Fehlsteuerungen sowie eine unglückliche Ter-minierung und Kommunikation von Preisreformen kam es zu Unruhen, die letzt-

71 Es ist somit eine irreführende Darstellung der Realität, wenn der VorstandsvorsitzendeLu Guanqiu behauptet, dass ein jeder Mitarbeiter nach Abschluss seiner Probezeit »zueinem kleinen Boss wird. Egal ob groß, ob klein, alle sind Chefs. Alle besitzen Aktienund da das so ist, tragen auch alle die volle Eigentümerverantwortung.” (Lu, »Wanxiangjituan zenyang fazhan qilaide«, S. 26.).

72 Li zeigt, dass diese Konzentration von Entscheidungsbefugnissen zwar eigentlich demgeltenden Recht widersprach, faktisch aber geduldet wurde. Die Satzung der WanxiangUnternehmensgruppe wies dem Vorstand Rechte zu, die gemäß chinesischer Gesetzge-bung eigentlich der Aktionärsvertretung zugestanden hätten. Dies betraf insbesonderedie Entscheidungsgewalt über die strategische Ausrichtung der Unternehmensaktivitä-ten, die Finanzverwaltung und Gewinnverteilung (d.h. die Bedienung von Residual-ansprüchen), erstreckte sich aber auch auf zahlreiche andere Bereiche. (Li, »Zhongguofeiguoying qiye jituan zhili jiegou tezheng – Zhejiang xiangzhen qiye jituan xianxingzhili jiegou«, aaO. (FN 41)) .

05_Taube Seite 199 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 81: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen200

lich in dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz mündeten.73 Auf der politischenBühne führten diese Vorkommnisse zu einer Erstarkung konservativer Kräfte, dieden institutionellen Innovationsprozess des vergangenen Jahrzehnts zunächst zumHalt brachten und eine Stärkung traditioneller Strukturen einleiteten.74

Der TVE-Sektor konnte während dieser Phase zwar seinen Output weiter sub-stantiell steigern – der innerhalb des TVE-Sektors erwirtschaftete industrielle Brut-to-Produktionswert stieg von 499 Mrd. Yuan RMB im Jahr 1988 auf 870 Yuan RMBim Jahr 1991 an 75 – innerhalb des Sektors wurden allerdings innovative Organisati-onsstrukturen und insbesondere privatwirtschaftlich Initiativen stark zurückge-drängt. Die als Kollektiv geführten Betriebe erlebten demgegenüber einen Auf-schwung und konnten ihre relative Position innerhalb des TVE-Sektors wiederstärken.

5. Goldenes Zeitalter: 1992-1997

Ein ähnlicher politisch-ideologischer Befreiungsschlag wie er im Jahr 1978 durchdie Abkehr vom Klassenkampf und die Erhebung der Förderung der wirtschaftli-chen Entwicklung zum politischen Primat erfolgte leitete auch 1992 die RückkehrDeng Xiaopings in das Zentrum der Macht in Beijing ein. Auf dem 14. Parteikon-gress im September 1992 wurde nun nicht nur das Konzept der »SozialistischenMarktwirtschaft« zum Leitprinzip der ordnungspolitisch-institutionellen Ausge-staltung der chinesischen Wirtschaftsordnung erhoben. Dieses neue Konzept wurdeauch jenseits der Dogmen vergangener Ideologiediskussionen verortet. Im offiziel-len Sprachgebrauch wurde nun erklärt, dass der Marktmechanismus lediglich einInstrument zur Forcierung der wirtschaftlichen Entwicklung, nicht aber Charakte-ristikum des Gesellschaftssystems sei. Die marxistische Leitidee, dass die Produkti-onsverhältnisse das gesellschaftliche Sein determinierten war somit negiert. Auchmit einer marktbasierten Wirtschaftsordnung, so hieß es nun, könne China weiter-hin ein sozialistisches Gesellschaftssystem praktizieren. Mit dieser revolutionärenUmdeutung des marxistischen Ideengebäudes war nun der Weg frei gemacht für»radikale« institutionelle Innovationen, die kompromisslos auf den Aufbau einerfunktionsfähigen Marktwirtschaft zielten. Ideologiegeleitete Debatten über dieKompatibilität einzelner Reformmaßnahmen mit dem Sozialismus konnten nunentfallen.76

73 Vgl. Heike Holbig, Inflation als Herausforderung der Legitimation politischer Herr-schaft in der VR China. Wirtschaftspolitische Strategien in den Jahren 1987-89, Ham-burg 2001.

74 Vgl. Lowell Dittmer / Wu Yushan, »The Modernization of Factionalism in ChinesePolitics«, in: World Politics, Vol. 47 (1995), No. 4, S. 467-494.

75 Vgl. Nongyebu xiangzhen qiye ju, Zhongguo xiangzhen qiye tongji ziliao (1978-2002nian). aaO. (FN 37).

76 Vgl. Bell, et al., China at the Threshold of a Market Economy, aaO. (FN 2), und Qian,»The Process of China’s Market Transition (1978-1998): The Evolutionary, Historical,and Comparative Perspectives«, aaO. (FN 2)

05_Taube Seite 200 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 82: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 201

Für den TVE-Sektor bedeutete dies, dass nun der Weg frei war für eine grundle-gende Reorganisation der Verfügungsrechtsstrukturen und Überwindung der – zu-mindest formalen – Ambiguität der 1980er Jahre. Gleichzeitig erlebte der Sektor ei-nen weiteren Entwicklungsschub. Die Unternehmenszahl stieg auf über 20 Mio. an,während der im TVE-Sektor erwirtschaftete industrielle Bruttoproduktionswert biszum Jahr 1997 auf 1.452 Mrd. Yuan RMB anstieg. Gut ein Drittel der ländlichenEinkommen wurden nun im TVE-Sektor erwirtschaftet.77

Zum Ende der Periode – faktisch zu einem Zeitpunkt, da das Modell der TVEseinen Höhepunkt bereits überschritten hatte und begann, sich in Richtung veritab-ler Privatunternehmen weiterzuentwickeln – erlangte der TVE Sektor erstmals eineformaljuristische Grundlage.78 Zum 1. Januar 1997 trat das »TVE-Gesetz der VRChina«79 in Kraft. Hiermit wurde erstmals auf zentraler Ebene ein (grundsätzlich)nicht verhandelbarer Kanon festgeschrieben, der TVE Rechtssicherheit gewährteund die prozeduralen Transparenz innerhalb des Sektors stärkte. Die Entwicklungdes TVE Sektor wurde hierdurch allerdings kaum mehr beeinflusst. Im Verlauf der1990er Jahre war es im Zuge der forcierten Transformationsbewegung in RichtungMarktwirtschaft zu einer sukzessiven Auflösung der »grauen« Märkte gekommen,die den Einfluss lokaler Gebietskörperschaften auf das betriebswirtschaftliche Er-gebnis der TVE immer weiter zurückdrängten. Kaufmännisches Geschick wurde zueiner entscheidenden Größe wirtschaftlichen Erfolgs. »Politisches« Kapital wurdekeineswegs bedeutungslos, verlor jedoch an relativer Bedeutung.

Diese veränderte Konstellation fand letztlich auch in der Ausgestaltung der Ver-fügungsrechtsstrukturen ihren Niederschlag. Modelle, die bereits in früheren Jahrenpunktuell entwickelt worden waren, setzten sich nun auf breiter Front durch. DasModell der Aktien-Genossenschaften wurde in zahlreichen Unternehmen (in beina-he eben so vielen Varianten umgesetzt). Bei anderen Unternehmensverfassungenwurden ›sharecropping‹ Verträge zur dominanten Vertragsform zwischen Lokalre-gierungen und Geschäftsführungen. Zum Ende der Periode erfolgte allerdings mitder zunehmenden Verpachtung von Betrieben an eigenverantwortlich agierendeUnternehmer ein noch weitergehender Rückzug lokaler Gebietskörperschaften ausder operativen Verantwortung, die damit gleichzeitig auch konsequenterweise An-sprüche auf unternehmerisch herbeigeführte Residualeinkommen aufgaben. Auf lo-kaler Ebene wurde dieser Prozess durch eine mittlerweile deutlich gewachsene ge-sellschaftliche Akzeptanz weit überdurchschnittlicher Einkommen einzelnerPersonen unterstützt. Privates Unternehmertum und die Realisierung hoher priva-ter Einkünfte führten nicht länger zu sozialer Ächtung und Verlust von – für dieGeschäftstätigkeit unverzichtbarem – Sozialkapital.

77 Vgl. Nongyebu xiangzhen qiye ju, Zhongguo xiangzhen qiye tongji ziliao (1978-2002nian). aaO. (FN 37).

78 Vgl. He, Zhongguo de xiangzhen qiye, aaO. (FN 39)79 »Zhonghua renmin gongheguo xiangzhen qiye fa«, abgedruckt in He, Zhongguo de

xiangzhen qiye, aaO. (FN 39), S. 210-215.

05_Taube Seite 201 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 83: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen202

Die Hengdian Unternehmensgruppe ging schließlich einen ähnlichen Weg wiedie Wanxiang Gruppe, um ihre hochgradig unklare Eigentümerstruktur80 an die Er-fordernisse des zunehmen marktbasierten wettbewerbsorientierten Umfeld anzu-passen.81 Im Jahr 1994 kam es zur Formulierung eines Dokuments,82 in dem die Ei-gentumsstrukturen der Unternehmensgruppe umrissen wurden. Gemäß diesemDokument befand sich das Eigentum an der Unternehmensgruppe weder in Hän-den der Lokal-, Provinz- oder Zentralregierung, noch bei den Dorfkollektiven oderirgendeinem Individuum. Stattdessen wurde die Hengdian Unternehmensgruppezum Eigentum ihrer Belegschaft erklärt. Dabei ist festzuhalten, dass Mitte der1990er Jahre ca. 70% der erwerbsfähigen Bevölkerung der Gemeinde Hengdian beidem Unternehmen beschäftigt waren und somit jede Familie in irgendeiner Weisemit dem Unternehmen verbunden war und Eigentumstitel hielt. Dessen ungeachtetist zu beachten, dass hier – wie im Falle der Wanxiang Gruppe – der »Belegschaft«in dem Sinne eine eigenständige Existenz zugesprochen, als die »Eigentumsansprü-che« individueller Belegschaftsmitglieder an den Anstellungsvertrag gebunden wa-ren und mit deren Ausscheiden erloschen. Die den Eigentümer »Belegschaft« kon-stituierenden Individuen wechselten somit permanent.

Aus Sicht der Propery Rights Theorie sollten wir uns mit dieser Konstellation inder schlechtesten aller Welten befinden. Mit dem Gemeinschaftseigentum wird derGrundsatz einer Kopplung von Leistung und Entlohnung durchbrochen. ›shirking‹und ›free-riding‹ sollte zur dominanten Strategie der Belegschaftsmitglieder aufstei-gen, deren Leistungsverweigerung in ihrer Konsequenz ja auf alle anderen streutund in der individuellen Zurechnung zu einer quantité negligeable wird. Genau wieim Fall der Wanxiang Gruppe trat dieser Effekt aber nicht ein, da sich das formalfestgeschriebene »Gemeinschaftseigentum« bei näherer Betrachtung als Illusion er-wies, hinter der eine mit starken Anreizmechanismen versehene Substruktur exklu-siver Verfügungsrechte verborgen war. Einzelne Gruppen von Belegschaftsmitglie-dern wurden mit deutlich größerer Verfügungsgewalt über die Vermögenswerte derUnternehmensgruppe ausgestattet als andere. In Übersicht 1 ist die Verteilung vonVerfügungsrechten auf die verschiedenen stakeholder der Hengdian Unternehmens-gruppe im Überblick dargestellt. Dabei ist zu beachten, dass aus dem »Eigentums-recht« auch kein Anspruch auf einen Arbeitsplatz im Konzern hergeleitet werdenkonnte. Alle Arbeitsverträge waren zeitlich befristet und kündbar. Da mit der Auf-hebung des Arbeitsverhältnisses aber automatisch auch der »Eigentumsanspruch«erlosch, konnte somit jeder Arbeitnehmer per Kündigung jederzeit enteignet wer-den.

80 Wie oben dargelegt wurden nie explizite Eigenkapitaleinlagen vorgenommen. Ausge-hend von - zurückgezahlten – Darlehen, entstanden Eigenkapital und Unternehmens-vermögen aus der der Akkumulation von operativen Gewinnen.

81 Vgl. Chen, »Zhidu bianqian yu xiangcun feizhenggui zhidu – lai zi Zhongguo xiangcunde jingyan: xiangzhen qiye de caichan xingcheng«, aaO. (FN 43).

82 »gangyao« kann mit »Abriss«, »Skizze« übersetzt werden. Dies zeigt den niedrigen for-maljuristischen Stellenwert dieser mit weit reichenden Implikationen versehenen Fest-schreibung von Eigentumsstrukturen.

05_Taube Seite 202 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 84: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 203

Übersicht 1: De facto Verteilung von Verfügungsrechten auf verschiedene stakeholder der Hengdian Unternehmensgruppe

Rechtsvektoren

usus usus fructus abusus transfer

Gemeinde Hengdian

– die Unterneh-mensgruppe er-klärt sich bereit, für die Bedürf-nisse der Ge-meinde aufzukommen; mit Ausnahme der gesetzlich vorgeschriebe-nen Steuerzah-lungen unterwirft sie sich aber keinen festen Ansprü-chen der Lokal-regierung

– –

Management der Holding

volle Entschei-dungsgewalt über die strategi-sche Ausrich-tung, Investitionen, Besetzung von Spitzenpositio-nen

Festlegung der Verteilungs-schlüssel für Re-sidualgewinne

volle Entschei-dungsgewalt zur Einstellung / Veräußerung von Sparten und Einzelunterneh-men im Zuge der strategischen Ausrichtung der Unternehmung

volle Entschei-dungsgewalt zur Delegation von Entscheidungs-befugnissen im Rahmen von Verträgen (chengbao) bzw. Verpachtung von Einzelun-ternehmen

Management der Gruppenunter-nehmen

Entscheidungs-gewalt über das operative Ge-schäft im Rah-men der von der Holding vorge-gebenen Eck-punkte

Distribution der Residualgewin-ne im Rahmen der Vorgaben der Holding

unternehmeri-sche Entschei-dungsfreiheit im Rahmen der Vorgaben der Holding

Möglichkeit zur Vergabe von Aufgabenpake-ten an Subunter-nehmer

05_Taube Seite 203 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 85: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen204

Eigene Darstellung.

Die hier dokumentierte Ungleichverteilung von Entscheidungsgewalten wurde indem erwähnten Dokument nicht explizit festgelegt, sondern ergab sich vielmehr ausdem Fehlen expliziter Aussagen zu wichtigen Teilbereichen der corporate gover-nance. So führte das Dokument z.B. nicht aus, wie die Residualgewinne unter denEigentümern, d.h. der Belegschaft aufgeteilt werden sollten, noch schrieb es fest, in-wiefern die Belegschaftsmitgliedschaft neben einem abstrakten Eigentümerstatusgleichzeitig auch zur Teilnahme an der Unternehmensführung bzw. Kontrolle der-selben ermächtigte. Faktisch wurde die unternehmerische Leitung und volle Ent-scheidungsgewalt über die Unternehmensführung so in die Hände des Top-Ma-nagements und insbesondere des Gründers und ehemaligen Parteisekretär derVolkskommune Xu Wenrong gelegt. Der Vorstand war offensichtlich keinem insti-tutionellen Aufsichtsgremium Rechenschaft schuldig, konnte im Gegenzug aberauch keinen rechtlich abgesicherten Anspruch auf seine »Alleinherrschaft« vorwei-sen und unterlag somit ebenfalls der »Gnade« höherer (Regierungs-) Instanzen, dieaufgrund der fehlenden formalen Regelbindung theoretisch hätten intervenierenkönnen. In Hinblick auf die konkrete Unternehmensführung konnte so allerdingseine eindeutige Trennung zwischen Regierung und Management vollzogen werden,der gemäß politische Instanzen keinen Einfluss mehr auf die operative Unterneh-mensführung hatten.83

Die hier dargestellte Verfügungsrechtskonstellation zeigt, dass so innerhalb derHengdian Unternehmensgruppe Mitte der 1990er Jahre durchaus eine klare Zutei-

Belegschaft – (nicht-doku-mentierter) An-spruch auf Bonuszahlun-gen bei gleich-zeitiger Verpflichtung zur Hinnahme von Lohnkür-zungen bei nega-tiven Unternehmens-ergebnissen

– –

83 Vgl. Fan Gang, »Zhongguo nongcun qiye zuzhi de bianhua ji qi lilun qishi – you guan”Hengdian moshi” de yixie chubu sikao« [Die Veränderung der Organisation derLändlichen Unternehmen Chinas und deren theoretische Implikationen – einige ersteÜberlegungen zum ”Hengdian-Modell”], in: Jingji Yanjiu, Heft 5/1997, S. 43-45.

Rechtsvektoren

usus usus fructus abusus transfer

05_Taube Seite 204 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 86: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 205

lung von unternehmerischer Verfügungsgewalt und Verantwortung realisiert wor-den war, die mit den im Property Rights Ansatz formulierten Anforderungengrundsätzlich konform ging, obwohl in formaler Hinsicht das Unternehmenseigen-tum ineffizient verteilt war. Auch innerhalb des Unternehmens sorgte ein ausgeklü-geltes System von Verträgen für effiziente, d.h. anreizkompatible Verfügungsrechts-strukturen, die sicherstellt, dass mit Entscheidungsgewalt betraute Personen –angetrieben durch ihr Eigeninteresse – im Sinne der Gesamtunternehmung tätigwurden. Die Holding kontrollierte die Mehrzahl der Gruppenunternehmen überauf dem Prinzip des ›sharecropping‹ basierende »Verantwortungsverträge« (cheng-bao hetong). Weniger profitable Unternehmen wurden an Externe verpachtet. Da-bei mussten alle Vertragsnehmer bzw. Pächter Sicherheiten bereitstellen, die im Fal-le von Verlusten genutzt wurden, um einen Teil der Fehlbeträge zu decken. DiesesSystem geteilter Verantwortung für Gewinne und Verluste beschränkte sich aller-dings nicht nur auf das Verhältnis der verschiedenen Managementebenen zueinan-der, sondern wurde auch auf die Belegschaft ausgeweitet. So war z.B. in der SparteMaschinenbau & Elektronik vorgesehen, dass bei Verfehlen der Unternehmenszielenicht nur das Management Kürzungen ihrer Bezüge von bis zu 40% hinnehmensollte, sondern auch die Löhne der Arbeiterschaft um ca. 10% herunter geführtwerden sollten, wenn die Gewinne 10% unter die Unternehmensziele fallen sollten.D.h. der Belegschaft wurde trotz fehlender Möglichkeit zur Einflussnahme auf dieUnternehmensführung eine unternehmerische Verantwortung aufgebürdet, die ei-gentlich nicht gerechtfertigt erscheint, letztlich jedoch mit dem formalen »Eigentü-merstatus« der Belegschaft begründet werden kann.84

6. Übergang in exklusives Privateigentum: 1998 - Gegenwart

Zum Ende der 1990er Jahre hatten sich die Grundlagen der Geschäftstätigkeit fürdie im TVE Sektor zusammengefassten Unternehmen radikal verändert. Im Ver-gleich zu den Rahmenbedingungen zum Anfang der 1980er Jahre war eine komplettneue »Weltordnung« eingekehrt und hatten die shared mental maps aller beteiligtenAkteure eine gänzlich andere Gestalt angenommen. Dies wurde insbesondere aufder Ebene der Einstellungen der politischen Führung zum Verhältnis von Staat undUnternehmen deutlich: Während früher eine Einheit von Staat und Unternehmens-sektor als unverzichtbares Charakteristikum der Gesellschaftsordnung verstandenwurde, forcierte die Zentralregierung nun in Gestalt Zhu Rongjis die faktische

84 Die hier am Beispiel der Hengdian Unternehmensgruppe exemplarisch dargestelltenVerfügungsrechtsstrukturen finden sich auch bei anderen TVE-Konzernen wieder. Sowiesen z.B. alle vier Unternehmungen, die Chen in der Provinz Shandong untersuchthat, bei vergleichbarer Definition des Unternehmensvermögens als Gemeinschaftsei-gentum eine ebensolche Machtkonzentration in den Händen einer Person oder einerkleinen Gruppe von Top-Managern auf. Vgl. Chen Weixing, »The Political Economy ofRural Industrialization in China. Village Conglomerates in Shandong Province«, in:Modern China, Vol. 24 (1998), S. 73-96.

05_Taube Seite 205 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 87: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen206

Trennung von Regierung und Unternehmenssektor. Für den TVE Sektor galt nundie Vorgabe, dass sich lokale Gebietskörperschaften sukzessive aus der Eigentümer-schaft und operativen Führung von TVE zurückziehen sollten. Privatisierung alsProgramm!

Auf der anderen Seite wurde für die Geschäftsführungen der Betriebe die Koop-tion lokaler Gebietskörperschaften und die Pflege »politischen« Kapitals immer we-niger bedeutsam. Das politische Risiko privatwirtschaftlichen Engagements war mitder Verfassungsänderung von 1999, die Privat- und Staatseigentum an Produktiv-vermögen auf eine Stufe stellte, sowie der Bekanntmachung, dass auch Privatunter-nehmer Mitglieder der kommunistischen Partei werden könnten, im Jahr 2001 fak-tisch ausgeräumt. Angebot und Nachfrage nach Gütern und Produktionsfaktorenwurden bereits Ende der 1990er Jahre zum allergrößten (Güter) bzw. überwiegen-den (Produktionsfaktoren) Teil über marktermittelte Knappheitspreise gesteuert.Diskretionäre Einflussnahme von Regierungsorganen war einerseits kaum mehrmöglich, andererseits nicht mehr in der Lage, einem TVE entscheidende Vorteile zuverschaffen. Mit dem Beitritt zur WTO im Jahr 2001 ist China schließlich endgültigim Weltmarkt angelangt: Wettbewerb ist heute zum zentralen Gestaltungsfaktoravanciert. Politische Interventionen können den Erfolg oder Misserfolg unterneh-merischer Einheiten nicht mehr grundlegend determinieren. Dies heißt allerdingsnicht, dass Sozialkapital und insbesondere Netzwerke nicht weiterhin eine wichtigeRolle für die Anbahnung und Abwicklung von Geschäftsaktivitäten spielen85 – ge-ändert hat sich allerdings die Bedeutung der klassisch »politischen« Komponente.Die früher vorherrschende Interessensgemeinschaft oder Allianz »Unternehmer-Politiker« ist heute stärker horizontalen Strukturen zwischen Unternehmern gewi-chen.86

Den faktischen bzw. »schmutzigen« Privatisierungen der vorangehenden Jahrehat sich vor diesem Hintergrund seit Ende der 1990er Jahre nun eine Welle offenerPrivatisierungen angeschlossen, die in die Ausbildung klar definierter Verfügungs-rechtsstrukturen einmündet.

Zahlreiche Betriebe sind im Rahmen von Management-Buy-Out’s offiziell an ihreGeschäftsführungen verkauft worden. Dabei sind zweifelsohne zahlreiche Nebenge-schäfte mit dem Hintergrund der persönlichen Bereicherung getätigt worden, wich-tig ist jedoch hervorzuheben, dass die zentrale Frage, wer im Zuge der Auflösungunklarer Verfügungsrechtsstrukturen welche Ansprüche habe, oft gegen die Interes-sen lokaler Gebietskörperschaften und für private Unternehmer entschieden wurde.Kritische Fälle wurden i.d.R. unter Anlegung des Prinzips »Eigentum dem, der in-vestiert hat« bzw. wenn keine expliziten Investitionen dokumentiert werden konn-ten des Prinzips »Eigentum dem, der das Untenehmen aufgebaut hat« sehr pragma-

85 Vgl. Krug, Enterprise Ground Zero in China, aaO. (FN 23).86 Siehe in diesem Kontext insbesondere die Diskussion der »boundaries of the firm« bei

Krug (Krug, Enterprise Ground Zero in China, aaO. (FN 23)) und die Konzeption vonNetzwerken als »holding«-Strukturen für in einer Vielzahl von Märkten aktiven Unter-nehmungen.

05_Taube Seite 206 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 88: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 207

tisch gelöst.87 Insbesondere mit letzterem Grundsatz wurde die unternehmerischeLeistung betont und der Wert des politischen »Inputs« zur Unternehmens-entwicklung vergleichsweise weniger hoch bewertet. Insbesondere Unternehmun-gen, die faktisch privat geführt worden waren, sich aber einen »roten Hut« gekaufthatten, wurden so vor exzessiven Forderungen lokaler Regierungsorgane geschützt.

Auch die Hengdian Unternehmensgruppe hat die 1994 geschaffene Struktur des»Belegschaftseigentums« bei gleichzeitiger Entmachtung der Belegschaft bereits 1999wieder aufgelöst und sich neu als Aktiengesellschaft konstituiert. Hiermit ist nun erst-mals eine exklusive Zuweisung von Verfügungsrechten an individuelle Personen er-reicht worden und gleichzeitig auf der Grundlage des formalen Gesetzeswerks eindeu-tig und mit identischer Gültigkeit für alle Aktionäre festgeschrieben worden, welchekonkreten Verfügungsrechtskomponenten an den Aktien des Unternehmens definiertsind und somit welche Rechte und Pflichten die einzelnen Aktionäre und stakeholderbesitzen. Die Hengdian Unternehmensgruppe hat die Welt der TVE verlassen.

V. Grundlegende Parameter der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen im chinesischen TVE-Sektor

Der chinesische TVE Sektor hat im Verlauf der vergangenen 30 Jahre einen voll-ständigen Lebenszyklus durchlaufen. Aus dem Nichts entstanden entwickelte ersich zu einem zentralen Faktor der industriellen Entwicklung des »modernen« Chi-na und ist in den letzten Jahren schließlich fast vollständig im neu entstandenen pri-vaten Unternehmenssektor aufgegangen.

Im Überblick erscheint es, als läge der Schlüssel zum Verständnis der im ländli-chen Unternehmenssektor zu beobachtenden institutionellen Evolution in der sichim Zuge der marktwirtschaftlichen Transformation des Gesamtsystems einstellen-den Veränderung der mit der Spezifikation klar spezifizierter ›privater‹ Verfügungs-rechte einhergehenden Transaktionskostenbelastung. Im durch diese Transaktions-kostenniveaus gesetzten Rahmen hat sich unternehmerisches Streben nach Rentenin der Ausbildung einer Kette von diversen Verfügungsrechtsspezifikationen nie-dergeschlagen, die in ihrer Gesamtheit letztlich die Brücke schlagen von unspezifi-schem Allgemeineigentum hin zu eindeutig spezifizierten Verfügungsrechten.

Von zentraler Bedeutung für die schrittweise voranschreitende Überführung kol-lektiv-staatlicher Eigentumsstrukturen in eindeutig spezifizierte und individuell zu-gewiesene Verfügungsrechte war dabei letztlich der Grundsatz, dass im Sinne einerErlösmaximierung die residualen Gewinneinbehaltungsrechte der Partei zugespro-chen werden sollten, deren Aktionen am schlechtesten kontrolliert werden könnenund die den größten Einfluss auf das Geschäftsergebnis hat.88 Veränderungen in der

87 Das »TVE-Gesetz der VR China« gibt hierfür keine klaren Vorgaben. Allerdings kannParagraph 10 in diese Richtung interpretiert werden. Vgl. Yu Li / Yu Zuo, Zhongguoxiangzhen qiye chanquan yu zhilijiegou yanjiu [Analyse der Verfügungsrechtsstrukturenund corporate governance chinesischer TVE], Beijing 2003.

88 Vgl. Sanford J. Grossman / Oliver D. Hart, »An Analysis of the Principal Agent Pro-blem« in: Econometrica, Vol. 51 (1983), S. 7-45.

05_Taube Seite 207 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 89: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen208

relativen Bedeutung der verschiedenen Akteure für den Geschäftserlös eines ländli-chen Unternehmens, die im Zuge der Transformation und der Strukturveränderun-gen des chinesischen Volkswirtschaft eingetreten sind, waren von daher eine trei-bende Kraft der stufenweisen Umgestaltung der Verfügungsrechtsstrukturen.

Mit der Diskreditierung von Modellen der Arbeiterselbstverwaltung im Zuge derExzesse der Kulturrevolution waren von Anbeginn an faktisch nur zwei Parteienunmittelbar an der Führung der ländlichen Unternehmen beteiligt: das mit dem Ta-gesgeschäft betraute Top-Management und die Lokalregierungen, die dem An-spruch nach als Vertreter des Kollektiveigentums auftraten.89 Solange diese Lokalre-gierungen nun in der ersten Periode der zögerlichen Aufgabe zentralstaatlicherWirtschaftssteuerung und vorsichtigen Hinwendung zu marktlichen Koordinati-onsstrukturen noch in der Position waren, entscheidende Beiträge zum Geschäfts-erfolg der in ihrer Jurisdiktion tätigen Unternehmen zu leisten (Sicherung des Zu-gangs zu Fremdfinanzierungen, Beschaffungs- und Distributionskanälen, Schutzvor zentralstaatlicher ›state predation‹, etc.), stellte ihre Partizipation am Eigentumder betreffenden Unternehmungen eine sinnvolle – Transaktionskosten minimie-rende – Lösung dar. In einem von ›grauen Märkten‹ und ›Verhandlungslösungen‹geprägten Umfeld stellen ›unklare‹ Verfügungsrechtsstrukturen tatsächlich die ›bestpractice‹ Lösung dar. Die »Theory of the Commons«90 zeigt, dass unklar definiertesGemeinschaftseigentum eine effiziente Lösung des Organisationsproblems darstel-len kann, wenn die Transaktionskosten der Einrichtung bzw. Durchsetzung privaterEigentumsrechte im Vergleich zu den erwarteten Gewinnen prohibitiv hoch sind.D.h. prohibitiv hohe Transaktionskosten lassen die Ordnungsstrukturen in einemStadium verharren, in dem die klassische Formulierung der Property Rights-Theo-rie noch nicht greift, oder besser gesagt, die Standard-Verfügungsrechtsverteilungnoch nicht zum Tragen kommt.91

Genau diese Strukturen haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten drama-tisch verändert und somit eine tiefgreifende Veränderung der Verfügungsrechts-strukturen im ländlichen Unternehmenssektor angestoßen. Letztlich sind die Trans-aktionskosten der Einrichtung bzw. Durchsetzung privater Eigentumsrechte unterdas kritische Niveau gesunken und haben die unternehmerische Betreibung exklusi-ver privater Verfügungsrechte zu einer ökonomisch sinnvollen Lösung avancierenlassen.92

Mit der sukzessiven Auflösung der ›Verhandlungswirtschaft‹ und der ›grauenMärkte‹ sowie der Ausbildung eines funktionsfähigen Marktsystems ist der Beitragder Lokalregierungen zum Geschäftserfolg zu einer immer weniger bedeutsamenGröße geworden.93 D.h., je weniger die Lokalregierungen für das operative Ge-schäft benötigt wurden und je vollständiger die marktwirtschaftliche Ausgestaltung

89 Vgl. Liu Guoliang, Zhongguo xiangzhen qiye zengzhang yu xiaolü [Wachstum und Effi-zienz der TVE in China], Beijing 2001.

90 Vgl. Ostrom, Governing the Commons: The Evolution of Institutions for CollectiveAction, aaO. (FN 19), und Elinor Ostrom / Roy Gardner / James Walker, Rules, Games,and Common-Pool Resources, Ann Arbor 1994.

05_Taube Seite 208 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 90: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 209

des Umfelds wurde, desto weniger waren Lokalregierungen in der Lage, aus ihrerMachtstellung im Kontext »grauer Märkte« Renten zu erzielen. Stattdessen konntedas Unternehmensmanagement nun über den Markt oder aber horizontal organi-sierte Netzwerke (d.h. ohne eine politische Instanz als zentralen Fazilitator) Zugangzu Fremdfinanzierungen finden, Vertragssicherheit (Rechtsordnung) in Anspruchnehmen und ihren Zugang zu Distributionskanälen, Beschaffungsmärkten, Export-märkten, Importgütern etc. sicherstellen. Aus Sicht des Managements ist also dieNotwendigkeit einer »Internalisierung« der Lokalregierung in die Unternehmungzur Sicherung des Unternehmenserfolgs sukzessive geschwunden. 94

Auf der anderen Seite mussten aber auch die lokalen Gebietskörperschaften er-kennen, dass die Modifikation der bestehenden Verfügungsrechtsstrukturen und ihrsukzessiver Rückzug aus der unmittelbaren Geschäftsführung der in ihren Verwal-tungsregionen ansässigen TVE für sie die dominante Strategie darstellte. Angesichteiner Konstellation, der gemäß sie zwar im Zuge des gesamtwirtschaftlichen Trans-formationsprozesses mit immer härteren Budgetrestriktionen konfrontiert wur-

91 Eine grundsätzliche Ablehnung der Property-Rights Theorie als geeigneten methodi-schen Ansatz, wie z.B. von Weitzman / Xu (Martin L. Weitzman / Xu Chenggang,»Chinese Township-Village Enterprises as Vaguely Defined Cooperatives« in: Journalof Comparative Economics, Vol. 18 (1994), S. 121-145) vorgetragen, erfolgt wohlge-merkt nicht! Kern der von Weitzman / Xu vorgetragenen Methodenkritik ist die Aus-sage, dass die Property-Rights-Theorie keine universelle Gültigkeit besitze. IhreErklärungskraft sei vielmehr von den kulturellen Gegebenheiten in der untersuchtenRegion abhängig. China besitze eine stark kollektivistisch geprägte Gesellschaft (GeertHofstede, Culture’s Consequences. International Differences in Work Related Values,Beverly Hills 1980), wodurch die Bevölkerung eine hohe Selbstorganisationsfähigkeitaufweise, die es ihr ermögliche, ihre Interaktionen auch ohne explizite Verhaltensregelnund somit auch ohne klar spezifizierte Verfügungsrechte effizient zu ordnen. DieserArgumentation wird hier nicht gefolgt. Es wir zwar ebenfalls eine besondere »Fähigkeitzur Selbstorganisation« postuliert. Die Argumentation erfolgt im Gegensatz zu demAnsatz von Weitzman/Xu aber nicht mehr über eine kulturell bedingte Affinität zu»kollektivistischem Handeln«, sondern über die Transaktionskosten ökonomischerInteraktion. Eine kulturelle Neigung zur Selbstorganisation könnte prima facie für dieOrganisation kleinerer TVE im Rahmen von Dorfgemeinschaften Erklärungskraftbesitzen. Aber auch in diesem Fall gilt, dass allein aufgrund der hohen Wiederbegeg-nungswahrscheinlichkeit innerhalb der Dorfgemeinschaft davon auszugehen ist, dassopportunistisches Verhalten (‚free riding‹) umgehend bestraft wird. Dieses Sanktions-potential legt bereits eine hinreichende Grundlage zur Selbstorganisation. Eine Erklä-rung über den Umweg »Kultur« und insbesondere eine erhöhte kulturelle Affinität fürkooperatives Verhalten ist nicht notwendig. Der Erklärungsansatz verliert seine Erklä-rungskraft vollständig in Hinblick auf größere TVE und TVE-Unternehmensgruppen,wie z.B. Hengdian oder Wanxiang. Diese Unternehmungen waren/sind zu groß undkomplex als dass eine kulturbedingte Affinität zu kooperativem Verhalten hinreichendeSelbstorganisationsprozesse induzieren könnte.

92 Vgl. Taube, »Principles of Property Rights Evolution in China’s Rural Industry«, aaO.(FN 42).

93 Vgl. Chen Hongyi / Scott Rozelle, »Leaders, Managers, and the Organization of Town-ship and Village Enterprises in China« in: Journal of Development Economics, Vol. 60(1999), S. 529-557.

05_Taube Seite 209 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 91: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen210

den,95 sie gleichzeitig aber zu den Residualempfängern ihrer lokalen Wirtschaftsre-gionen aufgestiegen waren, 96 hatten sie starke Anreize, die Rahmenbedingungenökonomischer Aktivität in ihren Verwaltungsregionen zu verbessern. Und wenndies bedeutete, Freiräume für privatwirtschaftliche Initiativen zu schaffen, so warauch dies »politisch korrekt«. Der Gehalt dieser Anreizstrukturen wurde noch zu-sätzlich dadurch angereichert, dass durch einen wachsenden inter-regionalen Wett-bewerb um leistungsstarke Unternehmungen jegliches Verharren auf nicht mehrzeitgerechten Strukturen oder eine Verweigerung von unternehmerischen Freiheits-graden sofort durch einen Exodus von Unternehmern in andere Veraltungsregionengeahndet werden konnte. 97 Die Förderung privater Unternehmungen und instituti-onelle Akkomodierung unternehmerischer Innovation wurde somit zum Schlüsselsowohl für die Förderung der lokalen Wirtschaftsentwicklung als auch gleichzeitigfür die Verfolgung individueller Ziele wie Machtzuwachs und Nomenklatura-Auf-stieg.98

Unternehmerische Kräfte auf Ebene des Unternehmensmanagements und auf derEbene der Lokalregierungen wurden somit mit Anreizstrukturen konfrontiert, diesie bewegten, die ihr bilaterales Verhältnis regelnden Verfügungsrechtsstrukturenimmer wieder von Neuem an die sich verändernden ökonomischen Rahmenbedin-gungen anzupassen. Angesichts eines abnehmenden Beitrags der Lokalregierungenund wachsender Bedeutung des Managements für den Geschäftserfolg mussten die-sem im Zuge einer unternehmerischen Erlösmaximierung (Unternehmensgewinnerespektive Steuereinnahmen) größere Entscheidungsbefugnisse zugesprochen wer-den.99 Die vertragliche Beziehung zwischen Lokalregierung und Management wur-de daher schrittweise an die sich verändernden Kräfteverhältnisse angepasst: vonFixlohnverträgen zu ›sharecropping‹-Verträgen und dann weiter zu Aktien-Genos-senschaften bzw. Verpachtungslösungen und letztlich zu einer schleichenden bzw.offenen Privatisierung. Grundlegend ist dabei die Tendenz zu einer immer eindeuti-

94 Vgl. Williamson, The Economic Institutions of Capitalism: Firms, Markets, RelationalContracting, aaO. (FN 57).

95 Vgl. Cao Yuanzheng / Qian Yingyi / Barry R. Weingast, »From federalism, Chinesestyle to privatization, Chinese style« in: Economics of Transition, Vol. 7 (1999), No. 1, S.103-131.

96 Vgl. Li Shaomin / Li Shuhe / Zhang Weiying, »The Road to Capitalism: Competitionand Institutional Change in China« in: Journal of Comparative Economics, Vol. 28(2000), S. 269-292.

97 Vgl. David Zweig, Internationalizing China: Domestic Interests and Global Linkages,Ithaca, und Hendrischke, »How local are local enterprises? Privatisation and transloca-lity of small firms in Zhejiang and Jiangsu«, aaO. (FN 50).

98 Vgl. Ezra F. Vogel, One Step Ahead in China. Guangdong Under Reform, Cambridge1989, und Andrew H. Wedeman, From Mao to Market. Rent Seeking, Local Protectio-nism, and Marketization in China, Cambridge 2003.

99 Vgl. Chen Rozelle, »Leaders, Managers, and the Organization of Township and VillageEnterprises in China« aaO., und Hsiao Cheng / Jeffrey Nugent / Isabelle Perrigne /Qiu Jicheng, »Shares versus Residual Claimant Contracts: The Case of Chinese TVE’s«in: Journal of Comparative Economics, Vol. 26 (1998), S. 317-337.

05_Taube Seite 210 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 92: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 211

geren Spezifizierung und Verteilung der Verfügungsrechte sowie der Zuweisungimmer größerer Verfügungsgewalten an die Unternehmensführungen (vgl. Abbil-dung 1).

Abbildung 1: Idealtypische Entwicklung der Beziehung zwischen Unternehmens-führung und Lokalregierung sowie korrespondierender Verfügungs-rechtsstrukturen im chinesischen TVE-Sektor

Eigene Darstellung.

Die Entwicklung der Property Rights Strukturen im ländlichen Unternehmens-sektor über mehrere Stufen unterschiedlicher Eindeutigkeit bzw. Ambiguität erklärtsich somit letztlich aus einer unternehmerisch betriebenen Anpassung derselben ansich verändernde Umfeldbedingungen. Die unter verschiedenen Umfeldbedingun-gen anliegenden Transaktionskosten einer eindeutigen Spezifizierung von Verfü-gungsrechten waren dabei die Größe, an der sich die jeweiligen institutionellen Lö-sungen ausrichteten. Die hier dokumentierten institutionellen Arrangements zurRegelung des Verhältnisses von Lokalregierung und Unternehmensmanagementwaren letztlich alle ›suboptimal‹ und mittelfristig nicht stabil. Sie waren aber im Sin-ne eines ›best practice‹ optimal an die zeitpunktbezogenen Rahmenbedingungen an-gepasst und ermöglichten auch in ihren – aus Sicht des Gesamtsystems – unvollen-deten Ausprägungen schnell Erlössteigerungen im Vergleich zu den von ihnenabgelösten institutionellen Arrangements. Kostenbasierte Beharrungskräfte, die ei-nem dynamischen institutionellen Wandel hätten entgegenwirken können, wurdensomit ausgeschaltet.

Der gesamte hier dargestellte Entwicklungsprozess war eingebettet und wurdestabilisiert durch einen Kanon gemeinsamer Werte und Normenvorstellungen. Die-ser stellte letztlich das Fundament für die Nutzung von Sozialkapital zum Zweckder Stabilisierung von Geschäftsmodellen, die zunächst nur ungenügend auf forma-

Zeitverlauf /Fortschritt des marktwirtschaftlichen Transformationsprozesses

Fix-Lohn Verträge

‚sharecropping’ Verträge

Aktien-Genossenschaften

Abnehmende Bedeutung der von lokalen Regierungs- und Verwaltungsorganen bereitgestellten Inputs für den Unternehmens- erfolg

Leasing Arrangements

Schleichende Privatisierung

Offene Privatisierung

ZunehmendeEindeutigkeit

der Spezifikation von Verfügungs-

rechten

05_Taube Seite 211 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 93: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen212

le Sicherungsmechanismen zurückgreifen konnten. Aber auch dieser Kanon an ge-meinsamen Überzeugungen änderte sich mit der Zeit und schuf somit die Grundla-ge für die Etablierung »rein« privatwirtschaftlicher Strukturen inklusiver der dieseneigenen substanziellen Einkommensspreizungen.

VI. Resümee

Die lawinenartige Eskalation institutioneller Innovation in China ist ausgelöst(besser: freigesetzt) worden durch einen diskontinuierlichen Sprung auf der Ebeneder Herrschaftsideologie der politischen Elite. Diese Diskontinuität auf der Ebeneder politisch-ideologischen Grundüberzeugungen hat unternehmerische Initiativ-kräfte sowohl in der politischen als auch der ökonomischen Sphäre mobilisiert, diesich unter den Rahmenbedingungen alimentierender Sozialkapitalstrukturen undstarker Anreizsysteme immer weiter entfalten konnten.

Der sich so Bahn brechende chinesische Transformationsprozess kann insgesamtals »geglückt« gelten. Entgegen den Empfehlungen der (erst deutlich nach Beginnder chinesischen Reform- bzw. Transformationsbewegung Substanz gewinnenden)transformationstheoretischen Literatur hat er sich über einen langen Zeitraum hin-weg gezogen und damit dezentralem Unternehmertum eine entscheidende Rollezugebilligt. Dabei sind zeitpunktbezogen Fehlpassungen zwischen einzelnen insti-tutionellen Teilelementen aufgetreten, die zu makroökonomischer Destabilisierungund gesamtwirtschaftlichen Friktionsverlusten geführt haben.100 Die Entwicklungs-dynamik ist allerdings nie ernsthaft in Frage gestellt worden. Ein wichtiger Faktorfür dieses Phänomen ist in dem Umstand zu vermuten, dass in der Wandlungsdyna-mik der verschiedenen institutionellen Ebenen ein hinreichender Gleichschritt er-reicht wurde. Die Passung zwischen den slow-moving Institutionen, d.h. insbeson-dere den shared mental maps bzw. den in der Gesellschaft geteilten Werte- undNormenvorstellungen, und den sich schneller wandelnden Institutionen ist niewirklich verloren gegangen.

Der Aufstieg und Fall der TVE scheint dies zu bestätigen. Die verschiedenenkonkreten institutionellen Arrangements, die dem Unternehmenstypus »TVE«, aufder Ebene der Verfügungsrechtsstrukturen im Verlauf von ca. drei Jahrzehnten zu-grunde gelegen haben, standen grundsätzlich im Einklang mit den ideologischenÜberzeugungen der politischen Führung und waren gleichzeitig in die lokalen Sozi-alkapitalstrukturen eingepasst. Dabei ist es ganz im Sinne Rolands101 zu einer wech-selseitigen Beeinflussung von slow- und fast-moving Institutionen gekommen, diezu einer kontinuierlichen Erosion der Transaktionskosten einer eindeutigen Spezifi-

100 Vgl. Markus Taube, »Zyklische Wirtschaftsentwicklung in der VR China: Ein Über-blick« in: Siegfried Schönherr / Markus Taube / Bettina Reichl (Hg.), Konjunkturzyklenund Konjunkturforschung in China – Business Cycle Analysis and Forecasting in China ,München 2003, S. 8-35.

101 Vgl. Roland, »Understanding Institutional Change: Fast-moving and slow-movinginstitutions«, aaO. (FN 24).

05_Taube Seite 212 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 94: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen 213

zierung und exklusiven Zuweisung von Verfügungsrechten geführt hat. Als Endeder 1990er Jahre bzw. zum Beginn des 21. Jahrhunderts die Schwelle eines prohibiti-ven Transaktionskostenpegels flächendeckend unterschritten wurde, ging das Mo-dell der TVE in einem veritablen privaten Unternehmenssektor auf.

Über alle Evolutionsstufen hinweg haben die Einbettung der anliegenden institu-tionellen Lösungen in das soziale Umfeld (social embeddedness) und die Kompati-bilität mit der Herrschaftsideologie bzw. zeitaktuellen politischen Grundströmun-gen eine entscheidende Funktion gespielt. Diese beiden Parameter haben letztlichden Freiraum definiert, innerhalb dessen findige Unternehmer neue institutionelleLösungen vorstellen konnten. Die relative Trägheit des Wandels dieser beiden Para-meter war zum einen eine zwingende Notwendigkeit, um sicherstellen zu können,dass die Regelsetzung innovativer Institutionen sich auch durchsetzen konnte undden Marktteilnehmen ein Mindestmaß an Erwartungssicherheit hinsichtlich deranliegenden »Spielregeln« vermittelt werden konnte. 102 Zum anderen war der all-mähliche Wandel dieser Parameter aber auch die Grundvoraussetzung für die Wei-terentwicklung des Modells »TVE« und seiner auf der Ebene der Unternehmens-verfassungen anliegenden Verfügungsrechtsstrukturen.

Erst innerhalb der über diese beiden Parameter gesetzten – und sich langsam ver-schiebenden – Grenzen kommen dann nachfrageseitig die Parameter technischeEignung, relative Transaktionskostenintensität und Organisationsfähigkeit potenti-eller Nutznießer bzw. angebotsseitig die Parameter technologische Komplexität,Transaktionskostendifferential zwischen altem und neuem Arrangement, absoluteEinführungskosten, Grad der prozeduralen (Un-)sicherheit zum Tragen. Diese Pa-rameter determinieren letztlich die konkrete Ausgestaltung der institutionellenLandschaft und damit unmittelbar die Form aller ökonomischen und gesellschaftli-chen Interaktion. Hieraus ergibt sich dann in der mittleren Sicht eine Rückkopp-lung auf das konsensuale Werte und Normensystem der Gesellschaft sowie dieHerrschaftsideologie und Ausgestaltung der politischen Arbeit. Die von diesen ge-setzten Grenzen unternehmerischer Innovation verschieben sich.

Aufstieg, Persistenz und Niedergang von Institutionen folgen – unter der zwin-genden Voraussetzung des Vorhandenseins von Unternehmerpersönlichkeiten so-wie hinreichender Freiräume und Anreizstrukturen für diese – Veränderungen imKontinuum der hier dargestellten Parameter. Dabei können stochastisch auftretendeexterne Schocks wie z.B. neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse oder aber dasAbleben führender Politiker durchaus den Anstoß geben für umfassende institutio-nelle Wandlungsprozesse, die alle Ebenen des institutionellen Geflechts erfassen.

102 Vgl. Daniel Kiwit / Stefan Voigt »Überlegungen zum institutionellen Wandel unterBerücksichtigung des Verhältnisses interner und externer Institutionen« in: Ordo, Bd.46 (1995), S. 117-147.

05_Taube Seite 213 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 95: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Markus Taube · Prinzipien der Entstehung eindeutiger Verfügungsrechtsstrukturen214

Zusammenfassung

Die chinesische Wirtschaftsordnung ist im Verlauf eines nunmehr fast drei Jahr-zehnte währenden Prozesses graduell-inkrementalen institutionellen Wandels ineine funktionsfähige Marktwirtschaft transformiert worden. Dieser Wandlungspro-zess wird als Ergebnis eines Prozesses verstanden, in dem eine sich kontinuierlichverändernde Nachfrage nach institutioneller Koordination auf ein von dezentralenUnternehmerpersönlichkeiten vorgetragenes Angebot an institutionellen Innovati-onen trifft. Am Beispiel der dem TVE-Sektor zugrundeliegenden Verfügungsrechts-strukturen wird dargestellt, welche Parameter den institutionellen Wandlungspro-zess nachfrage- und angebotsseitig geprägt haben. Es wird gezeigt, dass die Passungneuer institutioneller Lösungen in das soziale Umfeld (social embeddedness) und dieKompatibilität mit der Herrschaftsideologie bzw. zeitaktuellen politischen Grund-strömungen von entscheidender Bedeutung für den institutionellen Innovations-prozess waren bzw. sind.

Summary

In the run of nearly three decades of gradual incremental institutional change, theChinese economic system has transformed itself into a workable market economy.This transformation is understood as the outcome of a process in which a perma-nently changing demand for institutional coordination is met by a supply of institu-tional innovations brought forward by decentralized entrepreneurs. The changingproperty rights structures underlying the Chinese TVE sector are taken as an ex-ample to analyse the various demand- as well as supply side parameters structuringthis process of institutional change. It is shown that the social embeddedness of in-stitutional innovations, i.e. the fit of economic institutions into the greater social or-der, as well as their compatibility with the ideological convictions of the ruling eliteare of paramount importance for the process of institutional change.

Markus Taube, Fundamental Principles of the Evolution of Exclusive PropertyRights in the PR China - the Case of the Township Village Enterprises

05_Taube Seite 214 Freitag, 1. Juni 2007 4:56 16

Page 96: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Gottfried-Karl Kindermann

Taiwan im Brennpunkt nationaler und internationaler Divergenzen

Taiwan als Ziel imperialistischer Mächte

Ebenso wie das seit 60 Jahren in unvereinbare Systeme geteilte Korea bildet diedurch eine Meeresstraße von Kontinentalchina getrennte Insel Taiwan sowohl nati-onal als auch international eines der besonderen Spannungsfelder des ostasiatisch-pazifischen Raumes. Historisch gesehen ist es jenes Gebiet des chinesischen Sprach-und Kulturraumes, das häufiger als alle anderen Schauplatz internationaler Inter-ventionen gewesen ist. Bereits ab der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert hattenPortugiesen, Spanier und Holländer – oft in Konkurrenz mit einander – mit derhandels- und kolonialpolitischen sowie missionarischen Durchdringung der Inselbegonnen. Die Holländer, die sich als primäre Kolonialherren durchsetzten, be-herrschten die Insel von 1624 bis 1661. Vertrieben wurden sie 1661 durch eine Inva-sion geflüchteter Streitkräfte und Zuwanderer der in Kontinentalchina in dieser Zeitvon den Gründern der neuen Mandschu-Dynastie besiegten Ming-Dynastie (1368-1644). Letztlich aber gelang es der neuen Mandschu- (oder Qing-) Dynastie (1644-1911) die Insel zu erobern und dem chinesischen Reich einzuverleiben. Als Folgedes von Großbritannien und Frankreich gegen China geführten zweiten Opium-krieges (1856-1858) wurde China zur Öffnung verschiedener Häfen – darunterzwei auf Taiwan – für den Handel mit dem Westen gezwungen. Japaner und Ameri-kaner versuchten in den sechziger und siebziger Jahren vergeblich in Taiwan Fußzu fassen und auf Anraten von Ferdinand von Richthofen erwog in dieser Zeit so-gar die preußische Regierung eine Annektierung Taiwans.

Doch im Zuge der französischen Fernostexpansion wurde Taiwan 1884-1885 ei-ner der Schauplätze eines Krieges, den Frankreich gegen China führte um dessenTributhoheit über Vietnam zu brechen und um dieses Gebiet dem eigenen Kolonial-reich einfügen zu können. Erst die Erfahrung dieses Krieges veranlasste die kaiserli-che Regierung in Peking Taiwan 1885 den Status einer Provinz des chinesischenReiches zu verleihen. 1

Als Folge eines für Japan siegreichen Krieges, den dieses gegen China führte umdessen Einfluss aus Korea zu vertreiben, entstand 1895 der japanisch-chinesischeFriedensvertrag von Shimonoseki, der die Abtretung Taiwans an Japan verfügte.2

1 Zur Geschichte Taiwans in diesen Zeiträumen siehe: Hungdah Chiu: China and theQuestion of Taiwan. New York 1973, S. 3-17 u. 195-203, sowie Oskar Weggel:Geschichte Taiwans vom 17. Jahrhundert bis heute. München 2007 S. 17-55.

06_Kindermann Seite 215 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 97: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen216

Eine Widerstandsbewegung hiergegen, die sich auf der Insel als »Republik Taiwan«etablierte, wurde von den Japanern rasch überwältigt. Damit begann ein halbesJahrhundert der bis 1945 anhaltenden japanischen Herrschaft auf Taiwan. Ebensowie Korea betrachteten die Japaner auch Taiwan als Teil des sog. »äußeren Japan«.Auf Grund der geostrategisch und wirtschaftlich bedeutsamen Lage der Insel be-gann Japan, die damals erste und einzige Industriemacht Asiens, mit einer zügigenund vieldimensionalen Entwicklung Taiwans. Diese betraf den Ausbau seines Ei-senbahn- und sonstigen Straßenverkehrssystems, die Anlage von nicht weniger alssiebzehn Häfen, die Produktion von Zucker, Kohle, Kampfer und Tabak, die För-derung sonstiger landwirtschaftlicher Produktionsmethoden wie aber auch Grund-elemente der Leichtindustrie und Wasserkraftwerke zur Energieerzeugung. Es ent-stand ein vorzüglich organisiertes Erziehungswesen. Im Bereich der Bildungdominierte jedoch obligatorisch das Japanische. In den Jahren japanischer Demo-kratie 1921-1936 wurde in Taiwan die Bildung und Existenz politischer Parteien ge-duldet, doch die Regierung blieb fest in den Händen der japanischen Generalgou-verneure. Mit dem rasch wachsenden Einfluß des Militärs auf Japans Politik wurdendiese Gruppierungen ab 1936 verboten. Vor Beginn des pazifischen Krieges hatteTaiwan – vom Bereich der höheren Bildung abgesehen – einen Entwicklungsstanderreicht, der weit über demjenigen aller Provinzen Kontinentalchinas lag.

Während des Zweiten Weltkrieges verabschiedete die im November 1943 in Kairozusammengetretene Gipfelkonferenz zwischen Roosevelt, Chiang Kai-shek undChurchill eine gemeinsame Erklärung in der es u. a. hieß: »... alle Gebiete, die Japanden Chinesen geraubt hat, wie die Mandschurei, Formosa < d.i. Taiwan > und die Pe-cadoren < Inseln > sollen der Republik China zurückgegeben werden. Japan wirdauch von all den anderen Territorien vertrieben werden, die es mit Gewalt und Gieran sich gebracht hat.«3 Chinesische Beobachter fragten sich, wie es denn mit jenenGebieten stehe, die europäische Mächte -Großbritannien, Russland und Frankreich –»mit Gier und Gewalt« China und anderen Nationen Südostasiens entrissen hätten.

Volksaufstand und Entfremdung (1947)

Nach der Kapitulation Japans vom 14. August 1945 trafen mit amerikanischerTransporthilfe die ersten chinesischen Truppen am 15. Oktober gleichen Jahres inTaiwan ein. Sie wurden anfangs enthusiastisch als »Befreier« begrüßt, obgleich sieauf Grund ihres undisziplinierten und materiell verwahrlosten Erscheinungsbildeskeinen guten Eindruck gaben. Ihr zum Gouverneur von Taiwan ernannter Kom-mandeur Chen Yi gehörte zu jenen chinesischen Generälen, die anfangs einem War-lord gedient und sich dann opportunistisch der nationalrevolutionären Armee Chi-ang Kai-sheks angeschlossen hatten. Aus dem durch acht Jahre Krieg verarmten

2 Text in Chiu, aaO., S. 197-198.3 Text in: Foreign Relations of the United States – Diplomatic Papers: The Conferences

of Cairo and Teheran. Washington D.C. 1961, S. 389, 401-402 u. 448-449.

06_Kindermann Seite 216 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 98: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen 217

und verelendeten Kontinentalchina plötzlich in die vergleichsweise wohlhabend er-scheinende Provinz Taiwan versetzt, initiierten er und seine Mitarbeiter dort ein Re-gime das, von fast hemmungsloser Korruption und scheinbar unstillbarer Raffgiergekennzeichnet, die wirtschaftliche Ausbeutung der Insel in großem Stil betrieb.Den Bewohnern Taiwans wurde mitgeteilt, sie hätten zwar nun ihre chinesischeStaatsbürgerschaft zurück erhalten, doch könnten sie noch nicht in den Genuß ver-fassungsgemäßer Rechte gelangen, da sie – nach 50 Jahren japanischer Herrschaft –zunächst einmal im chinesischen Sinne »umerzogen« werden müssten. Der Horrordieser vieldimensionalen Ausbeutung und unerwarteten Zurücksetzung löste einenam 28. Februar 1947 spontan beginnenden Volksaufstand gegen das korrupte undrepressive System Gouverneur Chen Yis und seiner Provinzregierung aus. Impro-visierte Bürgerversammlungen richteten einen Forderungskatalog an den Gouver-neur, der allerdings nur zum Schein vorgab die darin enthaltenen Forderungen be-rücksichtigen zu wollen. Der bezeichnende erste Punkt dieser Forderungen betrafdie Gleichbehandlung der Taiwanesen mit den Festländern. Kaum aber waren dievon Chen Yi angeforderten militärischen Verstärkungen aus China in Taiwan einge-troffen, als dieser teils aus Rachsucht und teils zur Abschreckung etwaiger künftigerVolksaufstände ein wahres Massaker unter taiwanesischen Dissidenten anrichtenließ, dem auch zahlreiche Unbeteiligte zum Opfer fielen.4 Zwar wurde Chen imMärz 1947 abberufen und 1950 insbesondere wegen versuchter Kooperation mitden chinesischen Kommunisten in Taiwan hingerichtet. Doch dieser Zwischenfallvom 28. Februar bewirkte eine bis heute spürbare Entfremdung zwischen weitenTeilen der taiwanesischen Bevölkerung und den chinesischen Festländern. Es warder Beginn der eine staatliche Unabhängigkeit Taiwans anstrebenden, jedoch bis1987 streng unterdrückten separatistischen Bewegung.5

Taiwan als Fluchtburg des Nationalchinesischen Regimes

Von Taiwans Annektierung und Freigabe durch Japan abgesehen, bedeuteten dieEreignisse des Jahres 1949 die bisher einschneidendste Zäsur in der Geschichte derInsel. Denn angesichts der sich schon Ende 1948 abzeichnenden Niederlage der na-tionalchinesischen Armeen in Kontinentalchina hatte Chiang Kai-shek als Staats-präsident und gleichzeitig als Chef der regierenden Partei Kuomintang ( NationaleVolkspartei) die Verlagerung der chinesischen Regierung, der Parteiführung, des1948 gewählten gesamtchinesischen Parlaments sowie des Staatsschatzes, besterMuseumsbestände und von Teilen des Heeres, der Luftwaffe und der Kriegsmarinenach Taiwan veranlasst. Etwa 1,5 Millionen Chinesen – darunter 600.000 Mann derStreitkräfte – und ein großer Teil der damaligen politischen und kulturellen Elite

4 George Kerr: Formosa Betrayed. London 1966 (Schilderung eines Augenzeugen desVolksaufstandes). Siehe auch: Günter Whittome: Taiwan 1947 – Der Aufstand gegen dieKuomintang. Hamburg 1991 u. Douglas Mendel: The Politics of Formosan National-ism. Berkeley 1970, Kapitel 2.

5 Ebda. Kap. 3-10 u. Appendix.

06_Kindermann Seite 217 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 99: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen218

Chinas waren Chiang Kai-shek nach Taiwan gefolgt, einer Insel mit 35.843 qkm derGröße Belgiens etwa entsprechend, in einem durchschnittlichen Abstand von ca.150 km. vor der Südostküste Chinas und somit im geostrategischen Zentrum desWestpazifik gelegen, mit einer einheimischen Bevölkerung von damals 6 (heute 23)Millionen Einwohnern.6 In einer Rede vom Juli 1950 erklärte Chiang, Taiwan bildeeinen Leuchtturm des wahren China in der Brandung der kommunistischen Revo-lution. Hier stehe ein letztes Bollwerk humanistisch konfuzianischer Kultur wieauch der Ideenwelt des demokratischen Partei- und Republikgründers Sun Yat-sen.Taiwan werde nicht nur zum Ausgangspunkt einer gegen den Maoismus gerichtetenBefreiungsbewegung werden, sondern auch zu einer Musterprovinz als Modell ei-ner künftigen besseren Gesellschaftsform in Kontinentalchina.7 Dort allerdingsstellte Mao Tse-tungs Regierung in Taiwan gegenüber liegenden Gebieten eine gro-ße Invasionsarmee zusammen und der US Geheimdienst CIA schätzte, dass es denKommunisten bis Oktober 1950 gelingen werde, Taiwan militärisch zu erobern. InWashington hatte der Planungsstab des US Außenministeriums 1949 einen Plan sei-nes Direktors George F. Kennan erwogen, Taiwan militärisch zu besetzen unddurch eine Volksabstimmung feststellen zu lassen ob die Bevölkerung sich zuguns-ten der Regierung Chiang Kai-sheks oder aber Mao Tse-tungs oder für taiwanesi-sche Unabhängigkeit oder für eine Treuhandschaftsregierung der Vereinten Natio-nen entscheide. Der Plan aber wurde als zu aufwendig in der Durchführungverworfen.

Washingtons Distanzierung von Taiwan

Hingegen erstrebte die US-Regierung Harry S. Trumans eine frühzeitige Norma-lisierung diplomatischer Beziehungen mit der Volksrepublik China, um diese voneiner Bindung mit der Sowjetunion abzuhalten. In einer Erklärung Präsident Tru-mans vom 5. Januar 1950 heißt es daher, die USA bekräftigten die Rückkehr Tai-wans zu China im Sinne der erwähnten Erklärung von Kairo (1943), sie hätten kei-nerlei Absicht, sich in den weiteren Verlauf des chinesischen Bürgerkrieges zuinvolvieren und würden Taiwan weder Hilfe durch die Entsendung von Militärbe-ratern, noch die Lieferung von Rüstungsgütern zuteil werden lassen. Tage zuvor be-reits hatte das US Außenministerium seinen diplomatischen Vertretungen im Aus-land die Weisung erteilt, die Regierungen ihrer jeweiligen Gastländer auf TaiwansEroberung durch die Kommunisten vorzubereiten und darzutun, Taiwan sei wederstrategisch noch sonstig von besonderer Bedeutung. Die USA hätten keinerlei Ver-antwortung für das weitere Schicksal Taiwans, das geographisch und historisch ein

6 Hollington K. Tong: Chiang Kai-shek. Taipei/Tokio 1953. S. 449-554. Chiang Ching-kuo: Calm in the Storm. Taipei 1978. S. 219-303.

7 Chiang, Kai-shek: »Die Niederlage und Wiedergeburt des ‚Freien China’« in: Gott-fried-Karl Kindermann: Konfuzianismus, Sunyatsenismus und Chinesischer Kommu-nismus. Freiburg i. Br. 1963, S. 216-225. S. auch: Selected Speeches and Messages ofPresident Chiang Kai-shek 1949-1952 Taipei 1952.

06_Kindermann Seite 218 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 100: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen 219

Teil Chinas sei.8 Den Hintergrund dieser Haltung erhellend, hielt Trumans Außen-minister Dean Acheson am 12. Januar 1950 eine Grundsatzrede in der er darlegte,dass die USA angesichts der neuen Lage künftig keinerlei Gebiet auf dem ostasiati-schen Kontinent schützen oder garantieren könne. Die geostrategische Linie ameri-kanischer Schutzbereitschaft in Ostasien beschränke sich künftig auf eine Linie vonInseln, die sich mit Japan beginnend über die Riukiu-Inseln und die Philippinen bisnach Australien und Neuseeland erstrecke. Damit aber waren Korea, Taiwan undVietnam aus dem pazifischen Schutzbereich der USA klar ausgeklammert.9

Der Koreakrieg als historische Wende

Angesichts dieser gleichsam offiziellen Selbstbeschränkung des amerikanischenAktionsbereiches gewährte Stalin dem Diktator Nord-Koreas Kim Il Sung die zu-vor abgelehnte Bitte um hochrangige Militärberater und umfangreiche Rüstungshil-fe zum Zweck einer Blitzkriegoffensive gegen das militärisch kaum gerüstete Süd-Korea. Zuvor hatten Peking und Moskau am 14. Februar 1950 miteinander einenBündnisvertrag geschlossen, mit dem ein kommunistischer Staatenblock von derElbe bis zum Westpazifik entstanden war. Nord-Koreas völlig überraschenderBlitzkrieg gegen Süd-Korea begann am 25. Juni 1950. In radikaler Umkehrung dervon Acheson nur 6 Monate zuvor verkündeten Pazifikpolitik der USA, fällte Präsi-dent Truman nur zwei Tage später, am 27. Juli 1950, drei Entscheidungen von histo-rischer Tragweite: Erstens den Einsatz von US Streitkräften zur Verteidigung Süd-Koreas, zweitens die strategische Abschirmung Taiwans gegen China durch dieEntsendung der VII. US-Flotte in die Meeresstraße von Taiwan und drittens massi-ve amerikanische Hilfe für Frankreichs Kolonialkrieg gegen die nationalkommunis-tischen Viet Minh in Vietnam.10 Zwar gelang den Nord-Koreanern zunächst die Er-oberung fast ganz Süd-Koreas, aber ein Mitte September 1950 einsetzenderGegenangriff der UN Truppen vermochte es, Süd-Korea zu befreien und gedecktdurch ein UN-Votum die Trennlinie des 38. Breitengrades zu überschreiten und fastganz Nord-Korea zu erobern. Doch nach seinen unbeachtet gebliebenen Warnun-gen trat China im November 1950 mit riesigen Heeresmassen in den Koreakriegein, vertrieb die UN-Truppen aus Nord-Korea und drang in Süd-Korea ein.11 DerKrieg in Korea hatte sich als »Marnewunder« des nationalchinesischen Regimes aufTaiwan ausgewirkt und ihm nicht nur den Schutz der US Navy beschert, sondern abMai 1951 ein großes Team amerikanischer Militärberater und wachsende Beträgeamerikanischer Wirtschafts-und Rüstungshilfe. Der ebenfalls durch den Krieg inKorea begünstigte Friedensvertrag mit Japan, unterzeichnet in San Francisco am 18.

8 Chiu, aaO. (FN 1), Dokumente 23-25.9 Text der Rede Achesons in: Congressional Quarterly (Hrsg.): »China – U.S. Policy

since 1945«. Appemdix, S. 304-311.10 Text: Chiu, aaO. (FN 1), Dokument 27, S. 228.11 Zum Koreakrieg siehe: Gottfried-Karl Kindermann: Der Aufstieg Koreas in der Welt-

politik – Von der Landesöffnung bis zur Gegenwart. München 2005, S. 91-128.

06_Kindermann Seite 219 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 101: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen220

September 1951, enthielt in Kapitel II, Paragraph 2.a. Japans Verzicht auf Taiwanund die dazu gehörenden Pescadoren Inseln, ohne jedoch anzugeben zu wessenGunsten dieser Verzicht erfolgt sei. Der auch auf amerikanisches Anraten am 28.April 1952 unterzeichnete Friedensvertrag zwischen Japan und der Republik China,d.h. dem auf Taiwan befindlichen Nationalchinesischen Regierungssystem, das in-ternational die legale Vertretung ganz Chinas beanspruchte und in der Weltorgani-sation der Vereinten Nationen auch bis 1971 wahrnahm, bewirkte die Normalisie-rung der Beziehungen zwischen Taiwan und Japan und enthielt – ebenso wie derFriedensvertrag der VR China mit Japan (1978) – keine Forderung auf japanischeReparationen.

Pekings Militäroffensiven gegen Taiwan

Zwei Jahre darauf endete Frankreichs achtjähriger Kolonialkrieg in Indochina1954 mit einem Sieg der kommunistischen Viet Minh, dem Rückzug Frankreichsaus Indochina und der Teilung Vietnams in einen kommunistischen Norden und ei-nen pro-westlichen Süden. Bald nach der diesbezüglichen Friedenskonferenz inGenf begannen Streitkräfte der Volksrepublik China eine militärische Offensive ge-gen unmittelbar vor der Küste der Volksrepublik gelegene nationalchinesische In-selstützpunkte. Es kam dabei wochenlang zu See- und Luftgefechten wie auch zugewaltigen Artillerieduellen. Im Laufe der Kämpfe verloren die nationalchinesi-schen Streitkräfte zwar eine besonders weit entfernt liegende Insel an die Kommu-nisten und räumten andere, nur schwer zu verteidigende Inseln mit amerikanischerTransporthilfe. Doch mit den Quemoy (Kin Men)-und Matsu (Mazu) –Inseln be-hielten sie die wichtigsten Inselstützpunkte, von denen aus zwei Häfen der Volksre-publik – Amoy und Foochow – blockiert werden konnten. Eines der mutmaßlichenZiele der Pekinger Offensive gegen Taiwans Außenpositionen bestand in der Ab-sicht, die USA von einer vertraglichen Bindung an Taiwan abzuhalten.12 Dennochschloß Washington mit Taipei einen vom 2. Dezember 1954 datierten defensivenBündnisvertrag. Dieser war von einem geheimen Notenaustausch begleitet, in demsich Taipei dazu verpflichten musste, keine Offensivoperationen gegen die VRChi-na ohne vorheriges Einvernehmen mit den USA zu unternehmen. Der Wirkungsbe-reich des Vertrages erstreckte sich nur auf Taiwan und die Pescadoren Inseln. Wasdie genannten Küsteninseln betraf, so wollte sich Washington vertraglich nicht zuderen Verteidigung verpflichten. Andererseits sollte die Nichterwähnung dieser In-seln im Vertrag nicht als Einladung zum Angriff auf sie verstanden werden können.

Nach dem taktischen Prinzip: »keep them guessing« ließ sich Präsident Eisenho-wer daher in Gestalt der sog. Taiwan Straits Resolution im Januar 1955 eine Voll-macht des US Kongresses geben, die ihn als Oberbefehlshaber der US Streitkräfte

12 Zur Taiwankrise von 1954/55 siehe: J.H. Kalicki: The Pattern of Sino-American Crises.London 1975, S. 120-237, Karl Lott Rankin: China Assignment . Seattle 1964, S. 204-252. S. auch: Gottfried-Karl Kindermann: Der Aufstieg Ostasiens in der Weltpolitik1840-2000. München 2001, 381-406.

06_Kindermann Seite 220 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 102: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen 221

dazu ermächtigte, je nach eigener Einschätzung der Natur eines Angriffs auf dieKüsteninseln dieselben verteidigen zu lassen.

Die Krise kam zu einem Ende als Chinas Außenminister Chou En-lai, anlässlichder ersten Afro-Asiatischen Konferenz im April 1955 einen Vorschlag der sog. Co-lombo-Gruppe, die Taiwanfrage durch eine Volksabstimmung der Taiwanesen ent-scheiden zu lassen, dadurch abbog, dass er überraschend die Bereitschaft der VRChina zu direkten Verhandlungen mit den USA bekannt gab. Das Ergebnis warenmehrjährige, wenn auch ergebnislose, amerikanisch-chinesische Geheimverhand-lungen auf Botschafterebene.

Eine zweite Krise in der Straße von Taiwan eröffnete Peking am 23. August 1958mit dem gegen Taiwans Vorposteninsel Kin Min (Jinmen) gerichteten massivstenArtilleriebombardement der fernöstlichen Militärgeschichte. Bereits am ersten Tagder Krise wurden 41.000 Granaten auf die Insel verschossen. Da dieses Trommel-feuer wochenlang fortgesetzt wurde und die Landung größerer Versorgungsschiffeverhinderte, drohte der so angegriffenen nationalchinesischen Garnison mit 80.000Soldaten und 48.000 Zivilisten und einem täglichen Versorgungsbedarf von 1000Tonnen eine Versorgungskrise. Ohne militärisch selbst einzugreifen, lieferten dieUSA Taiwan kleinere amphibische Versorgungsschiffe, die trotz des Artilleriefeuersder Kommunisten in der Lage waren die Versorgung der Insel wieder sicherzustel-len. Ebenso von den USA mit Luft-zu-Luft sidewinder Raketen beliefert, vermoch-te die nationalchinesische Luftwaffe bei einem Verlust von nur zwei eigenen Flug-zeugen 29 Kampfflugzeuge der Pekinger Streitkräfte abzuschießen.

Sowohl Kostspieligkeit als auch Ergebnislosigkeit des Bombardements veranlass-ten Peking dieses ab dem 25. Oktober aus »humanitären Gründen« abzubrechen,wonach nur noch an jedem zweiten Tage mehrere Granaten als symbolische Gesteauf die Insel verschossen wurden.13

Eine dritte Taiwan Krise bahnte sich 1962 an. Naturkatastrophen, jedoch wesent-lich mehr noch krasse Planungsfehler und unverantwortlich große Exporte von Le-bensmitteln zum Zweck von Waffenkäufen aus der Sowjetunion hatten in mehrerenProvinzen Chinas Hungersnöte und bedingt hierdurch den Hungertod von fast 30Millionen Menschen verursacht.14 Angesichts dieser Lage hatte Chiang Kai-shek ei-nen militärischen Vorstoß über die Taiwanstraße hinweg in Festlandsprovinzen vor-bereitet, um dort eine Volksbewegung gegen die kommunistische Herrschaft inGang zu bringen. Präsident John F. Kennedy, der kurz zuvor das Scheitern einesähnlichen Versuches gegen Kuba erlebt hatte, verweigerte jedoch die für ChiangsVorhaben erforderliche technische Hilfe der USA.15

13 Zur Zweiten Taiwankrise s. Kalicki, ebd., S. 168-218 u. Kindermann (2001) ebd., S. 475-483.

14 Chang, Jung u. Halliday, John: Mao – Das Leben eines Mannes, das Schicksal einesVolkes. München 2005, S. 572-576.

15 Kalicki, aaO. (FN 12), S. 484-486 und Kindermann (2001, aaO., FN 12) : S. 484-486. Zuden internationalen Aspekten der Lage u. Rolle Taiwans und den Taiwankrisen sieheauch Kindermann: Chinas Unbeendeter Bürgerkrieg – Im Spannungsfeld Peking-Tai-wan-USA 1949-1980. Wien u. München 1980.

06_Kindermann Seite 221 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 103: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen222

Wirtschaft und Politik der Kuomintang Regierung

In politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht ging es der nationalchine-sischen Regierung darum, japanisch geprägte Daseinsformen des öffentlichen Le-bens in Taiwan im chinesischen Sinne umzuorientieren. Inspiriert von der Ideologieund Programmatik des Republik- und Parteigründers Sun Yat-sen (1866-1925)wurde zugunsten der Bauern eine dreistufige gewaltlose Landreform durchgeführt.In ihrem Vollzug wurde der Bodenbesitz von nicht selbst bebauenden Grundbesit-zers auf 3 ha. beschränkt und der darüber hinausgehende Landbesitz vom Staat an-gekauft und an die Bauern zu festgelegten zinsfreien Bedingungen verkauft. DieKaufsumme konnte in 10 halbjährigen Raten abgezahlt werden, wobei die Höhedieser Raten dem gesetzlich festgelegten Pachtzins von 37.5 Prozent (zuvor 50 Pro-zent) entsprach. Für die Bauern wurden Genossenschaften, Banken, Versicherungs-systeme und agrarische Schulungszentren errichtet.16 Die Grundbesitzer wurdennicht, wie in Kontinentalchina, durch Klassenkampf »liquidiert«, sondern erhieltenfür ihr zwangsweise verkauftes Land Aktien der dynamisch wachsenden Staatsin-dustrie. Agrarisches Kapital diente dem Aufbau der Leichtindustrie, die anfangs anImportsubstitution, dann aber primär an Exportförderung orientiert war. TaiwansHandelsvolumen stieg von 380 Millionen US $ 1958 auf 3 Milliarden bis 1970 undauf 39,5 Milliarden im Jahr 1980. Bei der Strategie einer höchst dynamischen Wirt-schaftsentwicklung spielte die Zusammenarbeit zwischen staatlicher Planung undprivater Unternehmerinitiative eine entscheidende Rolle. Bei Oskar Weggel heißt esdiesbezüglich: »Die wohlabgestimmte »Schritt für Schritt« Strategie ( Landwirt-schaft – Leichtindustrie – Handel – Schwerindustire) und der behutsame Übergangvon arbeitsintensiver zu kapitalintensiver Technologie hoben sich wohltuend vonjenen Disproportionen ab, die zur gleichen Zeit auf dem Festland im Gefolge einerverfehlten stalinistischen Schwerindustriepolitik eingerissen waren.« 17 Im Bereichder Kultur wurde das japanisch dominierte Bildungswesen durch ein chinesischesersetzt, wurden zahlreiche Universitäten und andere Forschungsstätten gegründetund ab den Grundschulen eine Geschichtsauffassung im gesamtchinesischen Sinnegelehrt. Die Errichtung des architektonisch prächtigen Palastmuseums am Randevon Taipei galt einer glanzvollen Demonstration der Jahrtausende alten chinesi-schen Kultur.

Im Bereich der Politik galt zwar die vom Festland mitgenommene und für dasriesige China konzipierte demokratische Fünf-Gewalten-Verfassung Sun Yat-sens,doch wurden darin gewährte politische Freiheiten der Bürger von einer Reihe vonAusnahmegesetzen eingeengt, die durch den Bürgerkrieg mit einem immer mächti-

16 Hui-sun Tang: Land Reform in Free China. Taipei 1957. Siehe auch: Kindermann:»Agrarrevolution und Agrarreform als Alternativen der Selbstentwicklung: Die Ent-wicklungstheorien des Sunyatsenismus und des chinesischen Kommunismus« in: ders.(Hrsg.): Kulturen im Umbruch – Studien zur Problematik und Analyse des Kulturwan-dels in Entwicklungsländern. Freiburg i. Br. 1962, S. 165-194.

17 Weggel, aaO. (FN 1), S. 161.

06_Kindermann Seite 222 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 104: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen 223

ger werdenden Gegner bedingt waren. Entgegen der de jure Theorie, war in derPraxis dennoch eine de facto autoritäre Regierungsform entstanden, wenngleichsich diese von der krassen Form der totalitären Diktatur in China in der Ära MaoTse-tungs deutlich unterschied. Das nationalchinesische System der Kuomintangauf Taiwan kannte primär zwei Gegner, die rigoros verfolgt wurden, und zwar ei-nerseits den Kommunismus, der es vernichten wollte und andererseits den taiwane-sischen Separatismus. Letzterer hätte im Erfolgsfall einer UnabhängigkeitserklärungTaiwans von China dem nationalchinesischen Widerstand seine letzte territorialeBasis entzogen.

Amerikas neue Distanzierung und Pekings Werbekampagne

Eine internationale Gefährdung Taiwans wurde im Zuge der Annäherung zwi-schen den USA und der VR China Anfang der siebziger Jahre ersichtlich. Als derenFolge verlor Nationalchina 1971 die bis dahin de jure innengehabte Vertretung ganzChinas in den Vereinten Nationen. Die Begegnung zwischen Präsident Nixon undMao Tse-tung 1972 besiegelte eine Annäherung zwischen beiden Mächten, die ei-nerseits auf der beiderseitigen Gegenerschaft gegen die Hegemonialpolitik der Sow-jetunion beruhte und andererseits auf dem analogen Willen beider Staaten es kon-frontativ nur mit einer gegnerischen Großmacht zu tun zu haben. Im Nixon-ChouEnlai Kommunique vom 27. 02. 1972 erklären die USA – ohne vorherige Konsulta-tion mit Taiwan, sie würden ihre Streitkräfte graduell aus Taiwan abziehen. Die po-litischen Lager auf beiden Seiten der Taiwanstraße verträten die Ansicht, es gäbe»nur ein China« einschließlich Taiwans. Die USA stellten diesen Standpunkt nichtin Frage. Im gleichen Dokument versicherte die VR China, es gäbe nur die eine chi-nesische Zentralregierung in Peking, Taiwan sei lediglich eine Provinz Chinas, die eszu »befreien« gelte. Kein auswärtiger Staat habe das Recht hinsichtlich dieser Fragezu intervenieren.18 In der Folge tauschten Washington und Peking diplomatischeLiaisonbüros miteinander aus und begannen mit dem Ausbau wirtschaftlicher undanderer Kontakte. Ein große Anzahl auswärtiger Staaten brachen ab 1971 ihre di-plomatischen Beziehungen zu Taipei ab, um solche Beziehungen zu Peking aufzu-nehmen. Auch Japan verfuhr so bei gleichzeitiger Kündigung des 1952 mit Taiwangeschlossenen Friedensvertrages. Diesbezüglich vom Autor befragt, hatte der japa-nische Außenminister Ohira geantwortet, völkerrechtlich sei das zwar nicht zu be-gründen, doch für Japan sei es eine Lebensfrage, direkte Beziehungen zu beiden sei-ner großen Nachbarn – China und Russland – zu unterhalten.

Eine markantere Wende in den Dreiecksbeziehungen zwischen den USA, Taiwanund der VR China ergab sich, als U.S. Präsident Jimmy Carter, taktisch bewusstüberraschend, die Vollnormalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen

18 Text in: Congressional Service, aaO. (FN 9), S. 323-324. Zur Distanzierung der USAvon Taiwan siehe Memoiren des letzten nationalchinesischen Botschafters in Washing-ton: James C. H. Shen: Free China – How the U.S. Sold Out Its Ally. Washington D.C.1983.

06_Kindermann Seite 223 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 105: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen224

Washington und Peking bekannt gab. Ohne hierfür Kompensationen zu erhalten,beugte er sich dabei drei für Taiwan gravierenden Forderungen der Volksrepublik.Sie betrafen den Abbruch der diplomatischen Anerkennung (»de-recognition«) derSouveränität der Regierung auf Taiwan, zweitens die Kündigung des seit 1955 beste-henden Verteidigungsvertrages mit Nationalchina und drittens den Rückzug einigerUS Militäreinheiten von der Insel. Zur Vermeidung vorheriger Einsprüche der Op-position, wurde Taiwans damaliger Staatspräsident Chiang Ching-kuo (Sohn Chi-ang Kai-sheks) vom US Botschafter in Taipei, Leonard Unger, um 2 Uhr früh ausdem Bett geholt, um ihm mitzuteilen, Präsident Carter werde diese für Taiwan gra-vierenden Maßnahmen nach Ablauf von nur drei Stunden am 15. 12. 1978 selbst be-kannt geben.19 Der von Carter in den USA erwartete Applaus blieb aus. Angeführtvon der China-Lobby trat die Opposition in Aktion. Da eine bilaterale Vertragsbe-ziehung zu Taiwan nun nicht mehr möglich war, verabschiedete der US Kongreßden am 10. April 1979 in Kraft tretenden und heute noch geltenden Taiwan Relati-ons Act. Dieser regelt einerseits die Organisation der nicht-staatlichen Beziehungenzwischen den USA und Taiwan. Andererseits erklärt dieses Gesetz, WashingtonsBeschluß zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur VR China beruhe auf derErwartung einer friedlichen Entwicklung der Taiwanfrage. Die USA würden daherjeden Versuch zu einer nicht-friedlichen Lösung einschließlich von Boykotts oderEmbargos gegen Taiwan als Bedrohung des Friedens und der Sicherheit im Westpa-zifik betrachten. Sie würden deshalb die Fähigkeit der USA erhalten, jeder Anwen-dung militärischer oder wirtschaftlicher Gewalt gegen das Volk von Taiwan entge-genzutreten und würden Taiwan weiterhin Waffensysteme zur Selbstverteidigungverkaufen.20 Ohne daraus Konsequenzen zu ziehen kommentierte Deng Xiaoping,dieses Gesetz bedeute ja fast eine Annullierung des Normalisierungsabkommensmit den USA.

Ein am 17. August 1982 von Washington und Peking unterzeichnetes Kommuni-que erklärt zwar, die USA würden ihre Waffenlieferungen an Taiwan weder quanti-tativ noch qualitativ erhöhen, sondern im Laufe der Zeit auslaufen lassen.21 Jedochentsprachen seither vorgenommene Waffenlieferungen der USA an Taiwan oft nichtdem Sinn dieser Vereinbarung.

Ab Herbst 1989 begann Peking Vorschläge zu einer Wiedervereinigung an Tai-wan zu richten. Dabei trat der Begriff der einvernehmlichen »Wiedervereinigung«an die Stelle der gewaltsamen »Befreiung«. Taiwans Regierungs-, Wirtschafts- undSozialsystem könne unverändert bleiben, Peking werde sich in inner-taiwanesischeAngelegenheiten nicht einmischen , beiderseitige Beziehungen in den Bereichen vonHandel, Post, Verkehr und Investitionen sollten ermöglicht werden. Beide Seiten

19 Äußerung Botschafter Ungers gegenüber dem Autor. Dokumente zur Normalisierungin Congressional Service, aaO. (FN 9), . 341-342.

20 Lester L.Wolff: Legislative History of the Taiwans Relations Act. Jamaica/N.Y. 1982(Dokumente).

21 Patrick Tyler: A Great Wall – Six Presidents and China. New York 1999, S. 326 u. 455.Siehe ferner: »Die Drei Sino-Amerikanischen Gemeinsamen Kommuniqués« in: BeijingRundschau 26. Juni 1998, S. 21-25.

06_Kindermann Seite 224 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 106: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen 225

könnten Gespräche auf Parteiebene beginnen, einzige Bedingung sei die Anerken-nung der Einheit Chinas unter der Führung der kommunistischen Regierung in Pe-king.22 Offensichtlich hatte Peking damit gerechnet, Taiwans erschütternde Enttäu-schung über die drastische Änderung der amerikanischen China-und Taiwanpolitikwerde in Taiwan eine Bereitschaft zu einem Zusammenschluss mit der VR Chinahervorrufen. Jedoch das Gegenteil war der Fall. Die nationalchinesische Regierungreagierte auf Pekinger Annäherungsversuche mit ihrer sechs Jahre lang durchgehal-tenen sog. »Politik des dreifachen Nein« d.h. keine offiziellen Kontakte, keine Ge-spräche und keinerlei Kompromisse mit der kommunistischen Regierung in Pe-king.23

Taiwans Wende zur Demokratie

Ende der achtziger Jahre bahnte sich auf Taiwan jedoch eine in vieler Hinsichthistorische Wende der Verhältnisse an. Ihr primärer Anlass war eine Revolution vonoben, ausgelöst durch den zwar autoritär doch populistisch regierenden PräsidentenChiang Ching-kuo, den Sohn Chiang Kaisheks. Kaum zwei Jahre vor seinem Todam 31. Januar 1988 initiierte er die Aufhebung der durch den Bürgerkrieg bedingtenAusnahmegesetzgebung, wodurch die in der demokratischen Verfassung enthalte-nen bürgerlichen Grundrechte wie auch die Pressefreiheit wieder in Kraft tretenkonnten. Auch hob er das zuvor gegebene Verbot der Neugründung politischerParteien auf, obwohl dies unmittelbar zur Legalisierung der 1986 bereits gegründe-ten Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) führte, deren taiwanesischer Separa-tismus in krassem Gegensatz zur China-Orientierung der regierenden Kuomintang(Nationale Volkspartei) stand. Viele ihrer Führer hatten wegen ihrer Oppositionund Befürwortung der Unabhängigkeit Taiwans von China bis zu 8 Jahren Gefäng-nishaft erdulden müssen. Mit diesen beiden Maßnahmen hatte Chiang Ching-kuodas Machtmonopol der Kuomintang freiwillig preisgegeben. Dieser Trend setztesich fort, als ein Spruch des Obersten Gerichts die noch in Kontinentalchina ge-wählten, 1949 nach Taiwan übersiedelten und seither ohne Neuwahl tagenden undstark gealterten Abgeordneten der Legislativkörperschaften, mehrheitlich Anhän-ger der Regierungspartei, zum Rücktritt veranlasste. Der sich so manifestierendeMachtverzicht der Kuomintang bewirkte eine revolutionäre Wende insofern als diepolitische Macht auf Taiwan nun nicht mehr von oben von charismatischen Füh-rern, wie den beiden Präsidenten Chiang, ausging sondern von unten aus dem Wil-len der auf Taiwan befindlichen Wähler entstand, die die Macht von Wahl zu Wahl

22 »Der Vorsitzende Ye Jianying erläutert die Politik für die Rückkehr Taiwans zum Vater-land und die friedliche Wiedervereinigung« in: Beijing Rundschau 5. Oktober 1981, S.10-11.

23 Tim Trampedach: China auf dem Weg der Wiedervereinigung ? Die Politik der Guo-mindang auf Taiwan gegenüber der VR China seit 1987. Hamburg 1992, S. 31-32. Vgl.auch das Interview des Verfassers mit dem RoC Ministerpräsidenten Sun Yun-suan imApril 1979, in: Asian Survey, Mai 1980, S. 470-471.

06_Kindermann Seite 225 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 107: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen226

auf verschiedene Parteien verteilten. 24 Nachfolger Chiang Ching-kuos wurde der1923 geborene taiwanesische Agrarexperte Lee Teng-hui (Li Denghui), ein vormali-ger Bürgermeister der Hauptstadt Taipei, der auf Veranlassung Chiang Ching-kuoszum Vizepräsidenten ernannt worden war. Im März 1990 wurde er als erster Taiwa-nese zum Präsidenten der Republik China auf Taiwan gewählt. Erstmals in TaiwansGeschichte wurde die Insel von Taiwanesen regiert. Die politische Wende entspracheiner demographischen Generationsablösung. Denn die mit Chiang Kai-shek nach1949 nach Taiwan gekommenen chinesischen Festländer waren im Verlauf eines hal-ben Jahrhunderts gealtert und konnten nicht durch weitere Zuwanderung aus Chi-na ergänzt werden. Generationsbedingt waren daher einheimische Taiwanesen inviele Schlüsselpositionen in Staat, Kultur und Wirtschaft nachgerückt, die in denersten Jahrzehnten nach 1949 weitgehend mit Festländern besetzt gewesen waren.Ebenfalls noch von Chiang Ching-kuo initiierte Neuerungen betrafen die Geneh-migung von Reisen nach China wie auch des Handels mit und von Investitionen inChina.

Die Festlandspolitik der neuen Regierung Präsident Lee Teng-huis bewirkte zu-nächst eine Annäherung Taiwans an Kontinentalchina. Zur Behandlung tagtäglicherjuristischer und wirtschaftlicher Fragen, die sich aus Reisen und Kontakten taiwa-nesischer Bürger mit dem Festland ergaben, wurde in Taiwan im Februar 1990 die»Stiftung für den Austausch über die Taiwanstraße« (SEF) gegründet, wonach Pe-king im Dezember 1991 zum gleichen Zweck die ebenfalls halbamtliche Gesell-schaft für Beziehungen über die Taiwanstraße hinweg (ARATS) ins Leben rief. 1992trafen sich erstmals seit 44 Jahren hochrangige Beamte beider Seiten in Singapur, wosie inoffizielle Abkommen über praktische Problembereiche unterzeichneten. Zu-vor hatte die Regierung in Taiwan im Februar 1991 sog. »Richtlinien für NationaleWiedervereinigung«25 erlassen. Diese entwarfen erstmals ein langfristiges Pro-gramm wachsender Zusammenarbeit mit dem Endziel einer Wiedervereinigung, al-lerdings erst nach einer wünschbaren Demokratisierung des chinesischen Regie-rungssystems. Doch Peking brach diese hoffnungsvoll scheinenden Ansätze ab,nachdem Präsident Lee Teng-hui 1995 in die USA gereist war, um dort an seinerAlma Mater, der Cornell Universität, eine Rede zu halten. Zuvor hatten beide Häu-ser des US Kongresses die Regierung von Präsident Clinton mit überwältigendenMehrheiten dazu aufgefordert, Lee ein Einreisevisum in die USA zu gewähren.Auch irritierten Peking die sog. »Reisediplomatie« mit der Spitzenpolitiker Taiwanspersönliche Kontakte mit dem Ausland aufnahmen wie aber auch umfangreicheVerkäufe amerikanischer und französischer Kampfflugzeuge an Taiwan.

24 Weggel, aaO. (FN 1), S. 228-243 . Hung-mao Tien (Hrsg.): Taiwan’s Electoral Politicsand Democratic Transition. New York 1996; u. Wei-chin Lee (Hrsg.): »The Lee Teng-hui Era in Taiwan (1988-2000)« in: The American Asian Review, Bd. XX, Nr. 2,Jamaica/N.Y., Sommer 2002, S. 1-190.

25 Text in: Kun-huei Huang: The Key Points and Content of the Guidelines for NationalUnification. Taipei 1991 S. 17-18.

06_Kindermann Seite 226 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 108: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen 227

Ein Jahr später bereitete sich die junge taiwanesische Demokratie auf die erste imchinesischen Sprachraum je stattgefundene Volkswahl eines Staatspräsidenten vor.Um die Wahl des ihm zutiefst verhassten Lee Teng-hui zu verhindern, veranstaltetePeking während des Wahlkampfes intensive Drohmanöver in taiwanesischen Ho-heitsgebieten, bei denen mit scharfer Schiffsartillerie und Raketen nahe den taiwane-sischen Haupthäfen Kaohsiung Gaoxiung) und Keelung (Jilong) geschossen wurde.Begleitet wurden die Drohmanöver von massiver chinesischer Propaganda gegenLee Teng-hui und etwaige Interventionsversuche fremder Mächte. Mit Betroffen-heit musste Peking aber feststellen, dass Lee Teng-hui mit 53,9 Prozent der Stimmenklar vor seinem Gegner Peng Meng-ming von der Demokratischen Fortschrittspar-tei mit nur 21,1 Prozent der Stimmen zu gewinnen vermochte. Von 262 Korrespon-denten des Auslands beobachtet, wurde Lees Wahl zu einem Medienerfolg für Tai-wan. Ebenso wenig wie Taiwans Wähler ließen sich die USA abschrecken. Denn dieUSA entsandten zwei von Flugzeugträgern begleitete Kampfverbände der USKriegsmarine in Gewässer nahe Taiwan während US Präsident Bill Clinton gleich-zeitig Japans Ministerpräsident Hashimoto einen Besuch abstattete und mit ihmeine gemeinsame Erklärung zur Sicherheit in Krisensituationen in Japan umgeben-den Gebieten (u.a. Taiwan) unterzeichnete. 26 Als neue schwere Provokation emp-fand es Peking, daß Lee Teng-hui in einem gezielt mit der Deutschen Welle im Juli1999 veranstalteten Interview erklärte, die Beziehungen zwischen der VR Chinaund Taiwan seien »besondere Beziehungen zwischen zwei souveränen Staaten» undnicht, wie Peking es darstellte, Beziehungen zwischen einer legitimen gesamtchine-sischen Regierung und einer rebellischen kleinen Provinz. Taiwans Forderung einerGleichordnung mit Peking kollidierte mit dessen Standpunkt einer Unterordnungder Inselprovinz.

Machtwandel und das Streben nach Unabhängigkeit

Nicht ohne Hoffnung auf einen entscheidenden Wandel blickte Peking auf diefür März 2000 anberaumten Präsidentschaftswahlen, die wiederum von scharfenWarnungen Pekings begleitet waren. Doch zu seiner Enttäuschung siegte diesmalsogar der Kandidat der separatistischen Demokratischen Fortschrittspartei ChenShui-biän, ein vormaliger Bürgermeister von Taipei und starker Befürworter einertaiwanesischen Unabhängigkeit mit 39,30 Prozent der Stimmen. Der Grund hierfürlag in einer vorherigen Spaltung der Kuomintang. Einer ihrer Spitzenpolitiker, derfrühere Gouverneur von Taiwan Sung Ch’uyü (Dr. James Soong), hatte sich von derPartei getrennt, war als unabhängiger Kandidat angetreten und hatte 36,84 Prozentder Stimmen erhalten, während die Kuomintang mit ihrem Kandidaten Lien Chan(Lien Zhan) nur 23,10 Prozent erzielen konnte. Erstmals seit Verabschiedung derVerfassung noch auf dem Festland 1947 war die Kuomintang in Wahlen geschlagen

26 Text der amerikanisch-japanischen Erklärung in: Defense Agency of Japan: Defense ofJapan 1997. Tokio 1997, S. 114-115 u. 163-172.

06_Kindermann Seite 227 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 109: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen228

worden. Zur Beruhigung der Lage verkündete Präsident Chen Shui-biän in seinerAntrittsrede, solange Peking Taiwan nicht angreife, werde es keine Volksabstim-mung oder Verfassungsänderung zugunsten einer Unabhängigkeit geben. Taiwanserwähnte »Richtlinien für Nationale Wiedervereinigung« blieben in Kraft. Gewarntdurch ihre Wahlniederlage im Jahr 2000 schlossen sich die Kräfte der Kuomintangunter Lien Chan und der von Sung Ch’uyü inzwischen neu gegründeten » Parteider Volksnähe« (Qinmindang) zum sog. »panblauen Lager« zusammen, um gegendas »pangrüne Lager«, bestehend aus der Demokratischen Fortschrittspartei unterChen Shui-biän und der von Lee Teng-hui neu gegründete »Taiwan SolidaritätsUnion«, anzutreten. Während des Wahlkampfes warfen sich Lien wie auch Sung indramatischer Geste nieder, um den Boden Taiwans als Symbol einer neuen »TaiwanFirst« Einstellung zu küssen. Doch entgegen der prononcierten Siegesgewissheitder Panblauen siegte bei den Präsidentschaftswahlen von 2004 erneut Chen Shui-biän an der Spitze der Pangrünen wenn auch nur mit einem hauchdünnen Vor-sprung von 50.11 Prozent oder 6, 47 Millionen Wählerstimmen vor dem panblauenLager mit 49,89 Prozent oder 6,4 Millionen Stimmen. Die entscheidende Differenzbelief sich auf 30.000 Stimmen. Als führender Sprecher taiwanesischer Unabhängig-keitstendenzen hatte Chen Shui-biän – im Vergleich zur Wahl von 2000 - 11 Pro-zent der Wähler hinzugewonnen und somit fast 50 Prozent der Wählerschaft hintersich gebracht. Fassungslos ob dieser völlig unerwarteten Niederlage, weigerte sichdas panblaue Lager das Wahlresultat anzuerkennen, verwies auf den Einfluß einesam Tag vor der Wahl stattgefundenen Attentatsversuchs auf Präsident Chen undseine Vizepräsidentim Lü Hsiu-lien (Annette Lü) und erzwang mit tagelang durch-gehaltenen Großdemonstrationen eine Neuauszählung aller Stimmzettel. Zwar ver-ringerte sich hierdurch die Zahl der Stimmen für Pangrün ein wenig, doch es bliebbeim Sieg Chen Shui-biäns. 27 Ein Wermutstropfen für ihn und seine Anhängerblieb jedoch die Tatsache, dass sie im Parlament, dem Legislativ-Yüan , über keineMehrheit verfügten. Somit blieb es ihnen versagt, bestimmte gewünschte Akte derGesetzgebung in die Tat umzusetzen.

Auf die neuerliche Wahl des eindeutig für die Unabhängigkeit Taiwans eintreten-den Chen Shui-biän reagierte Peking mit seinem durch den Nationalen Volkskong-reß (»Parlament«) am 14. März 2005 verabschiedeten »Anti-Sezessions-Gesetz«. 28

Zweck des Gesetzes ist laut Artikel 1 die Bekämpfung des taiwanesischen Separatis-mus. Taiwan sei unabdingbar ein Teil des chinesischen Staatsgebiets. Alle Chinesenseien aufgefordert, sich für die Wiedervereinigung einzusetzen. Diese solle wennmöglich durch flexibel gestaltbare Verhandlungen erfolgen. Internationales Aufse-hen erregte jedoch die Kriegsermächtigungklausel von Artikel 8. Sie verleiht der Re-gierung das Recht, gegen Taiwan mit Gewalt vorzugehen, sollten die dortigen Sepa-ratisten konkrete Maßnahmen mit dem Ziel der Unabhängigkeit ergreifen oder

27 Gunter Schubert: »Taiwan nach den Präsidentschaftswahlen – Eine Momentaufnahme«,in: Asien Nr. 91, April 2004, S. 109-115.

28 Anti-Secession-Law, adopted at the Tird Session of the Tenth National People’s Con-gress, 14. März 2005.

06_Kindermann Seite 228 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 110: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen 229

sollte die chinesische Regierung befinden, dass alle friedlichen Mittel zur Errei-chung einer Wiedervereinigung erschöpft seien. Die Realität dieser KriegsdrohungPekings manifestierte sich durch die Aufstellung von 800 gegen die »brüderlichenLandsleute« in Taiwan gerichteten Raketenstellungen in Taiwan gegenüber liegen-den Küstenprovinzen der Volksrepublik.29 Wohl auch um dem negativen Eindruckdieses Kriegsermächtigungsgesetzes entgegenzuwirken, empfing die chinesischeFührung im April und Mai 2005 nacheinander die beiden Führer des panblauen La-gers in Peking. Lien Chan, der Vorsitzende der Kuomintang und ihr erfolgloserKandidat in den Präsidentschaftswahlen von 2000 und 2004 und der Staatspräsidentder Volksrepublik Hu Jintao kamen im Namen ihrer Parteien überein, für friedlicheBeziehungen zwischen den Systemen diesseits und jenseits der Taiwanstraße einzu-treten, den Separatismus zu bekämpfen und sich zu erneut zu einem 1992 zwischenbeiden Seiten erzielten Kompromiss zu bekennen, demzufolge beide zwar am Prin-zip des »einen China« festhalten, dieses jedoch nach je eigener Auffassung interpre-tieren.30 Kurz darauf kommentierte Chen Shui-biän, die Tür zu Verhandlungen mitPeking bleibe seitens seiner Regierung geöffnet, vorausgesetzt die Gespräche könn-ten auf der Basis von »Demokratie, Frieden und Gleichberechtigung« stattfinden.Explizit auf Pekings Kriegsdrohung als Schlüsselelement des Antisezessionsgesetzeshinweisend, löste Chen als Reaktion hierauf den 1991 unter der Regierung LeeTeng-huis gegründeten »Rat für Festlandangelegenheiten« auf und setzte die damalserlassenen »Richtlinien für Nationale Wiedervereinigung« als – wie er sagte – »ab-surdes Überbleibsel einer absurden Ära« außer Kraft.31 Ebenso ließ er den Begriff»China« aus dem Namen vieler Institutionen durch den Namen »Taiwan« ersetzen,also z. B. »Taiwan Post« statt früher »China Post« etc.. Chens Regierung fördertedas taiwanesische Identitäts- und Geschichtsbewusstsein. Die von der Kuomintangin Taipei errichtete prächtige Anlage der »Chiang Kai-shek Memorial Hall« wurdekürzlich umbenannt in »Taiwan Democratic Memorial Hall« und ebenso der »Chi-ang Kai-shek Flughafen« in »Taoyuan International Airport«. Fast alle Chiang Kai-shek Denkmäler wurden entfernt, doch im Parlament und in vielen Amtsstuben fin-det man weiterhin die Portraits des Revolutions- und Republikgründers Sun Yat-sen. Mit der Begründung, Taiwans derzeitige, auf dem chinesischen Festland 1947promulgierte »Verfassung der Republik China« sei für das riesige subkontinentaleChina geschaffen und nicht für das kleine Taiwan, erstrebt Chen Shui-biän eine teil-weise bereits durchgeführte Verfassungsänderung oder besser noch bis zum Jahr2008, dem Ende seiner zweiten Amtszeit, eine gänzlich neue Verfassung für Taiwan,eine Maßnahme, die Peking allerdings als Kriegsgrund betrachten würde.32

29 Kay Möller: Taiwan als Problem Internationaler Sicherheitspolitik. Ebenhausen, 2000,S. 11-17.

30 Wen Chen: »Reaching Across the Great Divide« Kommentar u. Dokument in: BeijingReview 12. Mai 2006, S. 18-26 u. International Herald Tribune, 3. Mai 2006..

31 Henrik Bork: »Taiwan grenzt sich von China Ab« in: Süddeutsche Zeitung 3. Mai 2005.Siehe auch International Herald Tribune 3. Mai 2005.

32 Björn Finke: »Olympischer Friede – Taiwans Präsident will Spannungen mit China ver-meiden«, in: ebda. 26. Mai 2007.

06_Kindermann Seite 229 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 111: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen230

Ein besonderer Aspekt im Verhältnis zwischen der VR China und Taiwan bestehtin der bemerkenswerten Diskrepanz zwischen ihren dynamisch wachsenden wirt-schaftlichen Beziehungen und Verflechtungen miteinander einerseits und der kon-trastierenden Stagnation der politischen Beziehungen zwischen den Führungssyste-men auf beiden Seiten andererseits. Zwischen 1990 und 2004 wuchs dasGesamtvolumen des Handels zwischen Taiwan und der VR China von 2,5 auf 78,3Milliarden U.S. Dollar. Dabei erhöhten sich Chinas Importe aus Taiwan von 2,3 auf64,7 Milliarden U.S. Dollar und die Exporte aus der Volksrepublik nach Taiwan von320 Millionen US Dollar auf 13,5 Milliarden US Dollar. Im Jahr 2004 überstieg dasGesamtvolumen taiwanesischer Exporte in die VR China sogar das Volumen seinerExporte in die USA.33 Etwa die Hälfte der führenden Firmen in Taiwan ist an Inves-titionen in China beteiligt. Allein in Schanghai haben sich gegen 400 000 Geschäfts-leute aus Taiwan niedergelassen. Viele der in Taiwan befindlichen arbeitsintensivenProduktionszweige haben ihre Produktionsstätten nach China verlagert, wo Ar-beitskosten, Bodenpreise und Lebenskosten billiger sind. Diese Fabriken erhaltenihre Weisungen aus Taiwan, produzieren in China und exportieren ihre Produktevon dort direkt zu ausländischen Kunden. Taiwan droht damit ein ständiger Verlustan Investitionskapital und Arbeitsplätzen. Doch der innenpolitische Druck kom-merzieller Interessen ist so stark, dass die Regierung diese besorgniserregende Ent-wicklung nur bedingt eindämmen kann.

Drei Grundpositionen zur Taiwan-Frage

Befragt man Vertreter Pekings oder im Falle Taiwans Vertreter des pangrünenund des panblauen Lagers nach ihren entscheidenden Standpunkten in der Taiwan-frage, so erhält man folgende Antworten:

1. Die Taiwanfrage in der Sicht Pekings:34

Die von der Kommunistischen Partei Chinas regierte Volksrepublik China sei aufGrund des kommunistischen Sieges im Bürgerkrieg legitime Nachfolgerin des Kai-serreiches China, sowie der Republik China und damit Souverän aller zu China ge-hörender Gebiete. Nach ihrer Rückgewinnung von Hong Kong und Macao sei Tai-wan das letzte noch zu reintegrierende Gebiet Chinas. Diese Rückgliederung zubewirken sei »heilige« patriotische Pflicht aller Chinesen. Die Alliierten Erklärun-gen von Kairo (1943) und Potsdam (1945) hätten Taiwan China zugesprochen. Die

33 Richard C. Bush: Untying the Knot – Making Peace in the Taiwan Straits. WashingtonD.C. 2005. S. 28-35.

34 Qiang Xin: Konfrontationen und Kooperationen. Zur Normalisierung der Beziehun-gen zwischen den beiden Staaten der Taiwan-Straße (1979-2000). Baden-Baden 2003,S. 55-84. Ministry of Foreign Affairs: The One-China Principle and the Taiwan Issue.8. März 1994. Jiang Zemin: »The Taiwan Question is Most Important.« WrittenResponses to Questions from the Washington Post 23. März 2001.

06_Kindermann Seite 230 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 112: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen 231

praktische chinesische Inbesitznahme sei 1945 erfolgt. Japan habe in seinem Frie-densvertrag auf Taiwan verzichtet. Die Regierung der Kuomintang auf Taiwan habezwischen 1950-1971 in den Vereinten Nationen die Vertretung »ganz Chinas« zwarillegitim – aber immerhin nicht die Vertretung eines eigenstaatlichen Taiwan – bean-sprucht.

Während der Amtszeit der Präsidenten Chiang Kai-shek und Chiang Ching-kuosei von Seiten Taiwans konsequent am Prinzip der nationalen Einheit Chinas (ein-schließlich Taiwans) festgehalten worden. Eine große Mehrzahl von Staaten - ein-schließlich sogar der USA – hätten das Prinzip des »einen China« explizit aner-kannt. Die Vereinten Nationen hätten 1971 der VR China das Recht zur Vertretungganz Chinas gewährt, ohne gleichzeitig eine Vertretung Taiwans zu akzeptieren. So-mit sei Pekings Anspruch auf Taiwan historisch und völkerrechtlich voll gerechtfer-tigt. Daraus ergebe sich das Recht und die Pflicht der VR China, die Herrschaftüber Taiwan zu beanspruchen, ausländische Interventionen in dieser Frage ( wiez.B. den Taiwan Relations Act der USA) abzulehnen und jeden Versuch Taiwans zueiner regierungsamtlichen Vertretung oder Anerkennung im Ausland abzulehnenund zu bekämpfen. Im Sinne ihrer von Deng Xiaoping geprägten Parole : »EinLand – zwei Systeme« habe die VR China Taiwan mehrfach seit 1989 großzügigeAngebote über die Gewährung einer weitreichenden Autonomie gemacht, über de-ren konkrete Ausgestaltung durchaus mit den taiwanesischen Autoritäten verhan-delt werden könne. Sollte Taiwan aber konkrete Maßnahmen in Richtung Unab-hängigkeit ergreifen oder Gespräche mit China unbegrenzt hinausschieben, werdesich die Volksrepublik zum Einsatz militärischer Macht gegen Taiwan genötigt se-hen.

2. Die Taiwanfrage in Sichtweisen Taiwans:

A. Das pangrüne Lager:35

Taiwan sei ein souveränes Land. Die VR China habe seit ihrer Gründung zu kei-nem Zeitpunkt irgendwelche Kontrolle oder Jurisdiktion über Taiwan ausgeübt.Seit Taiwan 1885 Provinz des Kaiserreiches China geworden sei, sei die Insel insge-samt nur 15 Jahre lang (1885-1895 und 1945-1949) vom chinesischen Festland ausregiert worden. Seit 1949 habe sich Taiwan in einem Zustand der de facto Unabhän-gigkeit von der VR China befunden. Die alliierten Erklärungen von Kairo 1943 undPotsdam 1945 seien Willensäußerungen und keine verpflichtenden Verträge gewe-sen. Japans vertraglicher Verzicht auf Taiwan (1951) sei ohne Nennung Chinas odereines anderen Staates als Rechtsnachfolger erfolgt. Von 1949 bis zur Demokratisie-

35 Frank Hsieh (Hrsg): Democratic Progressive Party – Taiwan (Parteiprogramm). Taipei2000, S. 24-27. Teng-hui Lee: The Road to Democracy – Taiwan’s Pursuit of Identity.Tokio 1999. Gunter Schubert: »Abschied von China ? Eine politische Standortbestim-mung Taiwans nach den Präsidentschaftswahlen im März 2000« in: Asien. April 2001,S. 5-32. »President Chen’s Inaugural Speech« in: Taipei Times 20. Mai 2004.

06_Kindermann Seite 231 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 113: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen232

rung Taiwans sei die Insel von einem Regime geflüchteter festlandschinesischer Zu-wanderer – unter ihnen kein gebürtiger Taiwanese – autoritär und ohne Beteiligungder taiwanesischen Bevölkerung regiert worden. Ab dem Jahr 2000 habe eine Mehr-heit der Taiwanesen den Führer einer Partei zum Präsidenten gewählt, die Taiwansunbestrittene de facto Souveränität durch das Attribut einer entsprechenden de jureUnabhängigkeit zu ergänzen wünsche. Es entspreche dem Grundprinzip der De-mokratie, dass nur das Volk von Taiwan endgültig zu entscheiden habe im Rahmenwelchen Systems es zu leben wünsche. Im Wortlaut des Taiwan Relations Act seidas Recht des taiwanesischen Volkes auf Selbstbestimmung implizit anerkannt wor-den. Seit Ende der achtziger Jahre von Diktatur befreit, sei Taiwan erstmals in derLage, von Taiwanesen regiert zu werden und die Besonderheiten der taiwanesischenKultur und Geschichte für das eigene Volk und die Welt zur Geltung zu bringen.Taiwan fordere international eine seinem realen Staatscharakter angemessene diplo-matische Vertretung.

B. Die Sicht des panblauen Lagers :36

Taiwan sei historisch ein Teil des chinesischen Reiches gewesen, der 1945 der vonder Kuomintang geführten Regierung der Republik China zurückgegeben wordensei. Deren Regierung und das demokratisch in China gewählte, gesamtchinesischeParlament seien auf Grund kommunistischer Erfolge im Bürgerkrieg 1949 nach Tai-wan verlagert und von einer Mehrheit von Staaten und den Vereinten Nationen wei-terhin als legitime Regierung der Republik China (RoC) bis 1971 anerkannt wor-den. Gegen das klassenkämpferische, traditionsfeindliche und terroristische Systemdes Maoismus habe die Kuomintang-Regierung auf Taiwan das Kernelement eines»Freien China« und seiner Kultur bewahrt, habe Taiwan gegen zwei militärischeGroßoffensiven der Kommunisten (1954/55 und 1958) verteidigt und den meteori-schen Aufstieg Taiwans vom Agrarland zur Wirtschaftsmacht maßgeblich mitge-staltet. Auf Grund der massiven Bedrohung durch die Volksrepublik China habedie Kuomintang zwar lange autoritär regiert, habe aber freiwillig Ende der achtzigerJahre auf ihr Machtmonopol verzichtet und chinesische Demokratie im Zeichen derVerfassung und Ideen des demokratischen Partei- und Republikgründers Sun Yat-sen revitalisiert. Mit der Auflösung des nach Taiwan aus China mitgebrachten ge-samtchinesischen Parlaments habe die taiwanesische Regierung der Kuomintang aufihren früheren Anspruch einer Vertretung ganz Chinas verzichtet und die kommu-nistische Regierung des China-Festlands als dessen de facto Regierung anerkannt.Die von der Kuomintang geführte Regierung der Republik China auf Taiwan habeebenso Institutionen für halbamtliche Kontakte über die Taiwanstraße hinweg ge-schaffen und langfristige Richtlinien für eine Wiedervereinigung unter der Voraus-

36 »Lien – Soong Policy Papers«. Lien-Soong Presidential Campaign Headquarters. TaipeiMärz 2004, S. 16-30. Ying-jeou Ma: » Cross-Strait Relations at a Crossroad« in: DonaldZagoria (Hrsg.): Breaking the China-Taiwan Impasse, London 2003, S. 39-66.

06_Kindermann Seite 232 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 114: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen 233

setzung einer Demokratisierung Chinas verabschiedet. Doch Peking habe dieseKontakte willkürlich abgebrochen. Für die Kuomintang, die auf Grund der ge-schichtlichen Entwicklung mehrheitlich taiwanesische Wähler vertrete, gelte dasPrinzip »Taiwan First« und nicht mehr »China First«. Dennoch betrachte das pan-blaue Lager Taiwan als Teil des chinesischen Sprach- und Kulturraumes und – indiesem Sinne - dem »einen China« zugehörig, jedoch nicht als untergeordneter Teilder kommunistisch regierten Volksrepublik China.37 Auf Grund seines realenStaatscharakters bedürfe Taiwan keiner Unabhängigkeitserklärung. Chinas wieder-holte Kriegsdrohungen gegen Taiwan widerlegten seine Behauptungen von brüder-licher Haltung gegenüber Taiwan. Alle seine Angebote implizierten eine Unterord-nung Taiwans, das aber Gleichordnung beanspruche. Peking habe das am 23. Mai1951 mit Tibet vereinbarte Abkommen über dessen weitreichende Autonomie infast jedem Punkt gebrochen und durch die Praxis blutigen Terrors ersetzt. DasGrundgesetz für Hongkong habe es so gestaltet, dass nur Peking bei Rechtsstreitüber dieses Gesetz unilateral die letzte Entscheidungsgewalt zufalle. Trotz Taiwansgutem Willen, beiderseits akzeptable Lösungen kooperativer Koexistenz zu finden,sei grundsätzlich Skepsis geboten.

Die Wählerschaft auf Taiwan ist derzeit noch je zur Hälfte in das panblaue unddas pangrüne Lager gespalten. Daher wird den im März 2008 bevorstehenden Präsi-dentschaftswahlen größte Bedeutung beigemessen. Kandidat der pangrünen Demo-kratischen Fortschrittspartei (DPP) ist Frank Hsieh (Hsieh Chang-ting), der vor-malige Bürgermeister der größten Hafenstadt Kaohsiung (Gaoxiong ), der alsbesonnener und beliebter Politiker gilt. Kandidat der panblauen Kuomintang istder relativ junge und ebenfalls populäre Ma Ying-jeou, der seinen Doktorgrad inJura an der Harvard Universität erworben hat und der Chen Shui-biän bei der Wahlzum Bürgermeister von Taipei schlagen konnte. Eine der Schlüsselfragen des Wahl-kampfes dürfte die Frage der Bestimmung der Identität Taiwans und seines Verhält-nisses zur VR China sein. In China werden im Jahr 2008 die dort mit brennendemEhrgeiz vorbereiteten und in großem Stil geplanten Olympischen Spiele stattfindenund für das Jahr 2010 ist die ebenfalls als Prestigeobjekt geplante Weltausstellung inSchanghai vorgesehen. Krisenhafte Spannungen mit Taiwan kämen Peking zu dieserZeit ungelegen. Zwar hatte Chen Shui-biän für das Jahr 2008 eine Verfassungsre-form vorgesehen, doch hängt die Verwirklichung eines solchen Zieles von der Frageab, ob es seiner Partei gelingt, die knapp verfehlte parlamentarische Mehrheit zu ge-winnen, ob der Kandidat seiner Partei Präsident wird und ob dieser dieses Risikoeingehen will. Nach den vorgenannten beiden internationalen Großveranstaltungenin Peking 2008 und in Schanghai 2010 dürfte sich die Aufmerksamkeit und Aktivitätder kommunistischen Regierung in Peking verstärkt wieder der Taiwanproblematikzuwenden. Viel wird dann davon abhängen, ob und wie es den Parteien in Taiwan

37 Die hier dargestellten drei Grundpositionen zur Taiwan-Frage beruhen u.a. auch aufintensiven Gesprächen, die der Verfasser mit führenden Vertretern aller drei Lager füh-ren konnte.

06_Kindermann Seite 233 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 115: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen234

gelingt, einen Konsens in den existentiellen und noch offenen Fragebereichen dertaiwanesischen Identität und des Verhältnisses Taiwans zur VR China herzustellen.

Die mit Taiwans Nachbarn, Japan und den Philippinen, verbündeten USA habenin der Amtszeit ihres Präsidenten George W. Bush zwar ihre Sympathie für Taiwanund die weitere Geltung des Taiwan Relations Act erneut bekräftigt. Doch zeigtesich Washington andererseits besorgt wegen möglicher Irritationen und krisenhaf-ter Reaktionen Pekings wegen taiwanesischer Schritte in Richtung auf die Unab-hängigkeit Taiwans. Chen Shui-biän wurde von Seiten der USA dringend nahege-legt, sich mit der tatsächlichen de facto Unabhängigkeit seiner Heimat zufrieden zugeben und nicht die Sicherheit des westpazifischen Raumes einschließlich der ame-rikanischen Sicherheit durch Schritte in Richtung auf Taiwans de jure Souveränitätzu gefährden, die Peking zu kriegerischen Reaktionen veranlassen könnte.38

Insgesamt bleibt die Taiwan-Frage durch die Fülle der hier widerstreitendenKräfte und Interessen ungelöst, wenngleich es denkbar ist, dass eindeutige Resultatebei der Wahl vom März 2008 eine neue Dynamik bewirken könnten.

Zusammenfassung

Seit dem 17. Jahrhundert gehört Taiwan, teils auch auf Grund seiner geostrategi-schen Lage im Zentrum des Westpazifik zu jenen Gebieten des chinesischen Raumes,die am stärksten und wechselvollsten auswärtigen machtpolitischen Einflüssen ausge-setzt gewesen ist. Nach fünfzig Jahren japanischer Herrschaft kehrte die Insel 1945 zuChina zurück. Doch Repressionsakte der Festländer bewirkten bei Taiwanesen eineEntfremdung. Von den Maoisten besiegt, zog sich die nationalchinesische Regierungund Elite auf die Insel zurück um diese als Fluchtburg des »Freien China« zu entwi-ckeln. Nicht Taiwanesen, sondern zugewanderte Festländer übten dort – unter Beru-fung auf den Bürgerkrieg mit Peking - autoritär die Herrschaft aus. Ab dem Koreak-rieg bis 1980 mit den USA verbündet, vermögen sie es Taiwan gegen PekingsStreitkräfte zu verteidigen, die Vertretung ganz Chinas in der UNO bis 1971 wahrzu-nehmen und eine überaus erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung der Insel zu bewirken.Ab Ende der achtziger Jahre verzichtet die regierende Kuomintang (Nationale Volks-partei) auf ihr Machtmonopol. Hand in Hand mit der demographischen Überalterungder 1949 zugewanderten Festländer vollzieht sich die Taiwanisierung und Demokrati-sierung der Politik auf Taiwan. Trotz Herrschaftsansprüchen, Autonomieangebotenund Drohungen der VR China – Taiwan gehöre zum chinesischen Mutterland – siegtin den Präsidentschaftswahlen der Jahre 2000 und 2004 jeweils der Kandidat des poli-tischen Lagers, das Taiwans staatliche Unabhängigkeit fordert. Im Ernstfall wäre dasfür Peking der Kriegsfall. Die zum Schutz Taiwans verpflichteten USA mahnen Tai-wans Regierung zur Mäßigung. Die fast gleichstarke Opposition der Kuomintang be-kennt sich kulturell zu China, nicht aber zur kommunistischen Volksrepublik. Kom-menden Wahlen im Jahr 2008 wird große Bedeutung beigemessen.

38 Zagoria, aaO. (FN 36), Kapitel 1, 2, 12 u. 16.

06_Kindermann Seite 234 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 116: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Gottfried-Karl Kindermann · Taiwan im Brennpunkt nat. u. intern. Divergenzen 235

Summary

Since the 17-th century , no other part of the Chinese area has been more ex-posed to changing external influences than Taiwan, which is partly due to its signi-ficant geostrategic position in the center of the West Pacific. Dominated for fifty ye-ars, until 1945, by Japan, it was factually returned to China. But the Taiwanese feltstrongly alienated from China by the repressive and exploitative rule of MainlandChinese administrators. Defeated by the Communists on the China Mainland, theNationalist Chinese government and elite in 1949 withdrew to Taiwan which theydeveloped into a last bulwark of their »Free China« and which maintained the rep-resentation of all of China in the United Nations until 1971. Emigrated MainlandChinese – not Taiwanese – maintained on Taiwan a civil war conditioned authorita-rian rule. Allied with the United States until 1980, they defended Taiwan againstChinese military offensives and effected a most impressive development of Taiwan’seconomy. In the late 1980ies the ruling Kuomintang (National People’s Party) aban-doned its monopoly of political power. Hand in hand with the aging of the mainlan-der generation that had moved to Taiwan in 1949, native Taiwanese assumed positi-ons of power and a democratic multi-party system emerged. In spite of Chineseoffers of autonomy, of threats, and claims that Taiwan was a subordinate part of theChinese motherland, the presidential elections of the years 2000 and 2004 were wonby the candidates of parties that demand Taiwan’s independence from China. This,according to Peking, would be a case of war. Committed to the protection of Tai-wan, the United States are counseling moderation. Being equal in voter strength, theKuomintang opposition party takes the position that Taiwan, although culturally apart of China, is nevertheless not a subordinate part of the communist People’s Re-public of China. Observers attach great significance to the results of Taiwan’s forth-coming elections in 2008.

Gottfried-Karl Kindermann, Taiwan in the Focus of conflicting national and inter-national Interests

06_Kindermann Seite 235 Dienstag, 26. Juni 2007 4:00 16

Page 117: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Lothar R. Waas

Karl Graf Ballestrem (1939-2007) – ein Nachruf

Es ist noch keine drei Jahre her, dass Karl Graf Ballestrem im Juli 2004 aus Alters-gründen aus seinem Amt als Professor für Politikwissenschaft (Politische Theorieund Ideengeschichte) an der Katholischen Universität Eichstätt schied. Anfang Maidieses Jahres ist er im Alter von 67 Jahren verstorben. Mitten aus dem Leben geris-sen – er brach bei einem Vortrag plötzlich zusammen – ist sein Tod für alle, die ihnkannten, unfassbar, ja ein Schock.

Graf Ballestrem und ich – sein erster Doktorand in München an der Ludwig-Ma-ximilians-Universität und sein erster Wissenschaftlicher Assistent und Habilitandan der Katholischen Universität Eichstätt – sind einander vor genau 30 Jahren erst-mals begegnet. Er hatte sich gerade mit einer Arbeit über die »Schottische Aufklä-rung« habilitiert und vertrat nun als junger Privatdozent den Lehrstuhl für Politi-sche Theorie und Philosophie von Nikolaus Lobkowicz am Geschwister-Scholl-Institut. Unter den Hochschullehrern, die mir damals begegneten, war er letztlichderjenige, der mich am stärksten beeindruckte und insofern auch prägen sollte. Inseinen Seminaren am Geschwister-Scholl-Institut (damals noch an der Ludwigstra-ße) begegnete ich der analytischen Philosophie; wir hatten erstmals John Rawls ge-lesen, dessen Theory of Justice gerade in deutscher Übersetzung erschienen war; undes bestand insgesamt eine Atmosphäre des geistigen Wohlwollens, der Liberalitätund des feines, dezenten Umgangs miteinander, die alle, die gerade dies an diesemDozenten so schätzten, auch untereinander verband. Es war wohl diese doppelteMischung aus fernem Oxford und fernem Harvard im heimatlichen München, diemich und sicher auch viele andere mehr an Karl G. Ballestrem (wie er sich, denAdelstitel fein unterschlagend, seinerzeit ganz einfach nannte) am meisten beein-druckt hatte – diese noble geistige Haltung, die sich im Wesen dieses jungen Privat-dozenten mit einer ganz natürlichen Autorität verband, diese Freundlichkeit, diesich niemals anbiederte, und diese Liberalität, die Mut zum eigenen Denken machte.

Nichtsdestotrotz, eines war klar: Nur ein Daherreden gab es für uns Studentennicht! »Was ist Ihr Argument?«, diese Frage von Karl Graf Ballestrem klingt bei mirbis heute nach. Mit dieser Frage im Kopf, bin ich sozusagen unter seinen Fittichenakademisch groß geworden, und diese Frage war auch das Motto, unter dem sein ei-genes Denken und Schreiben stand. Er ist kein Vielschreiber gewesen – seinerzeitund auch später nicht. Im Gegenteil: Seine Haltung fremden wie eigenen Texten ge-genüber konnte so kritisch und skrupulös zugleich sein, dass er es lieber vorzog,vorsichtig das Für und Wider abzuwägen, als mit einer starken These hervor bzw.an die Öffentlichkeit zu treten, die seinem ausgeprägten Sinn für intellektuelle Red-lichkeit und bescheidene Haltung widersprach. Seine Habilitationsschrift Die schot-tische Aufklärung. Moralphilosophie und Gesellschaftstheorie bei David Hume und

07_Waas Seite 236 Dienstag, 26. Juni 2007 4:24 16

Page 118: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Lothar R. Waas · Karl Graf Ballestrem (1939–2007) – ein Nachruf 237

Adam Smith sowie bei einigen ihrer Freunde sollte nicht das einzige Opfer diesergeistigen Einstellung sein. Er hat sie nicht veröffentlicht, obwohl ihn dies langeschmerzte.

Was war der Grund für diese hohe Anforderung an sich und letztlich auch an an-dere? – Zwei Dinge kamen hier in einem Menschen zusammen, die sich sowohl aufsSchönste ergänzen konnten als auch sicher belastend wirkten. Nach einem erstenStudienjahr in Rom war Karl Graf Ballestrem durch die Schule von J. M. Bocheñskigegangen, der als Professor für Philosophie an der Universität Fribourg/Schweiznicht nur einen großen Ruf als Logiker und früher Vermittler der analytischen Phi-losophie besaß, sondern auch als Dominikanerpater eine machtvolle Persönlichkeitgewesen war. Zum anderen war Karl Graf Ballestrem als einem Adeligen von Ge-burt und Erziehung gleichsam von vorneherein eine Haltung angeboren, die ihnden Rubikon zu allem, was im eigentlichen Sinne des Wortes »bürgerlich« ist, letzt-lich nur schwer überschreiten ließ. Als ich vor kurzem, rein zufällig, einen Aufsatzüber die Rezeption des Humboldt’schen Universitätsmodells in Oxford im 19. Jahr-hundert las, hatte ich bei den folgenden Worten, die Horace Wilson, der amtierendeSanskrit-Professor in Oxford, gegenüber Friedrich Max Müller äußerte, der 1854 alserster Deutscher nach Oxford berufen worden war, daher auch ganz spontan anmeinen akademischen Lehrer denken müssen. Auf sein für Max Müller ebenso un-bekanntes wie unerwartetes Arbeitsethos angesprochen, erklärte Horace Wilson:»You see, I am not a scholar, I am a gentleman who likes Sanskrit, and that’s all.«

Habe ich über meinen verehrten, sehr geschätzten Lehrer, der mich tief prägte,der mich – ich gestehe es – als Aristokrat gelegentlich aber auch irritierte, etwas ge-sagt, was man in einer Zeit nicht sagt, die sich – trotz ihrer allgegenwärtigen Spaß-Kultur – immer noch als eine »bürgerliche« insoweit versteht, als sie Erfolg und An-sehen und Anerkennung nach wie vor über rigide Kriterien beruflicher Leistung de-finiert? Wie lange muss die Publikationsliste eines deutschen (und längst auch engli-schen) Professors sein, dass er sich als bedeutend verstehen kann? Wie vieleDrittmittel muss er eingeworben und auf wie vielen Kongressen und Tagungenmuss er vorgetragen haben, dass man sich seinen Namen merken muss?

Karl Graf Ballestrem war in dieser Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung in desWortes ganz besonderer Bedeutung, obwohl er sich mit seinen Leistungen nichtverstecken musste. Als Hochschullehrer war er für seine Studenten stets geistig prä-sent. Als Forscher hat er sich in seinen Publikationen immer wieder mit Themenund Fragen auseinandergesetzt, die sowohl zu den Kernfragen seines Faches gehör-ten als auch zu den brennenden Fragen der Gegenwartsgesellschaften generell. SeineHauptinteressen galten dabei vor allem der politischen Ideengeschichte des 16. bis20. Jahrhunderts sowie Themen der politischen Ethik und Philosophie, in derenMittelpunkt die Frage der Gerechtigkeit stand. Und als Organisator und Herausge-ber hat er sich im Rahmen der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politi-schen Denkens und des Jahrbuchs für Politisches Denken zusammen mit HenningOttmann und Volker Gerhardt in einem Maße hervorgetan und verdient gemacht,dass jede der Tagungen dieser Gesellschaft mehr als ein Treffen von Akademikernwar, die sich bereits gut kannten und unter sich blieben. Dass Karl Graf Ballestrem

07_Waas Seite 237 Dienstag, 26. Juni 2007 4:24 16

Page 119: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Lothar R. Waas · Karl Graf Ballestrem (1939–2007) – ein Nachruf238

darüber hinaus dem Katholizismus und der Katholischen Kirche nicht nur sehr na-hestand – bei jemandem mit seiner familiären Tradition sicherlich alles andere alsungewöhnlich –, sondern sich dazu auch engagiert bekannte, sei an dieser Stelleschließlich auch nicht verschwiegen, obwohl er selbst sehr zwischen dem Privatenund dem Öffentlichen, zwischen Person und Amt zu unterscheiden wusste, wo esangebracht war. Dass ihn die Zusammenhänge von Staat, Gesellschaft und Kircheunter den Bedingungen der modernen Welt stark beschäftigten und ihm gerade inden letzten Jahren ein großes Anliegen waren, zeigen sowohl einschlägige For-schungsprojekte als auch seine Vortragstätigkeiten und die Tatsache, dass er immerwieder gerne nach Rom fuhr, um an der Lateran-Universität zu lehren. Auf unauf-dringliche Weise polyglott zu sein, war für ihn, der bereits nach seiner Promotionzwei Jahre lang am Rosary College in Chicago und an der University of NotreDame/Ill. gelehrt hatte, ohnedies selbstverständlich.

Dass Karl Graf Ballestrem als Professor der Politikwissenschaft eine besondereAusnahmeerscheinung war, möchte ich an dieser Stelle (Stichwort: »Was ist Ihr Ar-gument?«) aber auch noch anders begründen dürfen. Die Entwicklung von Lehreund Forschung an den Universitäten hat in der Gegenwart längst ein Ausmaß anSpezialistentum angenommen, dass es gut tut, dort gelegentlich noch Persönlichkei-ten zu begegnen, die das geistige Vermögen und charakterliche Format haben, sichganzheitlich in dem Sinne einzubringen, dass sie über den tausend Fragen und Ant-worten, die es zu sehen und zu bedenken und zu berücksichtigen gilt, die gedankli-che Souveränität behalten und zu vermitteln wissen, ohne die alles Wissen (insbe-sondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften) keine Bildung, sondern lediglichInformationsanhäufung ist. Karl Graf Ballestrem war eine solche Persönlichkeit inbesonderem Maße. Und damit ist hier nicht der Polyhistor, der Universalgelehrtealten Stils gemeint, den es schon lange nicht mehr gibt und geben kann, wohl aberder »englische Gentleman« im übertragenen Sinne des Wortes – im Sinne jener Leh-re und Forschung, wie sie – mit Harvard und Princeton, Oxford und Cambridge imBlick – an deutschen Universitäten seit längerem schon als vorbildlich gepriesenwird und auch praktiziert werden könnte, wenn diese Rezeption nicht zumeist auchdeshalb misslingen würde, da das, was als vorbildlich angesehen wird, vielfach nichtdas ist, was »englisch« ist, sondern das, was man sich an deutschen Universitätendarunter vorstellt. Durch Klarheit des Denkens nicht den Überblick zu verlieren,mehr noch durch Fragen als durch Antworten, die Dinge so auf den Punkt zu brin-gen, dass man nicht nur als denkendes Wesen, sondern als ganzer Mensch nach-denklich bleibt oder nachdenklich wird, das war jedenfalls einer der Hauptwesens-züge von Karl Graf Ballestrem als Hochschullehrer und Wissenschaftler, undinsofern war er ein »gentleman who likes political theory«.

Ich werde Karl Graf Ballestrem immer ein ehrendes Angedenken bewahren. Wiealle, die ihn kannten und schätzten, werde ich ihn sehr vermissen. Und ich möchtean dieser Stelle – sicher im Namen vieler Kolleginnen und Kollegen – nicht nur derKatholischen Universität Eichstätt mein Beileid aussprechen, weil sie mit ihm –selbst als Emeritus – eine markante Persönlichkeit früh, viel zu früh verlor, sondernauch seiner lieben Frau, Gräfin Ballestrem, die, in manchem ganz anders als er, sich

07_Waas Seite 238 Dienstag, 26. Juni 2007 4:24 16

Page 120: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Lothar R. Waas · Karl Graf Ballestrem (1939–2007) – ein Nachruf 239

gerade deshalb mit ihm wunderbar ergänzte. Sie vor allem trägt das Leid dieses frü-hen Todes.

Im Sinne eines nochmaligen Dankes an alle, die vor mehr als drei Jahren mit dazubeigetragen hatten, dass Karl Graf Ballestrem zu seinem 65. Geburtstag eine Fest-schrift mit dem Titel Politik, Moral und Religion – Gegensätze und Ergänzungenüberreicht werden konnte, freut es mich nachträglich noch einmal ganz besonders,dass es dazu auch tatsächlich kam. Als er von dem Vorhaben »Wind bekam«, wärees nämlich fast gescheitert, da er der festen Überzeugung war, dass er eine Fest-schrift nicht verdienen würde. Das Argument, dass erst gar keine Festschrift zustan-de kommen würde, wenn die, die dazu beigetragen haben, nicht vom Gegenteilüberzeugt gewesen wären, hat ihn letztlich vielleicht – ich betone: vielleicht – über-zeugt.

07_Waas Seite 239 Dienstag, 26. Juni 2007 4:24 16

Page 121: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

B U C H B E S P R E C H U N G E N

Gruber, Joachim: Kommentar zu Boethius’De Consolatione Philosophiae.(Karl-Heinz Nusser) ................................. 240

Riklin, Alois: Machtteilung. Geschichte derMischverfassung.(Holger Zapf) ............................................ 242

Voigt, Rüdiger: Den Staat denken . Der Le-viathan im Zeichen der Krise.(Daniel Hildebrand)................................. 243

Walkenhaus, Ralf / Machura, Stefan / Naha-mowitz, Peter / Treutner, Erhard (Hrsg.):Staat im Wandel. Festschrift für RüdigerVoigt zum 65. Geburtstag.(Daniel Hildebrand)................................. 244

Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon. Ent-wicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge.(Lars Schuster)........................................... 245

Von Beyme, Klaus: Das Zeitalter der Avant-garden. Kunst und Gesellschaft 1905-1955.(Felix Dirsch) ............................................. 247

Gardner, Gary T.: Inspiring Progress: Religi-on’s Contributions to Sustainable Develop-ment.(Thorsten Philipp) ..................................... 248

Pfetsch, Frank R.: Verhandeln in Konflikten.Grundlagen – Theorie – Praxis.(Henrik Gast)............................................ 250

Priester, Karin: Populismus. Historische undaktuelle Erscheinungsformen.(Armin Pfahl-Traughber)......................... 251

Schroeder, Klaus / Alisch, Steffen / Bressan,Susanne / Deutz-Schroeder, Monika / Hill-mer, Uwe: Rechtsextremismus und Jugend-gewalt in Deutschland. Ein Ost-West-Ver-gleich.(Eckhard Jesse) .......................................... 253

Meck, Ute: Selbstmordattentäter – sterben,um zu töten. Wie werden Menschen zuSelbstmordattentätern? Wie entstehen und

funktionieren ihre Ideologien? Wie kannman dem Selbstmordterrorismus sinnvollbegegnen?(Armin Pfahl-Traughber)......................... 255

Gillmann, Sabine / Mommsen, Hans(Hrsg.): Politische Schriften und Briefe CarlFriedrich Goerdelers(Enrico Syring) .......................................... 256

Joachim GRUBER: Kommentar zu Boethius’De Consolatione Philosophiae. 2. Aufl. Ber-lin 2006. Verlag De Gruyter, 520 S., Hardco-ver, 128 EUR.

Anicius Manlius Severinus Boethius ist inder gegenwärtigen Philosophie vor allemdurch zwei Problemlösungen bekannt, ein-mal durch seine Theorie über den Unter-schied zwischen Natur und Person, die vor-schlägt, Personen nur in vernünftigenSubstanzen, d.h. Menschen, anzunehmen;zum anderen durch seine Klärung des Ver-hältnisses von Determinismus und Freiheit.In der christlichen Tradition war dies dieFrage nach der Vereinbarkeit von göttli-chem Vorherwissen und menschlicher Frei-heit. Boethius gibt zu Letzterem die Ant-wort in der Schrift »Trost der Philosophie«,deren lateinischer Ausgabe von C. More-schini der vorliegende Kommentar gilt.

Über viele Jahrhunderte hinweg wurde dieLösung, die Boethius vorgelegt hatte, akzep-tiert. In der frühen Neuzeit monierte Leib-niz, dass die menschliche Wahlfreiheit inBoethius` Theorie zu wenig berücksichtigtworden sei (Theodizee, § 405ff), und Kantbrachte die Frage von göttlichem Vorherwis-sen und menschlicher Freiheit durch seineMetaphysikkritik zum Verschwinden. BeiBoethius ist die Vereinbarkeit von göttlicherWeltlenkung und menschlicher Willensfrei-heit der letzte Stein eines philosophischenLehrgebäudes, das durch die Erkenntnis derWahrheit Erlösung von Unglück und Ver-zweiflung verspricht. Einen solchen Trost

08_Buchbesprechungen Seite 240 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13

Page 122: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Buchbesprechungen 241

hat der im Gefängnis sitzende und auf seinTodesurteil wartende Boethius bitter nötig,und er verschafft sich diesen selbst, indem erdieses Buch schreibt und dessen Einsichtendurchlebt. Was war geschehen?

Im Jahre 523 wurde Boethius, ein bedeu-tender Gelehrter und damals der ranghöchs-te Minister des Ostgotenkönigs Theoderichwegen Verdacht auf Hochverrat in den Ker-ker geworfen und im Herbst 524 hingerich-tet. Soweit man weiß, hat Boethius selbstkeineswegs Hochverrat begangen. Besten-falls hat er einen römischen Senator, derdiesem Verdacht ausgesetzt war, zu schüt-zen versucht und war dadurch selbst in dieMühle des Verdachts geraten. Das 1. Buchzeigt Boethius im Zustand äußerster Ver-zweiflung. Im Gegensatz zu seinem frühe-ren Glück glanzvollen Wirkens findet ersich im anderen Extremzustand vor, gefan-gen, mit der düsteren Aussicht auf die mög-liche Todesstrafe. In dieser Situation er-scheint ihm die Philosophie in Gestalt einerhoheitsvollen Frau, die mit ihm die wahrenUrsachen seiner Situation klärt und einenPlan zu seiner Heilung vorlegt. Wie derKommentar richtig anführt (53), kann Boe-thius ihre zentralen Fragen nicht beantwor-ten: Wodurch regiert Gott die Welt? Was istdas Ziel aller Dinge? Was ist der Mensch?Seinem äußeren Unglück entspricht dem-nach vor allem eine innere Krankheit, diedarin besteht, dass er sich selbst und seineBestimmung nicht mehr kennt. Die Eröff-nungsszene des Buches, das Gespräch zwi-schen der hohen Frau Philosophie und demunglücklichen Philosophen, sowie die sichzeigende Launenhaftigkeit des Glücks, dassich stets dreht so wie ein Rad, sind von mit-telalterlichen Malern immer wieder darge-stellt worden (z.B. Ingo Walther, NorbertWolf, Meisterwerke der Buchmalerei, Köln2005, S. 349).Wie verfährt die Philosophiemit diesem »kranken« Boethius? In ihrerWeisheit erkennt sie, dass der Partner ersteinmal zum Reden gebracht werden muss.Sie berührt die Augen des Schülers (100)und klagt, dass dieser alles Höhere verges-sen habe (8l). Das Boethius tatsächlich ge-schehende Unrecht kann die Philosophienicht aufhalten, noch gar ungeschehen ma-chen. Sie hat keine Macht, die weiteren dro-henden Gefahren vom Gefangenen abzu-

wenden, aber sie kann ihn auf dieVergänglichkeit der äußeren Güter hinwei-sen und ihn an die wahren seelischen Gütererinnern. Der Kommentar weist zu Rechtan vielen Stellen auf die platonische undneuplatonische Tradition dieser Argumentehin, denen Boethius damit folgt. ÄußerlicheGüter wie Reichtum, Ehre, Macht und kör-perliche Vergnügungen können immer nurein partielles Gut darstellen, nicht das Guteschlechthin. Aber nur mit diesem ist diewahre Glückseligkeit verbunden. Und die-ses Gute schlechthin ist Gott. Wer, wie Boe-thius, solche äußeren Güter verliert, mussdeshalb nicht am Sinn des Lebens verzwei-feln, da das Gutsein des Menschen dessenGlück nach dem Tode nach sich zieht. Implatonischen Dialog Gorgias hatte Sokratesvon den Inseln der Seligen gesprochen, aufdenen der gute Mensch leben werde. DerKommentar weist an verschiedenen Stellenauf den Einfluss des platonischen Gorgiashin. Für das Werk von Boethius nennt erneuplatonische Einflüsse wie die Alexandri-nische Schule, Proklos und Ammonios (40).Worin besteht nun die Heilung des »kran-ken« Boethius? Er soll erkennen, so mahntdie Philosophie, dass die Macht der Herr-schenden beschränkt ist (255). So wie Or-pheus soll sich sein Blick nur nach vornerichten auf die wahre Glückseligkeit undnicht zurück auf die verlorenen äußerenGüter. Der Verlust der äußeren Güter ver-mag die Seele ebenso wenig zu affizieren wieKirke das Innere der Gefährten des Odysse-us verwandeln konnte, die nur äußerlich zuSchweinen geworden waren. Die Verwen-dung dieses Bildes erinnert an stoische Leh-ren von Chrysipp und Epiktet. Der Kom-mentar weist zu Recht darauf hin, dassBoethius hier nicht an neuplatonische See-lenwanderungslehren anknüpfe (333).

Wenn es nun möglich sein soll, dass derMensch trotz eines widrigen Schicksals seinhöchstes Gut erreichen kann – ein Zusam-menhang, der für die ganze Antike die Pro-be auf den Sinn der Ethik war –, dann mussdieses menschliche Streben auch frei reali-sierbar sein. So stellt sich am Ende die Fragenach der Vereinbarkeit von göttlichem Vor-herwissen und menschlicher Freiheit.

Boethius schlägt eine Lösung für das Pro-blem des göttlichen Vorherwissens und der

08_Buchbesprechungen Seite 241 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13

Page 123: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Buchbesprechungen242

menschlichen Freiheit vor, die in der christ-lichen Tradition über viele Jahrhunderte ein-flussreich war. Denkt man das göttlicheVorherwissen ebenso zeitlich wie dasmenschliche Handeln, dann ergibt sich, dassdas Letztere nicht frei sein kann, da Gottbereits alles im Voraus weiß und bestimmthat. Diese Perspektive auf das göttliche Wis-sen besteht jedoch in einer Verräumlichungdes göttlichen Vorhersehens und dadurchwird der Konflikt von Vorsehung und Frei-heit unlösbar. Gott wird dabei so vorge-stellt, als sähe er von einem höchsten Punkteiner räumlichen Perspektive auf alle irdi-schen Verläufe hinab. Anders jedoch, wennman – auch dies klingt bei Boethius an – aufder Einfachheit der göttlichen Einsicht be-steht. Diese würde implizieren, dass dasgöttliche Wissen ewig und d.h. zeitlos ist,sodass mit dem Wegfall der zeitlichen Folgeauch der Widerspruch zwischen der göttli-chen Vorsehung und menschlichen Freiheitwegfallen würde. Weniger einsichtig wäre esjedoch, unter Berufung auf P. Huber (DieVereinbarkeit von göttlicher Vorsehung undmenschlicher Freiheit in den ConsolationesPhilosophiae des Boethius, Diss., Zürich1976), von einer bedingten Notwendigkeitvon Gottes Wissen zu sprechen, wie diesder Kommentar tut (401).

Der vorliegende Kommentar von JoachimGruber stellt eine vorbildliche philosophisch-philologische Gelehrtenleistung in bester hu-manistischer Tradition dar. Die hier vorliegen-de zweite Auflage enthält viele Verbesserungengegenüber der ersten und berücksichtigt die in-zwischen erschienene Literatur zum Thema.

Karl-Heinz Nusser

Alois RIKLIN: Machtteilung. Geschichte derMischverfassung. Darmstadt 2006. Wissen-schaftliche Buchgesellschaft, 456 S., gebun-den, 49,90 EUR.

Insofern die Mischverfassungstheorie als an-zustrebender Entwurf oder abzulehnendeEntartung einer geglückten Verfassung überviele Jahrhunderte hinweg den Diskurs derpolitischen Theorie mitbestimmt hat, darfman wohl behaupten, dass Alois Riklin mitseiner umfassenden Studie – nach Angaben

des Verfassers Frucht von 18 Jahren Arbeit –ein Desiderat der politischen Ideengeschich-te vorgelegt hat, zwar »keine vollständige,aber die erste repräsentative Geschichte derMischverfassung« (14). Vor diesem Hinter-grund freilich wirkt es etwas befremdlich,dass der Verfasser sich genötigt sieht, seinemWerk eine Apologie voranzustellen, eineApologie der politischen Theorie und Ide-engeschichte im Allgemeinen und derakademischen Auseinandersetzung mitMischverfassungstheorien im Besonderen.Ungleich besser wäre es schließlich, wenndie Forschungsergebnisse für sich sprechenkönnten, und dies darf man in diesem Falleerwarten, bringt Riklin doch den ideenge-schichtlichen Aspekt mit der Historie derVerfassungswirklichkeit zusammen, indemer die Denker mit ihren realen Vorbildernkonfrontiert. Auf diesem Weg bietet er einenaufschlussreichen Überblick über die Ge-schichte der Mischverfassung in Theorieund Praxis. Dieser nimmt die ersten dreiHauptteile des Bandes ein und ist an be-kannten großen, aber auch an ideenge-schichtlich vernachlässigten Denkern meistrecht überzeugend durchgeführt. Eingeteiltsind diese Hauptteile chronologisch in Be-gründung (Platon bis Cicero), Renaissance(Thomas von Aquin bis Gianotti und Con-tarini) und Siegeszug der Mischverfassung(von Arnisaeus bis Sieyès). Das ist flüssig,fast schon spannend geschrieben, wenn auchmanchmal hinsichtlich der Denker etwaseinseitig argumentiert wird – doch mag mandas mit dem Umfang des Vorhabens und sei-ner thematischen Ausrichtung wie auch derzugleich geleisteten Darstellung histori-scher Verfassungswirklichkeiten entschuldi-gen. Im vierten Hauptteil schließlich – erträgt den verräterischen Titel »Nachruf oderWiederbelebung«, beides scheint im An-schluss an einen Siegeszug nicht stimmig –ringt sich Riklin endlich zu einer Gegenü-berstellung von Gewaltenteilung undMischverfassung durch und kommt zu demwenig überraschenden Ergebnis, dass beideBegriffe aus jeweils bestimmter Perspektivedas gleiche meinen und sich somit dieMischverfassungstheorie auch in der deut-lich jüngeren Gewaltenteilungslehre findenlasse. Die Mängel dieser Lehre werden dannjedoch in Anschlag gebracht, um das ältere

08_Buchbesprechungen Seite 242 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13

Page 124: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Buchbesprechungen 243

Konzept als das haltbarere zu erweisen. Ineiner tour de force werden noch schnell dieKritiker der Mischverfassungslehre aufgeru-fen, doch auf den 15 Seiten, die ihnen zuge-dacht werden, können sie sich bestenfallsnoch als Krypto-Mischverfassungstheoreti-ker erweisen – einzig Hobbes und Filmerkommt die Ehre zu, in Frontstellung zurMischverfassungstheorie am vom Verfasserbelächelten »Souveränitätsdogma« striktfestgehalten zu haben. Zum Aufweis derAktualität der Mischverfassung endlich wirdSternberger als Gewährsmann hinzugezo-gen, und Riklin ergänzt dessen Ausführun-gen, die das monokratische Element ver-nachlässigten, mit einem Hinweis aufKanzlerdemokratie und Präsidialsystem (ineinem Atemzug!), um auch diesen Mangelnoch zu beseitigen, so dass sich das Prinzipder Mischverfassung »einer-wenige-viele«als gegenwärtig nahezu omnipräsent erwei-sen lässt. Riklin leitet aus seinen Überlegun-gen also eine normative Mischverfassungs-theorie mit ontologischem Standbein ab(schließlich wird argumentiert, sie entsprä-che dem Wesen des Menschen als zoon poli-tikon), doch auch trotz der Vielzahl diag-nostizierter Probleme der Mischverfassung,denen er mangels eines geeigneten Instru-mentariums in der Analyse recht hilflos ge-genübersteht, bleibt sie als normatives Prin-zip weitgehend konturlos – ist sie dochallem Anschein nach in allen (»demokrati-schen«) Verfassungen bereits wirksam,wenn sie auch ihre (!) Probleme nicht besei-tigen kann: Dekadenzerscheinungen der po-litischen Kultur oder auch die Tendenz zumÜberwachungsstaat. Die DDR wie auch dieSowjetunion dürften danach ebenfalls alsMischverfassungen gelten, denn auch hierfanden sich als Prinzip: einer-wenige-viele –und ganz »ähnliche« Probleme. So laufen in-teressante ideengeschichtliche Überblickeund brauchbare Kritiken an so manchemBegriff, mancher Interpretation aus in eindeplatziertes Plädoyer für die Mischverfas-sung – realpolitisch wie akademisch. Fürden akademischen Bereich bleibt die Theo-rie anachronistisch, insofern unter heutigenBedingungen die Anwendung eines Prinzipsnach dem Muster einer-wenige-viele wenigheuristischen Wert und kaum erklärendeKraft entfalten kann, wie sich auch in der

Beliebigkeit ihrer Anwendung im viertenHauptteil des Buches zeigt. Dass die Misch-verfassung in der neueren politischen Theo-rie keine Rolle mehr spielt, geht wohl nichtnur »auf lauter Missverständnisse zurück«,wie der Verfasser annimmt. Als verfassungs-politisches Postulat andererseits wird diesesPrinzip der komplexen politischen Wirk-lichkeit nur mehr in wenigen Aspekten ge-recht und dokumentiert bestenfalls Bestän-de, die man mit etwas Geschick wohl überallfinden kann. Letztendlich sollten diverseMerkwürdigkeiten für das Gesamt des Bu-ches aber nicht überbewertet werden: für dieAuseinandersetzung mit den Denkern derMischverfassung wie auch für die angren-zenden Fragen zu Gewalten- und Machttei-lung liefert es eine großartige Grundlage, diein dieser Form ihresgleichen sucht.

Holger Zapf

Rüdiger VOIGT, Den Staat denken. Der Le-viathan im Zeichen der Krise, Baden-Baden:Nomos 2007, 359 S., brosch., 44 EUR.

»Den Staat denken«: In solch unumwunde-ner Transitivität stellt sich mit dem vorliegen-den Buch ein Denker jenem Institutionen-system, dessen Ende in der Vergangenheitbereits oft beschworen worden ist, ohne dasjedoch zumindest die nahe Zukunft als un-denkbar erscheint. Voigt nimmt die bis insFeindschaftliche gehende Staatsskepsis derausgehenden Moderne und anbrechendenPostmoderne zum Anlaß, das PhänomenStaat auf sein tieferes funktionelles Sein alsentscheidendem Faktor menschlicher Hoch-kultur zu radizieren (S. 17; passim). Der for-schungserfahrene Ordinarius der MünchenerUniversität der Bundeswehr ist so voraus-schauend, seine methodischen Prämissen,dem vielgestaltigen Erkenntnisgegenstandangemessen, offenzuhalten. Im Kern stelltsich der Autor die Aufgabe, die politischeTheorie und Ideengeschichte vom Altertuman beginnend daraufhin zu befragen, ob undinwieweit sich Staat als Manifestationmenschlicher Rationalisierung erklären läßt(S. 34; 283 und passim). Nicht nur Interdiszi-plinarität, sondern auch Integration der ein-zelnen Disziplinen, die sich mit der Erfor-

08_Buchbesprechungen Seite 243 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13

Page 125: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Buchbesprechungen244

schung jenes Phänomens menschlicherKultur befassen, sind Voigt Richtschnur: Indem Maße, in dem sich die betreffenden Dis-ziplinen seit dem 19. Jahrhundert auseinan-der entwickelt habe, scheint das Phänomen»Staat« zunehmend in jenen reißenden Tie-fen unterzugehen, die das Auseinanderdrif-ten der vormals »gesamten Staatswissen-schaft« verursachen (S. 56).

Staats als Instrument kollektiver rationalerDaseinsbewältigung zu untersuchen veranlaßtden Gelehrten nahezu zwangsläufig, das Phä-nomen des Machtstaates bevorzugt ins Augezu nehmen. Machiavelli als induktiver Theo-retiker empirischer, ja nachgerade historischerPraxis und der an den Maßstäben der Natur-wissenschaft orientierte deduktive LogikerHobbes stellen somit, wie es der Untertitelder Monographie verspricht, stets im Augebehaltene Gravitationspunkte der vorliegen-den Untersuchung dar. Der 1941 geboreneWissenschaftler ist hinreichend unerschro-cken, Unabhängigkeit und Unumwunden-heit des politischen Urteils mit einander zuverbinden. Imposant sind die Brücken , die erzwischen vergangenem politischen Denkenund gegenwärtigen Problemen zu schlagenweiß: Von Tacitus, über den sich »auch dieLehren von Machiavelli [...] erschließen« las-sen, versteht er, von den arcana imperii alsMachttechnik der Geheimhaltung ausgehendzu der Frage zu gelangen, ob ein zu den Akti-vitäten des Bundesnachrichtendienstes einge-setzter parlamentarischer Untersuchungsaus-schuß nicht »kontraproduktiv« sei (S. 229).

Aber auch auf den vielfältigen und inDeutschland besonders ausgeprägten Antago-nismus zwischen Rechtsstaat und Demokratie(S. 18; 61; 69; 255; 264; 293 und passim), zwi-schen Volkssouveränität und unabhängigerJustiz (S. 60; 69; 70; 72; 255; 264; 306; 318 undpassim), zwischen Parlamentssouveränität undRechtsbindung (S. 267; 318 und passim), re-kurriert der Wissenschaftler durchgängig.

Schließlich betont der Voigt wiederholtdie konstitutive Bedeutung für Staat undGesellschaft, die anhaltend von der Nationausgeht. Sie ist für ihn »bislang stärksterAusdruck kollektiver Identität« (S. 321).

Rüdiger Voigt ist es tatsächlich gelungen,ein riesenhaftes, aber gleichwohl in sich zu-sammenhängendes Thema, nämlich den mo-dernen Staat, in eben jenen Zusammenhän-

gen zu begreifen und darzustellen. DasBuch dürfte sich durchaus in die Reihe »All-gemeiner Staatslehren« einreihen und den-noch über dieses Genus deutlich hinausge-hen: Es ist die ganz persönliche Summeeines Gelehrtenlebens, das einem entschei-denden Aspekt der Moderne schlechthin ge-widmet ist – dem modernen Staat.

Die erste Auflage ist bereits verkauft. Einezweite Auflage befindet sich in Vorbereitung.

Daniel Hildebrand

Ralf WALKENHAUS / Stefan MACHURA /Peter NAHAMOWITZ / Erhard TREUTNER(Hrsg.): Staat im Wandel. Festschrift für Rü-diger Voigt zum 65. Geburtstag. Stuttgart2006. Franz Steiner Verlag 2006, 490 S., ge-bunden, 69 EUR.

Das Diktum vom »Staat im Wandel« machtdie Runde: Schon lange zuvor erkannte derMünchener Sozialwissenschaftler RüdigerVoigt dieses Themenfeld, wie eine beachtli-che Anzahl von Monographien bezeugt.

Die vorliegende Festschrift geht freilichüber die Betrachtung des Staatswandelsdeutlich hinaus. Dem Wandel des Staates istein erster Teil gewidmet. Am unmittelbars-ten lässt sich dieser Wandel daran ablesen,wie sich die von jeher von definierten Staats-ausgaben verändert und vermehrt haben,wie namentlich Ralf Walkenhaus in seinemBeitrag »Entwicklungslinien modernerStaatlichkeit« erläutert (s. 39 ff.). Dass sichtrotz aller Staatsskepsis jenes soziale Systemfortgesetzt ausdehnt und sich dies auchtrotz des zunehmend schleichenden Ablaufsdieses Vorganges kaum bestreiten lässt, wirdzwar erwähnt, ohne dass es in der Gemeindegegenwärtiger Staatsforscher aber allzu ein-gehend erläutert werden müsste (S. 42). Be-sonderes Augenmerk widmet der Sammel-band Beispielen »staatlicher Steuerung ineinzelnen Politikfeldern« (S. 97). In einemZeitalter, das vom Übergang des energeti-schen zum informationellen Prinzip geprägtist, wird die Funktion des Staates als infor-mierender Staat zunehmend wichtiger, wieNicolai Dose in seinem Beitrag beleuchtet.Nicht zuletzt der berühmte Fall, wie einestaatliche Warnung seinerzeit einen bekann-

08_Buchbesprechungen Seite 244 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13

Page 126: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Buchbesprechungen 245

ten Nahrungsmittelhersteller in Bedrängnisbrachte, wird hier daraufhin betrachtet, dassder Staat aufgrund seiner Veröffentlichungs-möglichkeiten und seiner Stellung als neu-traler Dritter faktisch handlungsleitendwirkt. Gleich zwei Beiträge befassen sichaus je unterschiedlichem Betrachtungswin-kel mit Kategorie und Begriff der Nachhal-tigkeit: Erhard Treutner erklärt nachhaltigeEntwicklung durch staatliche und supra-bzw. internationale Steuerung anhand aus-gewählter konkreter Beispiele. EmanuelRichter unternimmt es, die »KategorieNachhaltigkeit« zu rekonstruieren«. In die-sem Zusammenhang bietet er auch eine De-finition jener scheinbar schon zur Selbstver-ständlichkeit gewordenen und bisweilen fastunreflektiert benutzten Konzeption:»Nachhaltigkeit ist die Beschreibung einesHandlungsmodus, in dem die Erfahrungenaus der Vergangenheit berücksichtigt wer-den, deren Berücksichtigung für ein reflek-tiertes Handeln in der Gegenwart fruchtbargemacht wird und, auf der Basis eines sol-chen Abwägens, die Folgen des eignen Han-delns in die Zukunft projiziert werden, aufdie dann mutmaßlich herrschenden Hand-lungsmuster.« (S. 243). Sodann untersuchtStefan Machura eine Frage, die bislang über-wiegend auf das Bundesverfassungsgerichtbegrenzt untersucht worden ist: Den Ein-fluss von Parteien auf Gerichte. Hierbei bie-tet der Bochumer Wissenschaftler einenÜberblick über die vielfältigen Versuche imParteienstaat die Justiz zu kolonisieren. Die-se Einflussnahme ist jedoch weithin auf Per-sonalfragen und Programmatik beschränkt.Es gibt keine au fond »justizfreundlichere«Partei, die sich durch besonders großzügigeFinanzierung profiliere.

Gewohnt souverän versteht Otwin Mas-sing in seinem umfangreichen Aufsatz »Dereuropäische Präambelgott« der Frage nach-zugehen, ob der Gottesbezug »Fetisch, sa-kralisierende Überhöhung oder Skandalon«sei. Von der renovatio imperii als dem Re-gierungsprogramm Karls des Großen weißder Hannoveraner Emeritus einen breitenBogen in die Gegenwart einer – wenn auchvielfach diskret – durchaus noch existentenPolitischen Theologie zu spannen. Auch ineiner weithin säkularen Welt ist die Verfüh-rung, transzendente Größe, namentlich

Gott, für politische Zwecke zu instrumenta-lisieren, als dass der moderne europäischeNationalstaat und die entstehende Staatlich-keit der Europäischen Union rein immanenthergeleitet und konzipiert werden könnten.Es wäre jedoch auch zu fragen, ob diejeni-gen Bürger, die an Gott glauben, ein Rechthaben, sich durch einen Gottesbezug mitder Verfassung identifizieren zu können. Ei-nen originellen Vorschlag unterbreitete da-her Jan Weiler (Ein christliches Europa,München 2004): Zeitgemäß sei demnach, so-wohl einen Gottesbezug wie auch einen aus-drücklichen Bezug auf die Gottesnegationgleichgewichtig nebeneinander zu stellen.Überdies gilt es zu bedenken, dass jene Ver-fassung, in deren Präambel ein Gottesbezugvorgesehen war, seit den Volksabstimmun-gen des Jahres 2005 auf der europäischenAgenda suspendiert ist, worauf Massingauch gleich am Anfang seines sprachgewalti-gen Textes eingeht. Die Festschrift schließtmit einem Blick in jenen Teil der außereuro-päische Welt, der auf eine mindestens eben-so alte Tradition von Staatlichkeit zurück-zublicken vermag wie der Westen. Derebenfalls an der Universität der Bundeswehrlehrende Historiker Walter Demel betrach-tet anhand von Berichten europäischer Mis-sionare und Kolonisatoren, wie China undJapan in der Frühen Neuzeit verwaltet undregiert wurden. Bewundert wurde dabei vonden europäischen Beobachtern vor allem derextreme Grad an Zentralisation und Verein-heitlichung, wie er für das China des 16. und17. Jahrhunderts kennzeichnend war. Ganzanders stellte sich den Europäern die Lage inJapan dar: Hier schienen feudale Verhältnis-se, wie sie sich Europa seinerzeit zu über-winden anschickte, weitaus persistenter ein-gegraben zu sein. Vor allem familialgestützte Kontrollmechanismen stabilisier-ten hier die politischen Verhältnisse und ga-rantierten ein vergleichsweise hohes zivilisa-torisches Niveau.

Das gesamte Buch ist ein schlagender Be-weis für die Breite der Interessen, die sichim gelehrten Umkreis des Jubilars finden.Beinahe droht es den Leser darüber zu er-schlagen. Es kann als eine fast schon lexika-lisch wirkende Momentaufnahme einer ge-genwärtigen Staatswissenschaft gelten,deren hinter verschiedensten Einzeldiszipli-

08_Buchbesprechungen Seite 245 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13

Page 127: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Buchbesprechungen246

nen verborgenen Gesamtumfang die Publi-kation in ihrer monumentalen Ausdehnungzum Vorschein bringt.

Daniel Hildebrand, Bremen

Michael RUOFF: Foucault-Lexikon. Ent-wicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge.München 2007. Wilhelm Fink (UTB), 242 S.,brosch., 18,90 EUR.

Betrachtet man das Gesamtwerk eines Phi-losophen, so lässt sich dieses, besonderswenn es umfangreicher geraten ist, nicht nurals eine Reihe von Dokumenten ansehen,die das thematische Profil des Autors abde-cken, sondern es spiegelt oft auch ganz we-sentlich dessen geistige, zuweilen auch per-sönliche Entwicklung wider: Begriffewerden darin entwickelt und ihre Belastbar-keit erprobt, gegeneinander aufgestellt undzueinander in Beziehung gesetzt. Erweisensie sich nicht als ausreichend tragfähig, wer-den sie semantisch abgewandelt oder gänz-lich abgelegt; neue treten an ihre Stelle. Aufdiese Weise entstehen Brüche und Klüfte,die einem Einsteiger in ein solches Werk denWeg zumindest erschweren, wenn nicht gargänzlich verbauen. Hier ist es gut, eine Kar-te bei der Hand zu haben, die hilft, denrechten Weg zu finden und die anleitet, wieschwierige Stellen zu meistern sind. Für dasWerk Michel Foucaults steht nun endlicheine solche Landkarte zur Verfügung: Mi-chael Ruoffs Foucault-Lexikon hilft auf ex-zellente Weise, sich in dem umfangreichenWerk des französischen Philosophen zu-recht zu finden.

Nach einer sehr knapp gehaltenen Einlei-tung, die lediglich dazu dient, die zentralenPunkte des foucaultschen Denkens grob zuumreißen, gibt Ruoff anhand der Begriffe»Diskurs«, »Macht« und »Ethik des Selbst«im zweiten Kapitel einen ausführlichenÜberblick über das Gesamtwerk Foucaults.

Im Rahmen des Begriffs »Diskurs« stelltRuoff die vier zentralen Arbeiten Wahnsinnund Gesellschaft (1961), Die Geburt der Kli-nik (1963), Die Ordnung der Dinge (1966)und Die Archäologie des Wissens (1969) vorsowie die Antrittsvorlesung Foucaults, dieunter dem Namen Die Ordnung des Diskur-

ses (1972) veröffentlicht wurde. Mit seinerInauguralvorlesung wechselt Foucault seinePerspektive: Während die Werke der erstenSchaffensphase (im foucaultschen Sinne)»archäologisch« ausgerichtet waren, wendeter sich dann einer »genealogischen« Betrach-tungsweise zu (in Anlehnung an Nietzsche).Dabei entwickelt er die in den vorgängigenWerken entwickelten Anlagen in seinerzweiten Schaffensphase, die Ruoff unter denBegriff »Macht« fasst, weiter. Darunter fal-len die Vorlesungen Die Macht der Psychia-trie (1973/74), Die Anormalen (1974/75), InVerteidigung der Gesellschaft (1976) und dieGeschichte der Gouvernementalität (1978/79) sowie die Schriften Überwachen undStrafen (1975) und Sexualität und WahrheitI: Der Wille zum Wissen (1976).

Der dritte große Abschnitt des Gesamt-werks, den Ruoff unter der Überschrift»Ethik des Selbst« zusammenfasst, beinhal-tet schließlich die Vorlesung Hermeneutikdes Subjekts (1981/82) sowie die beidenWerke Sexualität und Wahrheit II: Der Ge-brauch der Lüste (1984) und Sexualität undWahrheit III: Die Sorge um sich (1984).

Mit diesen beiden Einleitungs- und Über-blickskapiteln, die ein Viertel des Lexikonsumfassen, beschließt Ruoff seine thematischeVorstellung des foucaultschen Denkens. DenHauptteil des Lexikons umfasst der lexikali-sche Teil, in dem achtzig Grundbegriffe, von»Ähnlichkeit« bis »Wissen«, ausführlich er-läutert und zueinander in Bezug gesetzt wer-den. Obwohl dabei auch immer wieder z.T.auch längere Zitate Foucaults einfließen,liegt die Leistung Ruoffs doch vor allem ineiner prägnanten Zusammenfassung und In-terpretation der foucaultschen Gedanken.Begriffe, die in einem eigenen Eintrag vorge-stellt werden, sind dabei im gesamten Textgekennzeichnet, was ein unnötiges Suchenim Buch erübrigt. Neben diesen inhaltlichenErläuterungen zeichnet sich das Lexikonaber auch durch einen umfassenden Referen-zapparat aus: Im Anschluss an jeden Eintragwerden sämtliche Stellen im GesamtwerkFoucaults referenziert, die einen inhaltlichenBezug zum jeweiligen Eintrag aufweisen.

Das Lexikon schließt mit einem chrono-logischen Überblick über die Primärlitera-tur, die die auf Deutsch erschienenenHauptwerke und Vorlesungen sowie die

08_Buchbesprechungen Seite 246 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13

Page 128: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Buchbesprechungen 247

Gespräche, Interviews und Vorträge Fou-caults bis einschließlich der 2005 editiertenDits es Ecrits IV umfasst.

Michael Ruoffs Foucault-Lexikon ist einunentbehrliches Sekundärwerk für alle, diesich intensiver mit der Philosophie MichelFoucaults beschäftigen wollen. Einsteigerngibt es einen ersten Überblick und Interpre-tationshilfen, während es Fortgeschrittenenhilft, schnell und zielsicher relevante Stellenin dem nicht immer ganz einfach zugängli-chen Werk von Michel Foucault aufzufinden.

Lars Schuster

Klaus VON BEYME: Das Zeitalter der Avant-garden. Kunst und Gesellschaft 1905-1955.München 2005. Verlag C.H. Beck, 995 Sei-ten, gebunden, 58 EUR.

Wer einen Überblick über das facettenreicheGebiet »Gesellschaft und Kunst« sucht,greift üblicherweise neben neueren Darstel-lungen wie dem von Jutta Held und Nor-bert Schneider verfassten Leitfaden »Sozial-geschichte der Malerei« zu der klassischenStudie von Arnold Hauser. Dessen »Sozial-geschichte der Kunst und Literatur« warjahrzehntelang das Standardwerk der betref-fenden Thematik. Heutige Leser dürfte abernicht zuletzt die ausgeprägte marxistischeInterpretationsmethode des Autors stören.Wer wirft in der Gegenwart noch der Psy-choanalyse vor, sie bewege sich »mit ihrerahistorischen und unsoziologischen Metho-de in einem luftleeren Raum« und offenbaredarüber hinaus noch einen »Überrest deskonservativen Idealismus«? Zudem grenzteder britische Kunst- und Literatursoziologeden Gegenstand seiner Betrachtung zu we-nig ein. Hauser konnte deshalb auf spezielleEpochen der Kunstgeschichte, etwa der mo-dernen Kunst seit ungefähr 1870, nur unge-nügend eingehen. Dem Kenner der Materieist seit längerem bewusst, dass es eines neu-en Grundlagenwerkes bedarf, das die wich-tigen Gattungen der Kunst hinsichtlich ihrergesellschaftlichen Voraussetzungen undHintergründe zu reflektieren hat.

Unbestritten ist angesichts der Komplexi-tät der Fragestellung die Notwendigkeit derSpezialisierung auf eine bestimmte Epoche.

So erschien es dem Heidelberger Politolo-gen Klaus von Beyme ratsam, keinen neuen»Hauser« vorzulegen, sondern sich auf dasPhänomen der Avantgarde zu beschränkenund den Zeitraum von 1905-1955 zu unter-suchen. Trotz der zeitlichen Begrenzungeine wahrlich nicht gerade einfache Zielset-zung!

Bereits der Materialreichtum der Ab-handlung und die detaillierten Analysen derungemein reichhaltigen Sozialstrukturen derAvantgardekünstler belegen, dass die Studiedie Krönung einer jahrzehntelangen Be-schäftigung mit beiden Disziplinen ist, derPolitikwissenschaft wie auch der Kunstge-schichte. Von Beyme hat schon vor einigerZeit Aufsätze zur Problematik »Kunst derMacht und die Gegenmacht der Kunst« vor-gelegt, weiterhin zu moderner Architekturund Städtebaupolitik.

Die Vorgehensweise des Autors ist evi-dent. Eher selten interpretiert er Werke undarbeitet deren politische Implikationen her-aus. Vielmehr werden seine Erörterungendominiert von Manifesten (beispielsweisevon Künstlergruppen), autobiographischenÄußerungen von Künstlern und einer Füllevon Sekundärliteratur. Öfters wird der Text-fluss durch Abbildungen aufgelockert.

Nach Einleitung und Grundbegriffen derAvantgarde-Forschung behandelt der ersteTeil der Arbeit die »sozialen Grundlagender Entstehung der Avantgarde«. In diesemKontext werden die Ausbildung der Avant-gardekünstler ebenso wie grundlegende Zie-le der äußerst heteogenen Gruppe beschrie-ben. Dazu zählt vor allem die Vorstellungder »Einheit von Kunst und Leben«. DieSoziologie von Künstlergruppen wird vor-gestellt, weiterhin »Frauen und Partner-schaftsverhältnisse« und die »Avantgardeauf dem Kunstmarkt«. Im Anschluss daranlegt der Verfasser in Teil II eine Darstellungvon Theorien und Theoriebereichen in derKunstdebatte der Avantgarde vor. Der bisheute andauernde Kampf zwischen Abs-traktion und Figuration in der Kunst wirddabei ebenso ausführlich erläutert wie diealte Frage nach der Hierarchie der Gattun-gen und deren möglicher Überwindung.

Einen breiten Raum nehmen die Darle-gungen des politischen Engagements derKünstler ein. Sollte die Verbesserung der

08_Buchbesprechungen Seite 247 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13

Page 129: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Buchbesprechungen248

Welt, vor allem der politisch-sozialen Ver-hältnisse, das Hauptanliegen der Kunstsein? Von Beyme erörtert das vielfältigeMit- und Gegeneinander von Diktaturenund zeitgenössischen Künstlern. Auch dergut informierte Leser dürfte hier einen Er-kenntnisgewinn verbuchen. Wer weißschon, dass ausgerechnet der heftig umstrit-tene Repräsentationskünstler Arno Breker,dessen Werke im Rahmen einer Ausstellungerst kürzlich wieder die Wogen der Kritikhaben hochschlagen lassen, das KP-MitgliedPicasso, der immerhin auf dem Territoriumvon Vichy-Frankreich lebte, durch Inter-ventionen schützte? Nach der kommunisti-schen Machtübernahme in Russland schieneine problemlose Synthese von Politik undAvantgarde möglich. Der dortige Experi-mentalismus brachte nach 1918 üppige Stil-blüten hervor. Die Ernüchterung seitens vie-ler Künstler folgte relativ rasch. In denmannigfachen Varianten von Rechtsdiktatu-ren waren die Bedingungen für die Künstlersehr unterschiedlich. Das faschistische Itali-en bot für einige Richtungen der Avantgar-de, etwa den Futurismus, lange Zeit verhält-nismäßig gute Arbeitsbedingungen. Dasnationalsozialistische Deutschland dagegenzwang Missliebige entweder zur innerenoder zur äußeren Emigration. Viele unterden Expressionisten, die durchaus Affinitä-ten zu einigen Zielen der neuen Machthabervon 1933 erkennen ließen, wie Emil Nolde,erlebten eine böse Überraschung. Ihr – offe-nes oder verstecktes – Angebot zur Kolla-boration mit den Nationalsozialisten fandkaum Gegenliebe. »Deutsche Künstler« wa-ren eben nur zu einem sehr kleinen Teil nati-onalsozialistische Künstler. Wie der »sozia-listische Realismus« nur wenige Sympathienbei Avantgardisten hervorrief, war auch dienationalsozialistische Repräsentationskunstmit der grundsätzlichen Ausrichtung derVorkämpfer der Moderne inkompatibel.

Daher konnten sich die USA als Füh-rungsmacht der späten Avantgarde her-vortun. Von Beyme zeichnet auch hier dievielfältigen Möglichkeiten und Arbeitsbe-dingungen nach, die Künstler vorfanden. ImVergleich zu Europa erschienen sie paradie-sisch, lediglich das Klima des McCarthyis-mus trübte die ursprüngliche Freude vielerin Amerika lebender Künstler über den Sieg

des abstrakten Expressionismus in der west-lichen Welt.

Spätestens in den 1950er-Jahren war derNiedergang der Avantgarde unübersehbar.Nach dem Urteil von Beymes hat sie sich totgesiegt. In der Tat: Selbst »1968«, als dievollmundige Parole ausgegeben wurde »DiePhantasie an die Macht!«, kam es nicht mehrzu einer dauerhaften Verbindung von Kunstund Politik. Ingesamt kann man feststellen,dass viele Ziele der frühen Avantgarde (um1900) in der Zeit nach dem Zweiten Welt-krieg keinen Widerhall mehr fanden oderfinden konnten. Die Ausdifferenzierungvieler gesellschaftlichen Subsysteme hat sichin atemberaubenden Tempo entwickelt, sodass an eine erneute Synthese von Kunstund Leben, wie sie insbesondere das Bau-haus propagierte, nicht mehr zu denken war.Die Globalisierung, die Künstler der klassi-schen Moderne vorantrieben, wurde seitden 1960er-Jahren hauptsächlich durchTechnik und Ökonomie bewirkt. Derkünstlerische Impetus wurde deshalb immermehr überflüssig oder wirkte nunmehr bloßepigonal. Darüber hinaus erwies sich derAnspruch auf eine Umgestaltung der gesell-schaftlichen Verhältnisse im großen Stil baldals obsolet. Selbst der politische »Filz undFett«-Künstler Joseph Beuys hatte nur we-nige diesbezügliche Ambitionen. Beschei-den nahmen sich seine Auftritte bei Veran-staltungen der Friedensbewegung aus, wo er»Wir wollen Sonne statt Regen« sang (inAnspielung auf den Namen des damaligenamerikanischen Präsidenten Reagan).

Alles in allem prädisponierten die nach1945 deutlich veränderten Verhältnisse denÜbergang zur Postmoderne. So unter-schiedlich sich diese neue Kunstrichtungauch auswirkte: Sie forcierte historisierendeTendenzen in Kunst und Architektur, wiesie besonders in den 1970er-Jahren inDeutschland unübersehbar wurden. Eineshat jedoch auch die Postmoderne nicht be-werkstelligen können: das des Öfteren inUnkenrufen zu hörende »Ende der Kunst«oder »Ende der Kunstgeschichte« (HansBelting). Solchen Vermeldungen folgtenumgehend die Wünsche nach Urteilsrevisi-on. Die Kunst schloss sich in diesem Punktalso der Geschichte an, die nach 1989 – ent-gegen voreiliger Ankündigungen – doch

08_Buchbesprechungen Seite 248 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13

Page 130: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Buchbesprechungen 249

weiterging. Von Beyme lässt daran in seinergrundlegenden Studie, die bald zum Stan-dardwerk avancieren dürfte, keinen Zweifel.

Felix Dirsch

Gary T. GARDNER: Inspiring Progress: Reli-gion’s Contributions to Sustainable Deve-lopment. New York/London 2006. Norton& Co Ltd, 210 S. brosch., 12,50 $.

Das Beziehungsverhältnis von Religion undÖkologie erscheint gerade im Blick auf dieeuropäische und nordamerikanische Kultur-geschichte unter dem Zeichen vielfältigerund komplexer Spannungen. Spätestens seitder emotionsgeladenen Diskussion um die –im deutschsprachigen Raum v.a. von CarlAmery vertretene – These, die ökologischeKrise sei im Kern dem Christentum und sei-nem bewusst über Jahrhunderte fehlinter-pretierten alttestamentarischen Schöpfungs-auftrag »Macht Euch die Erde untertan«(Gen 1,26-28) geschuldet, stehen insbesonderedie christlichen Kirchen vor der Herausfor-derung, ihr Verhältnis zur Ökologie- undNachhaltigkeitsdiskussion zu bestimmen.Schließlich besteht kein Zweifel, dass diegroßen Religionsgemeinschaften – und hierinsbesondere die Kirchen – die rasant wach-sende Bedeutung der ökologischen Fragelange verkannt haben. Eine hinreichendeKritik an den naturausbeuterischen Prakti-ken des modernen Industriezeitalters warvonseiten der Religionsgemeinschaftenkaum vernehmbar. Eine päpstliche Enzykli-ka zum Umweltproblem beispielsweisesteht weiterhin aus.

Nun hat sich Gary Gardner, Direktor fürForschung am renommierten WashingtonerWorldwatch Institute, dieser Diskussionangenommen, indem er den Beitrag der Reli-gionen zum Konzept nachhaltiger Entwick-lung in den Blick nimmt. Bereits 2003 hattesich das Worldwacht Institute in einem breitangelegten Forschungsschwerpunkt mit derRolle der Religionen im internationalenUmweltschutz befasst. Gardner macht dasreligiöse Potential zur Mitgestaltung desNachhaltigkeitsgedankens und zur Neuaus-richtung der Fortschrittsidee, um die es nachseinem Erkennen wesentlich geht, an fünf

Kernargumenten fest: Erstens sei es ihre be-sondere Fähigkeit zur Sinnstiftung, die Reli-gion zum entscheidenden Faktor desUmweltbewusstseins werden ließe. DennZiel- und Sinnvermittlung seien unabding-bare Voraussetzungen für ein wirksamespraktisches Handeln. Zweitens, so Gardner,verfügten Religionen über eine hohes »mo-ralisches Kapital«, zumal viele ihrer Institu-tionen über eine lange Lehr- undForschungstradition im Bereich Ethik ver-fügten und Großkirchen wie die römisch-katholische eine erhebliche Medienpräsenzweltweit genießen. Religionen zeichnen sich,drittens, durch eine große Anhänger- bzw.Mitgliederschaft aus und erhielten damit einhohes politisches Gewicht, das auch aus ih-rem umfangreichen Bildungsangebot, ange-fangen bei Klosterschulen, herrührt. Nur 16Prozent der Weltbevölkerung, so Gardnerstark vereinfachend und unter Rekurs aufkaum stichhaltige Quellen, seien »nicht-reli-giös« (S. 49). An vierter Stelle nennt Gardnerdie beträchtliche Kapital- und Vermögens-masse, die zumindest den größeren Religi-onsgemeinschaften zu Verfügung stündenund einen breiten Handlungs- und Wir-kungsrahmen eröffneten. Auch ihr umfang-reicher Grund- und Bodenbesitz bevorteilereligiöse Institutionen in vielen Ländern beiihren gesellschaftlichen Gestaltungsversu-chen. Schließlich, fünftens, sei es das »sozialeKapital« von Religionen, das Gardner unterRückgriff auf die Terminologie Robert Put-nams als augenfälliges Indiz eines religiösenPotentials für Nachhaltigkeit ausweist: jenesstabile Netz aus Nachbarschaftshilfen also,Initiativen, Selbsthilfezentren und engagier-ten Pfarrgemeinden, das den »sozialen Kitt«der Gesellschaft ausmacht.

Gardner untermauert seine Argumentati-on nicht durch normative Überlegungen,sondern anhand einer gewaltigen Fülle em-pirischer – und bald ermüdender – Einzel-beispiele, die er in der lokalen Alltagspraxisder Kirchen und Religionsgemeinschaftenbeobachtet: Eine Bibelgesellschaft in Mary-land, die ihre Leuchter mit Solarenergiespeist; 6000 britische Kirchgärten, die als»sacred ecosystems« ohne Einsatz von Pes-tiziden und unter Verzicht auf häufiges Ra-senmähen betrieben werden; die OrdensfrauDorothy Stang, die wegen ihres Kampfes an

08_Buchbesprechungen Seite 249 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13

Page 131: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Buchbesprechungen250

der Seite der brasilianischen Landlosenbe-wegung 2005 vermutlich auf Betreiben ein-flussreicher Fazendeiros, erschossen wurdeusw.

Gardner ahnt, dass der lebensgefährlicheEinsatz der Ordensschwester nicht aus einernaiven »Liebe zur Natur« herrührte, son-dern die Folge eines himmelschreienden Ge-rechtigkeitskonfliktes war, der sich weltweitaus der – weitgehend anthropogen verur-sachten – Problematik einer ungerechtenVerteilung von Nutzungsrechten an Öko-systemleistungen ergibt. Und hier entstehtauch der eigentliche Kern theologischer Re-flexion, bei der Naturerhalt und Umwelt-schutz Teil einer weit umfassenderenDiskussion um Werte, Lebensstile, Gesell-schaftsziele und soziale Gerechtigkeit sind.Gardner sieht zwar den »Hunger nach Ge-rechtigkeit«, diskutiert ihn aber nicht imKontext religiös motivierter Gerechtigkeits-und Solidaritätspostulate. Auch mit der so-ziopolitischen Kontextualtität von Religionhält sich Gardner, der erkennbar in der evan-gelikalen Freikirchenbewegung zu Hauseist, nicht lange auf: Dass nicht nur im gesell-schaftlichen Selbstverständnis von Christen,Muslime, Hindi, Buddhisten etc. sondernauch in ihrem »moralischen Kapital«, in ih-rer Begegnung mit Säkularisierungs- undPluralisierungsprozessen gravierende Unter-schiede existieren, die eigentlich jedem Ver-such zuwiderlaufen, die Rolle allerReligionen für die nachhaltige Entwicklungzu untersuchen – das zu erkennen bleibt beitotaler Aussparung aller konkreten religi-onsphilosophischen und –soziologischenFragen, die sich hier stellen – dem Leserselbst überlassen. Ein konsistenter Begriffvon Kirche oder Religionsgemeinschaft wirdgar nicht erst eingebracht. Auf dieser Argu-mentationsebene wird dann auch niemandmehr erwarten, dass Gardner stichhaltig be-gründet, warum die großen Weltreligionendie ökologische Frage bisher überwiegendvernachlässigt haben. Umweltschutz undReligion bleiben in der öffentlichen Wahr-nehmung ja weiterhin zwei zusammenhang-lose Antipoden – vollkommen zu Unrecht,wie Gardner andeutet, ohne in der Tiefe eineAnalyse zu wagen. Denn tatsächlich sprichtvieles dafür, dass die Religionsgemeinschaf-ten und in Europa gerade die Kirchen aus

politiktheoretischer Überlegung heraus ei-nen Beitrag leisten können (und müssen),den nur sie l e i s t e n k önnen und der alsBeitrag zu einer wirksamen gesamtgesell-schaftlichen Auseinandersetzung mit demUmweltproblem unverzichtbar bleibt. Diessetzt aber voraus, dass die Religionsgemein-schaften ihren Ort in der modernen Gesell-schaft erkennen und die hier sichdarbietenden Kommunikations- und Parti-zipationschancen im Rahmen zivilgesell-schaftlicher Prozesse zu nutzen wissen.Gardner sucht den Weg der Religionen zurÖkologie allein über empirische Individual-ethik. Übergreifende sozialethische Antwor-ten auf die ökologische Krise, die etwa diekatholische Kirche – mit einer Anhänger-schaft von schätzungsweise einer MilliardeMenschen die größte Religionsgemeinschaftweltweit – längst im Rahmen ihrer Gesell-schaftslehre verankert haben müsste, werdenallenfalls am Rande angedeutet. Und obwohlGardner so viele Fragen offen lässt, leistetsein Buch eine nicht ganz unerhebliche Ar-beitshilfe in der Auseinandersetzung mit derökologischen Frage. Soviel ist nach der Lek-türe nämlich eindeutig: Ohne die breite Ein-bindung der Religionen in den Prozessnachhaltiger Entwicklung wird Umwelt-schutz nicht gelingen.

Thorsten Philipp

Frank R. PFETSCH: Verhandeln in Konflik-ten. Grundlagen – Theorie – Praxis. Wiesba-den 2006. VS Verlag für Sozialwissenschaf-ten, 226 S., brosch., 21,90 EUR.

Mit der Monographie über Verhandlungs-prozesse veröffentlicht Frank R. Pfetsch ineinem Themenbereich, der schon seit lan-gem durch zunehmend komplexere und vonInterdependenzen geprägten politischenProzessen Relevanz gewinnt. In der Interna-tionalen Politik wird auf die Bedeutung voninternationalen Regimes hingewiesen, in de-nen durch Verhandlungen nationalstaatlicheSteuerungsverluste kompensiert werden sol-len. Auch bezüglich der Innenpolitik wirdseit langem diagnostiziert, dass das hierar-chische Handeln des Staates nicht mehr pro-blemadäquat sei, sondern durch kooperative

08_Buchbesprechungen Seite 250 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13

Page 132: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Buchbesprechungen 251

Lösungen des verhandelnden Staates abge-löst werden müsse. Grund genug, sich mitdem Komplex der Verhandlungen näher zubefassen. Insgesamt trägt die Monographievon Pfetsch einen Lehrbuchcharakter, da siegrundlegend in den Gegenstand einführt.Der Autor geht hierbei schlüssig dem Ge-genstand nach, definiert allgemeine Merk-male von Verhandlungen und bezieht denAkteur und seine Machtressourcen, die un-terschiedlichen Verhandlungskulturen, dieInstrumente der Verhandlung, die mögli-chen Vermittlungsversuche und Verhand-lungslösungen ebenso wie die Rolle von In-stitutionen und das Recht ein. Dabei stelltder Autor Thesen auf, die jeweils anhandvon Beispielen, die sich meist auf die Inter-nationale Politik beziehen und weniger aufinnenpolitische Prozesse, illustriert werden.Diese beziehen sich etwa auf die Fragen, wasAkteuren in Verhandlungen Macht verleiht,wie schwächere Akteure darauf reagierenkönnen, welche Konflikte eher lösbar sind,welche Rolle die Ideologie spielt, in welchePhasen Verhandlungsprozesse unterteiltwerden können und welche MöglichkeitenVermittler im Verhandlungsprozess haben.Hervorragend ist, dass die Hypothesen zumEnde des Buches in gesammelter Form er-scheinen und damit die Arbeit des Autorskonzentrieren. Diese Thesen sind für dieForschung hilfreich und weiterführend, dasie empirische oder theoretische Arbeitenanleiten und befruchten können. Mit dieserHypothesen-Übersicht wird kompensiert,was in der Gesamtsicht negativ auffällt: ZumTeil ist das Werk von erheblichen Redun-danzen geprägt: So wird die Definition einesKrieges (S. 32-33) etwa gleich dreimal inähnlichen Formulierungen wiederholt. Esließen sich weitere Beispiele für Redundan-zen wie auf S. 92 herausgreifen, in dem etwadas Verhandlungskonzept nach Harvardzweifach erklärt wird. Dies lässt den Lese-prozess des ansonsten flüssig geschriebenenWerkes, das nur unter recht vielen Inter-punktionsfehlern leidet, etwas mühsam wer-den, da der Leser zum Überspringen derZeilen geneigt ist. Was in dem Werk zwei-tens negativ auffällt, sind eingefügte »Dis-kussionsplätze«, die für das Thema des Bu-ches nur in geringem Maße eineillustrierende oder erklärende Funktion ha-

ben, sondern insgesamt eher die Konzentra-tion ablenken. Innerhalb des Kapitels überVerhandlungskulturen – in dem die unter-schiedlichen Stile von Deutschen, Franzo-sen, Amerikanern und Japanern idealtypischherausgearbeitet werden – folgen Beispiele,die die unterschiedlichen nationalen Kultu-ren verdeutlichen sollen. Für dieses gewissrichtige Anliegen eignet es sich jedoch nicht,auf drei Seiten die komplexen Diskurse undProzesse zur Nationenbildung zu verglei-chen – noch dazu anhand einer Graphik, diein dieser Kürze dem Leser verschlossen blei-ben muss (S. 74-76). Auch die weitere Frage,inwieweit innerhalb der europäischen Kul-turgemeinschaft die Chance besteht, dasssich eine europäische Verhandlungskulturentwickelt, ist auf drei Seiten nur kursorischzu beantworten. Hier hätte sich der Autornach Ansicht des Rezensenten besser aufsein Kernanliegen beschränken sollen. Glei-ches gilt für den Abschnitt, in dem Pfetschnach den Grenzen des Verhandelns fragtund prinzipiell bemerkt, dass nicht alleKonflikte durch Verhandlungen lösbar sind– wie etwa die gescheiterten Verhandlungs-prozesse in Somalia, Kosovo oder Afghanis-tan aufzeigen. Hier ist die geraffte Darstel-lung der Diskurstheorie von JürgenHabermas auf zwei Seiten als Beispiel füreine Theorie, die sich thematisch anknüp-fend mit den Grenzen des Verhandelns aus-einandersetzt, einfach fehlplaziert (S. 140-141). An manchen Stellen im Werk hätte derAutor hingegen durchaus tiefer auf einigeAspekte eingehen können: In dem Teilkapi-tel über Verhandlungstheorien werden zumBeispiel die wichtigsten Vertreter aus denForschungsbereichen der Psychologie, derPolitikwissenschaft, der Entscheidungstheo-rie, der Organisationstheorie (etc.) zwar ge-nannt, ohne jedoch deren gerade für denGegenstand relevanten Perspektiven näherzu erläutern oder zumindest zu den Auto-ren bibliographische Angaben hinzuzufü-gen. Es hätte der Monographie sicherlichgut getan, an dieser Stelle den Forschungs-stand tiefgehender abzubilden. Durch diegeschilderten Monita trübt sich das Gesamt-bild der Monographie, jedoch muss daraufverwiesen werden, dass dieses Werk auchüber Stärken verfügt, die nur hätten konzen-trierter – unter Reduzierung des einen oder

08_Buchbesprechungen Seite 251 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13

Page 133: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Buchbesprechungen252

anderen Beispiels und Diskussionskreises –herausgearbeitet werden müssen. Insgesamtliegt ein Werk vor, das trotz der genanntenDefizite systematisch in den Gegenstandeinführt und Schwierigkeiten und Möglich-keiten von sozialem Verhalten innerhalb vondurch Institutionen geprägten Verhandlun-gen analysiert.

Henrik Gast

Karin PRIESTER: Populismus. Historischeund aktuelle Erscheinungsformen. Frank-furt/M. 2007. Campus-Verlag., 228 S. , kart,16,90 EUR.

»Populismus« steht im öffentlichen Diskursfür Emotionalisierung und Personalisie-rung, Polarisierung und Vereinfachung. Indieser Allgemeinheit erfasst der Begriff al-lenfalls einen Stil von Politik, bleibt aberdehnbar und inhaltsleer. Darüber hinausdient er in einer durchweg negativen Beset-zung als politisches Schlagwort, um abge-lehnte Positionen zu diskreditieren. Solltedaher gänzlich auf den Terminus »Populis-mus« in der wissenschaftlichen Analyse ver-zichtet werden? Diese Frage verneint die inMünster Soziologie lehrende Karin Priesterin ihrem Buch »Populismus. Historischeund aktuelle Erscheinungsformen«. Siewendet sich darin dezidiert gegen eine weitverbreitete Auffassung, wonach mit Popu-lismus nur eine formale Technik der Politik-vermittlung in Diskursführung, Spracheund Stil gemeint sein könne. Zwar handeltes sich dabei für Priester nicht um eineHochideologie wie der Liberalismus undSozialismus. Gleichwohl sei dem Populis-mus ein besonderes Gesellschaftsideal undMenschenbild eigen. Aus dieser Perspektivenähert sich die Autorin dem Phänomen invier größeren Kapiteln:

Zunächst versucht sie eine Eingrenzungvorzunehmen, wobei die verschiedenstenAspekte historischer, inhaltlicher und me-thodischer Art angesprochen werden. Da-nach erörtert Priester das Verhältnis der Po-pulisten zur Institution des Staates, sei diesdoch aufgrund von deren zentralem Frei-heitsverständnis negativ. Nach den beidentheoretischen Kapiteln geht es dann um die

unterschiedlichen Erscheinungsformen. Inden USA reichten diese vom Agrarpopulis-mus im 19. Jahrhundert über den Massenkli-entelismus in den Südstaaten der 1950er biszu Ross Perots »drittem Weg der Mitte« inden 1990er Jahren. Für Europa stehen derPoujadismus im Frankreich der 1950er, die»Lega Nord« im Italien in der 1990er Jahreund die Aktivitäten von Pim Fortuyns inden Niederlanden bis zu seinem Tod imZentrum der Analyse. Bei all dem deutetPriester den Populismus als Ergebnis einerSuche nach einem dritten Weg zwischen In-dividualismus und Kollektivismus, der aufder Gleichsetzung des selbständigen Mittel-standes oder der »kleinen Leute« mit dem»Volk« beruhe. Populisten orientierten sichaußerdem am sozialen Nahbereich undlehnten die Einmischungen der Institutiondes Staates in ihre Lebenswelt ab.

Damit nimmt Priester eine Perspektiveein, welche in der bisherigen Forschungzum Populismus ignoriert wurde. Dort ver-wies man mehr auf die Konsequenzen emo-tionaler Agitation für die politische Kulturund die Nähen der Inhalte zu extremisti-schen Positionen. Die Autorin deutet denPopulismus demgegenüber als eine Abwehr-bewegung gegen den modernen Zentralstaatbei gleichzeitiger Orientierung an gewach-senen Gemeinschaften und regionaler Auto-nomie. Als dessen konstante Grundüber-zeugungen gelten ein lebensweltlicherTraditionalismus, die freie Selbstorganisati-on und der vehemente Anti-Etatismus. DerFreiheitsbegriff von Populisten sei daher ne-gativ ausgerichtet, verstanden als Freiheitvom Staat. Er speise sich ideengeschichtlichbetrachtet aus drei Quellen, dem Anarchis-mus, Konservativismus und Liberalismus,die sich jeweils mit unterschiedlicher Ge-wichtung zum populistischen Syndrom ver-binden würden. Derartige Auffassungenentstammten einer langen Tradition des Wi-derstandes gegen den bürokratisierten, mo-dernen und zentralisierten Staat als Levia-than.

Diese Auffassungen und Deutungenkönnten als Lobgesang auf den Populismusmissverstanden werden. Darum geht es derAutorin aber nicht. Sie sucht vielmehr nachdem inhaltlich Verbindenden der unter-schiedlichen populistischen Bewegungen

08_Buchbesprechungen Seite 252 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13

Page 134: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Buchbesprechungen 253

und Parteien in Geschichte und Gegenwart.Dabei präsentiert Priester eine Reihe vonbeachtenswerten Analysen und Deutungen,welche Diskussion wie Forschung voranbringen dürften. So wäre etwa zu fragen, obdas identitäre Gesellschaftsbild der Populis-ten nicht stärker hervorgehoben werdenmüsste. Priester betont demgegenüber sogardessen pluralistische Neigungen, was wohlmehr als nur diskussionswürdig sein dürfte.Auch zieht sie mit ihrem Verständnis einenall zu rigorosen Trennungsstrich zwischenpopulistischen und rechtsextremistischenBewegungen oder Parteien und wird damitdem Phänomen des gegenwärtigenRechtspopulismus in Europa nicht gerecht.Möglicherweise kann man derartigen Ein-wänden entgehen, wenn eine genauere The-orie und Typologie des Populismusentwickelt wird. Das von Priester genutzteBild, ist Populismus mehr ein Gewürz (alsoBeigabe) oder eine Mahlzeit (also Hauptbe-standteil), lädt zu entsprechenden Reflexio-nen ein. Sie erhielten noch weiteren Stoffdurch eine zusätzliche Fallstudie zum Popu-lismus in Lateinamerika in Geschichte undGegenwart in einer wünschenswerten er-weiterten Auflage des Buches.

Armin Pfahl-Traughber

Klaus SCHROEDER / Steffen ALISCH / Sus-anne BRESSAN / Monika DEUTZ-SCHROE-DER / Uwe HILLMER: Rechtsextremismusund Jugendgewalt in Deutschland. Ein Ost-West-Vergleich, Verlag Ferdinand Schö-ningh, Paderborn 2004, 617 S., gebunden,48 EUR.

Die Literatur zum Thema »Rechtsextremis-mus in Deutschland« ist häufig vordergrün-diger Natur: dramatisierend; voller schieferVergleiche; politisch voreingenommen. Dasgilt keineswegs für den Band des Teams umKlaus Schroeder, einem promovierten Berli-ner Soziologen und habilitierten Politolo-gen, der als Leiter des SED-Forschungsver-bundes an der Freien Universität dieseThematik bisher nicht bearbeitet hatte. DasWerk zum jugendlichen Rechtsextremis-mus verbindet nüchterne, methodisch abge-sicherte empirische Forschung mit Urteils-

kraft. Es liegt quer zum Mainstream. Diegängige These, die neuen Bundesländer sei-en ein Hort des jugendlichen Rechtsextre-mismus, findet keine Untermauerung.

Das mit Tabellen und Graphiken über-frachtete Opus enthält Abschnitte zu denErscheinungsformen des Rechtsextremismusim geteilten und vereinigten Deutschland, zuden theoretischen Erklärungsansätzen fürrechtsextremistische Jugendgewalt, zu denErgebnissen bisheriger empirischer Studienund – als Herzstück – eine empirische Un-tersuchung sowie qualitative Fallstudien.Manche Aussagen aus den ersten Abschnit-ten finden in den empirischen Teilen keineStütze. Etwa: »Die sich selbst als antifaschis-tisch und links bezeichnende SED-Diktaturbrachte eine mit rechtsextremen Ideologe-men spielende Jugend hervor.« Lautet docheine Kernthese, der jugendliche Rechtsextre-mismus im Osten sei nicht so exzessiv wievielfach behauptet. Die Kritik an den theore-tischen Ansätzen (aus der Feder von MonikaDeutz-Schroeder) leuchtet überwiegend ein.Nur: Eine Alternative bietet die Autorinnicht. Außerdem taugt die empirische Pers-pektive, um die es dem Autorenteam geht,für solche Erklärungsansätze nicht. Schroe-der kommt auf sie zu Recht kaum zurück.

Die scharfe Kritik an den Unzulänglich-keiten empirischer Erhebungen ist beein-druckend. Manche Studien wollten einen»Rechtsruck« belegen, wählten »weiche«Skalen und präjudizierten so ein bestimmtesErgebnis. Nach einer Nürnberger Berufs-schülerbefragung etwa gelten 27,5 Prozentder Befragten als »stark ausländerfeindlich«,52 Prozent als »in der Tendenz ausländer-feindlich«. Kein Wunder bei verfänglichenStatements wie diesen: »Wenn Arbeitsplätzeknapp werden, sollte man die Ausländerwieder in ihre Heimat zurückschicken«;»Die in Deutschland lebenden Ausländersollten den gleichen Anspruch auf Sozialhil-fe und andere Sozialleistungen haben wiedie Deutschen«. Wer mit solchen Items ope-riert, bläht Fremdenfeindlichkeit auf. EineKritik an dem nahezu völlig fehlenden em-pirischen Vergleich zum extremistischenEinstellungspotential von rechts und linkskommt nicht zur Sprache.

In der leider keineswegs repräsentativenStudie Schröders wurden 862 Jugendliche

08_Buchbesprechungen Seite 253 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13

Page 135: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Buchbesprechungen254

(Gymnasiasten, Haupt- und Berufsschüler)aus vier Kleinstädten befragt: Arnstadt(Thüringen) Deggendorf (Bayern), Einbeck(Niedersachsen) und Neuruppin (Branden-burg). Der Autor bildet Determinanten fürRechtsextremismus, die er mit Aussagen zuNationalismus, Antisemitismus, Biologis-mus, Ausländerfeindlichkeit, Antiparlamen-tarismus, NS-nahem Geschichtsbild ermit-telt, ebenso eine Skala für anti- bzw.nichtzivile Einstellungen (anhand von Ge-walt- und Devianzbereitschaft, Intoleranz,Autoritarismus, Antiindividualismus). Die-se Differenzierung scheint sinnvoll zu sein,da etwa Gewaltbereitschaft und Autoritaris-mus nicht mit einem (rechts-)extremisti-schen Weltbild verbunden sein müssen. Vorallem überzeugen die klar formuliertenItems (z.B. »Der Nationalsozialismus wareine gute Idee, die nur schlecht ausgeführtwurde«), die Fehlinterpretationen vorbeu-gen. Hier hebt sich Schroeder wohltuendvon alarmistischen Sichtweisen ab.

Zu den wichtigsten Ergebnissen gehören:Nur zwei Prozent verfügen über ein rechts-extremistisches Weltbild im engeren Sinne,etwa sechs Prozent im weiteren Sinn. Anti-zivile Einstellungen schlagen kaum zu Bu-che, hingegen nichtzivile sehr stark. Diegroße Anzahl der Unentschlossenen irri-tiert, stimmt keineswegs beruhigend: EineImmunisierung gegenüber rechtsextremisti-schen Anschauungen fehlt. Junge Männerneigen eher zu rechtsextremistischen Ein-stellungen als junge Frauen, Haupt- und Be-rufsschüler stärker als Gymnasiasten. Ent-gegen einer verbreiteten Annahme gibt eskaum Unterschiede zwischen dem Ostenund dem Westen (bei den nichtzivilen Ein-stellungen weisen die jungen Ostdeutschenschlechtere Werte auf), wohl aber deutlichezwischen dem Norden und Süden. Dienorddeutschen Schüler (Einbeck und Neu-ruppin) schneiden mit einem manifestenRechtsextremismus von 2,9 Prozent (laten-ter: 7,9 Prozent) schlechter ab als die süd-deutschen aus Arnstadt und Deggendorf(manifester Rechtsextremismus: 1,0 Pro-zent; latenter: 3,6 Prozent). Gewisse Verzer-rungen ergeben den niedrigeren Anteil derBerufsschüler bei den Ostdeutschen. Gera-de hier sind rechtsextremistische Einstel-lungsmuster verbreiteter. Insofern kommen

die ostdeutschen Schüler ein wenig besserweg. Bekanntermaßen gehen fremdenfeind-liche Übergriffe einer jugendlichen Subkul-tur mehr auf die jungen als auf die altenBundesländer zurück.

Es bedürfe der Stärkung ziviler Werte, umRechtsextremismus und Jugendgewalt zu-rückzudrängen, lautet das unaufgeregte Fa-zit. Den Unterschieden zwischen dem Nor-den und dem Süden müsste nachgespürtwerden. Gibt es in Deutschland eine Nord-Süd-Linie?

Bedrückend sind Ergebnisse, die Schroe-der eher beiläufig anspricht, so das DDR-Bild von Schülern. Ein knappes Viertel derBefragten schließt sich der Auffassung an,die alte Bundesrepublik sei nicht besser alsdie DDR gewesen, und nur ein gutes Viertelwiderspricht dieser Position. Kaum zu glau-ben: Knapp die Hälfte der Befragten enthältsich einer Bewertung. Vor allem rechts undlinks eingestellte Schüler vertraten solcheÄquidistanz-Annahmen. Dieser Sachver-halt zeigt sich ebenso beim Antiamerikanis-mus. Ein gutes Viertel teilt (nach dem 11.September 2001, vor dem Irak-Krieg) dieAuffassung, die USA hätten selber Schuldan den Terroranschlägen im Land, ein knap-pes Viertel votiert neutral, gut die Hälfte da-gegen.

Susanne Bressan und Uwe Hilmer habendie standardisierte Erhebung durch einequalitative Befragung in den vier Kleinstäd-ten ergänzt, um eine bessere Einordnungder empirischen Befunde vornehmen zukönnen (z.B. durch eine Ausleuchtung deskommunalen Umfeldes). Auf über 200 Sei-ten wird für jede der vier Kleinstädte eineähnliche Vorgehensweise zwecks eines ange-messenen Vergleichs gewählt (u.a. mit Hilfeje eines Beispielinterviews): zur Lebensweltvon Jugendlichen, zur spezifischen Jugends-zene, zur Gewalterfahrung, zur Wahrneh-mung von Konflikten und zur kommunalenPraxis. Im Gegensatz zu den westlichenStädten Deggendorf und Einbeck ist in Arn-stadt und Neuruppin die Integration derwenigen Fremden nicht sonderlich geglückt,ohne dass jugendlicher Rechtsextremismusgrassiert. Insgesamt fallen die anschaulichvermittelten Befunde, zumal in Arnstadtund Einbeck, negativer als in der empiri-schen Erhebung aus. Konservativ orientierte

08_Buchbesprechungen Seite 254 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13

Page 136: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

ZfP 54. Jg. 2/2007

Buchbesprechungen 255

Schüler fühlten sich von ihren eher linkenLehrern zuweilen ausgegrenzt. Leider wirddie aufschlussreiche Aussage, die »Revoltevon rechts unten« sei eine Reaktion auf die68er-Bewegung, bloß kurz erwähnt, nichtnäher begründet. Ihr sollte nachgegangenwerden.

Die Differenzierung zwischen Jugendge-walt, die häufig auf sozialer Verwahrlosungberuht, und Rechtsextremismus ist wichtig,wiewohl Schroeder, ein in der (Rechts-)Ex-tremismusforschung bisher nicht ausgewie-sener Autor, keine empirische Studie zurfremdenfeindlichen Gewalt vorgelegt hat.Seine Ergebnisse sind zwar unspektakulär,was die Größenverhältnisse des jugendli-chen Rechtsextremismus betrifft, jedocheine spektakuläre Kampfansage an einengroßen Teil der empirischen Forschung.Greift diese den Fehdehandschuh auf?

Eckhard Jesse

Ute MECK: Selbstmordattentäter – sterben,um zu töten. Wie werden Menschen zuSelbstmordattentätern? Wie entstehen undfunktionieren ihre Ideologien? Wie kannman dem Selbstmordterrorismus sinnvollbegegnen? Frankfurt/M. 2007. Verlag fürPolizeiwissenschaft, 208 S., LVII S., kart.,19,80 EUR.

Die Ereignisse vom 11. September 2001rückten das Phänomen des Selbstmordatten-tats auch in der westlichen Welt ins öffentli-che Bewusstsein. In anderen Regionen stelltes für Geschichte und Gegenwart keine Be-sonderheit dar. Die Ursachen für diese spezi-fische Form des Terrorismus will Ute Meckaus psychologischer Perspektive in ihrer Stu-die „Selbstmordattentäter – sterben, um zutöten“ aufarbeiten. Dabei geht die Autorindavon aus, dass es sich nicht um verwirrteIndividuen handelt. Vielmehr seien dieSelbstmordattentäter ganz normale Men-schen, kulturell und sozial in ihren jeweiligenGesellschaften verankert. Ihre Entscheidung,das eigene Leben für die Tötung Anderer zuopfern, stelle eine bewusste Entscheidungdar und folge dem eignen Weltbild.

Um den Entwicklungsprozess eines Indi-viduums hin zum Selbstmordattentat nach

zu zeichnen, untersucht Meck zunächst ver-schiedene Gruppierungen. Hierzu zählenals historische Beispiele die Assassinen, dieKamikaze-Piloten und Khomeinis Selbst-mordbataillone und als aktuelle Fälle dieBlack Tigers auf Sri Lanka, die Hisbollah imLibanon und der palästinensische Selbst-mordterrorismus. Nach einer vergleichen-den Analyse macht die Autorin eine Mi-schung von äußeren Faktoren wie politischeMarginalisierung und gegnerische Demons-tration von Überlegenheit und inneren Fak-toren wie Abschottung und Feindbildfor-mulierung als Ursachen aus. Danach richtetMeck den Blick auf das einzelne Individuumund untersucht ebenfalls vergleichend Ab-schiedsbriefe, Tagebuchaufzeichnungen undWerbeslogans. Hierbei macht sie sowohl dieideologischen Komponenten wie die psy-chischen Motive der Selbstmordattentäteraus, welche in Kombination miteinander ineinem Entwicklungsprozess zur Tat führten.Einen solchen Weg veranschaulicht die Au-torin danach noch einmal anhand eines fikti-ven »Karrierverlaufs« in motivationstheore-tischer Betrachtung.

Die Studie beeindruckt durch das metho-disch überzeugende Vorgehen der Autorin,die über eine vergleichende Analyse Beson-derheiten herausarbeitet und sie in einWechselverhältnis zueinander bringt. Dar-aus entwickelt Meck ein komplexes Modellals Bedingungsgeflecht und veranschaulichtdamit auch die einzelnen Entwick-lungsettappen auf dem Weg eines Selbst-mordattentäters. Der Test ihres Modellsanhand einer Fallstudie zur kurdischenPKK, welche die Aussagekraft und Gültig-keit veranschaulichen soll, spricht darüberhinaus für ihr reflektiertes und selbstkriti-sches Vorgehen.

Gleichwohl bedarf es auch einiger kriti-scher Anmerkungen: Zum einen verwun-dert, dass die Autorin die amerikanischeund israelischer Forschung zum Themanoch nicht einmal im Literaturverzeichniszur Kenntnis nimmt. Zum anderen benen-nen die Ausführungen über die genanntenGruppen zwar Ursachen für das Entstehenterroristischer Organisationen, nicht aberfür deren besondere Ausrichtung im Sinneder Selbstmordanschläge. Ähnliches gilt fürdie Ausführungen, die den Täter in den

08_Buchbesprechungen Seite 255 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13

Page 137: 8540 F Wulfdiether Zippel Hans Wagner Sabine von ... · Nomos Herausgeber Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland

Buchbesprechungen256

Blick nehmen. Hier bildet lediglich die Mär-tyrer-Ideologie jene Besonderheit, die ausden »konventionellen« Terroristen denSelbstmordattentäter macht. Gerade dieseAusführungen können die Forschung weitervoran bringen. Mecks Studie liefert dazuwichtige Anregungen.

Armin Pfahl-Traughber

Sabine GILLMANN / Hans MOMMSEN(Hrsg.): Politische Schriften und Briefe CarlFriedrich Goerdelers, 2 Bde. München 2003.K.G. Saur Verlag, 1295 S., gebunden, 48EUR.

Die Quellenlage zur Geschichte des deut-schen Widerstandes gegen Hitler ist oftüberaus unbefriedigend. Die Bedingungenunter dem NS-Regime setzen jeder konspi-rativen Schriftlichkeit naturgemäß engeGrenzen. Vieles was wir wissen, wissen wirdaher entweder nur aus den Akten der Ver-folger oder aus den Erinnerungen der weni-gen Überlebenden aus den Kreisen des Wi-derstandes selbst.

Vor diesem Hintergrund markiert dieQuellenlage zur Person des ehemaligenLeipziger Oberbürgermeisters Carl Goer-deler eine absolute Ausnahmesituation: Go-erdeler war nicht nur der herausragende Re-präsentant des konservativen politischenWiderstandes gegen Hitlers Herrschaft,sondern zeichnete sich Zeit seines Lebensdurch einen nachgerade besessen wirkendenHang zur Schriftlichkeit aus. Diese wurdeihm seinerzeit zusammen mit seiner persön-lichen Offenherzigkeit mit zum Verhängnis:schon vor dem Attentat vom 20. Juli 1944war Goerdeler auf der Flucht vor seinenVerfolgern untergetaucht. Aber eben diesemfür ihn selbst fatalen Hang zur Schriftlich-keit verdanken wir heute den vielleicht um-fänglichsten Nachlass aus dem Zentrum desWiderstands. Die Gedanken und politischenVorstellungen Goerdelers lassen sich daherungebrochener und authentischer rekonst-ruieren als diejenigen der weitaus meistenanderen Oppositionellen. Der FreiburgerHistoriker Gerhard Ritter konnte daher be-reits 1954 eine Biographie seines Freundesvorlegen, die aus diesem Fundus schöpfte

und seinerseits eine der frühesten wissen-schaftlichen Arbeiten zur Geschichte desdeutschen Widerstandes gegen Hitler war.

Diesen weit verzweigten und verstreutenGoerdeler-Nachlass systematisch ermittelt,zusammengetragen und in einer ausgespro-chen benutzerfreundlichen, vorbildlichenAuswahledition veröffentlicht zu haben, istdas bleibende Verdienst Sabine Gillmannsund Hans Mommsens.

Im wesentlichen der chronologischen Ab-folge verhaftet sind die abgedruckten Doku-mente in sieben Abschnitten zusammenge-fügt: 1. Goerdelers kommunalpolitischeTätigkeit; 2. Goerdelers Mitarbeit in derReichspolitik I; 3. Goerdelers Mitarbeit inder Reichspolitik II; Goerdelers Doppel-strategie: Versuche der Einflussnahme aufdie Politik des Regimes von innen und vonaußen; 5. Goerdelers Bruch mit dem NS-Regime und die Suche nach Verbündeten; 6.Goerdelers Staatsstreichvorbereitungen undseine verfassungspolitischen Neuordnungs-pläne; 7. Goerdeler in Gestapo-Haft.

Ein sich an das Inhaltverzeichnis anschlie-ßendes Verzeichnis der Dokumente umfasstbereits eine knappe, stichwortartige Zusam-menfassung des Inhalts jedes einzelnen Do-kuments. Sie ist auch dem Abdruck des je-weiligen Dokuments selbst dann nocheinmal vorangestellt.

Fehler und Verfremdungen in früherenVeröffentlichungen einzelner Stücke konn-ten hie und da ausgeräumt werden. Inhalt-lich Umstürzendes zu Person und politi-schen Vorstellungen Goerdelers wurdeallerdings nicht zutage gefördert. Gleich-wohl muss manch Bekanntes im Lichte die-ser gelungenen Auswahledition jetzt deut-lich differenzierter betrachtet werden – etwadie genaueren Umstände und Zusammen-hänge von Geordelers Rücktritt als Leipzi-ger Oberbürgermeister im Jahre 1937. Undnicht zuletzt erscheint manches jetzt in ei-nem deutlich persönlicheren Licht – auchwenn der Privatmann Carl Goerdeler (wohlauf Wunsch der Familie) noch immer weit-gehend ausgeblendet bleibt.

Enrico Syring

08_Buchbesprechungen Seite 256 Montag, 18. Juni 2007 1:08 13