211-131 · wenn man der home- page eines ... namen wie chet baker und michel petrucciani...

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^riir^ünfirr drilling LEBENSART 211-131Samstag/Sonntag,1 1 ./ 1 2. September

1 999 Nr. 2 1 1 131

Synonym filr Chilbi und Kindheit: rosarote Zuckerwatte. (Bild key)

Wer sich die Finger leckt, ist selber schuldZuckerwatte - besser nicht mit den Fingern anschauen

Sie ist süss und klebrig, verschmiert Mund undHände, und mancher Erwachsene hat seine letztevor Jahrzehnten gegessen. An die erste Zucker-watte erinnert man sich aber noch ganz genau. Anden Stolz, den man hatte, das menschenkopfgros-se, luftige Gebilde vor sich herzutragen, immerdarauf bedacht, sie nirgendwo anzustossen, damitkein Zentimeter der Herrlichkeit verlorenging.

Am besten weiss man aber noch, wie es sich an-fühlte, kleine Wattebäuschchen wegzuzupfen oderdirekt in die rosa Pracht hineinzubeissen: Kaumhatte man sie im Mund, war das ganze Volumendahin. Es gab nicht mehr viel zu kauen, esknirschte etwas zwischen den Zähnen, aber esschmeckte trotzdem wunderbar. Am Schlussknabberte man selig die schon dunkelrosa ver-färbten, hart gewordenen Reste vom Stengel.

In unserer Kultur ist Zuckerwatte zu einemSynonym für Chilbi und Kindheitserinnerungengeworden. Kaum eine Jahrmarktberichterstattung

kommt aus ohne die Erwähnung der Zuckerwatte,die meistens in Kombination mit gebrannten

Mandeln genannt wird und auch oft als Kontrastzur Bratwurst herhalten muss. Mit Zuckerwattewerden gelegentlich allzu süsse Parfums vergli-chen, im weiteren steht sie für Kitsch und Über-treibung, beispielsweise in Film- oder Konzert-kritiken.

Die Australier assoziieren etwas ganz anderesmit Zuckerwatte, nämlich den Winter: Sie setzendie Zuckerwatte mit Vorliebe als künstlichenSchnee ein, um ihre Weihnachtsdekorationen bei40 Grad Celsius im Schatten etwas stimmungs-

voller zu gestalten. Der englische AusdruckCotton Candy verweist auf die baumwollartigeKonsistenz, die Italiener reden von Zuccherofilato (gesponnenem Zucker) und die Franzosenvon Barbe ä papa (Papas Bart). Als aus Zuckerbestehende Süssigkeit von der Form einer Artfeinen Gespinstes, das wie Watte aussieht, be-schreibt die Brockhaus-Enzyklopädie den Kin-dertraum. Das «Schweizer Illustrierte Handbuchder Konditorei» aus dem Jahr 1963 spricht in derFachsprache von gesponnenem Zucker underklärt, dass dieser als Füllstoff in Zucker-körbchen oder zur Dekoration von Eisplatten unddergleichen verwendet wird. Zuckerwatte istweder industriell herstellbar noch lagerfähig,

deshalb kann man sie auch nicht beim Grossver-teiler kaufen.

Jedes Kind kann zuschauen, wie seine ganzpersönliche Zuckerwatte von Hand hergestellt

wird. Dabei rätselt wohl das eine oder andere, wiedie geheimnisvollen hauchdünnen Fäden entste-hen. Scheinbar von Zauberhand bildet sich einfeines Wattegespinst um den Innenrand derTrommel, nachdem der Zuckerwattenmann einKrüglein Zucker in die Zentrifuge geschüttet hat.Das Herzstück der Zuckerwattenmaschine ist eineWeine Zentrifuge, die sich mit zirka 7000 Tourenpro Minute dreht. Ein Blech, das den äusserenRand des Zylinders bildet, ist mit haarfeinenLöchern versehen und wird elektrisch bis auf fast200 Grad Celsius erhitzt. Die eingefüllten Zucker-körner drückt es durch die Zentrifugalkraft gegendas Blech. Der durch die Hitze verflüssigte Zuk-ker wird in Form von hauchdünnen Fäden durchdie winzigen Löcher nach aussen geschleudert,

wo er sich gleich einem feinen Spinnennetz anden Wänden festsetzt. Dort blieben die Zuckerfä-den hängen und füllten mit der Zeit die ganzeTrommel, würde man sie nicht zusammendrehen.

Theo Suremann, einer der wenigen Marktfah-renden in der Schweiz, der ausschliesslich Zucker-

watte verkauft, erklärt, wie eine fachgerechte

Zuckerwatte gedreht und gewickelt wird. Es seiwichtig, den Arm in Gegenrichtung zur Zentrifugeüber der Maschine kreisen zu lassen. Die kleineFingerdrehung, welche die Watte auf den Stengelwickelt, erfolgt wieder in der Gegenrichtung dazu.Man müsse achtgeben, den Holzstengel nicht zuhoch, nicht zu tief und möglichst nicht an denRotor zu halten, weil sonst die schon aufgedrehte

Watte durch die Hitze verhärtet. Das federleichteProdukt leidet auch unter feuchter Witterung,

dann wird die Zuckerwatte schwerer, und es fälltmehr Zuckerabfall an, den man von Zeit zu Zeitvom Rand kratzen muss.

Wann die Zuckerwatte erfunden wurde, istschwierig zu ergründen. Wenn man der Home-page eines Zuckerwattenherstellers aus Atlantaglauben darf, wurde die Zuckerwatte von einemZahnarzt erfunden und auf einer Weltausstellung

im Jahre 1830 dem amerikanischen Publikumvorgestellt. Andere Quellen berichten, dass sieerstmals im letzten Jahrhundert in Italien auf-tauchte. Der heute 77jährige Theo Suremann er-innert sich, dass er als Fünfjähriger schon Zucker-watte gegessen hatte, die er allerdings nicht ge-

niessen konnte, weil sie vom Geschmack des

Petrols durchtränkt war, mit dem die Zentrifugedamals angetrieben wurde.

Die Zuckerwatte, die alljährlich an SchweizerJahrmärkten und Festen verkauft wird, bestehtaus nichts anderem als gewöhnlichem Frauen-felder Griesszucker mit ein wenig Lebensmittel-farbe. Die rosa Farbe schmeckt weder nach Him-beeren noch nach Kaugummi, wie man anneh-men könnte. Die klassische Zuckerwatte, die hier-zulande erhältlich ist, schmeckt einfach nach Zuk-ker, der jedoch süsser scheint als die unpräparier-ten Zuckerkörner, weil er gebrannt wird. In denUSA hingegen werden die Kindergaumen mit Ge-schmacksrichtungen wie Apfel, Kirschen, Melo-nen oder Trauben verwöhnt. Suremann, der seit49 Jahren von Chilbi zu Chilbi zieht und auchviele Erwachsene (im speziellen Männer) zu sei-nen Kunden zählt, hat vor Jahren einmal mitMentholgeschmack in der Zuckerwatte experi-mentiert. Diese fand jedoch keinen grossen An-klang. Die Leute in unseren Breitengraden liebendie Zuckerwatte eben so, wie sie sie kennen: rosa,süss und klebrig. Ein Vorurteil widerlegt TheoSuremann jedoch. Eine Zuckerwatte an sich seinicht klebrig, die Hände würden erst dann zu kle-ben beginnen, wenn man sich die Finger ablecke.

Susanne Wagner

Gesten des Alltags

Hupen und klingelneh. Ist einem Autofahrer unbehaglich zumute

oder passiert etwas vor seinen Augen, das ihn auf-regt oder sogar ärgert, so hupt er. In New YorkCity wird dieser Geste oft gewählt, um im rau-schenden Verkehr die eigenen Interessen durch-zusetzen. Würde man an einem Vormittag auf denHauptachsen der Stadt alle hervorgebrachtenHupsignale auf Tonband aufzeichnen, danneinem leistungsstarken Rechner eingeben und an-einandergereiht wieder neu abspielen, ergäbe diesein wahnwitzig langes New Yorker Hupkonzert.

In Zürich, Genf, Basel, St. Gallen oder Churwird nicht so viel gehupt. N ur wenn an einerKreuzung der Vordermann nach fünf Sekundennicht bemerkt hat, dass die Ampel längst von Rotvia Gelb auf Grün gewechselt hat, drückt mankurz auf die Hupe. Man vollführt diesen Gestemit Bedacht. Selten wird massiv und langegehupt. Variation in europäischen Grossstädtenwie München, Paris oder Mailand: Die Auto-mobilisten betätigen in diesem Moment zusätz-lich die sogenannte Lichthupe.

Bemerkt handkehrum ein entgegenkommenderFahrzeughalter die Lichthupe des anderen, kannihn dies verwirren. Jetzt steht nämlich die Frage

im Raum: Wartet etwa irgendwo die Polizei aufmögliche Verkehrssünder, wovor mich der anderewarnen will . . .? Das Aufblendlicht kommt über-dies gern zur Anwendung, um einem im Kosmosder Ereignisse aufgetauchten Spaziergänger zubedeuten, dass er jetzt in Ruhe die Strasse über-queren kann, auch dort, wo kein Zebrastreifenseine Schritte lenkt. Der Passant dankt dem ver-ständigen PW-Fahrer.

Apropos Lichthupe: Eine Unverschämtheitliegt vor, wenn auf Autobahnen der Hintermannnicht nur dicht auffährt, sondern auch noch inschneller Abfolge die Lichthupe betätigt. DieseArt der Kommunikation hat leider überall inEuropa Eingang gefunden. Einen drängelnden

Raser im Rücken möchte man gern disziplinieren.Aber das ist schwierig, fährt man selbst dochimmerhin hundert Kilometer pro Stunde. Wastun? Eine Vollbremsung als Reaktion wäre jetztder falsche Geste - aber man phantasiert es dochoft. Soll man ausnahmsweise den Vogel zeigen, inder Annahme, der Hintermann sieht's?

Derartige Auswüchse von Erregung und Wutkennt ein Tramchauffeur in Zürich, Basel, Bernnicht. Aber auch er sucht sich natürlich in schwie-rigen Momenten zur Wehr zu setzen. Vorab stehtdieser Berufsgruppe das Betätigen der Klingel zurVerfügung. Der Grad seines Protestes ist daranabzulesen, wie lange dieser Ton anhält. Bei einerZeitdauer von mehr als fünf Sekunden darf einschweres Vergehen anderer Verkehrsteilnehmervermutet werden. Etwa jenes leider häufige Ver-gehen von Passanten, unmittelbar vor dem ein-fahrenden Tram die Schienen zu queren.

Eine sehr spezielle Klingel ist die Wohnungs-

und Haustürklingel. Sie dient dazu, einen Besuchanzukündigen. Da begehrt ein anderer Einlass,möchte etwa zum Geburtstag einen Blumen-strauss überreichen, den Briefkastenschlüssel we-gen Abwesenheit deponieren oder vor Umbau derKüche einen Augenschein nehmen vom Verlaufdiverser Rohre. In aller Regel hat sich dieser Be-such v o r ab angekündigt. Nun muss festgehaltenwerden, dass diese Klingel von den Wohnungs-

mietern oder Hausbewohnern bei unangemelde-

tem Besuch oft als Warnsignal verstanden wird.Sie schrecken zusammen und fragen sich: Werläutet da an meiner Tür? Wer mag es sein, derEinlass begehrt? Normalerweise wird ja nicht ein-fach spontan geläutet. Dass da jemand klingelt,um zu schauen, wie es denn heute bei Regen oderstarker Hitze so geht, erwartet schon praktisch

niemand. So aber verkommt langsam auch diegute alte Wohnungs- und Haustürklingel zueinem - wie schon beim Tramchauffeur - Alarm-knopf

Kellergeflüster

Weine, die swingenDie Entdeckungsreise zu den Gewächsen der

Domaine de la Comtesse Eidegarde begann ganzzufällig an der Tafel des phänomenalen Restau-rants Chäteauvieux in Satigny. Nachdem er unsden Rouget poole sur chanterelles serviert h a t teund wir auf die Caille dodue au four warteten,orderte Sommelier Thierry Jeantet bei seinem be-freundeten Winzer Nicolas Bonnet telefonischden 97er Cabernet franc - ein Fassmuster. Wasder quirlige Jurassier vom Boten in Empfang

nahm und ins Glas schenkte, verblüffte die Tisch-runde: dunkelfarbig wie Tinte, würzig wie Tabakund fruchtig wie reife, sonnenwarme Brom-beeren. Über die Zunge rollte eine gewaltige Ge-schmacksfülle, konzentriert und doch vollerFinessen. Am nächsten Tag schon versuchten wir,dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Wer Nicolas Bonnet im Innenhof der Domainede la Comtesse Eidegarde begegnet, meint, einenUhrmacher, Erfinder oder Trödler vor sich zuhaben. Der Mittvierziger trägt einen handgestrick-

ten Wollpullover, in seinem Mundwinkel steckteine Tabakspfeife. Den Weg in die Keller weistder Swing von Oscar Peterson. Nicolas Bonnetliebt den Jazz wie den Wein: Die Gärtanks hat erseinen Lieblingmusikern gewidmet und sie mitNamen wie Chet Baker und Michel Petruccianibeschriftet. Im winzigen Lagerkeller stapeln sichdie Barriques. So eigenwillig die Anordnung, soschillernd die Gewächse. Seit fünf Jahren vinifi-ziert Nicolas Bonnet in seinem Refugium einenkleinen Teil seiner Ernte: Preziosen. Was auf denrestlichen 17 Hektaren anfällt, liefert er über dieStrasse an die Cave de Geneve. Daneben bewirt-schaftet er stattliche Getreideflächen.

Die paar Tausend Flaschen Weiss- und Rot-wein, die jährlich den Keller der Domaine de laComtesse Eidegarde verlassen, teilt eine ver-schworene Kennerschaft unter sich auf. Diesortenreinen Gewächse (Sauvignon, Chardonnay,Gamaret, Pinot noir, Merlot und Cabernet franc)

werden in Barriques ausgebaut. Sie haben dazugenügend Statur und gewinnen über die entspre-chende Vinifikation an Länge und Langlebigkeit.

Der Sauvignon blanc zeigt sich in der Jugend

noch verschlossen. Seine Konzentration, seinNerv deutet allerdings auf eine vielversprechendeEntwicklung hin. Weine, wie sie Nicolas Bonnetkeltert, gewinnen durch das Dekantieren ein Viel-

Die Weine von Meolas BonnetBezugsquelle und Informationen: Domaine de

la Comtesse Eidegarde, Nicolas Bonnet, Chemindu Bomalet 17, 1242 Satigny, Tel. (022) 7S3 06 65,

Fax (022) 753 19 03.

Weissweine: Sauvignon (Fr. 14.-), Chardonnay(Fr. 13.50). Rotweine: Pinot noir (Fr. 13.50), Ga-maret (Fr. 14.-), Cabernet Franc (Fr. 14.50), Mer-lot (Fr. 14.50). Alle Weine Jahrgang 1998 und in75-cl-Flaschen. Der Betrieb kann auf Voranmel-dung besucht werden.

faches an Ausdruck. Der Gamaret findet in Genfunter den Winzern viel Zuspruch. Wer das Poten-tial so wie Bonnet auszureizen vermag, gewinnteinen tieffarbenen Wein, warm und anmutig,

immer aber auch ein bisschen rustikal und anima-lisch. Der erste Schluck ist der beste, die Komple-xität im Mittelteil und im Nachhall fehlen noch.

Bonnets Top shot ist aber zweifellos seinCabernet franc. Da ist alles drin: reife Würze,Saft, kühle Noblesse, konzentrierte Frucht undFülle im Finale. Schade, dass er nur einen Bruch-teil seiner Ernte selber keltert. Die gegenwärtigeJahresproduktion von rund 12 000 Flaschen gehtweg wie warme Semmeln, und es braucht schonetwas Glück, um in den äusserst preiswerten Ge-nuss dieser Genfer Spitzengewächse zu kommen.Der Produktionssteigerung steht im Weg, dassBonnet nicht nur den guten Wein, sondern auchden Jazz und seine Tabakpfeife mag.

Stefan Keller

Illustration Nanabozo

Verantwortlich Tür diese Beilage:

Nicole-CecUe Weber

Neue Zürcher Zeitung vom 11.09.1999

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