2014-08-16 gse-atomendlager frankreich...2014/08/16 · deutschlandfunk gesichter europas samstag,...
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Deutschlandfunk
GESICHTER EUROPAS
Samstag, 16. August 2014 – 11.05 – 12.00 Uhr
Frankreichs atomares Credo – Der Streit um das geplante Endlager in Lothringe n
Mit Reportagen von Suzanne Krause
Musikauswahl: Babette Michel Redakteur am Mikrofon: Norbert Weber
Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
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- unkorrigiertes Exemplar -
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Opening: (Stimmen) Musik Opener 1 Irgendwann später dann wird radioaktive Strahlung auftreten, da bin ich mir sicher. Schließlich sollen hier mal die gefährlichsten Atomabfälle entsorgt werden. Hier zu leben bedeutet also auch, sich vorzustellen, dass eines Tages hier keiner mehr leben können wird. Der geplante Bau eines atomaren Endlagers spaltet die Menschen in der lothringischen Provinz. Die einen befürchten den Super-GAU, andere, die durch das Projekt einen Job gefunden haben, sehen es eher pragmatisch. Opener 2 Es ist eine Arbeit wie jede andere. Hauptsache, ich verdiene meinen Lebensunterhalt. Ich habe das Glück, einen Job quasi vor der Haustür zu haben. Gesichter Europas: Frankreichs atomares Credo – Der Streit um das geplante Endlager in Lothringen Eine Sendung mit Reportagen von Suzanne Krause. Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Weber. Musik
Schon Mitte der 1980iger Jahre versuchte Frankreich die atomare
Entsorgungsfrage zu klären: mit einem Endlager für den hoch strahlenden
Müll. Doch sobald ein potentieller Standort publik wurde, gingen dort
Umweltschützer auf die Straße, kippten Bauern ihrem Präfekten Gülle vor
den Amtssitz. Nachdem die damalige sozialistische Regierung 1989 ein
Moratorium erlassen hatte, verabschiedete das französische Parlament zwei
Jahre später ein Gesetz zur Endlagerung– eine Premiere in der
französischen Atompolitik. 2006 wurde die geologische Entsorgung
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gesetzlich verankert. Die Tonstein-Schicht im lothringischen Hinterland,
160 Millionen Jahre alt, gilt seither als geeigneter Standort. Vor 15 Jahren
hat die staatliche Agentur für Atommüllverwaltung ANDRA hier begonnen,
ein unterirdisches Forschungslabor einzurichten. Für Cigéo, so der Name
des geplanten industriellen atomaren Endlagers. Einhundert Jahre lang soll
der eingelagerte Atommüll rückholbar sein. Danach wird versiegelt – für
eine Million Jahre.
ATMO Schafe
Jean-Pierre Remmele lebt sieben Kilometer entfernt von dem atomaren
Projekt, in Bonnet, einem Nachbarort von Bure. 220 Einwohner zählt das
Dorf. Der wichtigste Arbeitgeber ist die Bäckerei mit ihren dreizehn
Angestellten; sie beliefert mit rollenden Verkaufsständen die Bewohner
dieser entlegenen Gegend. Remmele hat sein ganzes Leben in Bonnet
verbracht; als junger Mann übernahm er den Hof seiner Eltern und war
später als Lokalpolitiker aktiv.
Reportage 1
Der letzte Hof am Dorfrand von Bonnet ist das Zuhause von Jean-Pierre
Remmele. Ein stattlich wirkendes Anwesen aus dem 18. Jahrhundert: das
Haupthaus aus Stein, links eine Scheune, rechts weiträumige Stallungen.
Der asphaltierte Vorplatz ist fein säuberlich gekehrt. Remmeles Großeltern
haben das Anwesen 1947 gekauft, zwei Jahre später kam er hier zur Welt.
Nur während der Militärzeit hat der Landwirt seinen Geburtsort für kurze
Zeit verlassen.
Wie jeden Abend ist der kräftig gebaute Mann unterwegs zur Schafweide
schräg gegenüber, hinterm Karpfenteich. Sein Blick schweift über die
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hügelige Landschaft, die Stoppelfelder, den wogenden Mais; das feine
Lächeln spricht von Remmeles Stolz auf seine Heimat.
Ich habe ein glückliches Leben hier. Und das seit 65 Jahren. Aber dennoch:
wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte, würde ich nicht alles
wieder genauso machen.
Schafzüchter war Remmele und nebenher Getreidebauer. Heute sagt er:
hätte er es andersherum gemacht, mehr Anbau, weniger Zucht, dann wäre
sein Leben leichter gewesen. Doch auch in der Rente kann er sich nicht von
den Tieren trennen: die Zucht läge ihm einfach im Blut. Er zuckt kurz mit
den Schultern. So geht der 65-Jährige seiner Frau zur Hand, die den Hof
weiter betreibt.
Jean-Pierre Remmele öffnet routiniert das Gatter zur Schafweide. Die Tiere
stieben los, über die Landstraße Richtung Hof. Ihr Besitzer schaut ihnen
hinterher, seine blauen Augen blitzen schelmisch.
Wenn mein Großvater das jetzt sehen würde, wäre er unglücklich. Ein
Schafhirte, der geht seiner Herde voran, mit Hut und Hirtenstab. Der
zottelt nicht hinterher. Wir sind ja schließlich keine Schweinehändler.
Die Schafe weiden schon das Gras neben dem Stall ab, als Remmele
schnaufend ankommt. Zwei Herzoperationen hat er hinter sich. Trotzdem
zündet er sich nun eine Zigarette an und schaut mit stiller Freude auf die
Herde. Ein allabendliches Ritual. Ein Ruhepol in Remmeles Leben. Neben
dem arbeitsreichen Hofalltag hat der umtriebige Mann auch 19 Jahre als
Bürgermeister die Dorf-Geschicke gelenkt, hat viel getan, die lokalen
Heimatschätze wie die mittelalterliche Pilger-Kirche oder auch die drei
Waschhäuser zu erhalten. Und Jean-Pierre Remmele hat ebenso gegen die
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Ansiedlung des atomaren Endlagers Cigéo auf dem Gemeindegrund
gekämpft. Bei der letzten Kommunalwahl machte ein Konkurrent das
Rennen. An seinem Widerstand gegen Cigéo ändert das nichts.
Jean-Pierre Remmele hat die Schafe in den Stall getrieben und sein Auto,
ein schicker Mittelklassewagen, aus der Scheune geholt. Heute Abend
findet im Nachbardorf Bure eine Versammlung zum Atomendlager-Projekt
statt. Unterwegs auf der Landstraße weist er mit einer Hand durch die
Windschutzscheibe: links vorne, auf einem weiträumigen Plateau, hat die
staatliche Agentur für Atommüllverwaltung ANDRA ihren Stützpunkt für
die Endlagersuche eingerichtet. Aus der Ferne zu sehen sind mächtige
rechteckige Bauten. Darunter, in 500 Metern Tiefe, wurde vor zehn Jahren
ein Forschungslabor in Betrieb genommen. Rundum zieht sich ein mehrere
Meter hoher fester Drahtzaun. Sperrgebiet. Inmitten wogender,
weiträumiger Felder. Rechts neben der Landstraße ragen zwei Dutzend
Windräder in den blauen Himmel. Finanziert vom üppig bestückten
Strukturförderungsprogramm, das die Regierung gleichzeitig mit dem
atomaren Endlager-Projekt auflegte. Jean-Pierre Remmele verzieht seinen
Mund zu einem spöttischen Grinsen.
Die Windräder stehen schon – vielleicht, damit sie demnächst radioaktive
Gase verwirbeln.
Den Galgenhumor hat sich Remmele in den vergangenen zwanzig Jahren
angeeignet. Seit die ANDRA begann in der Region für das Atomendlager
zu werben. Er erinnert sich noch daran, wie er damals als blutjunger
Anfänger den Alltag als Bürgermeister gestaltete: Kontakte aufbauen,
Subventionen nachjagen. Da machte man ihm von der ANDRA viele
Hilfsversprechen. Leere Versprechen, sagt Remmele heute, sein Gesicht
versteinert sich, der Blick wird grimmig.
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Ich erzähle Ihnen mal ein Beispiel: beim Amtsantritt habe ich beschlossen,
am Dorfrand einen Spielplatz zu errichten. Als mal wieder ein Vertreter
der ANDRA im Rathaus vorbei kam, erzählte ich davon und er sagte, ich
solle ihm doch einen Subventionsantrag stellen. Meine Sekretärin war
dagegen sich mit der ANDRA zusammenzutun. Aber ich meinte: probieren
wir es doch einfach mal. Langer Rede kurzer Sinn: eineinhalb Jahre später
habe ich die Bauarbeiten anders finanzieren können, mein
Subventionsantrag war einfach versandet.
Bei einem Fest im Nachbarort lief mir der Sohn eines dortigen
Gemeinderatsmitglieds über den Weg. Ich lud ihn zur Spielplatz-
Einweihung einige Tage später ein. Und da rutschte ihm heraus: ach, das
Projekt, das die ANDRA finanziert hat! Sehen Sie, damals merkten die
Leute, dass ich angesichts des Verhaltens der ANDRA nach und nach zum
Gegner des Endlager-Projekts wurde. Und da setzte jemand das Gerücht in
Umlauf, wir hätten dennoch insgeheim unseren Neubau mit Geldern von
der ANDRA finanziert.
Jean-Pierre Remmele hat angehalten und ist einen Hügel hochgeklettert.
Mit ausgestrecktem Arm weist er im Halbkreis um sich: die geplante
unterirdische Endlagerstätte solle sich mal von hier bis dort ausdehnen.
Der Mittsechziger ereifert sich, wenn er die Aktionen auflistet, die er mit
anderen Cigéo-Gegnern organisierte. Sie veranstalteten Diskussionsabende
mit einem Forscher, der wissenschaftliche Studien im havarierten
japanischen Atomkraftwerk Fukushima durchführte. Mit ehemaligen
Soldaten, die bei den französischen Atomtests verstrahlt wurden. Und sie
zeigten atomkritische Dokumentarfilme. Remmeles Hände wedeln durch
die Luft, sein blasses Gesicht wird rot vor unterdrücktem Zorn.
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Zu den Veranstaltungen kamen jeweils 50 bis hundert Besucher. Vier
Fünftel von ihnen waren überzeugte Gegner. Viele hier wollen sich einfach
nicht äußern. Und, wissen Sie: die ANDRA, die steht ja für den Staat! Da
handelt es sich ja immerhin um Leute in Anzug und Krawatte, mit
Aktenkoffer unterm Arm.
Remmele kehrt der ANDRA-Anlage den Rücken zu und zündet sich erneut
eine Zigarette an. Vor Beginn der heutigen Versammlung genießt er noch in
vollen Zügen den Panorama-Blick über seine Heimat.
Musik Die Marne ist zwar nicht der längste Fluss Frankreichs, aber mit gut 500
Kilometern, ein stattlicher Nebenfluss der Seine. Immerhin drei
Départements, die sie durchfließt, tragen ihren Namen: Seine et Marne,
Marne und Haute-Marne am Oberlauf. In dieser Region ist das atomare
Endlager geplant. Der Journalist und Buchautor Jean-Paul Kauffmann war
vor zwei Jahren in dieser Region auf Entdeckungsreise. Sieben Wochen
lang ging er zu Fuß „Die Marne aufwärts“, wie auch sein preisgekrönter
Reisebericht betitelt ist. Dabei hat er das Alltagsleben beobachtet und
beschrieben. Eines Abends in einem Hotel in Joinville, 15 Kilometer von
Bure entfernt, kommt Jean-Paul Kauffmann mit einem jungen Mann ins
Gespräch.
Musik
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Lit 1 Ich glaubte zu verstehen, er sei „Experte“. Heutzutage ist jedermann
Experte oder Berater. Steuer-Experte, Immobilienberater? Jedenfalls: er
war erschüttert von dem, was er hier sah.
„Ich reise viel landauf, landab. Ich kann Ihnen sagen, dass es sich bei dem
hiesigen Département um das am wenigsten beachtete in ganz Frankreich
handelt.“
Ich bat ihn, präziser zu sein.
„Ja, es ist heil, unbeschädigt. Ach, das haben die Bewohner nicht
absichtlich gemacht. Man hat sie wirklich einfach fallenlassen. Es gibt
Ecken wie das Lozère oder das Cantal, die niemals im Überfluss
schwammen. Hier hingegen spürt man, dass es früher lebendig war, geldig.
Unglaublich, was hier alles ausgelöscht wurde. Welcher Friede! Die Leute,
die ein Wochenendhaus suchen, sind dumm. In der Haute-Marne müssten
sie auf die Suche gehen. Super Häuser. Alles wird verscherbelt.“
Musik
Die nationale Agentur für die Atommüllverwaltung ANDRA wurde 1973
beim staatlichen Kommissariat für Atomenergie gegründet. Seit 1991 ist
die Einrichtung unabhängig und untersteht den Ministerien für Forschung,
für Industrie und für die Umwelt. Ihr deutsches Pendant ist die DBE, die
deutsche Gesellschaft für den Bau und Betrieb von Endlagern für
Abfallstoffe. Die ANDRA betreibt in Frankreich bereits schon mehrere
Atomendlager – für Abfälle, die weder hoch strahlend sind, noch lange
Halbwertszeiten haben. Zu ihrem Auftrag gehört nicht nur die atomare
Entsorgung sondern gleichfalls auch, die Öffentlichkeit über ihre
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Aktivitäten zu informieren. In Sichtweite der unterirdischen
Forschungsanlage bei Bure hat die ANDRA vor einigen Jahren ein schickes
weiträumiges Besucherzentrum eröffnet, wo sie dem breiten Publikum
detailliert die Endlagertechnik präsentiert.
ATMO Martin
Dort im ersten Stock hat auch Marc-Antoine Martin sein Büro. Er ist einer
von vierhundert ANDRA-Mitarbeitern in Bure. Martin steht regelmäßig an
vorderster Front, denn er ist Pressesprecher des Unternehmens.
Reportage 2 Am Getränkestand in einer Foyer-Nische hat sich Marc-Antoine Martin
eine Tasse Kaffee eingeschenkt und ist damit vor die Tür getreten, wo im
Grünen schicke Holztische stehen. Kerzengerade sitzt er nun vor seinem
Kaffee. Der große schmale 40-Jährige im karierten Sommerhemd wirkt
unauffällig, doch sein Blick hinter der Hornbrille ist hellwach. Seit 2001 ist
der Lothringer im hiesigen ANDRA-Stützpunkt in der Abteilung für
Öffentlichkeitsarbeit tätig, verfasst Hochglanzbroschüren zum atomaren
Endlagerprojekt, betreut Journalisten. Sein Mund wird spitz, wie immer,
wenn er nachdenkt.
Ich habe an der Universität von Nancy Geologie studiert. An einem
Wochenende zuhause bei meinen Eltern las ich in der Zeitung vom Projekt
einer atomaren Müllkippe, die in unserem Département Meuse geplant sei.
Das war 1994. Natürlich habe ich mir da einige Fragen gestellt und gleich
bei meinen Professoren nachgehakt. Damals war die Erinnerung noch sehr
wach an einen Skandal: bei uns waren deutsche Krankenhaus-Abfälle
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einfach wild entsorgt worden. Und nun kündigte die ANDRA ihr
Atomendlager an. Uns schien, als wolle man unseren ländlichen Raum in
eine gigantische Müllkippe verwandeln, sei es für französische oder für
deutsche Abfälle. Über meine Professoren habe ich dann einen Platz in
einem Workshop der ANDRA ergattern können; ich wollte mir einen
besseren Einblick in deren Projekt verschaffen. Im Sommer 1996 habe ich
dann an einer Broschüre gearbeitet, die der Bevölkerung die geologischen
Eigenheiten unserer Region erklären sollte.
Marc-Antoine Martin trinkt einen Schluck Kaffee. Nach dem Studium hat
er als Ingenieur in einer Uranmine in Afrika gearbeitet. Wieder daheim,
sattelte er um auf Wissenschaftsjournalist. Auf Rat eines Bekannten bewarb
er sich erfolgreich bei der ANDRA. Was Martin am Endlagerprojekt
fasziniert, ist nicht nur die wissenschaftliche Seite, sondern auch die
Aufgabe, die Bevölkerung von der Sicherheit der Anlage zu überzeugen.
Der Pressesprecher reibt sich kurz das Kinn.
Zum Alltag für mich und meine Kollegen gehört es, Besuchergruppen zu
empfangen. Am Wochenende bieten wir kostenlose Besichtigungen für das
breite Publikum an.[Das ist uns sehr wichtig und die Besucher sollen alle
Fragen stellen können, die ihnen einfallen. Damit sie fundierte Antworten
erhalten, arbeiten in der Pressestelle nur Leute mit wissenschaftlicher
Ausbildung. Das Thema ist ziemlich kompliziert: es geht um tiefe
Erdschichten, um Radioaktivität, es geht um sehr lange Zeiträume. Und all
unsere Erklärungen müssen allgemeinverständlich aufbereitet sein.
Hinter der Glasfassade im Foyer steht ein Modellbau der geplanten
unterirdischen Entsorgungsanlage, in Wandnischen laufen stumm Videos zu
Stollen-Bau und Einlagertechnik. Eine Gruppe Japaner in dunklen Anzügen
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ist gerade auf Besuch: Politiker, darunter einige Minister, auf
Informationsreise durch die europäischen Endlagerprojekte. Solch
offiziellen Besuch, aus aller Herren Länder, empfängt die ANDRA
regelmäßig, sagt Marc-Antoine Martin. Er trägt die leere Kaffeetasse
zurück zum Stand und folgt den Japanern in den Veranstaltungssaal, wo sie
in die französische Endlagertechnik eingeführt werden. Alles läuft
problemlos, Martin kann unbesorgt zum Mittagessen gehen.
Die Kantine liegt im Erdgeschoss des Hotels, das die benachbarte
Gemeinde Bure im vergangenen Jahr erbauen ließ – mit Geldern aus dem
regionalen Strukturförderungsprogramm. Mittags sitzen hier die
Angestellten der ANDRA neben Essensgästen aus dem Umkreis. Martin
reiht sich in die lange Schlange an der Essensausgabe ein, grüßt Kopf
nickend einige Bekannte, checkt routiniert sein Handy auf Nachrichten und
scherzt mit der Bedienung, die ihm Tintenfischringe mit Gnocchi auf den
Teller hievt. Dann setzt er sich an einen Tisch am Fenster. Der Ausblick hat
etwas Monotones: endlose Felder, am Horizont dunkle Wälder, dazwischen
Windräder. Martin schaut gar nicht mehr richtig hin, so vertraut ist ihm die
Gegend. Mal wieder spitzt er seine Lippen.
Als ich bei der ANDRA anfing, haben meine schwangere Frau und ich uns
in einem kleinen Dorf fünf Kilometer entfernt von hier niedergelassen. Wir
sind herzlich aufgenommen worden und haben dort gute Freunde gefunden.
Vier Jahre haben wir da gelebt, aber meine Frau fand keine Arbeit und als
das zweite Kind da war, wurde der Alltag zu kompliziert - Arzt und
Apotheke waren weit weg, für die Kinder gab es keine Freizeitangebote. So
sind wir dann umgezogen, in eine Kleinstadt, 43 Kilometer entfernt von
hier. Dort gibt es eine Musikschule, Sportkurse, alle Schulen. Ich kenne die
Stadt gut, denn ich bin da aufgewachsen. Meine Eltern wohnen in der Nähe
und passen immer wieder auf unsere nunmehr drei Kinder auf.
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Etwas lustlos stochert der Vierzigjährige im zu trockenen Tintenfisch
herum. Dann aber fuchtelt er mit der Gabel durch die Luft und erzählt mit
viel Elan, dass er früher im Dorf im Gemeinderat saß, im dortigen
Theaterverein mitspielte. In der Kleinstadt, wo er nun lebt, war er gar
stellvertretender Bürgermeister. Martins Augen blitzen.
Eine ganze Reihe von Kollegen lebt in den Dörfern im Umkreis und viele
engagieren sich als Gemeinderäte. Soweit ich weiß, ist niemand im Ort von
den Leuten geschnitten worden, weil er bei der ANDRA arbeitet. Aber
immer wieder höre ich vonseiten meiner Kollegen dieselbe Klage. Sie
würden am Wochenende gerne mal über etwas anderes sprechen als über
ihren Job und das Endlagerprojekt. Doch regelmäßig werden ihnen
flachsige Fragen gestellt wie: ach, du bist sicher verstrahlt, nicht wahr?
Schimmerst du nachts grünlich? Oder auch: hat dich der Krebs schon
erwischt? Solche Provokationen hören wir häufig. Und dann wird jedes
Mal wild diskutiert. Anderen, Lehrern beispielsweise, geht es
wahrscheinlich auch so, dass sie immer wieder auf ihren Beruf
angesprochen werden. Dennoch: wir Angestellten der ANDRA gelten hier
überall als Vertreter unseres Unternehmens. Kollegen, die in größeren
Städte wohnen, haben dieses Problem nicht: sie gehen in der dortigen
Anonymität unter.
Mit einem kleinen Seufzer legt Marc-Antoine Martin die Gabel hin und
zieht fast unmerklich den Kopf zwischen die Schultern. Zu seinem Alltag
gehöre auch, sich keinen Fehler zu erlauben. Die Augen der ganzen Welt
seien auf das Endlagerprojekt in der lothringischen Pampa gerichtet, ist
sich der Pressesprecher sicher. Dann lacht er kurz auf und meint:
schlimmstenfalls setze er irgendwann Segel und erfülle sich seinen
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Jugendtraum von einer Weltreise.
Musik Für ANDRA, die nationale Agentur für die Entsorgung radioaktiver
Abfälle, ist das Cigéo-Projekt in Bure mit Abstand das wichtigste und
umfangreichste. Um es nicht zu gefährden hat die Regierung in Paris ein
umfangreiches Strukturförderungsprogramm für die Region aufgelegt.
Heute fließen jährlich rund 30 Millionen Euro in jedes der beiden
Départements Meuse und Haute-Marne. Und es gibt Versprechungen, dass
für die mehrjährige Bauphase der Endlager-Anlage bis zu 2.000
Arbeitsplätze geschaffen werden sollen. Cigéo-Gegner sprechen hingegen
von Gewissenskauf.
ATMO Foucault
Arnault Foucault ist seit 15 Jahren für die unterirdische Forschungsanlage
tätig, als Bauarbeiter bei Subunternehmen der ANDRA. Dort arbeitet er
Seite an Seite mit Wissenschaftlern und Spezialisten aus dem In – und
Ausland, die mit Spitzentechnologie zur Endlagertechnik forschen,
während er den Stollen-Ausbau vorantreibt. Zu Foucaults Arbeitsteam
zählen 6 Männer, zwei von ihnen stammen aus der Gegend, darunter er:
Foucault lebt am Ortsrand von Montreuil, fünf Autominuten entfernt. Im
Schichtdienst fährt er fünf Tage in der Woche ein, in den Bauch der Erde.
Reportage 3 Beim Lagerverwalter vor dem Schacht haben die Bauarbeiter ihre
Sicherheitsausrüstung abgeholt: eine Stahlschatulle, zwei Kilo schwer, an
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einem breiten Ledergürtel. Sie enthält Atemschutzmaske und Schutzbrille,
für den Brandfall. Nacheinander durchqueren die Männer nun das
Drehkreuz vor dem Aufzug. Vorbei an einer bunten Statue von Sankt
Barbara, der Schutzheiligen der Bergleute, fahren die Arbeiter in den
Schacht ein. Rund zehn Minuten werden sie unterwegs sein, um an ihren
Arbeitsplatz in 490 Meter Tiefe zu kommen.
Der stählerne Käfig ruckelt und lärmt, die Luft wird wärmer und stickiger.
Für Arnauld Foucault und seine Kollegen ist das reine Routine. Breitbeinig
steht der kleine drahtige 42-Jährige im Aufzug. 1999 ist er erstmals
eingefahren, hat seither mehrmals die Firma gewechselt, aber nicht die
Baustelle. Für das geplante Endlager interessiert er sich auch über seinen
Job hinaus. Arnauld Foucault verschränkt die Arme vor der Brust.
Ich saß früher im Gemeinderat und auch im CLIS, dem lokalen
Informationskomitee des Atomendlagers. Mit dem CLIS war ich schon in
Schweden, um das dortige Endlagerprojekt zu inspizieren. Eine schöne
Anlage. Zudem haben wir vom Informationskomitee schon alle
Atommüllstätten in Frankreich abgeklappert. Somit kenne ich mich hier
aus. Viele in der Gegend denken, hier würde schon Atommüll gelagert.
Dabei ist das nur ein Forschungslabor.
Der Aufzug ist angekommen in 490 Meter Tiefe, inmitten einer dicken
Tonstein-Schicht. Die Tür öffnet sich. Neonlampen beleuchten einen
röhrenförmigen hohen Gang und die Felswände, die mit Spritzbeton
überzogen sind. Unter der Decke laufen dicke Kabelstränge entlang.
Eineinhalb Kilometer Stollen wurden bislang in den Fels getrieben; vom
Hauptgang zweigen mehrere Galerien ab; dort erforschen die
Wissenschaftler die Felsschicht. Die Belüftungsanlage rauscht
ohrenbetäubend, es riecht nach Staub. Es wirkt beklemmend.
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Arnauld Foucault wird heute Geröll abfahren. Sein Berufsleben begann er
in der Chemie-Industrie. Als dort die Jobs wegbrachen, fand er Arbeit hier
beim Bau des unterirdischen Forschungslabors. Weltweit gilt die Anlage als
Vorzeigeprojekt. Arnault kramt sichtlich unbeeindruckt die Ohrstöpsel aus
seinem Blaumann.
Warum sollte ich stolz auf meinen Job sein? Es ist eine Arbeit wie jede
andere. Hauptsache, ich verdiene meinen Lebensunterhalt. Ich habe das
Glück, einen Job quasi vor der Haustür zu haben. Sollte die Baustelle
morgen dichtmachen, müsste ich halt woanders unterkommen. Da würde
mein Leben allerdings schwieriger werden, denn ich habe den Hof von
meiner Mutter übernommen und noch zehn Jahre Schulden abzustottern.
Ich hoffe, aufzusteigen und einen leichteren Job zu ergattern.
Der Bauarbeiter klemmt sich hinter das Lenkrad eines Mini-Baggers und
gibt Gas. Runde um Runde wird er in den kommenden acht Stunden
drehen, den Blick stur nach vorne gerichtet, Schweißperlen auf der Stirn.
Atmo Bauernhof
Arnault Foucault ist von der Arbeit zurück auf seinem Bauernhof. Nun
steht er im Kuhstall und schippt schwungvoll Mais in die Futtertröge, für
das Dutzend Holsteiner, dass er seit Frühjahr mästet. Der Hof mit seinen 90
Hektar Land ist seit mehreren Generationen im Familienbesitz. Vor langer
langer Zeit wurde hier parzellenweise Erz abgebaut, davon zeugen heute
noch zahllose tiefe Löcher im Erdreich. Das Hofanwesen wirkt eher
heruntergekommen, ein bescheidenes Wohnhaus, gegenüber
aneinandergereiht Stallungen und Scheune.
Arnault Foucault stemmt die hohe Schiebetür zur Scheune auf. Seit vier
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Monaten hat es nicht mehr geregnet, sagt er und zeigt auf die Landschaft
rings um seinen Hof. Der Ausblick ist atemberaubend: das Gehöft liegt auf
einem vierhundert Meter hohen Berg, zu dessen Füßen breiten sich bis zum
Horizont dichte Wälder aus.
Die Gegend hier rund um Bure, das ist alles tiefes Land. Die Dörfer haben
siebzig, hundert Einwohner. Deshalb wollte der Staat wohl das atomare
Endlager hier ansiedeln, der Ort ist weit weg von den Städten, abseits von
allem.
Die Bevölkerung hier ist überwiegend skeptisch. Schließlich geht es um
sehr hoch radioaktive Abfälle. Sie haben uns versichert, dass alles ganz
sicher ist und so... Die EU-Bestimmungen geben zwar vor, Atommüll
unterirdisch zu entsorgen. Und falls ein Fass undicht werden sollte, soll es
zurückgeholt und neu versiegelt werden. So heißt es jedenfalls offiziell. Ich
glaube eher, das bleibt dann im Stollen - auf ewig.
Der Landwirt starrt in die Ferne, die Lippen fest zusammengekniffen. Die
Menschen in den Dörfern seien verunsichert, sie wüssten nicht so recht,
was sie von dem Atomendlager-Projekt halten sollen. Was soll man schon
machen gegen eine staatliche Entscheidung, sagt er und kaut kurz an seiner
Unterlippe.
Dass die ANDRA hier seit zwanzig Jahren die atomare Endlagerung
erforscht, das hat unser Alltagsleben nicht verändert. Wenn der
Entsorgungsbetrieb aufmacht, muss sie halt das Ganze richtig verwalten.
Hoffen wir mal, dass dann nicht die Grundstückspreise fallen. Wer weiß, ob
Leute von auswärts dann noch hierher kommen, ob sie sich neben einem
Atommülllager niederlassen wollen. Wer weiß, ob die jetzige Bevölkerung
bleiben wird. Aber die, die an ihrem Boden hier hängen, die werden
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bleiben.
Vor einigen Jahren wollte die ANDRA Arnault Foucault seinen Besitz
abkaufen. Doch Foucault hat letztendlich abgelehnt: seine Heimat, das ist
der Hof seiner Ahnen. In luftiger Höhe, abgeschieden, inmitten wilder
Natur.
Musik Lit 2 Mein Begleiter wirkte überaus zufrieden. Mich erstaunte, dass er zu Fuß
unterwegs war. Besaß er kein Auto, um seinen schweren Küchen-
Krimskrams aus dem Billigladen heim zu kutschen?
„Ein Auto, wozu soll das gut sein?“
Wir kamen durch Vesaignes, wo ein Lieferwagen neben der Kirche parkte,
von einigen Frauen umringt.
„Die Alten haben auch kein Auto, um in den Supermarkt zu fahren.
Glücklicherweise gibt es den fliegenden Tante-Emma-Laden“.
Er beschrieb mir, wie die Dörfer sterben:
„Erst macht der Fleischer zu oder genauer gesagt, der Wurstladen. Die
Wurstverkäufer sind immer traurige Naturen, sie wissen, es trifft sie zuerst.
Danach kommt die Bäckerei dran. Der Friseurladen hält durch. Das letzte,
was dichtmacht, ist das Bistro.“
Die Haute-Marne, Zukunftsperspektive für Frankreich! Gemeinden, ihrer
Substanz entleert, in denen einige Rentner überleben? Ich habe hier auch
eine segensreiche Stärke gespürt, Widerspenstige, Unbeugsame getroffen,
die ihr Leben im Abseits auszukosten verstehen. Wie mein Begleiter, der im
Wald lebt.
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Im vergangenen Jahr hatten die Franzosen die Gelegenheit ihre Meinung zu
Cigéo, der geplanten industriellen Endlagerstätte, kund- zutun. 14
öffentliche Diskussionsveranstaltungen waren ursprünglich anberaumt.
Doch nach Störaktionen militanter Gegner wurde die Debatte ins Internet
verlegt. Obgleich manches Dörfchen rund um Bure gar nicht über einen
Internetzugang verfügt. Nicht zum ersten Mal fühlte sich die regionale
Bevölkerung veräppelt: eine Petition gegen Cigéo, die 1995 über 50.000
Unterschriften sammelte, blieb damals ebenfalls ohne Resonanz und
Folgen.
Atmo Laura
Nicht aufgeben wollen hingegen die Mitstreiter im ‚Maison de résistance a
la poubelle nucléaire` dem so genannten ‚Haus des Widerstands gegen die
atomare Mülltonne`. In dem ehemaligen alten Bauerhaus versammelt sich
die französische Anti-AKW-Bewegung. Auch zehn Jahre nach Erwerb des
Grundstücks ist das
Anwesen noch immer eine Baustelle. Ein Stammgast im Nest der
Widerständler ist Laura Hameaux.
Reportage 4 Vorabendstimmung im 'Haus des Widerstands gegen die atomare
Mülltonne'. Wer durch die Eingangstür tritt, landet gleich in der Küche.
Inmitten des Charmes vergangener Hippie-Wohngemeinschaften: In der
Raummitte ein langer Holztisch, abgewetzte Holzbänke, am Fenster, ein
altertümliches Spülbecken, ein betagter Gasherd, rundum stapeln sich
Krimskrams und Infobroschüren. Die Wände zieren Anti-AKW-Plakate.
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Mitten drin sitzt Laura Hameaux vor zwei Bergen geschälter Kartoffeln.
Laura trägt eine bunte Tunika mit Waden-langer Hose, die Haare sind zum
Dutt getürmt, der schräge Pony unterstreicht den kecken Pfiff der 28-
Jährigen. Konzentriert schneidet sie die Kartoffeln in Scheiben und blickt
erfreut auf, als Aymeric Bonetti sich zu ihr gesellt. Der hochaufgeschossene
32-Jährige krempelt die Ärmel seines Sweatshirts hoch und greift sich ein
Messer. Beide gehören zum Trägerverein des Hauses, der hier seit zehn
Jahren die Anlaufstelle für die Anti-AKW-Bewegung betreibt. Laura war
2010 erstmals in Bure.
Ich komme ziemlich regelmäßig hierher. Sei es zu den Treffen des
Trägervereins, sei es zu den Veranstaltungen, die im Haus immer wieder
stattfinden, um neue Widerstandsprojekte auszutüfteln. Zurzeit tagt eine
Gruppe im Hinterraum. So oft wie möglich bin ich für eine gute Woche
hier, um von der Stimmung, den Leuten hier im Haus zu profitieren. Zu
unserer täglichen Arbeit gehört auch, gemeinsam Kartoffeln zu schälen,
wie jetzt gerade. (Lachen)
Egal, was anliegt – hier packt jeder mit an. Und dabei wird geredet,
diskutiert. Der permanente Austausch, der macht das Leben hier im Haus
so reich.
Ein junger Mann flitzt durch die Küche - er sucht seine Autoschlüssel.
Ach, wir hätten fast vergessen, dass wir Besuch abholen müssen, am
Bahnhof, eine halbe Stunde Fahrt von hier. In 20 Minuten kommt der Zug
an, au weia.
Wir bekommen immer wieder Besuch von Leuten aus aller Herren Länder.
Sogar Aborigines aus Australien waren schon hier. Es ist schon des Öfteren
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passiert, dass hier plötzlich ein Tramper vor der Tür stand, der in den
Medien, von Freunden oder im Internet von uns gehört hat und nun einfach
mal vorbeischauen will. Für alle, die der Atomkraft kritisch
gegenüberstehen, ist unser Haus ein symbolträchtiger Ort.
Die erste Schüssel mit Kartoffelscheiben ist voll. Behutsam kippt Laura
den Inhalt in einen hohen Topf auf dem Herd. Dann nimmt sie das
Küchenmesser wieder auf – und hält mitten in der Bewegung inne. Die
junge Frau runzelt die Stirn, den Blick nach innen gekehrt.
Da fällt mir gerade auf, was für ein ….Widerspruch? Ja, es ist ein
Widerspruch, der im hiesigen Alltagsleben steckt. Du weißt es ja selbst: es
ist jedes Mal super, herzukommen. Und deshalb sind wir alle auch bereit,
uns voll für unsere Ziele einzusetzen. Wenn ich hier bin, fühle ich mich
einfach glücklich. Und gleichzeitig ist die Situation paradox. Denn wir sind
schließlich hier, um gegen ein Projekt zu kämpfen, das ganz einfach
schrecklich ist.
Der Topf quillt über. Laura eilt zum Herd, um Wasser abzugießen. Dann
streicht die junge Frau mit dem Handrücken den Pony aus der Stirn, als
wolle sie dunkle Schatten vertreiben.
Wir sind hier in einer Gegend, die heute noch bewohnbar ist. Aber man
muss sich eines klarmachen: sollte das atomare Endlager eines Tages
gebaut werden, mit all den Bauten an der Oberfläche, die dazu gehören,
dann bedeutet das quasi unmittelbar das Aus für die vier Dörfer im Umfeld.
Irgendwann später dann wird radioaktive Strahlung auftreten, da bin ich
mir sicher. Schließlich sollen hier mal die gefährlichsten Atomabfälle
entsorgt werden. Hier zu leben bedeutet also auch, sich vorzustellen, dass
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eines Tages hier keiner mehr leben können wird.
Gegen trübe Gedanken hilft Bewegung. Barfuß macht Laura einen
Streifzug durch das Haus. Sie tänzelt die drei Stufen von der Küche zur
Scheune herunter, vorbei an einem Mitstreiter, der ausländischen
Besuchern gerade das selbst gebaute Windrad hinten im Gemüsegarten
erklärt. Rechts hinten in der Scheune stapelt sich Brennholz bis zur Decke,
der linke Bereich ist seit Jahren Baustelle: hier entstehen Öko-
Sanitäranlagen für die Besucher. Daran grenzt ein neu gekachelter Raum,
der Veranstaltungssaal: hier tüten gerade drei Männer das Vereins-
Infoblatt für den Versand ein. Laura macht einen Abstecher zum Schlafsaal
im Obergeschoss, ein Matratzenlager. Auf dem Rückweg verharrt sie im
Zwischengeschoss, am Fenster. Aus hiesigem Findelstein ist es gemacht,
von einem Steinmetz bei einer ehrenamtlichen Renovierungs-Aktion, sagt
sie stolz. Ein Schmuckstück, aber bislang noch Scheibenlos. –
Von der Dorfstraße weht eine kühle Brise herein, Regenwolken ziehen auf.
Es riecht nach Stall, ein bisschen modrig. Gedankenverloren schaut Laura
auf das stille Dorf, als Aymeric heran schlendert.
Anfangs haben die Leute im Dorf es keineswegs begrüßt, dass wir uns hier
ansiedeln. Ökofreaks, Linke, die von auswärts kommen. Sie stellten sich
viele Fragen, was hier im Haus wohl so vor sich geht. Aber nach und nach
haben wir gute Beziehungen zu den Leuten aufbauen können. Auf dem Hof
da gegenüber holen wir nun regelmäßig unsere Milch. Mittlerweile sind
wir auch mit dem Nachbarn nebenan warmgeworden. Letztes Jahr ist er
sogar erstmals bei unserem Widerstandsfestival aufgetaucht. Aber nicht mit
allen Teilen der Bevölkerung in dieser Gegend haben wir Kontakt.
Ayermic wirft einen misstrauischen Blick hinaus. Aber nein, heute ist kein
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Polizeifahrzeug zu sehen. Bei größeren Veranstaltungen im 'Haus des
Widerstands' sei das Dorf häufig von Sicherheitskräften umringt, sagt er.
Laura zuckt beiläufig mit den Schultern: in Frankreich sei die Atomkraft
Staatsangelegenheit. Und wer gegen Atomkraft demonstriere, greife damit
halt den Staat an. Ayermic grinst.
Wir haben schon Polizeibeamte morgens um 4 Uhr dabei ertappt, wie sie
im Schein einer Taschenlampe die Kennzeichen unserer Autos notiert
haben. Es war zum Totlachen. Wir sind dann zu ihnen gegangen. Dann
haben sie schnell ihre Autofenster hochgekurbelt und sich aus dem Staub
gemacht.
Ertappt wie Kinder beim Marmelade-Naschen. (Lachen)
Von der Küche steigt der Duft der Kartoffeln herauf und erinnert die beiden
daran, dass das Kartoffelgratin noch zubereitet werden muss. In einer
halben Stunde wird am Küchentisch kein freier Platz mehr sein, werden
alle wieder die halbe Nacht über über neue Widerstandsaktionen
diskutieren.
Musik Lit 3 Dieser Teil der Haute-Marne, der Oberlauf des Flusses, ist für mich einer
der schönsten Landstriche Frankreichs. Hier ist die Marne träumerisch, ein
verlassenes großes Land, ein unverletztes Königreich von unerhörter
Reinheit. Die Tatsache, dass sie in unserem gesamten Land unentdeckt
bleibt, wo doch jede andere Region, jedes andere Département darum ringt,
sich als Schönstes, Interessantestes, Überraschendstes, Liebenswürdigstes
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darzustellen, bleibt mir ein Rätsel. Der Charme dieser südlichen
Champagne wurzelt in der Diskretion, einer Qualität des Schweigens, das
aus sich selbst heraus jeden Kommentar ausschließt. Zu oft als Verbannte
des Landesinneren beschrieben, ziehen die Anwohner daraus ihren Nutzen.
Da man sie vergessen hat, kosten sie unter sich den Frieden ihrer Wälder
und Seen aus.
Musik Noch hat der industrielle atomare Entsorgungsbetrieb in Lothringen weder
Bau- noch Betriebsgenehmigung. Es sind noch einige administrative
Hürden zu nehmen. Reine Formalien für die Befürworter. Doch die
einheimische Atomlobby hat in den letzten Jahren einige Schlappen
einstecken müssen. Der GAU im japanischen Kernkraftwerk Fukushima
erschütterte auch Frankreich. Damals gab die Atomaufsichtsbehörde ASN
in Paris erstmals zu, dass ein schwerer Unfall auch hierzulande nicht
gänzlich ausgeschlossen werden kann. Bei seinem Amtsantritt im Mai 2012
versprach der sozialistische Staatspräsident François Hollande, den Anteil
des Atoms an der Stromproduktion von derzeit knapp 80 Prozent auf 50 zu
senken. Seither mehren sich kritische Studien zu den wahren Kosten des
Atomstroms. Doch all das ändert nichts an der Notwendigkeit, den hoch
strahlenden Atommüll entsorgen zu müssen.
ATMO Galotte
Die Lösung des Endlager-Problems könne der Atomlobby als Argument
dienen, die Atomstromproduktion wie gehabt weiterzufahren, fürchten
manche Gegner. Das sagen auch Claire und Dominique Galotte. Das
Rentner-Ehepaar lebt unweit der geplanten Anlage, in Bonnet.
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Reportage 5
Von außen erscheint das Haus von Claire und Dominique Galotte grau und
wenig anheimelnd. Die Küche hingegen, pikobello aufgeräumt, eine
moderne Einbauzeile aus hellem Holz, eine Sitzecke in der Mitte, wirkt
überaus gemütlich. Claire Galotte ist gerade beim Kuchenbacken.
Energisch greift die kleine rundliche Frau in eine Plastiktüte mit
Gefrierobst und schlichtet Stück für Stück auf den Kuchenboden. Ihr Mann
assistiert ein bisschen ungelenk. Das Gold Lothringens, Mirabellen, sagt
Dominique Galotte und lächelt genießerisch. Das Gold der Heimat. Die
Familie Galotte hat lange Jahre in Nancy gelebt, 72 Kilometer entfernt:
Claire leitete eine Grundschule, Dominique bildete Lastwagenfahrer aus.
Bonnet kennt Claire von Kindesbeinen an: alle Ferien verbrachte sie im
Dorf, bei den Großeltern. Sie wirft ihrem Mann einen amüsierten Blick zu.
Frau
Als ich meinen Mann kennenlernte und ihn nach Bonnet mitnahm,
entdeckte er hier seine Leidenschaft für die Jagd. Und so fühlte er sich im
Dorf sehr wohl.
MANN
Vor meiner Ehe hatte ich keine Laster. Das hat sich seither geändert.
FRAU
Siehst Du mal!
Als unsere Kinder noch klein waren, verbrachten wir unsere Ferien bei
meinen Großeltern. Und irgendwann wollten wir eigene vier Wände haben.
Wir fanden dann das Haus hier, damals war es eine Ruine.
Das war vor 27 Jahren. Der damalige Bürgermeister stand beim Hauskauf
Pate – er hatte seine Schwester, die Hausbesitzerin, zum Verkauf überredet,
um das Anwesen vor dem Verfall zu retten, um neues Leben ins Dorf zu
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bringen. Anfangs nutzte die Familie das Haus nur an Wochenenden und in
den Ferien. Als das letzte der vier Kinder flügge war, zogen die Eltern dann
hierher. Claire Galotte wischt sich Teig von den Fingern, ihr Gesicht
leuchtet auf.
FRAU
Die vielen Kontakte im Dorf – die haben wir unseren Renovierungsarbeiten
damals zu verdanken. Weißt Du noch, wie Jacques mit seinem Traktor das
Heu aus der Scheune abgefahren hat?
MANN
Damals half hier jeder jedem. Und die Stimmung im Dorf war super. Das
ist heute nicht mehr der Fall. Nun ist das Dorf in zwei Lager gespalten. In
das der Befürworter des atomaren Endlagerprojekts und in das der
Gegner, wie wir.
FRAU
Ach, ich denke, wenn wir heute erneut um Hilfe bei irgendwelchen Arbeiten
bitten würden, dann würde man uns auch helfen.
MANN
Ja, sicher. Aber dies ist nicht mehr so selbstverständlich wie früher.
FRAU
Wahrscheinlich liegt es nicht nur am Endlagerprojekt, dass es mit der
Nachbarschaftshilfe nicht mehr so klappt wie früher. Die Zeit ist eine
andere heute. Die jungen Leute sind weniger solidarisch als die Älteren.
Flink hat Claire Galotte die Arbeitsfläche abgewischt und den Backofen
angestellt. Zeit, zu den Tieren zu schauen. Durch das großräumige und
geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer, die frühere Scheune, geht es in
den Garten. Rechts hinten, gegenüber dem Gemüsebeet, ist ein Stück Land
von einem 20 Zentimeter Meter hohen Holzrahmen eingegrenzt. Darin
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wachsen Senfpflanzen, Stiefmütterchen und Sonnenblumen. Die
Schnecken-Farm. Hunderte von Tierchen leben hier, aber erst nachts
kriechen sie unter den Blättern hervor, zum Fressen. Neben den Pflanzen
im Gehege bekommen sie eine Mischung aus Maismehl und Kalk serviert.
Eine Sprenkler-Anlage sorgt für die nötige Feuchte. Nach einem halben
Jahr Wachstum, beim ersten Frost, sind die Tiere schlachtreif. Dominique
Galotte fischt eine Schnecke zwischen den Blättern heraus und betrachtet
sie genüsslich.
MANN - Das ist eine so genannte große Graue. Die Tiere sind so groß wie die
Burgunder-Schnecken, aber ihr Fleisch ist viel zarter.
FRAU
Das wird Ihnen nicht allzu viel sagen, ob das Fleisch nun zarter oder
kerniger ist.
MANN
Wenn Sie keine Schnecken essen, können Sie das ja nicht wissen. (Lachen)
SPR 1/FRAU
Wir haben sehr viele Schnecken-Rezepte.
MANN
Das bekannteste ist natürlich das mit Knoblauch-Butter und Petersilie.
FRAU
Wir bereiten sie auch mit Tomaten zu, mit Morcheln, mit Sahne oder mit
Gänsefett.
MANN
Schnecken – das ist eine Luxus-Speise. Genau wie Austern oder
Gänseleberpastete. Unser Hauptgeschäft läuft zum Jahresende, zu
Weihnachten und Neujahr, wenn man sich das Essen etwas kosten lässt.
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Behutsam setzt Dominique Galotte die Schnecke wieder in das Gehege und
dreht die Sprenkler-Anlage auf. Nachdenklich schaut das Rentnerpaar auf
seine Schnecken-Farm. Vor zehn Jahren waren die beiden die einzigen
Züchter in der Region, mittlerweile sind auch andere in das Geschäft
eingestiegen. Sie selbst allerdings werden die Zucht demnächst an einen
jungen Bekannten abgeben, um endlich wirklich ihre Rente zu genießen, zu
reisen, ins Jura, nach Südfrankreich, zu den Kindern. Eigentlich würden die
Galottes am liebsten wegziehen, gesteht Claire und reibt sich den
Nasenflügel.
FRAU
Vor zehn Jahren stand kein einziges Haus in Bonnet zum Verkauf. Heute
ist die Auswahl groß. Wir werden unser Haus nie mehr losbekommen.
Leider ist das unser einziger Besitz. Eine Tochter lebt im Süden, da würden
wir uns gerne niederlassen, aber wir können es nicht. Nun, an der
allgemeinen Lage ist nicht nur das Endlagerprojekt schuld.
MANN
Es gibt kaum noch Arbeit in der Gegend. Die Industrie ist weg, es fehlt an
Jobs.
FRAU
Schuld ist auch die Politik: Denn seit die entschieden hat, dass hier die
ANDRA ihr Endlager bauen wird, braucht die Gegend wirtschaftlich nichts
anderes, denken Die. Das stimmt aber nicht.
AUT
Claires Blick schweift in die Ferne. Sollte das atomare Endlager gebaut
werden, sinniert die dynamische Mit-Sechzigerin, seien sie in Bonnet die
ersten Opfer. Alleine schon wegen dem Zuliefererverkehr, der vor ihrer
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Haustür vorbeirauschen wird. Dominique Galotte nickt zustimmend mit
dem Kopf
MANN
Sollen sie den Atommüll doch in der Correze verbuddeln, der Heimat von
Staatspräsident Hollande!
FRAU
Auch wenn wir so denken – Extremisten sind wir keine. Wir werden wegen
unseren Überzeugungen keinen Unfrieden stiften. Wir wollen uns weiterhin
mit allen gut verstehen.
MANN
Jedenfalls versuchen wir das.
Claire Galotte eilt in die Küche zurück – der Mirabellen-Kuchen! Den will
sie heute Abend zu einem Fest in der Nachbarschaft mitbringen. Eines der
wenigen, das in Bonnet noch stattfindet.
Musik Sie hörten Gesichter Europas: Frankreichs atomares Credo – Der Streit um das geplante Endlager in Lothringen Eine Sendung mit Reportagen von Suzanne Krause. Musik und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Michael Morawietz und Jutta Stein. Die Literaturauszüge aus Jean-Paul Kauffmanns Reisebericht: Remonter la Marne, erschienen in der Librairie Arthème Fayard/ Paris/ 2013, las Hendrik Stickan. Redakteur am Mikrofon war Norbert Weber.
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