bildung braucht bindung - margrit stamm
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Bildung braucht
Bindung Ein Fundament für das Vorschulalter
Dossier 13/4
Prof. Dr. Margrit Stamm
Seite 3
Strategien für die Rekrutierung des Nachwuchses
Inhalt Vorwort ...................................................................................................................... - 5 -
Management Summary................................................................................................... 9
Schlüsselbotschaften .................................................................................................... 12
Briefing Paper 1: Vom Lehrstellenmangel zum Lehrlingsmangel ..................................... 16
Briefing Paper 2: «Die pragmatische Generation»: Mit welcher Jugend es die Berufsbildung zu tun hat ............................................................................................... 20
Briefing Paper 3: Was die Forschung zu Lehrstellenvakanzen weiss ............................... 23
Briefing Paper 4: Warum welche Betriebe in der Stellenbesetzung erfolgreich sind ....... 26
Briefing Paper 5: Best Practice in der Rekrutierung – Hinweise aus unserer Forschung ... 30
Briefing Paper 6: Wie man das Ausbildungsverhalten der Betriebe theoretisch erklären kann ............................................................................................................... 32
Briefing Paper 7: Handlungsempfehlungen .................................................................... 34
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Bildung braucht Bindung
SWISSEducation
Swiss Institute for Educational Issues Prof. Dr. Margrit Stamm Professorin em. für Erziehungswissenschaften der Universität Fribourg SWISSEducation Swiss Institute for Educational Issues Neuengasse 8 CH-3011 Bern +41 31 311 69 69 / 079 462 92 82 www.margritstamm.ch https://twitter.com/MargritStamm
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Ein Fundament für das Vorschulalter
Inhalt
Management Summary..................................................................................................... 8
Schlüsselbotschaften ...................................................................................................... 12
Briefing Paper 1: Was Bindung ist und wie sie entsteht ................................................... 17
Briefing Paper 2: Welche unterschiedlichen Bindungen das Kind haben kann .................. 20
Briefing Paper 3: Weshalb eine sichere Bindung wichtig und die Grundlage für Bildung ist ....................................................................................................................... 23
Briefing Paper 4: Wo der Schlüssel für gute frühkindliche Bildung liegt 26
Briefing Paper 5: Weshalb frühkindliche Bildung nicht nur Vorteile haben kann .............. 30
Briefing Paper 6: Pädagogische Konsequenzen ................................................................ 34
Seite 3
Strategien für die Rekrutierung des Nachwuchses
Inhalt Vorwort ...................................................................................................................... - 5 -
Management Summary................................................................................................... 9
Schlüsselbotschaften .................................................................................................... 12
Briefing Paper 1: Vom Lehrstellenmangel zum Lehrlingsmangel ..................................... 16
Briefing Paper 2: «Die pragmatische Generation»: Mit welcher Jugend es die Berufsbildung zu tun hat ............................................................................................... 20
Briefing Paper 3: Was die Forschung zu Lehrstellenvakanzen weiss ............................... 23
Briefing Paper 4: Warum welche Betriebe in der Stellenbesetzung erfolgreich sind ....... 26
Briefing Paper 5: Best Practice in der Rekrutierung – Hinweise aus unserer Forschung ... 30
Briefing Paper 6: Wie man das Ausbildungsverhalten der Betriebe theoretisch erklären kann ............................................................................................................... 32
Briefing Paper 7: Handlungsempfehlungen .................................................................... 34
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Ein Fundament für das Vorschulalter
Inhalt
Management Summary..................................................................................................... 8
Schlüsselbotschaften ...................................................................................................... 12
Briefing Paper 1: Was Bindung ist und wie sie entsteht ................................................... 17
Briefing Paper 2: Welche unterschiedlichen Bindungen das Kind haben kann .................. 20
Briefing Paper 3: Weshalb eine sichere Bindung wichtig und die Grundlage für Bildung ist ....................................................................................................................... 23
Briefing Paper 4: Wo der Schlüssel für gute frühkindliche Bildung liegt 26
Briefing Paper 5: Weshalb frühkindliche Bildung nicht nur Vorteile haben kann .............. 30
Briefing Paper 6: Pädagogische Konsequenzen ................................................................ 34
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Bildung braucht Bindung
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Ein Fundament für das Vorschulalter
VorwortBindungen sind innige Beziehungen, die durch Mutter- und Vaterliebe geprägt sind. Allerdings gilt die Beziehung des Kindes zu seiner Mutter im Gesamtsystem des menschlichen Verhaltens als fundamental. Es ist ein biologisches Programm. Gleiches gilt für die mütterliche Fürsorgebe-reitschaft, die am deutlichsten im feinfühligen Verhalten der Mutter zum Ausdruck kommt. Das Verständnis von Bindung als engem Band zwischen Mutter und Kind, das sich im ersten Lebensjahr bildet, ist unbestritten. Zweifel gibt es jedoch in Bezug auf die Frage, ob eine solche ‚dyadische‘ Beziehung universell ist, d.h. in allen Kulturen gilt. Tatsache ist, dass in einer kulturvergleichenden Perspektive keine Urform der Bindung identifiziert werden kann, sondern nur je nach Kultur sehr unterschiedliche Bin-dungs- und Beziehungspraxen. Wieviel Mutter ein Kind braucht, um optimal zu gedeihen, ist somit immer vor dem Hintergrund kultureller Werte und Normen zu beantworten. Das trifft auch für die Frage zu, ob Kinder neben den leiblichen Eltern auch weitere Bin-dungsbeziehungen zu sekundären Betreu-ungspersonen aufbauen können. Die Antwort auf diese Frage ist in der Forschung wie folgt beant-wortet worden: Ein Kind muss für eine optimale Entwicklung das erste Lebensjahr nicht vollkom-men in der Obhut seiner Mutter ver-bringen. Fremdbetreuung ver-schlechtert die Mutter-Kind- resp. die Eltern-Kind-Beziehung nicht per se. Am wichtigsten ist, dass das Kind sicher an eine primäre Bezugsper-son gebunden ist. Dies ist meist die Mutter, sel-tener der Vater. Deshalb ist eine frühe ausser-familiäre Betreuung nur dann problematisch, wenn die Bindung an Mutter resp. Vater nicht stimmt und sie zu wenig feinfühlig mit ihrem Kind umgehen. Weil Eltern immer die primären Bindungs-personen eines kleinen Kindes sind, können Erzieherinnen und Erzieher, Grosseltern, Tages-familien, Tant-en oder Nannys kein Ersatz sein. Selbst-verständlich entwickeln Kinder auch zu ihnen Beziehungen, aber sie haben einen anderen Stellenwert und erfüllen andere Funktionen. Diese Funktionen können jedoch für ein gesundes kindliches Aufwachsen sehr wichtig sein.
«Bildung braucht Bindung». Was ist mit dem Titel dieses Dossiers gemeint? Dass Bildung nicht allein durch frühe innerfamiliäre Förderung oder ausserfamiliär eingekaufte Kurse zustande-kommt, sondern in erster Linie auf der Basis von emotionalen, sicherheitsgebenden Beziehungen zu Mutter und Vater sowie zu nahestehenden Personen. Gerade für familienergänzende Insti-tutionen gilt deshalb, dass sie nicht nur ihrer formalen Betreuungspflicht nachkommen kön-nen, sondern auch zu den von ihnen betreuten Kindern sichere Beziehungen aufbauen sollen.
Bisher sind die beiden Themen «Bindung» und «Bildung» in der frühen Kindheit fast durchgehend als getrennte Bereiche behandelt worden. Diese Trennung ist einer der beiden Hauptgründe für die Abfassung des vorliegenden Dossiers. Ein erstes Ziel ist es, umfassend aufzuzeigen, was die Wissenschaft zu Bindungs-beziehungen und frühkindlicher Bildungs-
förderung weiss, weshalb Bildung Bindung braucht, welche Folgerun-gen daraus zu ziehen sind und welche Handlungsempfehlungen da-raus abgeleitet werden können. Das zweite Ziel ist bildungs- und sozialpolitischer Art. In der Schweiz haben wir mit der politischen Diskussion des Themas Familie und früher Förderung sehr spezifische Erfahrungen gemacht. Die Abstim-mung zum Familienartikel und seine
Ablehnung im März 2013 ist ein Paradebeispiel dafür, wie allgemeines Wissen über Familien, ihre Bedeutung und ihre Bedürfnisse so aufbereitet, verändert und (um)gedeutet wurde, damit es bildungspolitische Meinungen zu legiti-mieren vermochte. Das vorliegende Dossier setzt hier ein. Es liefert sachliches und wissenschaftsbasiertes Wissen für weiterführende Diskussionen.
Prof. Dr. Margrit Stamm Professorin em. der Universität Fribourg Swiss Education Bern
Bern, im September 2013
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Ein Fundament für das Vorschulalter
VorwortBindungen sind innige Beziehungen, die durch Mutter-‐ und Vaterliebe geprägt sind. Allerdings gilt die Beziehung des Kindes zu seiner Mutter im Gesamtsystem des menschlichen Verhaltens als fundamental. Es ist ein biologisches Programm. Gleiches gilt für die mütterliche Fürsorgebe-‐reitschaft, die am deutlichsten im feinfühligen Verhalten der Mutter zum Ausdruck kommt. Das Verständnis von Bindung als engem Band zwischen Mutter und Kind, das sich im ersten Lebensjahr bildet, ist unbestritten. Zweifel gibt es jedoch in Bezug auf die Frage, ob eine solche ‚dyadische‘ Beziehung universell ist, d.h. in allen Kulturen gilt. Tatsache ist, dass in einer kulturvergleichenden Perspektive keine Urform der Bindung identifiziert werden kann, sondern nur je nach Kultur sehr unterschiedliche Bin-‐dungs-‐ und Beziehungspraxen. Wieviel Mutter ein Kind braucht, um optimal zu gedeihen, ist somit immer vor dem Hintergrund kultureller Werte und Normen zu beantworten. Das trifft auch für die Frage zu, ob Kinder neben den leiblichen Eltern auch weitere Bindungsbeziehungen zu sekundären Betreuungspersonen aufbauen können. Die Antwort auf diese Frage ist in der Forschung wie folgt beantwortet worden: Ein Kind muss für eine optimale Entwicklung das erste Lebensjahr nicht vollkom-‐men in der Obhut seiner Mutter ver-‐bringen. Fremdbetreuung ver-‐schlechtert die Mutter-‐Kind-‐ resp. die Eltern-‐Kind-‐Beziehung nicht per se. Am wichtigsten ist, dass das Kind sicher an eine primäre Bezugsper-‐son gebunden ist. Dies ist meist die Mutter, sel-‐tener der Vater. Deshalb ist eine frühe ausser-‐familiäre Betreuung nur dann problematisch, wenn die Bindung an Mutter resp. Vater nicht stimmt und sie zu wenig feinfühlig mit ihrem Kind umgehen. Weil Eltern immer die primären Bindungs-‐personen eines kleinen Kindes sind, können Erzieherinnen und Erzieher, Grosseltern, Tages-‐familien, Tanten oder Nannys kein Ersatz sein. Selbstverständlich entwickeln Kinder auch zu ihnen Beziehungen, aber sie haben einen anderen Stellenwert und erfüllen andere Funktionen. Diese Funktionen können jedoch für ein gesundes kindliches Aufwachsen sehr wichtig sein.
«Bildung braucht Bindung». Was ist mit dem Titel dieses Dossiers gemeint? Dass Bildung nicht allein durch frühe innerfamiliäre Förderung oder ausserfamiliär eingekaufte Kurse zustande-‐kommt, sondern in erster Linie auf der Basis von emotionalen, sicherheitsgebenden Beziehungen zu Mutter und Vater sowie zu nahestehenden Personen. Gerade für familienergänzende Insti-‐tutionen gilt deshalb, dass sie nicht nur ihrer formalen Betreuungspflicht nachkommen kön-‐nen, sondern auch zu den von ihnen betreuten Kindern sichere Beziehungen aufbauen sollen.
Bisher sind die beiden Themen «Bindung» und «Bildung» in der frühen Kindheit fast durchgehend als getrennte Bereiche behandelt worden. Diese Trennung ist einer der beiden Hauptgründe für die Abfassung des vorliegenden Dossiers. Ein erstes Ziel ist es, umfassend aufzuzeigen, was die Wissenschaft zu Bindungs-‐beziehungen und frühkindlicher Bildungs-‐
förderung weiss, weshalb Bildung Bindung braucht, welche Folgerun-‐gen daraus zu ziehen sind und welche Handlungsempfehlungen da-‐raus abgeleitet werden können. Das zweite Ziel ist bildungs-‐ und sozialpolitischer Art. In der Schweiz haben wir mit der politischen Diskussion des Themas Familie und früher Förderung sehr spezifische Erfahrungen gemacht. Die Abstim-‐mung zum Familienartikel und seine
Ablehnung im März 2013 ist ein Paradebeispiel dafür, wie allgemeines Wissen über Familien, ihre Bedeutung und ihre Bedürfnisse so aufbereitet, verändert und (um)gedeutet wurde, damit es bildungspolitische Meinungen zu legiti-‐mieren vermochte. Das vorliegende Dossier setzt hier ein. Es liefert sachliches und wissenschaftsbasiertes Wissen für weiterführende Diskussionen.
Prof. Dr. Margrit Stamm Professorin em. der Universität Fribourg Swiss Education Bern
Bern, im September 2013
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Ein Fundament für das Vorschulalter
Was dieses Dossier will Das vorliegende Dossier fasst das Wissen zu-sammen, das heute zu den beiden Themen «Bindung» und «frühkindliche Bildung» verfüg-bar ist. In den Blick genommen wird dabei ins-besondere die empirisch vielfach belegte Tatsa-che, dass Fördermassnahmen nur wirksam sein können, wenn sie auf einem guten Beziehungs-fundament aufbauen.
Wie alle bisher erschienenen Dossiers (siehe margritstamm.ch) greift das vorliegende Dossier mit diesen beiden Themen zwei zentrale Berei-che auf, die bisher voneinander losgelöst, oft emotional und unter geringer Bezugnahme zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, diskutiert worden sind.
Das Dossier verfolgt vier Ziele: (1) Aktuelles Forschungswissen verständlich dar-
stellen: Das Dossier bereitet das aktuelle For-schungswissen zum Themenbereich auf und fasst die Haupterkenntnisse zusammen.
(2) Die Verbindung von Bindung und Bildung auf-zeigen: Das Dossier zeigt auf, wie die beiden Bereiche Bindung und Bildung aufeinander zu beziehen sind und weshalb Bildung immer Bindung voraussetzt.
(3) Den Wissenstransfer in die Praxis anregen: Im Dossier werden sowohl Eltern wie auch Erziehungsverantwortliche und auch das pä-dagogische Fachpersonal der jeweiligen Insti-tutionen und Organisationen angesprochen.
(4) Ein wissenschaftsbasiertes Argumentarium für die Bildungs- und Sozialpolitik zur Verfü-gung stellen: Jedes der einzelnen Dossier-Kapitel («Briefing Paper») enthält das aktuell verfügbare Wissen zur angesprochenen
Thematik. Dabei wird auf eine ausgewogene und objektive Darstellung der Sachverhalte geachtet. Jedes Briefing Paper wird darüber hinaus mit einer Bilanz abgeschlossen, wel-che die wichtigsten Erkenntnisse nochmals auf den Punkt bringt.
Das Dossier basiert auf folgenden Fragen: Was ist Bindung und wie entsteht sie? Weshalb ist eine sichere Bindung des Kindes
an seine Eltern so wichtig? Welche unterschiedlichen Bindungen gibt
es? Welches sind die Merkmale guter frühkindli-
cher Bildungsförderung zu Hause und aus-serhalb?
Welche Vor- und Nachteile hat frühkindliche Bildungsförderung und wann kann sie über-fordernd sein?
Das Dossier ist wie folgt aufgebaut: Zunächst werden in einem Management Summary die Erkenntnisse zu den behandelten Fragen kurz erläutert und zu einzelnen Schlüsselbotschaf-ten verdichtet. Anschliessend werden die Fra-gen in insgesamt sechs «Briefing Papers» dis-kutiert und mit spezifischen Literaturhinweisen ergänzt. Jedes Briefing Paper kann als einzel-nes Handout kopiert werden. Zum Abschluss werden sechs Kernaussagen formuliert und in Bezug auf die notwendigen pädagogischen, aber auch bildungs- und sozialpolitischen Kon-sequenzen, diskutiert.
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Bildung braucht Bindung
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Ein Fundament für das Vorschulalter
Management Summary Was Bindung ist und wie sie entsteht Menschen sind von Natur aus soziale Wesen. Der Säugling kommt mit einem angeborenen Bedürfnis nach sozialen Kontakten und emoti-onalen Beziehungen zur Welt.
Briefing Paper 1 Seite 17
Bindung ist die engste Beziehung zwischen zwei Menschen. Für das Baby entsteht sie zu den Personen, mit denen es am meisten Kontakt hat. Das sind meist die Mütter. Das Baby verfügt über ein angeborenes Bindungs- und Erkun-dungsverhalten, die Bindungsperson über ein Fürsorgeverhalten, dessen zentralstes Element die Feinfühligkeit ist. Feinfühlige Bezugsperso-nen sind für die kleinen Kinder zugänglich, be-merken ihre Signale, Bedürfnisse und Stimmun-gen und beantworten diese auch verlässlich und angemessen.
Bindungs- und Erkundungssystem sind komple-mentär, voneinander abhängig und selbstregu-lierend. Wird das Bindungssystem aktiviert, dann ruht das Erkundungssystem und umge-kehrt. Deshalb kann sich ein Kind nur für seine Umwelt interessieren, wenn sein Bindungsver-haltenssystem befriedigt ist. Es gibt vier Bin-dungsmuster, die sich im ersten Lebensjahr auf der Basis der Grunderfahrungen mit den Bin-dungsperson(en) ausbilden: Sichere Bindungs-beziehungen, unsicher-vermeidende Bindungs-beziehungen, unsicher-ambivalente Bindungs-beziehungen sowie desorganisierte Bindungsbe-ziehungen. Die Bindungsmuster verändern sich über die Zeit hinweg, von vorwiegend dyadi-schen, meist auf Mutter-Kind bezogenen zu so-zial erweiterten gruppenorientierten Beziehun-gs- und Bindungsmustern.
Die Feinfühligkeit der Bezugsperson basiert auf einem gewissen Mass an Intuition, weshalb die-se als ein wichtiger Aspekt der Beziehungs- und Bindungsgestaltung gilt.
Welche unterschiedlichen Bindungen das Kind haben kann Kleine Kinder können auch zu anderen Bezugs-personen als der Mutter eine innige emotio-nale Beziehung entwickeln. Dazu gehören der Vater und ausserfamiliäre Bezugspersonen.
Briefing Paper 2 Seite 20
Heute wissen wir, dass es keine Urform der Kin-derbetreuung gibt, sondern sehr unterschiedli-che, von der jeweiligen Kultur abhängigen Be-treuungspraxen. Grundtenor der aktuellen For-
schung ist der, dass für die optimale Entwick-lung eines kleinen Kindes im ersten Lebensjahr auch andere Betreuungspersonen als die Mutter möglich sind. Fremdbetreuung ist nicht per se schädlich. Das wichtigste Element ist jedoch ei-ne sichere Bindung an die Mutter resp. den Va-ter sowie ihre Feinfühligkeit.
Väter gelten heute als wichtige Bindungsperso-nen, die den Müttern in nichts nachstehen. Al-lerdings weist die Forschung nach, dass sie sich in ihrer Feinfühligkeit voneinander unterschei-den. Während Mütter eher auf den nahen Kör-perkontakt sowie die innere Gefühlswelt des Kindes ausgerichtet sind, regen Väter vor allem die körperliche und psychische Entwicklung an. Deshalb spielt die väterliche Feinfühligkeit für das Erkundungsverhalten des Kindes eine wich-tige Rolle, die mütterliche Feinfühligkeit für das Bindungsverhalten.
Heute wird das familiäre Bindungskonzept zu-nehmend auf familienergänzende Institutionen übertragen. Dabei muss jedoch beachtet wer-den, dass sich Eltern-Kind-Beziehungen von Er-zieherInnen-Kind-Beziehungen unterscheiden. Eltern sind (in der Regel) die primären Bezugs-personen, und auch die Feinfühligkeiten können ganz unterschiedlich ausgeprägt sei
Damit eine Bindungsbeziehung an eine Erziehe-rin oder einen Erzieher zustande kommen kann, ist eine gute Eingewöhnung zentral. Gelungen ist eine Eingewöhnung dann, wenn sich ein Kind in der Gegenwart der Mutter oder des Vaters von der Erzieherin füttern, wickeln, schlafenle-gen und trösten etc. lässt.
Weshalb eine sichere Bindung wichtig und die Grundlage für Bildung ist Bindung ist Schicksal. Soziale Nähe (Bindung) und Interaktion (Erkundung, «Exploration») sind nicht nur angeborene Grundlagen des Menschen, sondern auch ein Erfordernis für seine Entwicklung. Kleine Kinder brauchen somit Betreuungsbedingungen, welche Bin-dungsqualitäten und Bindungsbeziehungen garantieren.
Briefing Paper 3 Seite 23
Frühe Bildungsanstrengungen müssen in tra-gende Beziehungen eingebettet sein. Nur eine sichere Bindung gibt dem Kind das Gefühl, aktiv handelnd und selbstwirksam zu sein und zu werden. Daraus folgt, dass Kinder eine soziale Umgebung brauchen, welche herausfordernd
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Bildung braucht Bindung
und befähigend ist. Jüngere Kinder sind davon stärker abhängig als ältere Kinder.
Frühe Bildung kommt somit nicht allein durch anregungsreiche Umgebungen zustande, son-dern durch Menschen in Interaktion und durch emotionale Beziehungen. Das Bindungskonzept betont diese soziale Angewiesenheit des Kindes von seiner Umgebung. Entscheidend sind die so-ziale Vermittlung und die sichere Unterstützung der Erfahrungen durch die Bezugsperson.
Für den Schuleintritt ist zudem die Entwick-lungsdynamik der kindlichen Beziehungserfah-rungen zwischen innerfamiliären Bezugsperso-nen (Mutter, Vater) und familienergänzenden Bezugspersonen wichtig. Ein erfolgreicher Schul-eintritt wird nicht allein durch die kognitiven Fä-higkeiten, die sprachliche und mathematische Förderung vorbereitet, sondern ebenso durch die Bereitstellung emotionaler und motivatio-naler Grundlagen. Ihr Erwerb basiert auf Bin-dungsbeziehungen. Sie prägen Lernfreude und Anstrengungsbereitschaft, welche zu den grund-legenden Kompetenzen für eine erfolgreiche Schullaufbahn gehören. Die Forschungsergebnisse zur Bedeutung der Einflüsse von Bindungsbeziehungen auf die sozi-ale, kognitive und emotionale kindliche Ent-wicklung werden auch durch Ergebnisse der Neurowissenschaften bestätigt. Die Aussage, das «Gehirn sei ein Sozialorgan», meint, dass sich frühe emotionale Erfahrungen auf den Strukturaufbau des Gehirns und die weitere geistige Entwicklung auswirken. Es spielt somit eine Rolle, ob und wie das kleine Kind ermutigt wird, bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln, auf bestimmte Dinge besonders zu achten oder bestimmte Gefühle zuzulassen.
Heute ist klar, dass Früherfahrungen wichtige Weichen stellen und zu besonderen Fähigkeiten führen können. Trotzdem darf nicht unberück-sichtigt bleiben, dass die grosse Plastizität des menschlichen Gehirns auch in späteren Ent-wicklungsperioden erhalten bleibt. Lernen ist lebenslang möglich, aber Art und Inhalte verän-dern sich.
Wo der Schlüssel für gute frühkindliche Bildung liegt Der Schlüssel frühkindlicher Bildung liegt in der ganzheitlichen und umfassenden Anregung aller Sinne des Kindes. Das Spiel ist dabei der «zentrale Modus des Lernens».
Briefing Paper 4 Seite 26
Für eine gute frühe Bildung sind drei Grundvo-raussetzungen unabdingbar: (1) Die physischen
Grundbedürfnisse müssen gestillt und das Kind muss gesund sein. (2) Die soziale Interaktion muss stimmen, d.h. das Kind muss wissen, dass seine Bezugsperson verfügbar ist und auf seine Bedürfnisse reagiert. (3) Bezugspersonen müs-sen sich aktiv in die Lernprozesse einbringen und mit dem Kind interagieren, ihm jedoch nicht einfach Fakten vermitteln oder es belehren.
Die Art und Weise der Resonanz – wie der Er-kundungsdrang unterstützt und Assistenz ange-boten wird – liefert somit wichtige Impulse für die kindliche Entwicklung. Die Zone der nächs-ten Entwicklung nach Wygotsky bildet dabei das Herzstück. Gemeint ist damit, dass dem Kind Angebote zur Verfügung gestellt werden, die es zunächst nur mit Hilfe, zunehmend jedoch auch allein, bewältigen kann. Auf diese Weise kann es auch durch Imitieren lernen. Für Eltern und an-dere Bezugspersonen erfordert dies ein be-stimmtes Ausmass an Intuition.
Der wesentlichste Schlüssel der frühkindlichen Bildung liegt im Spiel. Kinder, die gute Bindun-gen aufbauen können, sind im Spiel ausdauern-der. Bernhard Hauser (2013, siehe Literaturhin-weis) spricht deshalb vom Spiel als «wichtigs-tem Modus des Lernens».
Weshalb frühkindliche Bildung nicht nur Vorteile haben kann Zwar sind Säuglinge und kleine Kinder aus-serordentlich lernfähig, weshalb eine anre-gungsreiche Umwelt eine enorme Bedeutung hat. Der Hype um frühe Förderung ist jedoch übertrieben und oft sehr einseitig.
Briefing Paper 5 Seite 30
Heute wissen wir enorm viel über Kinder, Kind-heit und Familie, und es steht auch ein riesiges Angebot an Ratgebern zur Verfügung. Teilweise werden sie zu Bestsellern. Zwar gibt es nichts gegen gute Ratgeber einzuwenden. Problema-tisch ist jedoch oft, dass sie den Eltern das Ver-trauen in die eigene Fähigkeit rauben, die Kin-der in einer richtigen Weise erziehen und för-dern zu können.
Die Hauptproblematik der Frühfördereuphorie liegt in der weit verbreiteten Überzeugung, dass es nicht mehr zulässig sei, ein Kind vor Schulein-tritt einfach nur spielen zu lassen. Immer mehr Vorschulkinder müssen auf Geheiss der Eltern ‚richtig‘ lernen, d.h. sich schulisch relevantes Wissen schon früh aneignen. Diese Treibhaus-förderung («Hothousing») lohnt sich jedoch kaum, denn es gibt keine einzige Untersuchung, welche langfristig positive Auswirkungen früh-zeitigen schulischen Kompetenzerwerbs belegt.
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Ein Fundament für das Vorschulalter
Dieses «Superbaby-Phänomen» − jedermann will das gescheiteste und cleverste Kind haben – hat jedoch seine Ursache auch darin, dass sich Eltern immer mehr unter Druck und auch schul-dig fühlen, weil sie den ganzen Tag vom Kind ge-trennt sind und es in Fremdbetreuung geben müssen. Deshalb reagieren viele mit Übersti-mulation. Damit verbunden ist die Problematik, dass Eltern oft kaum mehr auf ihr Bauchgefühl hören können und ihm sogar gar misstrauen, wenn sie vorher keine Fachperson konsultiert haben.
Diese Problematik des Zuviels gilt jedoch vor al-lem für gut situierte und bildungsbeflissene El-tern und ihre Kinder. Konträr dazu würden Kin-der aus sozial schwachen Familien, die ihrem Kind kaum ähnliche Fördermassnahmen zuteil lassen können, eine deutlich gezieltere schul-vorbereitende Unterstützung brauchen und zwar deshalb, damit die Starchancen etwas we-niger ungleich würden.
Pädagogische Konsequenzen
Im letzten Briefing Paper werden die voran-gehenden Ausführungen zu sechs Kernaussa-
gen verdichtet und in Bezug auf die notwen-digen pädagogischen, aber auch bildungs- und sozialpolitischen Konsequenzen, disku-tiert.
Briefing Paper 6 Seite 34
Kernaussage 1: Bindungen als innige und sichere Beziehungen zu Mutter und Vater.
Kernaussage 2: Überholte Ausschliesslichkeit der Mutter
Kernaussage 3: Bildung braucht Bindung und Beziehungsdidaktik
Kernaussage 4: Die Zone der nächsten Entwick-lung als Orientierungsrahmen
Kernaussage 5: Bildungswucht Frühe Förderung: Was ihre Qualität ausmacht
Kernaussage 6: Intuition: eine wieder zu erlern-dende Erwachsenenkompetenz
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Bildung braucht Bindung
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Ein Fundament für das Vorschulalter
Schlüsselbotschaften Was Bindung ist und wie sie entsteht Das kleine Kind hat die engste Bindung an
Personen, die ihm nahestehen. Meist ist es die Mutter. Das Bindungsverhalten ist ange-boren.
Das zentralste Merkmal der Bindungs- resp. Bezugsperson des Kindes ist ihr Fürsorgever-halten, dessen zentralstes Element die Fein-fühligkeit ist.
Feinfühligkeit basiert auf einem gewissen Mass an Intuition, weshalb diese als ein wichtiger Aspekt der Beziehungs- und Bin-dungsgestaltung gilt.
Welche unterschiedlichen Bindungen das Kind haben kann Ein kleines Kind braucht für seine optimale
Entwicklung im ersten Lebensjahr nicht aus-schliesslich die Mutter.
Das wichtigste Element für ein gesundes Auf-wachsen ist eine sichere Bindung an wenige Personen. Diese müssen über ein hohes Mass an Feinfühligkeit verfügen.
Väter können genauso wichtige Bindungs-personen wie Mütter sein.
Erzieherinnen und Erzieher in familienergän-zenden Institutionen können zu den betreu-ten Kindern ebenfalls Bindungsbeziehungen haben. Sie sind jedoch immer sekundärer Art.
Weshalb eine sichere Bindung wichtig und die Grundlage für Bildung ist Die wichtigste Aufgabe im Kleinkindalter ist
nicht die frühkindliche Bildung, sondern der Aufbau stabiler Bindungsbeziehungen zu El-tern und allenfalls weiteren Personen.
Frühe Bildung kommt nicht allein durch an-regungsreiche Umgebungen zustande, son-dern durch Menschen in Interaktion und durch emotionale Beziehungen.
Frühe emotionale Erfahrungen wirken sich auf den Strukturaufbau des Gehirns und die weitere geistige Entwicklung aus. Deshalb gilt das «Gehirn als Sozialorgan».
Wo der Schlüssel für gute frühkindliche Bil-dung liegt Der Schlüssel frühkindlicher Bildung liegt in
der ganzheitlichen und umfassenden Anregung aller Sinne des Kindes.
Der wesentlichste Schlüssel der frühkindli-chen Bildung liegt dabei im Spiel.
Nahe Bezugspersonen sind für die kindliche Entwicklung zentral, weil sie die wichtigsten Impulse hierfür liefern.
Pädagogische Konsequenzen
Bindungen als innige und sichere Beziehun-gen zu Mutter und Vater: Eltern sollten sich stärker bewusst werden, dass eine sichere Beziehung Verlässlichkeit erfordert.
Überholte Ausschliesslichkeit der Mutter: Ei-ne frühe ausserfamiliäre Betreuung ist nur dann problematisch, wenn die Bindung an Mutter und Vater nicht stimmt und sie zu wenig feinfühlig mit ihrem Kind umgehen.
Bildung braucht Bindung und Beziehungsdi-daktik: Das Kind betreibt Bildungsprozesse nie selbst, sondern immer mit Unterstützung einer kompetent agierenden Umwelt.
Die Zone der nächsten Entwicklung als Ori-entierungsrahmen: Eltern und Erziehende sollten die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes aktivieren, die Entwicklung jedoch nicht atemlos forcieren.
Bildungswucht frühe Förderung: Was ihre Qualität ausmacht: Eltern und Erziehende sollten kleinen Kindern herausfordernde, an-regungsreiche unterstützende Entwicklungs-umgebungen zur Verfügung stellen, die nichts mit akademischen Frühförderkursen zu tun haben. Wichtiger ist Zeit zu haben, er-mutigt und nicht mit Reizen überflutet zu werden.
Intuition: eine wieder zu erlernende Erwach-senenkompetenz: Intuition spielt eine wich-tige Rolle in der Bindungsgestaltung und im Fürsorgeverhalten der Eltern und der Erzie-herinnen und Erzieher. Viele haben diese Kompetenz jedoch verlernt, sodass sie neu trainiert werden muss.
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Bildung braucht Bindung
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Ein Fundament für das Vorschulalter
Bildung braucht Bindung
Ein Fundament für das Vorschulalter
Dossier 13/4
Prof. Dr. Margrit Stamm
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Ein Fundament für das Vorschulalter
Bildung braucht Bindung
Ein Fundament für das Vorschulalter
Dossier 13/4
Prof. Dr. Margrit Stamm
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Ein Fundament für das Vorschulalter
Briefing Paper 1: Was Bindung ist und wie sie entsteht Menschen sind von Natur aus soziale Wesen. Der Säugling kommt mit einem angeborenen Bedürfnis nach sozialen Kontakten und emotio-nalen Beziehungen zur Welt. Solche Grundbe-dürfnisse bilden auch das Fundament der 1989 beinahe weltweit ratifizierten UN-Kinderrechts-konvention.
Bindung und Erkundung – die beiden Seiten der Medaille John Bowlby ist der Vater der Bindungstheorie. Diese besagt, dass jedem Menschen zwei Verhal-tenssysteme in die Wiege gelegt worden sind: ein Bindungs- und ein Erkundungssystem (auch «Explorationssystem» genannt):
Das Bindungssystem ist so eingerichtet, dass der Säugling aktiv Schutz, Wärme und Zu-wendung bei einer ihm innig vertrauten Per-son sucht. Es ist somit nicht die Entschei-dung einer erwachsenen Person, ob sich das Kind an sie bindet, sondern umgekehrt. Je kleiner es ist, desto eher können auch an-dere Personen, die ihm nahestehen, zu Bin-dungsfiguren werden.
Bindungs- und Erkundungssystem sind kom-plementär, voneinander abhängig und selbstregulierend. Bei einem Mangel werden sie aktiviert, bei einer Sättigung beruhigt. Wird das Bindungssystem aktiviert, dann ruht das Erkundungssystem und umgekehrt. Deshalb kann sich ein Kind nur für seine Umwelt interessieren, wenn sein Bindungs-verhaltenssystem befriedigt ist.
Vier Bindungsmuster
Unterscheiden sich kleine Kinder in ihrer Bin-dungs- und Erkundungsqualität? Dieser Frage sind Mary Ainsworth, eine Mitarbeiterin Bow-lbys, und ihr Team nachgegangen. Ausgehend von ihrer Annahme, dass eine feinfühlige Be-zugsperson für das Kind eine sichere Ausgangs-basis für die Erkundung der Umwelt und die Rückkehr zu ihr bei Angst oder Unwohlsein ist, entwickelten sie den sogenannten «Fremde Si-tuation Test». Dabei handelt es sich um eine standardisierte Forschungssituation, die folgen-dermassen gestaltet wird:
Es steht ein Raum bereit, der mit Spielsa-chen attraktiv ausgestaltet ist. In diesen Raum werden die Bindungsperson (meist die Mutter) und ihr ca. 12 Monate altes Kind gebracht. In mehreren Episoden wird
nun seine Reaktion auf die Trennung von seiner Bezugsperson in der fremden Umge-bung und die anschliessende Wiederverei-nigung beobachtet. Dabei wird aus dem Verhalten des Kindes in der Testsituation auf seine Bindungsqualität geschlossen.
Das Forscherteam konnte auf diese Weise drei Bindungsmuster eruieren, die sich im ersten Le-bensjahr auf der Basis der Grunderfahrungen mit den Bindungsperson(en) ausbilden. 1986 kam dann noch ein viertes, bis anhin als nicht klassifi-zierbares Verhalten, hinzu:
Sichere Bindungsbeziehungen (60%): Dieses Bindungsmuster charakterisiert sich dadurch, dass die Bindungsperson für das Kind die sichere Basis darstellt. Zwischen seinem Bindungs- und Erkundungsverhalten besteht eine ausgewogene Balance. Bei Trennung reagiert ein sicher gebundenes Kind emotional mit Bindungsverhalten. Des-halb ist es in entsprechenden Situationen sichtlich gestresst. Es weint und schreit vor Kummer, freut sich jedoch über die Wieder-vereinigung mit der Mutter und findet nach einer Beruhigungsphase zum Spiel zurück.
Unsicher-vermeidende Bindungsbeziehun-gen (25%): Auch in diesem Bindungsmuster gilt die Bindungsperson gilt als wichtige Be-treuungsperson, aber sie ist nicht sicher-heitsgebend. Unsicher gebundene Kinder zeigen ein ausgeprägtes Erkundungsverhal-ten und verhalten sich bei einer Trennung von der Bindungsperson unauffällig und eher angepasst mit minimalen Stressreaktionen. Obwohl sie eigentlich den gleichen Stress er-leben, zeigen sie dies nur nicht. Oft werden solche Kinder nach einiger Zeit der Ein-gewöhnung krank, weil sie durch unter-drückten Stress beeinträchtigt sind.
Unsicher-ambivalente Bindungsbeziehun-gen (ca. 10%): Solche Kinder reagieren zu-nächst ähnlich wie sicher gebundene Kinder: Sie zeigen ein starkes Bindungsverhalten, schreien und schlagen um sich etc. Im Unter-schied zu sicher gebundenen Kindern lassen sie in ihrer Not jedoch weder Trost noch Nä-he der Bindungsperson zu. Weil ihnen die Nähe zu ihr kaum Sicherheit bringt, bleibt ihr Erkundungsverhalten gehemmt.
Desorganisierte Bindungsbeziehungen (ca. 5%): Kinder mit diesem Bindungsmuster zei-gen deutliche Merkmale von Desorganisa-
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Ein Fundament für das Vorschulalter
Briefing Paper 1: Was Bindung ist und wie sie entsteht Menschen sind von Natur aus soziale Wesen. Der Säugling kommt mit einem angeborenen Bedürfnis nach sozialen Kontakten und emotio-‐nalen Beziehungen zur Welt. Solche Grundbe-‐dürfnisse bilden auch das Fundament der 1989 beinahe weltweit ratifizierten UN-‐Kinderrechts-‐konvention.
Bindung und Erkundung – die beiden Seiten der Medaille John Bowlby ist der Vater der Bindungstheorie. Diese besagt, dass jedem Menschen zwei Verhal-‐tenssysteme in die Wiege gelegt worden sind: ein Bindungs-‐ und ein Erkundungssystem (auch «Explorationssystem» genannt):
l Das Bindungssystem ist so eingerichtet, dass der Säugling aktiv Schutz, Wärme und Zu-‐wendung bei einer ihm innig vertrauten Per-‐son sucht. Es ist somit nicht die Entschei-‐dung einer erwachsenen Person, ob sich das Kind an sie bindet, sondern umgekehrt. Je kleiner es ist, desto eher können auch an-‐dere Personen, die ihm nahestehen, zu Bin-‐dungsfiguren werden.
l Bindungs-‐ und Erkundungssystem sind kom-‐plementär, voneinander abhängig und selbstregulierend. Bei einem Mangel werden sie aktiviert, bei einer Sättigung beruhigt. Wird das Bindungssystem aktiviert, dann ruht das Erkundungssystem und umgekehrt. Deshalb kann sich ein Kind nur für seine Umwelt interessieren, wenn sein Bindungs-‐verhaltenssystem befriedigt ist.
Vier Bindungsmuster Unterscheiden sich kleine Kinder in ihrer Bin-‐dungs-‐ und Erkundungsqualität? Dieser Frage sind Mary Ainsworth, eine Mitarbeiterin Bow-‐lbys, und ihr Team nachgegangen. Ausgehend von ihrer Annahme, dass eine feinfühlige Be-‐zugsperson für das Kind eine sichere Ausgangs-‐basis für die Erkundung der Umwelt und die Rückkehr zu ihr bei Angst oder Unwohlsein ist, entwickelten sie den sogenannten «Fremde Si-‐tuation Test». Dabei handelt es sich um eine standardisierte Forschungssituation, die folgen-‐dermassen gestaltet wird:
Es steht ein Raum bereit, der mit Spielsa-‐chen attraktiv ausgestaltet ist. In diesen Raum werden die Bindungsperson (meist die Mutter) und ihr ca. 12 Monate altes Kind gebracht. In mehreren Episoden wird
nun seine Reaktion auf die Trennung von seiner Bezugsperson in der fremden Umge-‐bung und die anschliessende Wiederverei-‐nigung beobachtet. Dabei wird aus dem Verhalten des Kindes in der Testsituation auf seine Bindungsqualität geschlossen.
Das Forscherteam konnte auf diese Weise drei Bindungsmuster eruieren, die sich im ersten Le-‐bensjahr auf der Basis der Grunderfahrungen mit den Bindungsperson(en) ausbilden. 1986 kam dann noch ein viertes, bis anhin als nicht klassifi-‐zierbares Verhalten, hinzu:
l Sichere Bindungsbeziehungen (60%): Dieses Bindungsmuster charakterisiert sich dadurch, dass die Bindungsperson für das Kind die sichere Basis darstellt. Zwischen seinem Bindungs-‐ und Erkundungsverhalten besteht eine ausgewogene Balance. Bei Trennung reagiert ein sicher gebundenes Kind emotional mit Bindungsverhalten. Des-‐halb ist es in entsprechenden Situationen sichtlich gestresst. Es weint und schreit vor Kummer, freut sich jedoch über die Wieder-‐vereinigung mit der Mutter und findet nach einer Beruhigungsphase zum Spiel zurück.
l Unsicher-‐vermeidende Bindungsbeziehun-‐gen (25%): Auch in diesem Bindungsmuster gilt die Bindungsperson gilt als wichtige Be-‐treuungsperson, aber sie ist nicht sicher-‐heitsgebend. Unsicher gebundene Kinder zeigen ein ausgeprägtes Erkundungsverhal-‐ten und verhalten sich bei einer Trennung von der Bindungsperson unauffällig und eher angepasst mit minimalen Stressreaktionen. Obwohl sie eigentlich den gleichen Stress erleben, zeigen sie dies nur nicht. Oft wer-‐den solche Kinder nach einiger Zeit der Ein-‐gewöhnung krank, weil sie durch unter-‐drückten Stress beeinträchtigt sind.
l Unsicher-‐ambivalente Bindungsbeziehun-‐gen (ca. 10%): Solche Kinder reagieren zu-‐nächst ähnlich wie sicher gebundene Kinder: Sie zeigen ein starkes Bindungsverhalten, schreien und schlagen um sich etc. Im Unter-‐schied zu sicher gebundenen Kindern lassen sie in ihrer Not jedoch weder Trost noch Nähe der Bindungsperson zu. Weil ihnen die Nähe zu ihr kaum Sicherheit bringt, bleibt ihr Erkundungsverhalten gehemmt.
l Desorganisierte Bindungsbeziehungen (ca. 5%): Kinder mit diesem Bindungsmuster zei-‐gen deutliche Merkmale von Desorganisa-‐
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Ein Fundament für das Vorschulalter
Briefing Paper 1: Was Bindung ist und wie sie entsteht Menschen sind von Natur aus soziale Wesen. Der Säugling kommt mit einem angeborenen Bedürfnis nach sozialen Kontakten und emotio-nalen Beziehungen zur Welt. Solche Grundbe-dürfnisse bilden auch das Fundament der 1989 beinahe weltweit ratifizierten UN-Kinderrechts-konvention.
Bindung und Erkundung – die beiden Seiten der Medaille John Bowlby ist der Vater der Bindungstheorie. Diese besagt, dass jedem Menschen zwei Verhal-tenssysteme in die Wiege gelegt worden sind: ein Bindungs- und ein Erkundungssystem (auch «Explorationssystem» genannt):
Das Bindungssystem ist so eingerichtet, dass der Säugling aktiv Schutz, Wärme und Zu-wendung bei einer ihm innig vertrauten Per-son sucht. Es ist somit nicht die Entschei-dung einer erwachsenen Person, ob sich das Kind an sie bindet, sondern umgekehrt. Je kleiner es ist, desto eher können auch an-dere Personen, die ihm nahestehen, zu Bin-dungsfiguren werden.
Bindungs- und Erkundungssystem sind kom-plementär, voneinander abhängig und selbstregulierend. Bei einem Mangel werden sie aktiviert, bei einer Sättigung beruhigt. Wird das Bindungssystem aktiviert, dann ruht das Erkundungssystem und umgekehrt. Deshalb kann sich ein Kind nur für seine Umwelt interessieren, wenn sein Bindungs-verhaltenssystem befriedigt ist.
Vier Bindungsmuster
Unterscheiden sich kleine Kinder in ihrer Bin-dungs- und Erkundungsqualität? Dieser Frage sind Mary Ainsworth, eine Mitarbeiterin Bow-lbys, und ihr Team nachgegangen. Ausgehend von ihrer Annahme, dass eine feinfühlige Be-zugsperson für das Kind eine sichere Ausgangs-basis für die Erkundung der Umwelt und die Rückkehr zu ihr bei Angst oder Unwohlsein ist, entwickelten sie den sogenannten «Fremde Si-tuation Test». Dabei handelt es sich um eine standardisierte Forschungssituation, die folgen-dermassen gestaltet wird:
Es steht ein Raum bereit, der mit Spielsa-chen attraktiv ausgestaltet ist. In diesen Raum werden die Bindungsperson (meist die Mutter) und ihr ca. 12 Monate altes Kind gebracht. In mehreren Episoden wird
nun seine Reaktion auf die Trennung von seiner Bezugsperson in der fremden Umge-bung und die anschliessende Wiederverei-nigung beobachtet. Dabei wird aus dem Verhalten des Kindes in der Testsituation auf seine Bindungsqualität geschlossen.
Das Forscherteam konnte auf diese Weise drei Bindungsmuster eruieren, die sich im ersten Le-bensjahr auf der Basis der Grunderfahrungen mit den Bindungsperson(en) ausbilden. 1986 kam dann noch ein viertes, bis anhin als nicht klassifi-zierbares Verhalten, hinzu:
Sichere Bindungsbeziehungen (60%): Dieses Bindungsmuster charakterisiert sich dadurch, dass die Bindungsperson für das Kind die sichere Basis darstellt. Zwischen seinem Bindungs- und Erkundungsverhalten besteht eine ausgewogene Balance. Bei Trennung reagiert ein sicher gebundenes Kind emotional mit Bindungsverhalten. Des-halb ist es in entsprechenden Situationen sichtlich gestresst. Es weint und schreit vor Kummer, freut sich jedoch über die Wieder-vereinigung mit der Mutter und findet nach einer Beruhigungsphase zum Spiel zurück.
Unsicher-vermeidende Bindungsbeziehun-gen (25%): Auch in diesem Bindungsmuster gilt die Bindungsperson gilt als wichtige Be-treuungsperson, aber sie ist nicht sicher-heitsgebend. Unsicher gebundene Kinder zeigen ein ausgeprägtes Erkundungsverhal-ten und verhalten sich bei einer Trennung von der Bindungsperson unauffällig und eher angepasst mit minimalen Stressreaktionen. Obwohl sie eigentlich den gleichen Stress er-leben, zeigen sie dies nur nicht. Oft werden solche Kinder nach einiger Zeit der Ein-gewöhnung krank, weil sie durch unter-drückten Stress beeinträchtigt sind.
Unsicher-ambivalente Bindungsbeziehun-gen (ca. 10%): Solche Kinder reagieren zu-nächst ähnlich wie sicher gebundene Kinder: Sie zeigen ein starkes Bindungsverhalten, schreien und schlagen um sich etc. Im Unter-schied zu sicher gebundenen Kindern lassen sie in ihrer Not jedoch weder Trost noch Nä-he der Bindungsperson zu. Weil ihnen die Nähe zu ihr kaum Sicherheit bringt, bleibt ihr Erkundungsverhalten gehemmt.
Desorganisierte Bindungsbeziehungen (ca. 5%): Kinder mit diesem Bindungsmuster zei-gen deutliche Merkmale von Desorganisa-
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Ein Fundament für das Vorschulalter
Briefing Paper 1: Was Bindung ist und wie sie entsteht Menschen sind von Natur aus soziale Wesen. Der Säugling kommt mit einem angeborenen Bedürfnis nach sozialen Kontakten und emotio-‐nalen Beziehungen zur Welt. Solche Grundbe-‐dürfnisse bilden auch das Fundament der 1989 beinahe weltweit ratifizierten UN-‐Kinderrechts-‐konvention.
Bindung und Erkundung – die beiden Seiten der Medaille John Bowlby ist der Vater der Bindungstheorie. Diese besagt, dass jedem Menschen zwei Verhal-‐tenssysteme in die Wiege gelegt worden sind: ein Bindungs-‐ und ein Erkundungssystem (auch «Explorationssystem» genannt):
l Das Bindungssystem ist so eingerichtet, dass der Säugling aktiv Schutz, Wärme und Zu-‐wendung bei einer ihm innig vertrauten Per-‐son sucht. Es ist somit nicht die Entschei-‐dung einer erwachsenen Person, ob sich das Kind an sie bindet, sondern umgekehrt. Je kleiner es ist, desto eher können auch an-‐dere Personen, die ihm nahestehen, zu Bin-‐dungsfiguren werden.
l Bindungs-‐ und Erkundungssystem sind kom-‐plementär, voneinander abhängig und selbstregulierend. Bei einem Mangel werden sie aktiviert, bei einer Sättigung beruhigt. Wird das Bindungssystem aktiviert, dann ruht das Erkundungssystem und umgekehrt. Deshalb kann sich ein Kind nur für seine Umwelt interessieren, wenn sein Bindungs-‐verhaltenssystem befriedigt ist.
Vier Bindungsmuster Unterscheiden sich kleine Kinder in ihrer Bin-‐dungs-‐ und Erkundungsqualität? Dieser Frage sind Mary Ainsworth, eine Mitarbeiterin Bow-‐lbys, und ihr Team nachgegangen. Ausgehend von ihrer Annahme, dass eine feinfühlige Be-‐zugsperson für das Kind eine sichere Ausgangs-‐basis für die Erkundung der Umwelt und die Rückkehr zu ihr bei Angst oder Unwohlsein ist, entwickelten sie den sogenannten «Fremde Si-‐tuation Test». Dabei handelt es sich um eine standardisierte Forschungssituation, die folgen-‐dermassen gestaltet wird:
Es steht ein Raum bereit, der mit Spielsa-‐chen attraktiv ausgestaltet ist. In diesen Raum werden die Bindungsperson (meist die Mutter) und ihr ca. 12 Monate altes Kind gebracht. In mehreren Episoden wird
nun seine Reaktion auf die Trennung von seiner Bezugsperson in der fremden Umge-‐bung und die anschliessende Wiederverei-‐nigung beobachtet. Dabei wird aus dem Verhalten des Kindes in der Testsituation auf seine Bindungsqualität geschlossen.
Das Forscherteam konnte auf diese Weise drei Bindungsmuster eruieren, die sich im ersten Le-‐bensjahr auf der Basis der Grunderfahrungen mit den Bindungsperson(en) ausbilden. 1986 kam dann noch ein viertes, bis anhin als nicht klassifi-‐zierbares Verhalten, hinzu:
l Sichere Bindungsbeziehungen (60%): Dieses Bindungsmuster charakterisiert sich dadurch, dass die Bindungsperson für das Kind die sichere Basis darstellt. Zwischen seinem Bindungs-‐ und Erkundungsverhalten besteht eine ausgewogene Balance. Bei Trennung reagiert ein sicher gebundenes Kind emotional mit Bindungsverhalten. Des-‐halb ist es in entsprechenden Situationen sichtlich gestresst. Es weint und schreit vor Kummer, freut sich jedoch über die Wieder-‐vereinigung mit der Mutter und findet nach einer Beruhigungsphase zum Spiel zurück.
l Unsicher-‐vermeidende Bindungsbeziehun-‐gen (25%): Auch in diesem Bindungsmuster gilt die Bindungsperson gilt als wichtige Be-‐treuungsperson, aber sie ist nicht sicher-‐heitsgebend. Unsicher gebundene Kinder zeigen ein ausgeprägtes Erkundungsverhal-‐ten und verhalten sich bei einer Trennung von der Bindungsperson unauffällig und eher angepasst mit minimalen Stressreaktionen. Obwohl sie eigentlich den gleichen Stress erleben, zeigen sie dies nur nicht. Oft wer-‐den solche Kinder nach einiger Zeit der Ein-‐gewöhnung krank, weil sie durch unter-‐drückten Stress beeinträchtigt sind.
l Unsicher-‐ambivalente Bindungsbeziehun-‐gen (ca. 10%): Solche Kinder reagieren zu-‐nächst ähnlich wie sicher gebundene Kinder: Sie zeigen ein starkes Bindungsverhalten, schreien und schlagen um sich etc. Im Unter-‐schied zu sicher gebundenen Kindern lassen sie in ihrer Not jedoch weder Trost noch Nähe der Bindungsperson zu. Weil ihnen die Nähe zu ihr kaum Sicherheit bringt, bleibt ihr Erkundungsverhalten gehemmt.
l Desorganisierte Bindungsbeziehungen (ca. 5%): Kinder mit diesem Bindungsmuster zei-‐gen deutliche Merkmale von Desorganisa-‐
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Bildung braucht Bindung
tion. Solche Merkmale gelten als entwick-lungspathologisch, weil die Bindungsperson eine angsterzeugende Rolle spielt. Das Kind zeigt bizarre Verhaltensweisen (Erstarren, Stereotypien wie Hin- und Herschaukeln, zielloses Umherwandern).
Entwicklungspsychologische Veränderun-gen in den Bindungsbeziehungen Es gibt einen altersabhängigen Wandel in den Bindungsbeziehungen zwischen 0 und 6 Jahren. Unterschieden werden müssen eine Frühphase (0 bis 18 Monate), eine Spätphase (19 Monate bis 36 Monate) und eine Vorschulphase (3 bis 6 Jahre). In dieser Zeit verändern sich die Bezie-hungen von einer dyadischen Beziehung zu so-zial erweiterten gruppenorientierten Beziehun-gen:
0 bis 18 Monate: In dieser Zeit zeigt das Ba-by eine zunächst differenzierende, dann scharf definierte Aufmerksamkeit auf die Mutter und schliesslich eine Bereitschaft, über Grussreaktionen auch eine Bindung an andere Personen aufzubauen.
19 bis 36 Monate: Mit zunehmender Mobili-tät beginnt das Kind, sein Verhalten auch unabhängig von der primären Bezugsperson zu organisieren. Deshalb steht der Aufbau weiterer, so genannt «sekundärer Bindungs-beziehungen» an. Alle Beziehungspersonen müssen ihr Betreuungsverhalten nun den neuen Entwicklungsbedürfnissen anpassen, wenn sie die Entwicklung des Kindes beglei-ten und die Beziehungsqualität aufrecht-erhalten wollen. Ein günstiger Betreuungs-schlüssel (in Bezug auf die Anzahl betreuter Kinder, die Stabilität der Betreuungsperson und die Kontinuität der Betreuung) ist des-halb zentral.
3 Jahre bis 6 Jahre: In der Vorschulzeit bil-den sich sekundäre Bindungsbeziehungen auch ausserhalb des familiären Beziehungs-netzes aus. Bestehende Bindungsbeziehun-gen wandeln sich aufgrund von Entwick-lungsveränderungen. Gerade in familiener-gänzenden Einrichtungen können beste-hende Bindungsbeziehungen gestärkt wer-den. Diese bilden dann eine gute Vorausset-zung der Schulvorbereitung. Stabile Grup-penstrukturen (Kinder bilden über längere Zeit mit einer Betreuerin eine Gruppe, Ritu-ale etc. werden aufgebaut) sind deshalb be-sonders wichtig.
Feinfühligkeit als Merkmal des intuitiven Fürsorgeverhaltens Das Pendant zum kindlichen Verhaltenssystem ist die intuitive Fürsorgebereitschaft naher Be-zugspersonen. Eltern sind dabei die wichtigsten und ersten Kontaktpersonen. Wie sie mit ihrem Kind umgehen, bestimmt schon ab dem ersten Lebenstag die Qualität der kindlichen Bindungs-erfahrungen. Eine innige, emotionale Bindungs-erfahrung entsteht, wenn das Kind mit Personen, die ihm nahestehen, gute Erfahrungen macht, d.h., seine Bedürfnisse befriedigt werden, es mit ihnen zusammen sein kann und sie sich ihm zu-wenden.
Mary Ainsworth hat die Feinfühligkeit als wich-tigstes Merkmal sowie als Voraussetzung und Kern der Mutter-Kind-Beziehung bezeichnet. Feinfühligkeit meint, dass die Mutter resp. Bin-dungsperson
die kindlichen Signale wahrnimmt, ihnen ge-genüber aufmerksam und offen ist,
die Signale des Kindes richtig deutet,
sie prompt und angemessen beantwortet.
Derartige Feinfühligkeit umfasst ein vielgestalti-ges Repertoire spezifischer Verhaltensanpassun-gen und Abstimmungen (z.B. Zeitmass, Intensi-tät, Rhythmus) sowie eine spezifische Sensibilität für Rückkoppelungssignale (z.B. Mimik, Stimme, Körpersprache etc.). Feinfühligkeit gilt als basal angeborene elterliche Kompetenz. Papousek und Papousek (1987) sprechen deshalb von «in-tuitive Parenting», Tschöpe-Scheffler (2003) von «intuitiver Elternvernunft». Deshalb fungieren das kindliche Bindungs-/Erkundungssystem und das elterliche Fürsorgesystem als sich selbst auf-rechterhaltendes System. Da sich diese intuiti-ven Prozesse erst in Interaktion mit dem Kind ausbilden, sind sie störanfällig. Bis heute ist un-geklärt, ob ‚intuitive Elternvernunft‘ ausreicht, eine ‚hinreichend gute Mutter‘ oder ein ‚hinrei-chend guter Vater‘ zu sein, oder ob sie hierzu noch spezifischer Erfahrungen bedürfen.
Temperament, Bindung und Fürsorge Nach einer langen Zeit der Vergessenheit nimmt das Temperament des kleinen Kindes als Perso-nalmerkmal wieder eine bedeutsame Rolle in der pädagogischen Fachdiskussion ein. Tempe-rament ist der Ausdruck für individuelle Beson-derheiten in emotionalen und affektiven Berei-chen des Verhaltens. Sie sind schon früh in der Entwicklung zu beobachten und relativ zeitstabil.
Allgemein geht man heute davon aus, dass das Verhalten der Eltern (und das der familienergän-zenden Betreuung) mit den kindlichen Eigen-
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Bildung braucht Bindung
tion. Solche Merkmale gelten als entwick-‐lungspathologisch, weil die Bindungsperson eine angsterzeugende Rolle spielt. Das Kind zeigt bizarre Verhaltensweisen (Erstarren, Stereotypien wie Hin-‐ und Herschaukeln, zielloses Umherwandern).
Entwicklungspsychologische Veränderun-‐gen in den Bindungsbeziehungen Es gibt einen altersabhängigen Wandel in den Bindungsbeziehungen zwischen 0 und 6 Jahren. Unterschieden werden müssen eine Frühphase (0 bis 18 Monate), eine Spätphase (19 Monate bis 36 Monate) und eine Vorschulphase (3 bis 6 Jahre). In dieser Zeit verändern sich die Bezie-‐hungen von einer dyadischen Beziehung zu so-‐zial erweiterten gruppenorientierten Beziehun-‐gen:
l 0 bis 18 Monate: In dieser Zeit zeigt das Baby eine zunächst differenzierende, dann scharf definierte Aufmerksamkeit auf die Mutter und schliesslich eine Bereitschaft, über Grussreaktionen auch eine Bindung an andere Personen aufzubauen.
l 19 bis 36 Monate: Mit zunehmender Mobili-‐tät beginnt das Kind, sein Verhalten auch unabhängig von der primären Bezugsperson zu organisieren. Deshalb steht der Aufbau weiterer, so genannt «sekundärer Bindungs-‐beziehungen» an. Alle Beziehungspersonen müssen ihr Betreuungsverhalten nun den neuen Entwicklungsbedürfnissen anpassen, wenn sie die Entwicklung des Kindes beglei-‐ten und die Beziehungsqualität aufrecht-‐erhalten wollen. Ein günstiger Betreuungs-‐schlüssel (in Bezug auf die Anzahl betreuter Kinder, die Stabilität der Betreuungsperson und die Kontinuität der Betreuung) ist des-‐halb zentral.
l 3 Jahre bis 6 Jahre: In der Vorschulzeit bil-‐den sich sekundäre Bindungsbeziehungen auch ausserhalb des familiären Beziehungs-‐netzes aus. Bestehende Bindungsbeziehun-‐gen wandeln sich aufgrund von Entwick-‐lungsveränderungen. Gerade in familiener-‐gänzenden Einrichtungen können beste-‐hende Bindungsbeziehungen gestärkt wer-‐den. Diese bilden dann eine gute Vorausset-‐zung der Schulvorbereitung. Stabile Grup-‐penstrukturen (Kinder bilden über längere Zeit mit einer Betreuerin eine Gruppe, Ritu-‐ale etc. werden aufgebaut) sind deshalb be-‐sonders wichtig.
Feinfühligkeit als Merkmal des intuitiven Fürsorgeverhaltens Das Pendant zum kindlichen Verhaltenssystem ist die intuitive Fürsorgebereitschaft naher Be-‐zugspersonen. Eltern sind dabei die wichtigsten und ersten Kontaktpersonen. Wie sie mit ihrem Kind umgehen, bestimmt schon ab dem ersten Lebenstag die Qualität der kindlichen Bindungs-‐erfahrungen. Eine innige, emotionale Bindungs-‐erfahrung entsteht, wenn das Kind mit Personen, die ihm nahestehen, gute Erfahrungen macht, d.h., seine Bedürfnisse befriedigt werden, es mit ihnen zusammen sein kann und sie sich ihm zu-‐wenden.
Mary Ainsworth hat die Feinfühligkeit als wich-‐tigstes Merkmal sowie als Voraussetzung und Kern der Mutter-‐Kind-‐Beziehung bezeichnet. Feinfühligkeit meint, dass die Mutter resp. Bin-‐dungsperson
l die kindlichen Signale wahrnimmt, ihnen ge-‐genüber aufmerksam und offen ist,
l die Signale des Kindes richtig deutet,
l sie prompt und angemessen beantwortet.
Derartige Feinfühligkeit umfasst ein vielgestalti-‐ges Repertoire spezifischer Verhaltensanpassun-‐gen und Abstimmungen (z.B. Zeitmass, Intensi-‐tät, Rhythmus) sowie eine spezifische Sensibilität für Rückkoppelungssignale (z.B. Mimik, Stimme, Körpersprache etc.). Feinfühligkeit gilt als basal angeborene elterliche Kompetenz. Papousek und Papousek (1987) sprechen deshalb von «in-‐tuitive Parenting», Tschöpe-‐Scheffler (2003) von «intuitiver Elternvernunft». Deshalb fungieren das kindliche Bindungs-‐/Erkundungssystem und das elterliche Fürsorgesystem als sich selbst auf-‐rechterhaltendes System. Da sich diese intuiti-‐ven Prozesse erst in Interaktion mit dem Kind ausbilden, sind sie störanfällig. Bis heute ist ungeklärt, ob ‚intuitive Elternvernunft‘ ausreicht, eine ‚hinreichend gute Mutter‘ oder ein ‚hinrei-‐chend guter Vater‘ zu sein, oder ob sie hierzu noch spezifischer Erfahrungen bedürfen.
Temperament, Bindung und Fürsorge Nach einer langen Zeit der Vergessenheit nimmt das Temperament des kleinen Kindes als Perso-‐nalmerkmal wieder eine bedeutsame Rolle in der pädagogischen Fachdiskussion ein. Tempe-‐rament ist der Ausdruck für individuelle Beson-‐derheiten in emotionalen und affektiven Berei-‐chen des Verhaltens. Sie sind schon früh in der Entwicklung zu beobachten und relativ zeitstabil.
Allgemein geht man heute davon aus, dass das Verhalten der Eltern (und das der familienergän-‐zenden Betreuung) mit den kindlichen Eigen-‐
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Ein Fundament für das Vorschulalter
schaften interagiert. Das Temperament spielt dabei eine wichtige Rolle. Von besonderem Inte-resse sind die Wechselwirkungen zwischen den Temperamenteigenschaften des Kindes und den-jenigen seiner sozialen Umgebung (z.B. elterliche Erziehungsstile und -praktiken, Qualität der Krippen- oder Tageselternbetreuung etc.). Das Konzept der Passung macht dabei deutlich, dass auch die Persönlichkeit und das Temperament des Kindes die Sensitivität der Betreuungs-personen und damit letztendlich die Bindungs-qualität beeinflussen. So kann beispielsweise ein schwieriger Säugling zu erlernter Hilflosigkeit der Bezugsperson und im Zusammenhang mit ande-ren Entwicklungsaufgaben zu belastenden Re-gulationsstörungen führen (z.B. Schlafstörungen der Mutter).
Solche Wechselwirkungen geben ein Bild der Ur-sachen für die Unterschiede in der Sicherheit des Bindungsverhaltens ab. Temperament gilt des-halb als integraler Bestandteil moderner Ansätze der Bindungsforschung.
Bilanz Bindung ist die engste Beziehung zwischen zwei Menschen. Für das Baby entstehen die primären Bindungen mit den Personen, mit denen es am meisten Kontakt hat. Das sind meist die Mütter. Das biologisch angelegte Bindungs- und Explora-tionsverhalten bildet zusammen mit dem Für-sorgeverhalten der Bezugspersonen die Platt-form, von der aus die Bindungsqualität entfaltet wird. Feinfühligkeit gilt als zentrales Konzept ei-ner sicheren Bindung. Feinfühlige Bezugsperso-
nen sind deshalb für die kleinen Kinder zugäng-lich, bemerken ihre Signale, Bedürfnisse und Stimmungen und beantworten diese auch ver-lässlich und angemessen.
Feinfühligkeit basiert auf einem gewissen Mass an Intuition, weshalb diese als ein wichtiger As-pekt der Beziehungsgestaltung gilt. Intuition spielt deshalb eine wichtige Rolle in der Bin-dungsgestaltung und im Fürsorgeverhalten der Eltern. Obwohl heute vor allem die Unsicherhei-ten der Eltern dominieren, sind intuitive und feinfühlige Verhaltensbereitschaften bei allen Menschen vorhanden, auch ohne Ausbildung. Wird Intuition jedoch nicht gepflegt, bildet sie sich zurück und es fällt den Eltern und sekundä-ren Bezugspersonen immer schwerer, sich intui-tiv feinfühlig und kompetent aufs Kind einlassen zu können. Allerdings können es auch Signale seitens des Kindes sein, welche die elterliche In-tuition hemmen können.
Weiterführende Literatur Papousek, M. (2001). Intuitive elterliche Kompe-tenzen. Eine Ressource in der präventiven El-tern-Säuglings-Beratung und -Psychotherapie. Frühe Kindheit, 4, 4-10.
Tschöpe-Scheffler, S. (2003). Fünf Säulen der Er-ziehung, Wege zu einem entwicklungsfördern-den Miteinander von Erwachsenen und Kindern. Mainz: Grünewald.
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tion. Solche Merkmale gelten als entwick-‐lungspathologisch, weil die Bindungsperson eine angsterzeugende Rolle spielt. Das Kind zeigt bizarre Verhaltensweisen (Erstarren, Stereotypien wie Hin-‐ und Herschaukeln, zielloses Umherwandern).
Entwicklungspsychologische Veränderun-‐gen in den Bindungsbeziehungen Es gibt einen altersabhängigen Wandel in den Bindungsbeziehungen zwischen 0 und 6 Jahren. Unterschieden werden müssen eine Frühphase (0 bis 18 Monate), eine Spätphase (19 Monate bis 36 Monate) und eine Vorschulphase (3 bis 6 Jahre). In dieser Zeit verändern sich die Bezie-‐hungen von einer dyadischen Beziehung zu so-‐zial erweiterten gruppenorientierten Beziehun-‐gen:
l 0 bis 18 Monate: In dieser Zeit zeigt das Baby eine zunächst differenzierende, dann scharf definierte Aufmerksamkeit auf die Mutter und schliesslich eine Bereitschaft, über Grussreaktionen auch eine Bindung an andere Personen aufzubauen.
l 19 bis 36 Monate: Mit zunehmender Mobili-‐tät beginnt das Kind, sein Verhalten auch unabhängig von der primären Bezugsperson zu organisieren. Deshalb steht der Aufbau weiterer, so genannt «sekundärer Bindungs-‐beziehungen» an. Alle Beziehungspersonen müssen ihr Betreuungsverhalten nun den neuen Entwicklungsbedürfnissen anpassen, wenn sie die Entwicklung des Kindes beglei-‐ten und die Beziehungsqualität aufrecht-‐erhalten wollen. Ein günstiger Betreuungs-‐schlüssel (in Bezug auf die Anzahl betreuter Kinder, die Stabilität der Betreuungsperson und die Kontinuität der Betreuung) ist des-‐halb zentral.
l 3 Jahre bis 6 Jahre: In der Vorschulzeit bil-‐den sich sekundäre Bindungsbeziehungen auch ausserhalb des familiären Beziehungs-‐netzes aus. Bestehende Bindungsbeziehun-‐gen wandeln sich aufgrund von Entwick-‐lungsveränderungen. Gerade in familiener-‐gänzenden Einrichtungen können beste-‐hende Bindungsbeziehungen gestärkt wer-‐den. Diese bilden dann eine gute Vorausset-‐zung der Schulvorbereitung. Stabile Grup-‐penstrukturen (Kinder bilden über längere Zeit mit einer Betreuerin eine Gruppe, Ritu-‐ale etc. werden aufgebaut) sind deshalb be-‐sonders wichtig.
Feinfühligkeit als Merkmal des intuitiven Fürsorgeverhaltens Das Pendant zum kindlichen Verhaltenssystem ist die intuitive Fürsorgebereitschaft naher Be-‐zugspersonen. Eltern sind dabei die wichtigsten und ersten Kontaktpersonen. Wie sie mit ihrem Kind umgehen, bestimmt schon ab dem ersten Lebenstag die Qualität der kindlichen Bindungs-‐erfahrungen. Eine innige, emotionale Bindungs-‐erfahrung entsteht, wenn das Kind mit Personen, die ihm nahestehen, gute Erfahrungen macht, d.h., seine Bedürfnisse befriedigt werden, es mit ihnen zusammen sein kann und sie sich ihm zu-‐wenden.
Mary Ainsworth hat die Feinfühligkeit als wich-‐tigstes Merkmal sowie als Voraussetzung und Kern der Mutter-‐Kind-‐Beziehung bezeichnet. Feinfühligkeit meint, dass die Mutter resp. Bin-‐dungsperson
l die kindlichen Signale wahrnimmt, ihnen ge-‐genüber aufmerksam und offen ist,
l die Signale des Kindes richtig deutet,
l sie prompt und angemessen beantwortet.
Derartige Feinfühligkeit umfasst ein vielgestalti-‐ges Repertoire spezifischer Verhaltensanpassun-‐gen und Abstimmungen (z.B. Zeitmass, Intensi-‐tät, Rhythmus) sowie eine spezifische Sensibilität für Rückkoppelungssignale (z.B. Mimik, Stimme, Körpersprache etc.). Feinfühligkeit gilt als basal angeborene elterliche Kompetenz. Papousek und Papousek (1987) sprechen deshalb von «in-‐tuitive Parenting», Tschöpe-‐Scheffler (2003) von «intuitiver Elternvernunft». Deshalb fungieren das kindliche Bindungs-‐/Erkundungssystem und das elterliche Fürsorgesystem als sich selbst auf-‐rechterhaltendes System. Da sich diese intuiti-‐ven Prozesse erst in Interaktion mit dem Kind ausbilden, sind sie störanfällig. Bis heute ist ungeklärt, ob ‚intuitive Elternvernunft‘ ausreicht, eine ‚hinreichend gute Mutter‘ oder ein ‚hinrei-‐chend guter Vater‘ zu sein, oder ob sie hierzu noch spezifischer Erfahrungen bedürfen.
Temperament, Bindung und Fürsorge Nach einer langen Zeit der Vergessenheit nimmt das Temperament des kleinen Kindes als Perso-‐nalmerkmal wieder eine bedeutsame Rolle in der pädagogischen Fachdiskussion ein. Tempe-‐rament ist der Ausdruck für individuelle Beson-‐derheiten in emotionalen und affektiven Berei-‐chen des Verhaltens. Sie sind schon früh in der Entwicklung zu beobachten und relativ zeitstabil.
Allgemein geht man heute davon aus, dass das Verhalten der Eltern (und das der familienergän-‐zenden Betreuung) mit den kindlichen Eigen-‐
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Bildung braucht Bindung
Briefing Paper 2: Welche unterschiedlichen Bindungen das Kind haben kannDie tief verwurzelte Annahme, dass das kleine Kind nur eine innige emotionale Beziehung zu einer Person entwickeln kann und dass dies in den meisten Fällen die Mutter ist, hat dazu ge-führt, dass die Frage nach anderen Bindungsper-sonen, insbesondere nach der des Vaters und ausserfamiliärer Bezugspersonen über Jahr-zehnte hinweg vernachlässigt worden ist.
Anthropologische Grundlagenforschungen zei-gen, dass es keine Urform der Kinderbetreuung gibt, sondern je nach Kultur sehr unterschiedli-che Betreuungspraxen und folgedessen unter-schiedliche Definitionen von Bindungen gelten. Das, was in einer Kultur als wichtig erachtet wird, kann in einer anderen Kultur als falsch gel-ten. Familienergänzende Betreuungsarrange-ments gehören zu den geschichtlich ältesten So-zialisationsbedingungen von Kindern. Neu ist nur, dass diese heute zu einem grossen Teil über Bezahlung erfolgen.
Aus der Bindungsforschung stehen heute neue und vielfach bestätigte Erkenntnisse zur Verfü-gung, welche die Exklusivität der Mutterrolle re-lativieren: Ein Kind muss für eine optimale Ent-wicklung das erste Lebensjahr nicht vollkommen in der Obhut seiner Mutter verbringen. Fremd-betreuung ist nicht per se schädlich. Wesentli-cher ist eine sichere Bindung an eine Bezugsper-son. Eine frühe ausserfamiliäre Betreuung ist somit nur dann problematisch, wenn die Bin-dung an die Mutter oder den Vater nicht stimmt und ihre Feinfühligkeit nicht gut ausgebildet ist.
Somit kann als empirisch gesichert gelten, dass Bindungen auch zu anderen Personen als der Mutter möglich und erwünscht sind und ein Kind an mehr als eine Person gebunden sein kann. Nachfolgend werden deshalb die Vater-Kind-Bindung sowie die Bindung an ausserfamiliäre Bezugspersonen unter die Lupe genommen und in diesem Zusammenhang die wichtige Frage der Eingewöhnung in eine familienergänzende Insti-tution erörtert.
Vater-Kind-Bindungen Nachdem in den letzten zwanzig Jahren das neue Leitbild emotionaler Beziehungen innerhalb der Familie alltäglich wurde, ist auch das Interesse an der direkten Vater-Kind-Beziehung stark ge-wachsen. Vor allem Karin Grossmann (2011) ist es, welche sie eingehend untersucht hat. Aller-dings hat sie hierzu nicht den «Fremde Situation Test» verwendet, sondern das kindliche Spiel-
verhalten. Grossmann kommt dabei zum Schluss, dass auch Väter als wichtige Bindungspersonen zur Verfügung stehen können und sie den Müt-tern in nichts nachstehen. Allerdings ortet sie deutliche Unterschiede im Interaktionsstil zwi-schen Müttern und Vätern.
So ist die väterliche Feinfühligkeit durch eine be-stimmte Spezifik gekennzeichnet, die Grossmann als «Spielfeinfühligkeit» bezeichnet. Vater und Mutter haben zwar ein ähnlich intuitives Hand-lungswissen. Aber Väter gehen ab Geburt mit ih-rem Kind anders um. Während Mütter einen en-geren Körperkontakt haben, emotional beschüt-zender sind und eher die innere Gefühlswelt des Kindes regulieren, zeigen Väter durchschnittlich weit stärkere Neigungen, ihr Kind im physischen Tun stark anzuregen und seine Fähigkeiten wie auch sein Selbstvertrauen stark herauszufordern. Während mütterliche Feinfühligkeit somit für die emotionale Zuwendung und das Mitgefühl sehr wichtig ist, gilt Gleiches für Väter in Bezug auf die körperliche und psychische Entwicklung inkl. das Selbstvertrauen. Dementsprechend spielt die väterliche Feinfühligkeit für das Erkundungs-verhalten des Kindes eine wichtige Rolle, ver-gleichbar mit der Mutter in Bezug auf das Bin-dungsverhalten.
Solche geschlechtsabhängigen Unterschiede sind erstaunlich. Ahnert (2010) beispielsweise vermu-tet, dass ihre Wurzeln im Interaktionsstil wohl evolutionär geformt wurden und in der ge-schlechtsabhängig unterschiedlichen Verbrei-tung auf spätere Fürsorgerollen zu finden sind.
Erzieherinnen-Kind-Bindungen Im Zuge neuer Familienformen und des Bedarfs weiblicher Arbeitskräfte ist in den letzten zwan-zig Jahren das Interesse an den Auswirkungen von Fremdbetreuung stark gestiegen. In der Fol-ge wurde die zeitliche Abwesenheit der Mütter in vielen Forschungsarbeiten relativiert und nur mehr als einer von vielen Faktoren betrachtet, der die kindliche Entwicklung beeinflusst. Be-deutsamer wurden nun Fragen nach der Qualität der Fremdbetreuung selbst und der Qualifikati-onsmerkmale von Betreuungspersonen. Viele Studienergebnisse liessen die enorme Bedeut-samkeit solcher Faktoren erkennen, zumal sich vielfach zeigte, dass gerade herkunftsbedingte und häusliche Entwicklungsprobleme partiell kompensiert werden können, wenn die qualita-tiven Anforderungen stimmen. Qualitativ hoch-stehende Fremdbetreuung beinhaltet somit ge-
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Ein Fundament für das Vorschulalter
nerelle Chancen für Kinder aus sozial benachtei-ligten Familien.
Wenn heute fast 70% der Vorschulkinder fami-lienergänzend betreut werden, dann genügt es logischerweise nicht mehr, sich nur mit der Bin-dungssicherheit des Kindes zu seiner Mutter zu-friedenzugeben. Auch die Beziehungserfahrun-gen zu den familienergänzenden Betreuungsper-sonen sind einzubeziehen. Heute wird allgemein anerkannt, dass kleine Kinder auch zu sekundä-ren Betreuungspersonen bindungsähnliche Be-ziehungseigenschaften aufbauen können. Zu-sätzliche Bindungserfahrungen können eine grosse Ressource für Kinder darstellen, die privat keine sicheren Bindungen aufbauen können. Ist Stabilität bei pädagogischen Fachkräften vor-handen, dann können sie eine sicherheitsge-bende Funktion erfüllen und zu Bindungsperso-nen werden.
Somit muss das familiäre Bindungskonzept auch auf die öffentliche Kinderbetreuung übertragen werden. Allerdings darf dies nicht unreflektiert geschehen. Dort, wo dies dennoch so geschieht, wird einer überkommenen Mütterlichkeitspäda-gogik Vorschub geleistet. Vielmehr geht es da-rum zu erkennen, dass die Eltern immer die pri-mären Bezugspersonen sind und das pädagogi-sche Fachpersonal keine Ersatzfiguren für Mut-ter und Vater sind, auch wenn sie vom Kind als sekundäre Bezugspersonen anerkannt werden. Ein Kind kann zwischen verschiedenen Bezugs-personen differenzieren. Jede Beziehung wird für sich aufgebaut und kann von je unterschied-licher Qualität sein. Folgende Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind dabei zu beachten:
Hierarchie der Bindungsbeziehungen: Eltern sind (in der Regel) die primären Bezugsper-sonen. Ein Kind bevorzugt immer eine Bin-dungsperson vor einer anderen. Eine Erzie-herin ist kein Ersatz für Mutter und Vater.
Nachgeordnete Bindungsperson: Die Erzie-herin-Kind-Beziehung entsteht zwar relativ unabhängig von den familialen Erfahrungen, die Erzieherin wird jedoch zu einer nachge-ordneten, d.h. sekundären Bindungsperson. Deshalb ist eine behutsame Einge-wöhnungszeit wichtig.
Unterschiedliche Feinfühligkeiten: Feinfüh-ligkeit ist bei Erwachsenen immer un-terschiedlich ausgeprägt. Eine Erzieherin kann sowohl feinfühliger als auch weniger feinfühlig sein als manche Mutter oder man-cher Vater und einem Kind trotzdem sichere Bindungserfahrungen ermöglichen.
Unterschiedliche Zentrierung: Während ei-ne sichere Erzieherin-Kind-Beziehung dann
entsteht, wenn ein empathisches Gruppen-verhalten aufgebaut werden kann, ist dies für die Eltern-Kind-Beziehung der Fall, wenn das Verhältnis kindzentriert und sensitiv ist.
Was muss eine Bezugsperson verkörpern und wie erkennt man, ob sie eine ist? Eine Bezugsperson muss das körperliche Wohl-befinden des Kindes befriedigen können und ihm Sicherheit geben. Zudem sollte sie spontan in der Lage sein, sein psychisches Wohlbefinden durch Geborgenheit, Zuwendung und Stressre-duktion befriedigen zu können. Schliesslich muss sie die kindliche Entwicklung durch die Unter-stützung des Erkundungsverhaltens ganzheitlich anregen können. Dass eine Person vom Kind als Bezugsperson betrachtet wird, zeigt sich wie folgt:
Das Kind lässt sich besser von ihr beruhigen als von anderen Personen.
Das Kind wendet sich ihr eher zu, wenn es Trost und Unterstützung braucht.
Das Kind ist weniger ängstlich, wenn diese Person präsent und verfügbar ist.
Eingewöhnung Gute, d.h. empirisch validierte Eingewöhnungs-konzepte basieren auf der Einsicht, dass die ver-schiedenen Bindungsbeziehungen eines Kindes aufeinander bezogen werden müssen, die Eltern resp. Erziehungsverantwortlichen jedoch die wichtigsten Bindungspersonen darstellen. Diese Beziehung bildet das Fundament für weitere Be-ziehungen zu sekundären Bezugspersonen. Ziel der Eingewöhnung ist es, dass das Kind, ausge-hend von der Beziehung zur Primärperson der Mutter resp. des Vaters, die fremde Umgebung zunächst auskundschaftet und Vertrauen zur neuen Bezugsperson fasst. Voraussetzung hier-für ist, dass sich die Bezugserzieherin ganz dem neuen Kind widmen und versuchen kann, mit ihm eine Beziehung aufzubauen.
Grundlage einer solchen Beziehung ist ein stabi-les, feinfühlig gestaltetes und intensives Pflege- und Förderverhalten. Als stabil bezeichnet wer-den kann diese neue Beziehung in der Einge-wöhnungsphase dann, wenn sich das Kind in der Gegenwart der Hauptbindungsperson von der Erzieherin füttern, wickeln, schlafenlegen, trös-ten etc. lässt. Gerade auch aus Gründen des für-sorglichen Bindungsaufbaus ist der Betreuungs-schlüssel so zentral, der – gemäss internationa-len Massstäben – 2 bis 3 Kleinkinder pro päda-gogische Fachperson nicht überschreiten soll.
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Bildung braucht Bindung
Eine gute Eingewöhnung ist Voraussetzung, dass ein Kind weitere Bindungsbeziehungen aufbauen kann. Sie gilt als entscheidend für eine gute fa-milienergänzende Betreuung. Heute gilt Einge-wöhnung als Qualitätsstandard.
Bilanz Es kann als unbestritten gelten, dass sich Klein-kinder durch zeitlich beschränkte familienergän-zende Betreuungsverhältnisse nicht per se nach-teiliger entwickeln, als wenn sie allein von der Mutter betreut werden. Ein kleines Kind kann auch innige Beziehungen zu anderen Bezugsper-sonen aufbauen, beispielsweise zu ausserfamili-ären Betreuungspersonen oder zum Vater. Des-halb gilt es, das familiäre Bindungskonzept in den familienergänzenden Einrichtungen weiter-zudenken, denn: Eltern-Kind-Beziehun-gen un-terscheiden sich immer von Erzieherinnen-Kind-Bindungen.
Dass der Vater als besonders spielfeinfühlig gilt und er oft andere und auch aufregendere Dinge mit dem Kind macht als die Mutter, belegen die Studien von Grossmann (2011). Allerdings soll-ten solche Ergebnisse in einem historischen Kon-text relativiert werden. Denn diese Studien ba-sieren vor allem auf den klassischen geschlechts-spezifischen Rollen, wonach die Mutter für die Betreuung und die emotionale Grundversorgung des Kindes verantwortlich ist, während sich der Vater eher auf die spielerische Interaktion be-
schränkt. Damit berücksichtigen sie den gesell-schaftlichen Rollenwandel nur am Rande und bergen insofern die Gefahr, die anthropologi-schen Festlegungen zu fixieren. Spielfeinfühlig-keit und Erkundungsunterstützung sollten somit im geschlechtsspezifischen Vergleich untersucht werden. Anzunehmen ist nämlich, dass es grosse Unterschiede gibt zwischen Vätern und zwischen Müttern – je nach gelebtem Familienmodell.
Positiv an der aktuellen Entwicklung insgesamt ist jedoch, dass die Bedeutung der frühen Vater-Kind-Beziehung in unserer Gesellschaft ange-kommen zu sein scheint.
Weiterführende Literatur Ahnert, L. (2010). Wieviel Mutter braucht das Kind? Heidelberg: Spectrum.
Grossmann, K. (2011). Der lebenslange Einfluss des Vaters auf die Organisation von Gefühlen und sozialem Verhalten. In U. Borst & A. Lan-franchi (Hrsg.), Liebe und Gewalt in nahen Be-ziehungen (S. 52-67). Heidelberg: Auer.
Kindler, H. & Grossmann, K. (2008). Vater-Kind-Bindung und die Rolle der Väter in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder (S. 240-255). In L. Ahnert (Hrsg.), Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung. 2. aktualisierte Auflage. Mün-chen/Basel: Reinhardt.
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Bildung braucht Bindung
Eine gute Eingewöhnung ist Voraussetzung, dass ein Kind weitere Bindungsbeziehungen aufbauen kann. Sie gilt als entscheidend für eine gute fa-‐milienergänzende Betreuung. Heute gilt Einge-‐wöhnung als Qualitätsstandard.
Bilanz Es kann als unbestritten gelten, dass sich Klein-‐kinder durch zeitlich beschränkte familienergän-‐zende Betreuungsverhältnisse nicht per se nach-‐teiliger entwickeln, als wenn sie allein von der Mutter betreut werden. Ein kleines Kind kann auch innige Beziehungen zu anderen Bezugsper-‐sonen aufbauen, beispielsweise zu ausserfamili-‐ären Betreuungspersonen oder zum Vater. Des-‐halb gilt es, das familiäre Bindungskonzept in den familienergänzenden Einrichtungen weiter-‐zudenken, denn: Eltern-‐Kind-‐Beziehungen un-‐terscheiden sich immer von Erzieherinnen-‐Kind-‐Bindungen.
Dass der Vater als besonders spielfeinfühlig gilt und er oft andere und auch aufregendere Dinge mit dem Kind macht als die Mutter, belegen die Studien von Grossmann (2011). Allerdings soll-‐ten solche Ergebnisse in einem historischen Kon-‐text relativiert werden. Denn diese Studien ba-‐sieren vor allem auf den klassischen geschlechts-‐spezifischen Rollen, wonach die Mutter für die Betreuung und die emotionale Grundversorgung des Kindes verantwortlich ist, während sich der Vater eher auf die spielerische Interaktion be-‐
schränkt. Damit berücksichtigen sie den gesell-‐schaftlichen Rollenwandel nur am Rande und bergen insofern die Gefahr, die anthropologi-‐schen Festlegungen zu fixieren. Spielfeinfühlig-‐keit und Erkundungsunterstützung sollten somit im geschlechtsspezifischen Vergleich untersucht werden. Anzunehmen ist nämlich, dass es grosse Unterschiede gibt zwischen Vätern und zwischen Müttern – je nach gelebtem Familienmodell.
Positiv an der aktuellen Entwicklung insgesamt ist jedoch, dass die Bedeutung der frühen Vater-‐Kind-‐Beziehung in unserer Gesellschaft ange-‐kommen zu sein scheint.
Weiterführende Literatur Ahnert, L. (2010). Wieviel Mutter braucht das Kind? Heidelberg: Spectrum.
Grossmann, K. (2011). Der lebenslange Einfluss des Vaters auf die Organisation von Gefühlen und sozialem Verhalten. In U. Borst & A. Lan-‐franchi (Hrsg.), Liebe und Gewalt in nahen Be-‐ziehungen (S. 52-‐67). Heidelberg: Auer.
Kindler, H. & Grossmann, K. (2008). Vater-‐Kind-‐Bindung und die Rolle der Väter in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder (S. 240-‐255). In L. Ahnert (Hrsg.), Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung. 2. aktualisierte Auflage. Mün-‐chen/Basel: Reinhardt.
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Ein Fundament für das Vorschulalter
Briefing Paper 3: Weshalb eine sichere Bin-dung wichtig und die Grundlage für Bildung ist Bindung ist Schicksal. Soziale Nähe (Bindung) und Interaktion (Erkundung, «Exploration») sind nicht nur angeborene Grundlagen des Men-schen, sondern auch ein Erfordernis für seine Entwicklung. Kleine Kinder brauchen somit Be-treuungsbedingungen, welche Bindungsqualitä-ten und Bindungsbeziehungen garantieren. Dies gilt sowohl für zu Hause als auch für die ausser-familiäre Tagesbetreuung. Bindung ist aber auch Grundlage für Bildung. Bildung kommt nicht al-lein durch frühe Förderung oder ausserfamiliär organisierte Kurse zustande, sondern in erster Linie dann, wenn emotionale, sicherheitsge-bende Beziehungen zu nahestehenden Personen vorhanden sind. Wenn somit Bindung eine so wichtige Grundlage für Bildung, also für alle För-dermassnahmen, darstellt, dann stehen insbe-sondere auch familienergänzenden Institutionen vor einer besonderen Herausforderung: Nicht nur ihrer formalen Betreuungspflicht nachzu-kommen, sondern auch den Aufbau sicherer Be-ziehungen zu den ihnen anvertrauten Kindern garantieren zu können.
Pädagogische Bedeutung der Neurowissen-schaften für Bindung und Bildung Die Forschungsergebnisse zur Bedeutung der Einflüsse von Bindungsbeziehungen auf die sozi-ale, kognitive und emotionale kindliche Ent-wicklung werden auch durch Ergebnisse der Neurowissenschaften bestätigt. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Bald nach der Geburt entstehen in der kindlichen Grosshirnrinde viele Nervenzellen (Neuronen), die dem Kleinkind die nötige Empfänglichkeit für die vielen Anregungen der Umwelt ermöglichen. Immer dann, wenn Kinder etwas Neues erleben und lernen, werden die dabei in ihrem Gehirn aktivierten Verschaltungsmuster der Nervenzel-len (Neuronen) und Synapsen (Kontaktstellen zwischen den Neuronen) gebahnt und gefestigt. Mit ca. sechs Jahren ist die Grundstruktur des Neuronennetzes entstanden, wobei häufig ge-nutzte Nervenbahnen sich verstärken, andere, die weniger genutzt werden, sich jedoch zurück-binden. Das Neuronennetz ist der Spiegel des-sen, welchen Anforderungen ein Kind in den ers-ten Lebensjahren ausgesetzt war. Die Plastizität des Gehirns bleibt über die ganze Lebensspanne bestehen, ist im Kindesalter aber ausgeprägt vor-handen.
Weshalb kann man von einem «Gehirn als Sozi-alorgan» (Hüther, 2004, S. 489) sprechen? In ers-ter Linie, weil sich frühe emotionale Erfahrungen auf den Strukturaufbau des Gehirns und die wei-tere geistige Entwicklung auswirken. Man spricht dabei auch von («Neuroplastizität»). Wie und ob beispielsweise das kleine Kind ermutigt wird, be-stimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwi-ckeln, auf bestimmte Dinge besonders zu achten, bestimmte Gefühle zuzulassen – dies prägt sein Gehirn und damit seine Persönlichkeit. Gleiches gilt jedoch auch im negativen Sinn: Wird es ge-zwungen oder angehalten, bestimmte Fertigkei-ten zu lernen, die ihm (noch) nicht entsprechen oder bestimmte Gefühle nicht zuzulassen, dann wirken sich solche verunsichernden und Druck erzeugenden Erfahrungen ebenfalls auf der hirnphysiologischen Ebene aus.
In solchen Erkenntnissen liegt auch der Grund, weshalb die Neurowissenschaften den Slogan «Förderung durch Forderung» unterstreichen. Werden Synapsen nicht angeregt – weil z.B. mit dem Kind nicht angemessen kommuniziert wur-de, nicht genügend Körperkontakte stattge-funden haben oder Emotionen nicht erwidert worden sind – dann gehen sie verloren. Heute ist klar, dass Früherfahrungen wichtige Weichen stellen und zu besonderen Fähigkeiten führen können. Einige Entwicklungsbereiche, wie z.B. das regelmässige Hören einer Sprache, die pho-nologische Bewusstheit (die Fähigkeit, Laute zu erkennen etc.) oder der frühe Zahlbegriff, gehö-ren dazu. Andererseits ist klar, dass die grosse Plastizität des menschlichen Gehirns auch in spä-teren Entwicklungsperioden erhalten bleibt. «Was Hänschen nicht lernt – lernt Hans nim-mermehr» stimmt somit in dieser Ausschliess-lichkeit nicht. Hans kann noch lange lernen, auch wenn er ein älterer Mann ist, aber die Art und Weise, wie er lernt und was er noch lernen kann, verändert sich enorm.
Die Stossrichtung, wonach sich in der frühen Kindheit entscheidende Entwicklungen ereignen, ist richtig. Aber die Forderung nach früher kogni-tiver Stimulation kann auch ihre Schattenseiten haben.
Weshalb eine sichere Bindung so wichtig ist Die Reaktion eines Kindes hängt vom Ausmass seines Urvertrauens zur Mutter resp. zu seinen Bezugspersonen ab. Dazu gehört auch die Fein-
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Bildung braucht Bindung
fühligkeit ihres Umgangs mit ihm. Diese Aspekte kennzeichnen das, was als sicheres Bindungs-muster gilt. Wenn ein Kind spürt, dass es sich auf jemanden verlassen kann, dann kann es auch Vertrauen in sich und andere Menschen entwi-ckeln und sich selbst als liebenswert und liebes-fähig erfahren. Letztlich erklärt ein solches Bin-dungsmuster auch, weshalb manche Kinder un-verwundbarer sind («invulnerabler») als andere und unter schlechten Bedingungen resiliente Verhaltensmuster entwickeln können.
Eine sichere Bindung ist aus zwei Hauptgründen wichtig:
Erstens, weil eine feinfühlige Zuwendung ei-ne nachhaltige Wirkung auf den weiteren Lebensverlauf hat. Wenn sich frühe Bin-dungserfahrungen auch auf der hirnphysio-logischen Ebene auswirken, dann spielen Emotionen – in erster Linie der feinfühlige Umgang der Bezugspersonen mit dem Kind –folgedessen eine wichtige Rolle. Bindung und Erkundung (Exploration) sind deshalb die wichtigste Grundlage von Bildung und Erziehung.
Zweitens, weil empirische Studien nachwei-sen, dass sichere Bindungsbeziehungen eine gute Grundlage für einen erfolgreichen Schuleintritt und den späteren Schulerfolg darstellen.
Auswirkungen von sicheren Bindungen Somit hat eine sichere Bindung langfristig posi-tive Auswirkungen. Was das Kind in seinem ers-ten Lebensjahr erlebt, ist prägend sowohl für seine Beziehungserwartungen, die es später mit-trägt als auch für den Aufbau seiner Kapazitäten. Zusammen bilden sie zwei wichtige Einflussgrös-sen seiner späteren Schullaufbahn. Darauf ver-weisen Studien von Grossmann und Grossmann (2004) sowie Ahnert und Harwardt (2008):
Weniger Aggressivität im Kindergarten: Grossmann und Grossmann (2004) haben in einer mehr als zwanzig Jahre dauernden Längsschnittstudie die Auswirkungen von frühen Bindungserfahrungen untersucht. Dabei konnten sie feststellen, dass sicher gebundene Kindergartenkinder weniger ag-gressiv als andere sind, insgesamt sozial kompetenter, in Konfliktsituationen gewand-ter wie auch in Spielsituationen konzentrier-ter. Auch für das Schulalter fielen die Ergeb-nisse ähnlich aus. So sind sicher gebundene Kinder eher in der Lage, ihre Impulse zu kon-trollieren, die Bedürfnisse den Situationser-fordernissen anzupassen und mit Niederla-gen umzugehen.
Mehr Beharrlichkeit, Lernfreude und An-strengungsbereitschaft: Die Studie von Ahnert und Harwardt (2008) zeigt auf, dass nicht nur familiäre Bindungsbeziehungen, sondern auch solche zu Erzieherinnen in Ta-gesbetreuungseinrichtungen, eine wichtige Rolle im Hinblick auf den Schulerfolg spielen. Dabei erwiesen sich mütterlicherseits vor al-lem sicherheitsgebende Aspekte als zentral, seitens des pädagogischen Fachpersonals waren es Aspekte des Erkundungsverhaltens und der Assistenz. Kinder, welche gute Be-ziehungen zu Erzieherinnen aufbauen konn-ten, verfügten eher über Strategien, wie man sich selbst Wissen aneignen kann oder dass man sich anstrengen muss, wenn der Wissenserwerb schwer wird.
Was lässt sich aus diesen Ergebnissen folgern? Dass sich erstens in günstigen Bindungsstruktu-ren motivationale Grundlagen von kindlichen Lern- und Bildungsprozessen ausbilden. Zwei-tens, dass inner- und ausserfamiliär im Vorschul-alter auf Schulfähigkeit hin gearbeitet werden kann.
Bilanz Zunächst einmal hat das Briefing Paper deutlich gemacht, dass frühe Bildungsanstrengungen in tragende Beziehungen eingebettet sein müssen. Nur eine sichere Bindung gibt dem Kind das Ge-fühl, aktiv handelnd und selbstwirksam zu sein und zu werden. Daraus folgt, dass Kinder eine soziale Umgebung brauchen, welche herausfor-dernd und befähigend ist. Jüngere Kinder sind davon stärker abhängig als ältere Kinder.
Für den Schuleintritt ist zudem die Entwick-lungsdynamik der kindlichen Beziehungserfah-rungen zwischen innerfamiliären Bezugsperso-nen (Mutter, Vater) und familienergänzenden Bezugspersonen wichtig. Ein erfolgreicher Schul-eintritt wird nicht allein durch die kognitiven Fä-higkeiten, die sprachliche und mathematische Förderung vorbereitet, sondern ebenso in den emotionalen und motivationalen Grundlagen. Diese basieren auf Bindungsbeziehungen, die für den kindlichen Wissenserwerb und die Bildungs-entwicklung wichtig sind. Sie prägen Lernfreude und Anstrengungsbereitschaft, welche zu den grundlegenden Kompetenzen für eine erfolgrei-che Schullaufbahn gehören.
Weiterführende Literatur Ahnert, L. (2007). Von der Mutter-Kind-Bindung zur Erzieherin-Kind-Beziehung? In F. Becker-Stoll, B. Becker-Gebhard & M. R. Textor (Hrsg.), Die Er-zieherin-Kind-Beziehung – Zentrum von Bildung und Erziehung (S. 31–41). Weinheim: Beltz PVU.
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Ein Fundament für das Vorschulalter
Ahnert, L. & Harwardt, E. (2008). Die Bezie-hungserfahrungen der Vorschulzeit und ihre Be-deutung für den Schuleintritt. Empirische Päda-gogik, 22, 2, 145-159.
Grossmann, K. & Grossmann, K. E. (2005). Bin-dungen – Das Gefüge psychischer Sicherheit. Stuttgart: Klett-Cotta. Teil IV und Teil V.
Hüther, G. (2004). Die Bedeutung sozialer Erfah-rungen für die Strukturierung des menschlichen Gehirns. Zeitschrift für Pädagogik, 50, 4, 487-495.
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Bildung braucht Bindung
Briefing Paper 4: Wo der Schlüssel für gute frühkindliche Bildung liegt Kein Thema hat Medien und Eltern – aber auch die Wissenschaft – in den letzten Jahren so sehr bewegt wie die frühkindliche Bildung. Häufig wird alle Hoffnung in sie gesetzt, dass Kinder gut gedeihen, die Startchancen für alle gleich wer-den und sie sich gut in die Gesellschaft integrie-ren. Aus den bisherigen Briefing Papers ist je-doch deutlich geworden, dass die wichtigste Aufgabe im Kleinkindalter nicht die frühkindliche Bildung ist, sondern der Aufbau stabiler Bin-dungsbeziehungen zu Eltern und weiteren Per-sonen (Tagesfamilien, Grosseltern, Verwandte, Freunde). Erst auf dieser Basis kann das Kind sei-nen Erkundungsdrang aktivieren und sein kogni-tives Potenzial optimal ausnutzen.
Bedingungen früher Bildung Eine erste wichtige Grundvoraussetzung früher Bildungsmöglichkeiten ist, dass die physischen Grundbedürfnisse des Kindes gestillt sind. Kin-der, die krank, hungrig oder fiebrig sind, werden nicht voller Energie die Umgebung erkunden. Wenn ein kleines Kind in der Kita am Tisch ein-schläft, hätte es früher eine Ruhepause ge-braucht. Gleiches gilt, wenn ein Vater seine Drei-jährige ins Ballett bringt und sie dort nur herum-sitzt. Solche Grundvoraussetzungen gelten vor allem für kleine Kinder, wobei die Unterschiede in diesem Alter sehr gross sind. Grössere Kinder sind unabhängiger. Insgesamt müssen Familien, Kitas und andere familienergänzende Einrich-tungen einen Spagat vollführen zwischen regel-mässigem Tagesablauf und der Orientierung an kindlichen Bedürfnissen.
Der zweite Punkt ist die soziale Interaktion. Ge-rade weil Bindung und Exploration so stark mit-einander verbunden sind, ist eine positive Bezie-hung eng mit stärkenden Bildungsprozessen ver-bunden. Wenn Kinder wissen, dass ihre Bezugs-personen verfügbar sind und auf ihre Bedürf-nisse reagieren, dann fühlen sie sich sicher und können in eine Auseinandersetzung mit der Umwelt eintreten. Umgekehrt spielt jedoch Bil-dung auch eine Rolle für den Aufbau von Bin-dung. So kann beispielsweise gerade die väterli-che Spielfeinfühligkeit den Beziehungsaufbau zum Kind fördern und die Beziehung stärken.
Eine dritte Bedingung ist die gemeinsame Kon-struktion von Bedeutungen. Hier geht es nicht um die Aufnahme oder Vermittlung von Fakten-wissen, sondern um Erkenntnis, Verstehen von Bedeutungen und von Problemstellungen. Dies
gilt auch für Kinder unter drei Jahren. Gerade so junge Kinder brauchen Eltern und andere Er-wachsene, die sich aktiv in Lernprozesse einbrin-gen und die Kinder nicht lediglich in den Ba-byschwimmkurs begleiten oder in einer Vor-schule unterrichten lassen. Das Wichtigste ist, dass sie mit dem Kind interagieren, und dem, was es tut, durch diese Interaktion weitere Be-deutung geben.
Frühkindliche Bildung versus frühe Förde-rung versus Frühförderung Unter «frühkindlicher Bildung» wird nach wie vor häufig – vor allem in der Bildungspolitik – die frühe Schulvorbereitung verstanden. In der Wis-senschaft besteht jedoch Einigkeit darüber, dass es sich dabei um die Anregung aller Kräfte des Menschen handelt, damit sich diese über die Aneignung der Welt entfalten. Das Ziel ist dabei, einen Bezug im Denken, Handeln und auch Füh-len zu entwickeln.
Frühkindliche Bildung ist nicht das Gleiche wie frühe Förderung oder Frühförderung. Während frühkindliche Bildung eine ganzheitliche und umfassende Anregung aller Sinne meint, wird unter früher Förderung die gezielte Unterstüt-zung von Kapazitäten verstanden, die im Kind anlagemässig vorhanden sind. Dazu gehören beispielsweise Sprachkurse, Babyschwimmen, Frühförderungsvideotheken etc. Frühförderung hat hingegen in erster Linie eine kompensatori-sche Funktion. Gemeint ist damit, dass Kinder in den Bereichen gefördert werden sollen, in denen sie im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern in ihrer Entwicklung hinterherhinken. Eltern solcher Kinder müssen sich Sorgen machen, Eltern der anderen Kinder nicht.
Lernen durch Imitation und die Zone der nächsten Entwicklung Weil Bildung auf Bindung aufbaut, ergeben sich notwendigerweise Verbindungen zwischen Bin-dungstheorie und Kognitionsforschung. Michael Tomasello (2006) betrachtet dabei die geteilte Aufmerksamkeit zwischen Bezugsperson und Kind als Motor der kognitiven Entwicklung. Mit geteilter Aufmerksamkeit gemeint ist, dass Kin-der schon sehr früh ein genuines Interesse zei-gen, ihre Erfahrungen mit ihrer Bezugsperson zu teilen. Die Resonanz (erklärende Kommentare und affektive Äusserungen), welche sie von ihr erhalten, liefert wichtige Impulse für ihre Ent-
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Ein Fundament für das Vorschulalter
wicklung. Bezugspersonen ermöglichen dem Kind, seine Erfahrungen zu benennen, zu deuten und einzuordnen. Auf diese Weise werden Dia-loge geteilter Aufmerksamkeit zum Schlüssel der Beherrschung unserer kulturellen Symbolsys-teme. Das Lernen durch Imitation gilt gemäss Tomasello als Grundform des Lernens.
Die erwachsene Person sollte dabei nicht in die Rolle des Belehrens oder des vorschnellen Prä-sentierens geraten, sondern lediglich die Impulse des Kindes aufnehmen. Es wäre eine falsch ver-standene Beziehung, wenn die Erzieherin oder der Vater dem Kind vorsagen würden, was rich-tig ist oder was es als Nächstes tun muss. Auf diese Weise entstehen schnell Überforderungs-gefühle. Sie können dazu führen, dass das Kind Bildungsangebote nicht wirklich annehmen kann. Kinder erleben sich ohne sichere Bezie-hungsgrundlage schnell einmal als unfähig. Dies kann sich in negativen Selbstbildern und geringer Lernmotivation äussern.
Das Handlungsmotiv des Kindes liegt somit so-wohl im Inhalt seiner Tätigkeit als auch in seiner geteilten Aufmerksamkeit zur Bezugsperson. Dass diese Kombination zentral ist, hat schon Wygotsky in den 1930er Jahren formuliert. Dabei galt ihm sein Konzept der «Zone der nächsten Entwicklung» (1987) als Orientierungsrahmen. Übertragen auf die Aufgabe frühkindlicher Bil-dungsförderung zu Hause und ausserhalb bedeu-tet sie, dass dem Kind Lernangebote zur Verfü-gung gestellt werden sollen, die seinen Entwick-lungsvoraussetzungen angemessen sind und zu-gleich seine Entwicklung fördern. Es sind somit zwei Entwicklungsniveaus des Kindes zu unter-scheiden (vgl. nachfolgende Abbildung).
Das erste Niveau ist das der aktuellen Entwick-lung. Auf diesem Niveau ist das Kind in der Lage, eine Aufgabe selbständig zu lösen. Das zweite ist das potenzielle Entwicklungsniveau, welches das Kind unter Mithilfe Erwachsener erreichen kann. Die Differenz zwischen diesen beiden Niveaus macht die Zone der nächsten Entwicklung aus. Sie verdeutlicht, was das Kind mit Hilfe eines Er-wachsenen zu schaffen oder zu verstehen ver-mag: Was es heute mit seiner Hilfe vollbringt, wird es morgen selbständig tun können. Durch die Zone der nächsten Entwicklung werden so-mit beim Kind viele innere Entwicklungsprozesse ins Leben gerufen und in Bewegung gebracht, die es zunächst nur in der Wechselwirkung mit der Umgebung meistern kann. Weil Anregungen immer ein wenig der Entwicklung vorauseilen sollen, müssen Erziehende das Kind gut kennen, Eltern dürfen es nicht überfordern. Dabei liegt es an der Intuition und am Geschick der Bezugsper-sonen, dem Kind Angebote zu machen, die der Entwicklung etwas vorauseilen. Genau dieses «Etwas» entspricht einer entwicklungsfördern-den Erziehung.
Frühkindliche Bildung kommt somit nicht allein durch eine Umwelt in Gang, die Anregung her-ausfordert, sondern durch Erwachsene, welche sie auch vermitteln. Kinder lernen von Men-schen, in sozialer Interaktion und durch emotio-nale Beziehungen. Deshalb sind Erwachsene die wichtigsten Mittler im Wissenserwerb.
Mädchen Ich will ein Experiment machen mit Mehl und Kleister.
Erzieherin Warum? Was erwartest du da-von?
Mädchen Das Mehl macht den Kleister dicker und trockener, und ich kann dann schön kneten.
Erzieherin Nun, wie viel Mehl brauchst du dafür?
Mädchen Ich brauche einen Becher voll Mehl.
Erzieherin Und wie viel Kleister? Mädchen Zwei Becher. Erzieherin Wieviel Kleister hast du jetzt?
(Es nimmt einen Messbecher und füllt ihn halb).
Mädchen Einen halben Becher. Erzieherin Lass sehen. Du willst zwei Be-
cher mit Kleister und einen Be-cher mit Mehl. Das ist zweimal so viel Kleister als Mehl. Aber wir haben nur einen halben Messbecher mit Kleister. Wie viel sollten wir verwenden?
Mädchen Einen halben von einem hal-ben Messbecher.
Erzieherin Also, dies ist ein Viertel Mess-becher.
Aktuelles Ent-wicklungsniveau
(selbständig)
Zone der nächs-ten Entwicklung
Potenzielles Entwicklungsni-
veau (unselbständig)
Aktuelles Ent-wicklungsniveau (selbständig)
Zone der nächs-ten Entwicklung
Potenzielles Entwicklungsni-
veau (unselbständig)
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Bildung braucht Bindung
Das obige Beispiel zeigt auf, wie dies funktio-niert. Es handelt sich um ein Gespräch zwischen einer Erzieherin in einer Kita und einem fünfjäh-rigen Mädchen während der Zubereitung eines Teigs.
Frühkindliche Bildung in und ausserhalb der Familie: Unterschiede Im Unterschied zur Unmittelbarkeit familialer Beziehungen muss beispielsweise ein Erzieher in einer Kita eine Gruppe regulieren, innerhalb de-rer er dann die individuellen Beziehungen entwi-ckelt und Bildungsprozesse initiiert.
Im Unterschied zur Unmittelbarkeit familialer Beziehungen wird stärker auf die didaktische Ge-staltung und Vermittlung des Person- und Sach-bezugs in professionell-pädagogischen Bezie-hungen abgehoben. Bindung wird als Erzie-hungsmittel betrachtet, um die kognitive Ent-wicklung der Kinder gezielt zu fördern.
Zwar brauchen Erzieherinnen und Erzieher dazu auch ihre intuitiven Kompetenzen, doch müssen sie stärker die didaktische Gestaltung und Ver-mittlung des Person- und Sachbezugs in den Blick nehmen. Sie müssen deshalb weit stärker auf der Grundlage von theoretischem Wissen und Reflexion handeln als dies in der Familie der Fall ist. Das Ziel der beruflichen Handlungskom-petenz erfordert deshalb, dass diese bildungs-orientierte Sicht auf Bindung ins Zentrum der pädagogischen Alltagsarbeit in familienergän-zenden Einrichtungen gestellt wird. Herzstück eines erweiterten Bindungsbegriffs für das päda-gogische Fachpersonal sind deshalb die folgen-den beiden Dimensionen.
Die Unterstützung des Erkundungsdrangs: Die Bezugsperson animiert und ermutigt das Erkundungsverhalten und steht gleichzeitig bei Unsicherheiten und Angst als sichere Ba-sis zur Seite.
Die Assistenz: Im Sinne der Zone der nächs-ten Entwicklung von Wygotsky (1987) benö-tigt das Kind gemeinsame Aufmerksamkeit, gemeinsames Denken sowie die Kooperation mit Erwachsenen, wenn es bei Herausforde-rungen an seine Grenzen stösst. Hat ein Kind eine sichere Bindung zur Bezugsperson ent-wickelt, wird es als Erstes bei ihr Hilfe suchen und sie auch annehmen.
Das Spiel als wichtigste Form frühkindlicher Bildungsförderung Gemäss Bernhard Hauser (2013) oder Miriam Leuchter (2013) gilt das Spiel als früheste Form des Erkundungsdrangs und jeglicher frühkindli-cher Bildungsprozesse. Alle Kinder spielen fürs
Leben gern, aber ihre Erfahrungen sind sehr un-terschiedlich. Kinder spielen in der Regel nicht zu wenig, aber – so Bernhard Hauser – oft zu banal. Damit das kindliche Spiel zu einem Entwick-lungsmotor für das Lernen werden und damit ei-nen Bildungswert jenseits früher Förderpro-gramme bekommen kann, sollten Kinder zu entwicklungsförderlichem Spiel angeleitet wer-den und dafür genug Zeit bekommen.
In einem entwickelten Spiel wird, lustbetont und mit geringem Anstrengungsempfinden, auch das Lernen der viel beachteten sprachlichen und ma-thematischen Vorläuferkompetenzen möglich. Wichtig ist dabei, dass Kinder in den Genuss viel-fältiger Spielformen kommen. Dazu gehören:
Bewegungsspiele (Herumrennen, Fangis etc.) Funktionsspiele (‚psychomotorisches Spiel‘:
früheste Spielform mit lustvollem Erproben der eigenen körperlichen Fähigkeiten bis zur bewussten Steuerung der Bewegungen)
Rollenspiele Regelspiele (z.B. Eile mit Weile, Schnipp
Schnapp) Objekt-/Konstruktionsspiele (Bauen mit Le-
go, Bilden von Mustern mit farbigen Klötzen etc.)
Fantasiespiele/Symbolspiele (Tun als ob; neue Bedeutungen für Gegenstände erfin-den etc.)
Auch hier gilt wiederum: Die wesentlichste Vo-raussetzung für das Spiel ist die sichere Bindung. Sie ermöglicht, dass ein Kind motiviert seine Umgebung erkunden und bei Risiken in den si-cheren Hafen der Bezugsperson zurückkehren kann. Erkundung geht dem Spiel in der Entwick-lung voraus. Sicher gebundene Kinder können sich auch besser ins Spiel einlassen, was so viel bedeutet wie sich vertiefen und sich konzentrie-ren können. Eltern und weitere Bezugspersonen sollten kleinen Kindern deshalb ein Umfeld schaffen, das ihnen ermöglicht, sich auf das Spiel einzulassen und Unterbrechungen zu vermeiden. Eltern und Erwachsene sollten Kinder zum Spiel anleiten.
Leider werden in der familiären und ausserfami-liären Praxis Spielen und Lernen heute immer noch als unterschiedliche Phänomene betrach-tet, obwohl es sich dabei um eine längst über-holte Sichtweise handelt. Deshalb wird Spielen oft mit Zeitvertreib, mit Langeweile oder gar mit unnützem Tun, verbunden. Dies ist grundsätzlich falsch, denn Spielen und Lernen gehören immer zusammen. Je spielhaltiger das Lernen im Vor-schulalter ist, desto nachhaltiger ist es. Enga-giertheit im Spiel ist Voraussetzung für gelin-gende Bildungsprozesse. Bei Eltern – und oft
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Ein Fundament für das Vorschulalter
auch in der institutionellen Vorschulpraxis – viel zu wenig bekannt ist die Tatsache, dass Spielen durch Impulse der Erwachsenen angeregt wer-den kann. Erwachsene sind für die Entwicklung der kindlichen Spielfähigkeit bis zum Schulein-tritt unersetzlich. Notwendig sind dabei
eine förderliche Umgebung genügend Zeit, Musse und Raum vielseitige Materialien Spiel- und Gesprächspartner Entscheidungsfreiheit
Bilanz Die kognitive Entwicklung – die Entwicklung des Denkens und der Intelligenz – wird massgeblich von den Personen mitgetragen, zu denen das Kind Vertrauen aufgebaut hat. Die wichtigste Vo-raussetzung sind dabei stabile Bindungsbezie-hungen zu Eltern und weiteren Bezugspersonen. Bindung ermöglicht Erkundung, und diese ist ei-ne wichtige Bedingung für eine ganzheitliche frühe Bildungsförderung. Die Bezugsperson spielt deshalb eine zentrale Rolle, weil sie das Kind unterstützt, seine Erfahrungen mit ihm teilt und ihm emotionale und kognitive Resonanz ge-ben kann. Gemäss dem Konzept der Zone der nächsten Entwicklung von Wygotsky (1987) ge-nügt dies jedoch nicht. Vielmehr muss sie dem Kind Entwicklungsangebote zur Verfügung stel-len, die es zunächst nur mit Hilfe, zunehmend jedoch auch allein, bewältigen kann. Auf diese Weise kann es auch durch Imitieren lernen. Für Eltern und andere Bezugspersonen erfordert dies ein bestimmtes Ausmass an Intuition.
Ein wesentlicher Schlüssel der frühkindlichen Bildung liegt im Spiel. Es gilt als früheste Form jeglicher frühkindlicher Bildungsprozesse.
Miriam Leuchter (2013) spricht deshalb vom Spiel als «Lern- und Entwicklungsmotor, durch welchen sich kognitive und soziale Fähigkeiten entfalten» (S. 577). Mit Blick auf die soziale Her-kunft sind solche Erkenntnisse besonders be-deutsam, weil gerade Kinder aus sozial schwa-chen Familien eher seltener anspruchsvoll, häu-fig jedoch banal, spielen und zudem oft ausge-prägt und passiv Medien konsumieren. Deshalb müssten solche Kinder nicht nur in frühkindli-chen Förderprogrammen betreut und gebildet, sondern ebenfalls ihre Familien einbezogen und ihnen aufgezeigt werden, wie sie ein entwick-lungsförderliches Spielen zu Hause anleiten kön-nen. Allerdings gilt dies nicht selten auch für bil-dungsnahe Familien, und zwar dann, wenn sie mit ihren Vorschulkindern kaum Zeit zu Hause verbringen, sondern sie vor allem in schulähnli-che Förderprogramme schicken.
Weiterführende Literatur Hauser, B. (2013). Spielen. Frühes Lernen in Fa-milie, Krippe und Kindergarten. Stuttgart: Kohl-hammer.
Leuchter, M. (2013). Die Bedeutung des Spiels in Kindergarten und Schuleingangsphase. Zeit-schrift für Pädagogik, 4, 575-592.
Tomasello, M. (2006). Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Wygotsky, L. (1987). Ausgewählte Schriften II. Arbeiten zur psychischen Entwicklung der Per-sönlichkeit. Berlin: Volk und Wissen.
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Bildung braucht Bindung
Briefing Paper 5: Weshalb frühkindliche Bil-dung nicht nur Vorteile haben kann Eine wahre Bildungswucht trifft heute Familien, Kitas, Schulen – ja unsere ganze Gesellschaft. Gespeist wird sie von den Folgen des viel zitier-ten Pisa-Schocks, von den Erkenntnissen der Neurobiologie, welche auf die besondere Bil-dungsfähigkeit des kleinen Kindes verweist und auch von der Wirtschaft, die gutes «Humankapi-tal» für die Zukunft braucht. Dazu kommt, dass auch die Säuglings- und Kleinkindforschung in den letzten zwanzig Jahren grosse Fortschritte gemacht hat und heute viel genauere Aussagen über Entwicklungsprozesse, Fähigkeiten und Kompetenzen kleiner Kinder möglich sind.
Wie bereits aufgezeigt worden ist, gilt heute als unbestritten, dass Säuglinge und kleine Kinder ausserordentlich lernfähig sind und eine anre-gungsreiche Umwelt deshalb eine enorme Be-deutung hat. Positive Früherfahrungen stellen wichtige Weichen für den Schuleintritt und die Humanentwicklung insgesamt. Deshalb ist die Forderung richtig, Bildungsinvestitionen ver-stärkt in dieser frühen Phase zu tätigen.
Der falsche Hype um frühe Förderung Trotzdem ist der Hype um frühe Förderung über-trieben und oft sehr einseitig. Basierend auf den heutigen Forschungserkenntnissen lässt sich im Hinblick auf die Notwendigkeit frühkindlicher Bildungsförderung folgende Bilanz ziehen: Mit Sicherheit sind einzelne Entwicklungsbereiche stark an Früherfahrungen und an entsprechende Förderung gebunden. Dazu gehören das regel-mässige Hören einer Sprache, die Fähigkeit, Lau-te zu erkennen, herauszufiltern und zu pro-duzieren («phonologische Bewusstheit») sowie mathematische Symbole zu verarbeiten («früher Zahlbegriff»). Auch die Erfahrung von feinfühli-ger und verlässlicher Betreuung sowie sicherer Bindung prägen Fähigkeiten wie Emotionen kon-trolliert einzusetzen, ein Selbstbewusstsein auf-zubauen, die Identität zu entwickeln sowie Frust-rationstoleranz einzuüben. Aber die Plastizität des Gehirns ist auch in späteren Entwicklungspe-rioden gross. Dies gilt beispielsweise für Berei-che wie Sprachverständnis, Kreativität und Denkstrategien. Für Denken und Handeln sind folgedessen sowohl frühe als auch spätere Erfah-rungen wichtig.
Erziehungsratgeber als Verheissung Tatsache ist, dass wir noch nie so viel über Kin-der, Kindheit und Familie gewusst haben wie
heute. Noch nie hat es ein so riesiges Angebot an Ratgebern gegeben, die es sogar auf die vorde-ren Plätze der Bestseller-Liste schaffen. Beispiele wie «Babys richtig fördern», «Typengerecht för-dern und erziehen», «Babys spielerisch fördern» liefern nicht nur viele Argumente hierzu. Offen-bar brauchen Eltern solche Tipps, sonst gäbe es keine solchen Publikationen. Manchmal ver-schlingen Eltern solche Ratgeber regelrecht und häufig einen nach dem anderen, weil sie von der Angst getrieben sind, etwas falsch zu machen. Ratgeber sind deshalb oft eine Art ,Einstiegsdro-ge‘. Einer reicht nicht. Es braucht einen zweiten. Darüber hinaus konsultieren sie Logopädinnen, Ergotherapeuten und Psychologinnen, in der Hoffnung, es gäbe ein Geheimrezept, wie sie ihr Kind optimal fördern könnten.
Selbstverständlich gibt es nichts gegen gute Rat-geber einzuwenden. Sie behandeln neben Fra-gen zur frühen Förderung wichtige kindliche und familiäre Alltagsthemen zur Sauberkeitserzie-hung, zu Ess-, Schlaf- und Reinlichkeitsgewohn-heiten, zu Entwicklungsstörungen, zum ersten Schultag oder zum Umgang mit Kindern in der Pubertät. Ratgeber und Experten können auch zu Hilfserziehern werden, die Eltern entlasten können, um grosse und kleine Alltagsereignisse erzieherisch zu bewältigen.
Problematisch an vielen Erziehungsratgebern ist aber, dass sie sich als Verheissung anbieten und den Eltern die Erziehung aus der Hand nehmen oder – und dies ist noch schwerwiegender – ihnen das Vertrauen in die eigene Fähigkeit rau-ben, die Kinder in einer richtigen Weise erziehen und fördern zu können. Verstärkt wird diese Wirkung dadurch, dass viele Ratgeber einen sehr mahnenden, sorgenden Tonfall haben und sich zudem häufig mit dem Etikett «von pädagogi-schen Fachleuten empfohlen», «pädagogisch er-probt» oder «wissenschaftlich getestet» schmü-cken. Dadurch vermitteln sie den Eltern: «Wir verstehen von Erziehung viel mehr als Sie.»Baby-Einsteins
Der in vielen Erziehungsratgebern sichtbare, oft kaum noch nachvollziehbare Hype um frühe Förderung treibt manchmal seltsame Blüten. Die Hauptproblematik liegt in der weit verbreiteten Überzeugung, dass es nicht mehr zulässig sei, ein Kind vor Schuleintritt einfach nur spielen zu las-sen. Kinder sollten neu auch ‚richtig‘ lernen, d.h. sich schulisch relevantes Wissen bereits jetzt an-eignen. In privaten Vorschulen können schon die
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Ein Fundament für das Vorschulalter
Allerkleinsten etwas über Astronomie oder Bio-logie lernen und sich erste Englisch-, Chinesisch-, Arabisch- oder Lese- und Mathematikkenntnisse aneignen. Dahinter verbirgt sich die Philosophie, dass Kinder nahezu alles lernen können, wenn es nur gut arrangiert ist. Schon für die Allerkleins-ten gibt es Lern-DVDs mit vielversprechenden Namen wie «Baby-Einstein» oder «Baby-Van Gogh». Ehrgeizige Eltern greifen schnell einmal in der Hoffnung zu, ihr Kind früh schon fit für die harte Zukunft zu machen. Dieser Trend hat einen Namen: «Hothousing» – zu Deutsch «Treib-hausförderung». Gemeint sind damit die Aktivi-täten des Elternhauses, ihr Kind zum Erwerb von Wissen und Fähigkeiten zu führen, die typi-scherweise erst auf einem späteren Entwick-lungsniveau erworben werden. Solche Bemü-hungen sind in erster Linie ein Phänomen von Mittel- und Oberschichtfamilien, die sich für ih-ren Sprössling einen Schulstart auf der Überhol-spur erhoffen.
Förderehrgeiz und Zukunftsangst Der Hype um frühkindliche Bildung ist nicht aus-schliesslicher Ausdruck von Wunsch und Wille eines ehrgeizigen Elternhauses. Es sind auch ge-sellschaftliche Trends dafür verantwortlich zu machen: Erstens sind es die bereits erwähnten Erziehungsratgeber und auch populäre Darstel-lungen aus der Neurobiologie, welche Eltern alarmieren, die Zeit der Gehirnentwicklung ihres Kindes nicht ungenutzt verstreichen und seine geistigen Kapazitäten brach liegen zu lassen. Zweitens sind es demografische Veränderungen (Scheidungsraten, doppelverdienende Paare und mütterliche Erwerbstätigkeit etc.), welche eine Generation von Eltern produziert haben, die so-wohl weniger Zeit für sich als auch für ihre Kin-der haben. Viele fühlen sich schuldig, weil sie den ganzen Tag vom Kind getrennt sind, es in Fremdbetreuung geben müssen, aber auch, weil sie stark im Beruf eingespannt sind und nur we-nig Freizeit mit ihm verbringen können. Deshalb fürchten viele Eltern, dass die begrenzte Zeit mit dem Kind für den Aufbau einer guten Beziehung nicht ausreichen könnte, um seine geistige Ent-wicklung optimal voranzutreiben. Frühförderan-gebote sind deshalb eine willkommene Alterna-tive.
Frühreife Kinder als Statussymbol Auf die heutigen gesellschaftlichen Bedingungen reagieren viele Eltern mit Überstimulation und Überstrukturierung und setzen sich damit selbst unter Druck. Entstanden ist so etwas wie ein «Superbaby-Phänomen»: Jedermann will das ge-scheiteste, das cleverste, fröhlichste, glücklichste und auch das best angezogene Kind haben. Es
muss früher lernen als die anderen, früher be-sondere Fähigkeiten zeigen und auch früher Er-folg haben. Frühkindliche Bildung als Statussym-bol?
Nur – das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Dieses afrikanische Sprichwort bil-det sich auch in vielen wissenschaftlichen Er-kenntnissen ab. Keine wissenschaftliche Studie konnte bisher belegen, dass frühe Lese- oder Mathematikinstruktion oder der wöchentliche Kurs in Babyzeichensprache oder im Babyeng-lisch aus den Kleinsten spätere Sprachtalente oder Rechengenies macht. Vielmehr zeigen die wenigen verfügbaren Untersuchungen, dass Kin-der, die schulvorbereitend gefördert werden, zwar einen Vorsprung auf andere bekommen, der sich jedoch relativ schnell «auswäscht», d.h. bereits nach einem oder zwei Schuljahren wie-der verschwindet. Solche Kinder sind später kaum schulerfolgreicher als nicht geförderte Kinder. Eine systematische, schrittweise Ver-mittlung von schulischem Wissen im Vorschulal-ter hat somit kaum positive, wohl aber tendenzi-ell negative Auswirkungen. Schulähnliches, hoch strukturiertes instruktives Lernen kann zu emo-tionalen Beeinträchtigungen führen und zu einer Zunahme von Stress- und Angstgefühlen. Solche Kinder laufen auch Gefahr, mehr Hyperaktivität, Konzentrationsschwierigkeiten oder aggressives Verhalten zu entwickeln.
Auch aus der Hochbegabungsforschung wissen wir, dass viele der Wunderkinder im Erwachse-nenalter nicht mehr die überragenden Leistun-gen zeigen, die von ihnen aufgrund ihrer frühen Exzellenz erwartet worden war. Ernst zu nehmen sind auch klinische Bedenken: Intensive Schul-vorbereitung, Druck und Verhätschelung setzen kleine Kinder unter enorme Anforderungen und führen überdurchschnittlich häufig zu späterer Leistungsängstlichkeit, Leistungsmotivations-problemen, Schwierigkeiten in der Bindung an Gleichaltrige oder gar zu Depressionen. Einer der Hauptgründe dürfte darin liegen, dass überför-derte Kinder von ihren ehrgeizigen Eltern in ei-ner Weise erzogen werden, welche sie fühlen macht, dass sie nur etwas wert sind, wenn sie produktiv und leistungsbereit sind.
Wo bleibt die Intuition? Eines der Probleme, die mit Bildungswucht und Fördereuphorie zusammenhängen, ist die Tatsa-che, dass viele Eltern kaum mehr auf ihr Bauch-gefühl hören können, sondern ihm sogar miss-trauen und ein schlechtes Gewissen entwickeln, wenn sie nicht vorher einen Erziehungsratgeber konsultiert zu haben. Weshalb haben Eltern auf-gehört, ihren gesunden Menschenverstand ein-
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Ein Fundament für das Vorschulalter
Allerkleinsten etwas über Astronomie oder Bio-logie lernen und sich erste Englisch-, Chinesisch-, Arabisch- oder Lese- und Mathematikkenntnisse aneignen. Dahinter verbirgt sich die Philosophie, dass Kinder nahezu alles lernen können, wenn es nur gut arrangiert ist. Schon für die Allerkleins-ten gibt es Lern-DVDs mit vielversprechenden Namen wie «Baby-Einstein» oder «Baby-Van Gogh». Ehrgeizige Eltern greifen schnell einmal in der Hoffnung zu, ihr Kind früh schon fit für die harte Zukunft zu machen. Dieser Trend hat einen Namen: «Hothousing» – zu Deutsch «Treib-hausförderung». Gemeint sind damit die Aktivi-täten des Elternhauses, ihr Kind zum Erwerb von Wissen und Fähigkeiten zu führen, die typi-scherweise erst auf einem späteren Entwick-lungsniveau erworben werden. Solche Bemü-hungen sind in erster Linie ein Phänomen von Mittel- und Oberschichtfamilien, die sich für ih-ren Sprössling einen Schulstart auf der Überhol-spur erhoffen.
Förderehrgeiz und Zukunftsangst Der Hype um frühkindliche Bildung ist nicht aus-schliesslicher Ausdruck von Wunsch und Wille eines ehrgeizigen Elternhauses. Es sind auch ge-sellschaftliche Trends dafür verantwortlich zu machen: Erstens sind es die bereits erwähnten Erziehungsratgeber und auch populäre Darstel-lungen aus der Neurobiologie, welche Eltern alarmieren, die Zeit der Gehirnentwicklung ihres Kindes nicht ungenutzt verstreichen und seine geistigen Kapazitäten brach liegen zu lassen. Zweitens sind es demografische Veränderungen (Scheidungsraten, doppelverdienende Paare und mütterliche Erwerbstätigkeit etc.), welche eine Generation von Eltern produziert haben, die so-wohl weniger Zeit für sich als auch für ihre Kin-der haben. Viele fühlen sich schuldig, weil sie den ganzen Tag vom Kind getrennt sind, es in Fremdbetreuung geben müssen, aber auch, weil sie stark im Beruf eingespannt sind und nur we-nig Freizeit mit ihm verbringen können. Deshalb fürchten viele Eltern, dass die begrenzte Zeit mit dem Kind für den Aufbau einer guten Beziehung nicht ausreichen könnte, um seine geistige Ent-wicklung optimal voranzutreiben. Frühförderan-gebote sind deshalb eine willkommene Alterna-tive.
Frühreife Kinder als Statussymbol Auf die heutigen gesellschaftlichen Bedingungen reagieren viele Eltern mit Überstimulation und Überstrukturierung und setzen sich damit selbst unter Druck. Entstanden ist so etwas wie ein «Superbaby-Phänomen»: Jedermann will das ge-scheiteste, das cleverste, fröhlichste, glücklichste und auch das best angezogene Kind haben. Es
muss früher lernen als die anderen, früher be-sondere Fähigkeiten zeigen und auch früher Er-folg haben. Frühkindliche Bildung als Statussym-bol?
Nur – das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Dieses afrikanische Sprichwort bil-det sich auch in vielen wissenschaftlichen Er-kenntnissen ab. Keine wissenschaftliche Studie konnte bisher belegen, dass frühe Lese- oder Mathematikinstruktion oder der wöchentliche Kurs in Babyzeichensprache oder im Babyeng-lisch aus den Kleinsten spätere Sprachtalente oder Rechengenies macht. Vielmehr zeigen die wenigen verfügbaren Untersuchungen, dass Kin-der, die schulvorbereitend gefördert werden, zwar einen Vorsprung auf andere bekommen, der sich jedoch relativ schnell «auswäscht», d.h. bereits nach einem oder zwei Schuljahren wie-der verschwindet. Solche Kinder sind später kaum schulerfolgreicher als nicht geförderte Kinder. Eine systematische, schrittweise Ver-mittlung von schulischem Wissen im Vorschulal-ter hat somit kaum positive, wohl aber tendenzi-ell negative Auswirkungen. Schulähnliches, hoch strukturiertes instruktives Lernen kann zu emo-tionalen Beeinträchtigungen führen und zu einer Zunahme von Stress- und Angstgefühlen. Solche Kinder laufen auch Gefahr, mehr Hyperaktivität, Konzentrationsschwierigkeiten oder aggressives Verhalten zu entwickeln.
Auch aus der Hochbegabungsforschung wissen wir, dass viele der Wunderkinder im Erwachse-nenalter nicht mehr die überragenden Leistun-gen zeigen, die von ihnen aufgrund ihrer frühen Exzellenz erwartet worden war. Ernst zu nehmen sind auch klinische Bedenken: Intensive Schul-vorbereitung, Druck und Verhätschelung setzen kleine Kinder unter enorme Anforderungen und führen überdurchschnittlich häufig zu späterer Leistungsängstlichkeit, Leistungsmotivations-problemen, Schwierigkeiten in der Bindung an Gleichaltrige oder gar zu Depressionen. Einer der Hauptgründe dürfte darin liegen, dass überför-derte Kinder von ihren ehrgeizigen Eltern in ei-ner Weise erzogen werden, welche sie fühlen macht, dass sie nur etwas wert sind, wenn sie produktiv und leistungsbereit sind.
Wo bleibt die Intuition? Eines der Probleme, die mit Bildungswucht und Fördereuphorie zusammenhängen, ist die Tatsa-che, dass viele Eltern kaum mehr auf ihr Bauch-gefühl hören können, sondern ihm sogar miss-trauen und ein schlechtes Gewissen entwickeln, wenn sie nicht vorher einen Erziehungsratgeber konsultiert zu haben. Weshalb haben Eltern auf-gehört, ihren gesunden Menschenverstand ein-
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Bildung braucht Bindung
zusetzen? Weil wir eine Wissens- und keine Er-fahrungsgesellschaft mehr sind. Heute sind Zah-len, Statistiken und Quoten wichtig geworden. Gerade in Mutter-Kind-, in Krabbelgruppen, aber auch in familienergänzenden Einrichtungen wächst der Druck, sich permanent mit den ande-ren Eltern und ihren Kindern zu vergleichen und das funktionierende Kind zum Hauptthema zu machen. Verständlich deshalb, wenn das Ver-trauen ins eigene Kind klein wird, sobald die Mutter sieht, dass das drei Monate jüngere Kind in der Kita schon mehr als das eigene kann. Frustration und Versagensängste werden so programmiert und damit auch die unheilvollen Vorstellungen von Eltern, sich hart erarbeiten zu müssen, dass sich der Nachwuchs normal, zeit-gerecht und vielleicht sogar schneller als der Nachwuchs anderer Familien entwickelt. Des-halb suchen auch Eltern, deren Kind körperlich und mental fit ist, nach zusätzlichen Optimie-rungsmöglichkeiten. Man will nur das Beste für den Nachwuchs.
Bilanz Dieses Briefing Paper hat zwei wichtige Erkennt-nisse zu Tage gefördert: erstens, dass aus wis-senschaftlicher Sicht ehrgeizige Eltern enttäuscht werden. Frühe Fördereuphorie lohnt sich kaum; zweitens, dass es vielen Eltern schwerfällt, die Bedürfnisse ihres Kindes und nicht die eigenen, in den Mittelpunkt zu stellen.
Somit stellt sich die Frage, ob frühe Förderung kleinen Kindern tatsächlich einen Teil ihrer Kind-heit rauben kann, wie man dies ja oft von Geg-nern frühkindlicher Bildungsbemühungen hört. Die Antwort lautet: Ja und nein. Ein Ja gilt dann, wenn es sich um entwicklungsunangemessene Elternerwartungen handelt, die mit frühem vor-schulischem Drill verbunden sind. Nein, wenn sich die Eltern um Entwicklungsangemessenheit und um die Unterstützung der Interessen des Kindes bemühen. Dabei ist zu beachten, dass Drill und früher massiver Leistungsdruck nicht das Gleiche ist wie die Verbindung von spieleri-schem und lustvollem ganzheitlichem Lernen und hohen Elternerwartungen. Kinder, deren El-ternhäuser keine grossen Erwartungen an sie haben oder sich kaum für Bildungsförderung in-teressieren, sind benachteiligt. Eltern, welche schon früh die Potenzialentwicklung ihrer Kinder kreativ und im Sinne ganzheitlicher Bildung un-terstützen, erzeugen in ihnen Freude an her-ausfordernden Aktivitäten. Dies hat aber nichts zu tun mit dem Einkauf von Frühförderkursen.
Frühkindliche Bildung hat dann uneingeschränkt Vorteile, wenn die natürliche Welt der erste Lehrplan des Kindes ist. Sinnvoll und entwick-
lungsgemäss kann es nur in der direkten Ausei-nandersetzung mit den Dingen lernen. Der gros-se Schweizer Psychologe Jean Piaget hat einmal gesagt, dass die Sprache der Dinge der Sprache der Worte vorauszugehen habe. Die Welt der Dinge und all ihre Eigenschaften, die direkte Be-gegnung, das damit verbundene Tun und die Er-fahrungen, die das Kind dabei macht, ist jedoch ein Zeit konsumierender Prozess, der nicht has-tig durchlaufen werden kann. Zudem lässt sich das Gehirn – trotz anders lautenden Aussagen in den Medien – nicht beliebig trainieren, weil die genetischen Grundlagen verschieden sind. Des-halb reifen Kinder in ihren intellektuellen Fähig-keiten in unterschiedlichen Geschwindigkeiten heran, und auch das chronologische Alter ist kein gutes Mass für die kognitive Entwicklung.
Genau in diesem Punkt liegt die Problematik, dass viele Eltern sich schwertun, die Bedürfnisse und Besonderheiten des Kindes wahrzunehmen. Deshalb stehen eher die eigenen Vorstellungen oder das Modell des Nachbarkindes im Mittel-punkt. Verständlich deshalb, wenn es Eltern zu-nehmend schwer fällt, Dinge aus der Perspektive des Kindes zu sehen und dabei das, was ihm gut-tun würde, richtig zu erkennen und intuitiv zu handeln. Im Allgemeinen handeln Eltern heute zu sehr nach Rezepten und Anweisungen. Des-halb haben sie das Gefühl für die richtige Erzie-hung und Förderung ihres Kindes verloren.
Einschränkend muss allerdings betont werden, dass eine solche Bilanz vor allem für relativ gut situierte Familien gilt. Anders sieht es aus, wenn man Kinder aus sozial schwachen Familien in den Blick nimmt. Deshalb sind frühkindliche Förder-massnahmen, so wie sie aktuell in der Schweiz praktiziert werden, für die betroffenen Kinder in der Tendenz ein Zuviel oder ein Zuwenig. Wäh-rend sie für Kinder aus bildungsnahen Familien nicht selten ein Zuviel darstellen, sind sie für sol-che aus benachteiligten Elternhäusern oft ein Zuwenig. Obwohl viele Familien trotz sozialer Benachteiligung ihren Kindern die notwendigen Beziehungsgrundlagen genauso gut geben wie nicht benachteiligte Familien, fehlt es oft an den notwendigen Anregungen. Wenn solche Kinder auch von keinem öffentlichen Angebot Gebrauch machen, kann frühkindliche Bildungsförderung auch nicht kompensatorisch, d.h. ausgleichend, wirken. In diesem Sinne ist die Metapher «Das Gras wächst nicht schneller, wenn man an ihm zieht», etwas zu relativieren: Zwar bringt das Ziehen wenig, doch braucht es eine aktive und gezielte Förderung dieser Kinder, die auch mit hohen Erwartungen an sie verbunden ist. Für gut situierte Kinder hingegen könnte es oft eine Wohltat sein, wenn ihnen mehr Zeit zum ‚Wach-senlassen‘ zugestanden würde.
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Weiterführende Literatur Bergmann, W. (2011). Lasst eure Kinder in Ruhe. Gegen den Förderwahn in der Erziehung. Wol-fenbüttel: Kösel.
Stamm, M. (2011). Die Magie der Frühförderung. Neue Zürcher Zeitung, 24.01., 40.
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Bildung braucht Bindung
Briefing Paper 6: Pädagogische Konsequen-zen Das vorliegende Dossier hat in fünf Briefing Pa-pers das Wissen zusammengefasst, das heute zu den beiden Themen «Bindung» und «frühkindli-che Bildung» verfügbar ist. In den Blick genom-men worden ist dabei insbesondere die empi-risch vielfach belegte Tatsache, dass Fördermas-snahmen nur wirksam sein können, wenn sie auf einem guten Beziehungsfundament aufbauen.
Abschliessend werden nun die bisherigen Aus-führungen zu sechs Kernaussagen verdichtet und in Bezug auf die notwendigen pädagogischen, aber auch bildungs- und sozialpolitischen Konse-quenzen, diskutiert.
1. Bindungen als innige und sichere Bezie-hungen zu Mutter und Vater
Weil die Bindung des Kindes an seine Bezugspersonen fundamental, jedoch abhängig von der Qualität ist, wie sie mit ihm umgehen, sind zwei Aspekte besonders zentral: Eltern sollten sich stärker bewusst werden, dass eine sichere Beziehung Verlässlichkeit erfordert. Verlässlichkeit entsteht nicht einfach dadurch, dass man das Kind überall bei sich hat oder es immer herumträgt. Vielmehr entsteht sie, wenn das Kind spürt, dass sich die Bezugsperson ihm feinfühlig zuwendet und für es präsent ist. Prä-senz meint, dass es Momente zwischen der Be-zugsperson und dem Kind gibt, die nur den bei-den gehören und nicht gleichzeitig mit dem Handy telefoniert, im Internet gesurft oder ge-twittert wird.
Gerade weil die Neurobiologie aufzeigt, dass sich frühe Bindungserfahrungen auch auf der hirn-physiologischen Ebene auswirken, spielen Emo-tionen beim Aufbau neuer Hirnstrukturen eine bedeutsame Rolle. Mit Emotionen gemeint sind in erster Linie der feinfühlige Umgang der Be-zugspersonen mit dem Kind sowie ihr Fürsorge-verhalten. Es umfasst drei Kernaufgaben: Erstens sollen Eltern das Verhalten des Kindes wahr-nehmen können. Zweitens sollen sie es richtig interpretieren und drittens darauf zeitnah rea-gieren können. Ein solches Fürsorgeverhalten basiert auf einem gewissen Mass an Intuition. Solche Verhaltensbereitschaften sind bei allen Menschen vorhanden, auch ohne Ausbildung. Weil Intuition viel zu wenig gepflegt wird, ist sie häufig verschüttet. Deshalb muss sie wieder stärker ins Bewusstsein gehoben und eingeübt werden.
2. Überholte Ausschliesslichkeit der Mut-ter
In den letzten zehn Jahren hat die Forschung vielfach nachgewiesen, dass sich ein Kind optimal entwickeln kann, ohne im ersten Le-bensjahr ausschliesslich von der Mutter betreut worden zu sein. Eine frühe ausserfamiliäre Be-treuung ist nur dann problematisch, wenn die Bindung an Mutter und Vater nicht stimmt und sie zu wenig feinfühlig mit ihrem Kind umgehen. Gerade weil heute die ausserfamiliäre Betreuung so wichtig geworden ist, bildet die sichere Bin-dung an Mutter und Vater ein besonders wichti-ges Fundament. Kleine Kinder können jedoch auch zu aussenste-henden Personen Bindungsbeziehungen auf-bauen. Diese sind jedoch immer hierarchisch, so dass eine Erzieherin oder ein Erzieher kein Ersatz für Mutter und Vater ist, sondern eine nachge-ordnete Bindungsperson. Deshalb sind Bindungs-aspekte auch in einer Kita oder der Tagespflege zentral. Dazu gehören eine sensible, bewusste und verantwortungsvolle Eingewöhnung sowie Standards, welche auf folgende Aspekte fokus-sieren:
auf die Grosszügigkeit von Babyplätzen bis 1.5 Jahre
auf die spezielle Aufmerksamkeit einer kon-stanten Bezugsperson
auf die Vermeidung eines hohen Lärmpegels und eines konstanten Wechsels in der Be-treuung (was nicht nur für den Aufbau einer Sicherheitsbeziehung ungünstig ist, sondern auch für die Sprachentwicklung).
3. Bildung braucht Bindung und Bezie-hungsdidaktik
Frühe Bildungsanstrengungen können nur er-folgreich sein, wenn sie in tragende Beziehungen eingebettet sind. Nur eine sichere Bindung gibt dem Kind das Gefühl, aktiv handelnd und selbstwirksam zu sein und zu werden. Kleine Kinder brauchen deshalb eine soziale Umge-bung, welche herausfordernd und befähigend ist. Die oft uneingeschränkt postulierte Selbst-bildung des Kindes ist demzufolge zu relativie-ren. Das Kind betreibt Bildungsprozesse nie selbst, sondern immer mit Unterstützung einer kompetent agierenden Umwelt. Deshalb spricht man auch von gemeinsamem Entdecken oder von «Ko-Konstruktion von Wissen». Das Bin-
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Ein Fundament für das Vorschulalter
dungskonzept betont diese soziale Angewiesen-heit des Kindes auf seine Umgebung. Erst auf dieser Basis kann das Kind seinen Erkundungs-drang aktivieren und sein kognitives Potenzial optimal ausnutzen.
Weil jedoch Bindungsbeziehungen die Grundla-gen bilden, damit Motivation, Lernfreude, Frust-rationstoleranz oder Ausdauer entstehen kön-nen, haben pädagogische Fachkräfte darüber hinausgehende Aufgaben: Sie müssen versu-chen, ihre erzieherischen Regelungen und be-treuenden Aktivitäten mit einer ‚Beziehungs-didaktik‘ zu verbinden, welche den Aufbau sol-cher Merkmale fördert. Gemäss Ahnert (2007) sollten Erzieherinnen und Erzieher in der Lage sein, fünf Aspekte in einer solchen Beziehungs-didaktik zu verwirklichen:
Zuwendung (liebevolle und emotional war-me und direkte, auch durch die verant-wortliche Betreuungsperson initiierte Kom-munikation)
Sicherheit (Betreuungsperson garantiert Schutz, Nähe und Geborgenheit)
Stressreduktion (Trost und Unterstützung bei der Bewältigung unangenehmer Gefühle)
Explorationsunterstützung (Ermutigung zum Erkunden, Forschen und Experimentieren)
Assistenz (Unterstützung durch angemes-sene Hilfestellung, wenn eine alleinige Be-wältigung nicht möglich ist)
Zu beachten ist, dass sich die Bedürfnisse der Kinder ihrem Alter entsprechend verändern und damit auch die Beziehungseigenschaften. So entwickeln ältere Kinder zunehmend kindeigene Sicherheits- und Stressreduktionsstrategien, welche sie unabhängiger von den unmittelbaren Hilfen des Personals werden lassen. Andererseits behalten Zuwendung, Erkundungsunterstützung und Assistenz bis zur Vorschulzeit ihren Stellen-wert.
4. Die Zone der nächsten Entwicklung als Orientierungsrahmen
Das Konzept Wygotskys, «die Zone der nächsten Entwicklung» (1987) liefert einen idealen Orien-tierungsrahmen für Eltern und Erziehende.
Wird diese Entwicklungsangemessenheit nicht berücksichtigt, dann schafft frühe Förderung Druck und Stress. Ein Kind ist gestresst, wenn die Erwartungen der Bezugspersonen weit über o-der jenseits seiner Fähigkeiten liegen.
Wichtig ist in diesem Rahmen der Grundsatz, dass Eltern und Erziehende die Entwicklungs-möglichkeiten des Kindes aktivieren, die Ent-
wicklung jedoch nicht atemlos forcieren. Eine ganz besondere Bedeutung hat dabei die «Er-möglichung des Spiels». Dazu gehören folgende Aktivitäten resp. Handlungen:
Gute Ideen des Kindes werden gelobt
Gute Ideen werden mit eigenen Handlungen / Ideen ergänzt, wobei aber auf die nächsten Ideen des Kindes bewusst gewartet wird;
Auf Versuche, die anfangs nicht gelingen, wird nicht korrigierend, sondern emotional unterstützend reagiert. Eltern nehmen keine korrigierende Haltung im Spiel ein.
Es wird versucht, mehr Ruhe und Konstanz einzubringen. Eltern und Erziehende bemü-hen sich um einen Wechsel von Lernfort-schritt und Verweilen bei den Inhalten.
5. Bildungswucht Frühe Förderung: Was ihre Qualität ausmacht
Kleine Kinder lernen nicht gleich wie ältere Per-sonen. Kindliches Lernen vollzieht sich in einem stark emotionalen Kontext. Deshalb ist es unsin-nig, Kinder früh schon mit trockenem Lernstoff zu überfrachten. Frühkindliche Bildung und Er-ziehung ist weder Schulvorbereitung noch aka-demische Frühförderung. Wie können Eltern und Erziehende in pädagogischen Vorschuleinrich-tungen die Entwicklung des Kindes kurz- und langfristig in einer gesunden Art und Weise emo-tional unterstützen und intellektuell stimulieren? Sicher nicht, indem sie es einer Treibhausat-mosphäre aussetzen, damit es möglichst schnell das lernt, was ihren Vorstellungen entspricht. Gute frühkindliche Bildung zeigt sich
in der Schaffung herausfordernder, anre-gungsreicher, liebevoller und unterstützen-der Entwicklungsumgebungen, in der Kinder Zeit haben, ermutigt werden und keine Reiz-überflutung besteht
darin, dass sich Eltern und pädagogisches Fachpersonal bewusst sind, dass sie als emo-tionale Vorbilder eine grosse Rolle spielen und im Kind Lust auf Lernen und Erfahrung wecken können
im Ausmass der bereitgestellten Möglichkei-ten für selbst gerichtete Aktivitäten durch das Spiel und andere explorativen Aben-teuer, welche alle Sinnesorgane berücksich-tigen
in der Vielfalt der Aktivitäten, die auf Singen, Reimen und Vorlesen, das gemeinsame Spiel, auf die Beobachtung von Naturphä-nomenen, den Gebrauch von Grob- und Feinmotorik, die Pflege der Phantasie und
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Bildung braucht Bindung
Kreativität über Musik und Kultur sowie auf die soziale Einbettung des Kindes ausgerich-tet sind.
Selbstverständlich ist auch ein früher Kompe-tenzerwerb möglich, weil Kinder eine natürliche Lernproduktivität haben und hoch motiviert sind, alles zu lernen, was ihnen präsentiert wird. Es ist deshalb auch sinnvolle frühe Förderung, wenn ein Vierjähriger aus eigener Initiative lesen lernen oder rechnen lernen will und ihn die El-tern oder das pädagogische Fachpersonal unter-stützen, nicht jedoch, wenn sie ihn instruieren. Es gibt kleine Kinder, für die akademische Ler-numgebungen ähnlich faszinierend sind wie das Spiel.
Zu beachten gilt dabei jedoch, dass die natürli-che Welt der erste Lehrplan des Kindes sein muss. Sinnvoll und entwicklungsgemäss kann es nur in der direkten Interaktion mit den Dingen lernen. Die Sprache der Dinge hat dabei der Sprache der Worte vorauszugehen.
Wissensaneignung allein ist keine sinnvolle frühe Förderung. Sie muss mit der Entwicklung von Verstehensprozessen einhergehen. Schon Piaget hat uns aufgezeigt, dass Aneignung und Nutzung von Wissen das Verstehen einschliesst.
6. Intuition: eine wieder zu erlernende Er-wachsenenkompetenz
Intuition spielt eine wichtige Rolle in der Bin-dungsgestaltung und im Fürsorgeverhalten der Eltern. Obwohl heute vor allem die Unsicherhei-ten der Eltern dominieren, sind intuitive und feinfühlige Verhaltensbereitschaften bei allen Menschen vorhanden, auch ohne Ausbildung. Wird Intuition jedoch nicht gepflegt, bildet sie sich zurück und es fällt den Eltern und auch Er-zieherinnen und Erziehern immer schwerer, sich intuitiv feinfühlig und kompetent aufs Kind ein-lassen zu können.
Elternintuition hat eine Schlüsselrolle einzuneh-men in Prävention, Beratung, früher Förderung und Therapie. Nur schon das Wissen um sie hat praktische Implikationen. Jede Mutter und jeder Vater verfügt über basale intuitive Kompeten-zen. Sie wollen gute und kompetente Eltern sein. Jeder Versuch, das elterliche Verhalten durch ra-tionale Erklärungen oder konkrete Rezepte in den Griff zu kriegen, muss scheitern und kann das Selbstvertrauen in die eigenen intuitiven Kompetenzen zerstören.
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