bogeng, g.a.e. - berühmte erstdrucke.pdf
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g.a.e.bogeng
berühmteerstdrucke
berlin1920
g. a. e.bogeng
berühmteerstdrucke
paul graupeberlin
1 9 2 0
3
DAS Bibliophilenbuch sondergleichen ist jenes
Zauberstück, das E. T. A. Hoffmann, in seiner
Berlinischen Geschichte: die Brautwahl, den Herrn
Geheimen Kanzlei-Sekretär Tusmann sich erraten läßt.
Denn man brauchte diesen kleinen Pergamentband
mit den leeren Blättern nur aus der Tasche zu ziehen,
um in ihm jede gerade gewünschte Ausgabe zu
finden. Ein unvergleichliches Bibliophilenvergnügen,
alle Bücher, alle Büchersammlungen am Herzen
tragen zu können!? Armer Theodor Amadeus, du
hast den Bibliophilen nicht gekannt, als du ihm
ein Buch schenken wolltest, das die vergangenen,
das die zukünftigen Bücher in sich schließet. Der
Bibliophile, der die fremden Kostbarkeiten nicht
ohne gründliche Kritik läßt — amicus bibliophilus,
magis amica veritas — möchte widersprechen: »Alle
Bücher in dem gleichen Einband zu haben, könnte
mir nicht passen. Der närrische Herr Geheime
E.T.A. Hoffmanns Zauberbuch
4
Kanzlei-Sekretär Tusmann gibt sich mit einem Buch
zufrieden, ich aber bin kein Schmökerer, ich habe
eine Bibliothek, und dazu gehört, nach Adam Riese,
denn doch etwas mehr als ein womöglich noch
ganz glattes Pergamentbändchen. Das Zauberstück,
das den Bibliophilen zufriedenstellt, ist nicht so
einfach. Er wünscht sich nicht allein die Bücher,
die gedruckt sind, er wünscht sich auch die Bücher,
die hätten gewesen sein können. Bibliographien
und Kataloge predigen ihm, wo er sie aufschlägt,
Resignation. Warum schenkte denn Goethe nicht
an Schiller den ersten Faustdruck mit einer hand-
schriftlichen Widmung? Weshalb fehlte gerade
diesem Buche ein Besitzvermerk Schillers auf dem
Titelblatte? Wozu blieb es bloß nicht nur uner-
funden, sondern auch noch ungebunden? Ein nicht
auszudenkender Prachtband des berühmtesten Buch-
binderkünstlers ›der Zeit‹, der den Abzug des Ver-
fassers auf besserem Papier, im alten Umschlage
unbeschnitten, so lange verwahrt hätte, bis der
Weg des Buches in meiner Büchersammlung endete,
wäre gerade gut genug gewesen.« Unzählige Biblio-
Bibliophilische Desiderata
5
philenwünsche wie diesen hätte ein Zauberer, der
sie erfüllen sollte, zu zählen; er hätte länger zu
leben, als die Erde bestehen wird, um allein die
endlich gefundene Zahl in Ziffern auszudrücken, und
das Papier, das er benötigen würde, sie aufzu-
schreiben, entspräche so und so vielemal dem Erd-
ballgewichte. In der Bibliophilenphantasie ver-
schwindet die Bücherwelt, die Gutenberg hervor-
rief, zum Sonnenstäubchen, um das Desideratawirbel
unausdenkbare Welten wirken. Es ist immer ange-
nehm, sich mit solch einem kühnen Sprunge in die
nüchternen Realitäten statistischer Wissenschaft
retten zu können. Hier beweisen die Zahlen, hier kann
kein Zauberer mit scherzhaften Taschenbüchern ver-
blüffen, hier hilft nachrechnen und nichts weiter. An
den mathematischen Beweis, daß ihm die ganze
Bücherwelt gehöre, schließt der Bibliophile gern eine
moralische Heldentat. Er verzichtet auf den Glanz
und die Größe jener Welt, er begnügt sich mit dem
Erstgeburtsrecht, mit der Erstausgabe, mit dem
Erstdruck. Keine Klopstockische Ode könnte mit
Worten das Wunder eines Erstdruckes anstaunen,
Statistisches
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es läßt sich nur ahnen, es ist unsagbar. Daß etwas
zum ersten Male gedruckt wurde, das ist das Köst-
liche. Der Bibliograph, der mißvergnügt fragt,
warum ein Werk darin seinen höchsten Wert er-
reiche, daß es der Buchdrucker X und der Buch-
händler Y zu Papier brachten, ohne sich um dessen
Verfasser sonst noch viel weiter zu kümmern, ohne
zu achten, daß es auch so gedruckt wurde, wie
es geschrieben stand, ist ein Neidling. Er fühlt
nicht, daß die Erstausgabe ein kühnstes Mittel des
Bibliophilen ist, aus den vielzuvielen Büchern die
vielzuwenigen zu machen. Und er einigt sich viel-
leicht mit dem Bibliophilen auf die Formel, die
auch dieser gelten läßt, weil sie ihm nicht seiner
Sehnsucht Traum zerstört: die Erstausgabe eines
hervorragenden Schriftwerkes, mag sie sonst sein,
wie sie will, ist ein Denkmal der Geschichte des
menschlichen Geistes, ist eine Urkunde der Welt-
schrifttumsgeschichte, die mit einer ersten Buch-
veröffentlichung den Anfang eines sich ausbrei-
tenden bedeutenden Lebenskreises bestimmt, in
dessen Mitte durch sie sich auch der Bibliophile
Weltschrifttumsurkunden
7
versetzen will. Wenn er an seinen Bücherschrank
tritt, in dem die Klassiker-Original-Ausgaben stehen,
wenn er den, wenn er jenen Band prüfend zur
Hand nimmt, bevorzugt er die Bücher seines eigenen
Landes und seiner eigenen Sprache, gewillt, sie
mit den höchsten Liebhaberpreisen anzuerkennen.
Aus dergleichen nationalem Ehrgeiz haben die be-
rühmten Erstausgaben neben ihrem bibliographi-
schen noch ihren bibliophilen, noch ihren buch-
händlerischen Rang gewonnen, der kennzeichnend
ist für den internationalen Herrschaftsbereich eines
Meisterwerkes des Weltschrifttums. Freilich auch
für den der Geldmacht eines Staates. Braucht man
noch hinzuzufügen, daß die berühmten Erstaus-
gaben ihre Reihen vollständig nur in den Bücher-
palästen der Huntington und Morgan zeigen, daß
bescheideneren Sammlern der Beweis höchsten
Buchruhmes die Faksimileedition bleiben muß?
Aber auch der bescheidenste Bibliophile, der auf
alles, der sogar auf die Bücher verzichtet, darf
wenigstens von den Originalen reden. —
Das berühmteste Buch, das »Buch der Bücher«,
Bibliographischer Patriotismus
8
ist der christlich-europäischen Kultur die Bibel.
»Sie ist nicht etwa nur ein Volksbuch, sondern
das Buch der Völker, weil sie die Schicksale eines
Volks zum Symbol aller übrigen aufstellt« (Goethe,
Geschichte der Farbenlehre. 1810). Ihre Ausgaben
bilden eine Bibliothek für sich, in der die ältesten
neben den neuesten, die billigsten neben den
teuersten Büchern stehen, eine Bibliothek, deren
viele Sprachen kein Bibliothekar meistern kann,
eine Bibliothek, deren Katalog selbst eine kleine
Bibliothek sein würde und dazu eine das Buch-
wesen umfassende Geschichte. Mit Fug und Recht
steht auf dem Ehrenplatz der berühmteste Erst-
druck: die zwe iundv ie r z igze i l i ge Bibel, Guten-
bergs Meisterwerk, das um die Mitte des fünf-
zehnten Jahrhunderts entstand, das erste gedruckte
Buch größeren Umfanges und das höchstbezahlte,
seitdem es in Mazarins Bibliothek für die Biblio-
philen entdeckt wurde. Ihm fehlen noch Schluß-
schrift und Titelblatt, der Verleger war noch nicht
erfunden, der eine Erstausgabe ihre Bibliographie
in seinem Namen reden läßt. Den lateinischen Über-
Die Gutenberg-Bibel
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setzungen folgten erst in den achtziger Jahren des
fünfzehnten Jahrhunderts Drucke des hebräischen
Bibeltextes, erst 1514 wurde in der auf Befehl und
Kosten des Kardinals Francesco Ximenez de Cis-
neros in Alcala de Henares hergestellten Biblia
polyglotta, die nach ihrer Titelangabe die „Com-
p lutens i s che Po lyg lo t t e“ heißt, das griechische
Neue Testament gedruckt. Da aber dieser Privat-
druck in sechs prunkvollen Folianten erst 1520
ausgegeben wurde, gelten die 1518 in Vened ig
von der Aldus-Werkstätte veröffentlichten Sacrae
s c r ip turae ve te r i s , novaeque omnia als die
Editio princeps des griechischen Neuen Testaments
— ein für die Unterscheidung zwischen Erstaus-
gabe und Erstdruck lehrreiches Beispiel. Daß in
einem jeden Lande nicht allein die ältesten ge-
druckten Bibelübersetzungen, sondern auch die älte-
sten autorisierten Bibelübersetzungen in höchster
Schätzung stehen, und daß gerade die letzteren
nicht immer in ihrem Erstdruck Geltung haben, gilt
auch für Luther s Sprachtat, mit der er seinen
Deutschen dienen wollte. Der Erstdruck seines
Erstausgaben des „Neuen Testaments“
10
Wartburgwerkes, die September -Bibe l , so ge-
nannt, weil sie der Wittenberger Melch ior Lot ther,
sie auf drei Pressen gleichzeitig herstellend, im
September 1522 beendet hatte und noch im De-
zember desselben Jahres die zweite Auflage fertig-
stellen konnte, müßte richtiger allerdings das Sep-
tember-Testament heißen, da er allein die Über-
setzung des Neuen Testamentes enthält. Die Nach-
frage nach dem Buche war trotz des hohen Preises
von anderthalb Gulden so stark gewesen, daß die
erste Auflage teilweise gleichzeitig mit der zweiten
gedruckt wurde, das heißt, daß einzelne Bogen in
einer noch für die zweite Auflage hinreichenden
Höhe ausgegedruckt wurden — ein Beispiel für
die bibliographischen Rätselstellungen der Refor-
mationsliteratur, in der Doppeldrucke, Mischauf-
lagen häufig sind und den Erstdruck verfälschen.
Daß in Basel bereits im Dezember des Erschei-
nungsjahres der September-Bibel ihr erster Nach-
druck erschien, daß auch ihre Holzschnitte, mit
denen sie vermutlich ihr wahrscheinlicher Mitver-
leger Lucas Cranach verziert hatte, nachgeschnitten
Die Luther-Bibel
11
wurden, mag ein kurzer Hinweis auf die nicht
seltenen Verwirrungen sein, die dem Auffinden eines
alten Erstdruckes unter seinen Nachdrucken sich
entgegenstellen. Kommt es doch sogar vor, daß
ein Erstdruck überhaupt nicht veröffentlicht, son-
dern nach seiner Fertigstellung vernichtet wird,
um von einem zweiten Drucke als von der aner-
kannten Erstausgabe ersetzt zu werden. Ein Schick-
sal, das die Bib l i a s ac ra vu lga tae ed i t ion i s ,
die, dort von Aldus Manutius betreut, Romae ,
ex typographia apos to l i ca Vat i cana : 1 590
hervorging, traf. Diese, auf Befehl des Papstes
Sixtus V. veranstaltete amtliche Bibelausgabe für
das Herrschaftsgebiet der Katholischen Kirche wurde
ihrer Druckfehler wegen zurückgezogen, und ein von
Papst Clemens VIII. als authentischer Text appro-
bierter Neudruck Romae , ex typographia apo-
s to l i ca Vat i cana : 1 592 trat an ihre Stelle. Den
Bemühungen der Bibliophilen, den ›Erstdruck‹ von
1590 zu erlangen, kamen Buchfälscher auf die ein-
fachste Weise entgegen. Sie druckten das alte Titel-
blatt nach und stellten es dem Neudruck vor. Und
Die doppelte Vulgata-Edition
12
sie machten aus einem Erstdruckabzug ein Dutzend,
indem sie die Exemplare mischten. Woraus zu
lernen ist, daß die alten, die echten Druckfehler
häufig den Erstdruck bezeugen und daß weder
Bibeln noch Bibliophilen den Buchtäuschern heilig
sind. —
In Auflagen des lateinischen Textes, Bearbeitungen
und Übersetzungen hat nach der Bibel wohl die
›Imi ta t io Chr i s t i ‹ die weiteste Verbreitung ge-
funden. Der Editio princeps dieses Andachtbuches
der Christenheit, die 1471 von Günther Za iner
in Augsburg gedruckt worden ist, reihten sich
in den folgenden dreißig Jahren an die neunzig
Drucke an. Die Übergangszeit von der Buchhand-
schrift zum Druckwerk, als welche die zweite Hälfte
des fünfzehnten Jahrhunderts, die Inkunabeln-
periode, anzusehen ist, zeigte sich auch in der Ver-
vielfältigungslust, in den Wiederholungen der, damals
klassischen, kanonischen Literatur. Man beeilte sich
durchaus nicht, die Erstdrucke, die uns jetzt die
wichtigsten der Wiegendruckzeit scheinen, zu be-
sorgen. Fast gleichzeitig mit der Editio princeps
Die Imitatio Christi
13
der Imitatio Christi ist, um 1470 bei Mente l in
in St raßburg gedruckt, das andere Buch christ-
licher Weltanschauung zuerst erschienen, das seit-
dem Weltgeltung gewonnen hat, des Kirchenvaters
Aure l iu s Augus t inus Confe s s ionum l ib r i .
Die Erstausgaben jener Frühdruckjahre haben
mehr historisch-typographischen als bibliographisch-
kritischen „Wert. Das, was den Bibliophilen auf
den Erstdruck schwören läßt, die, wenigstens an-
genommene, Beteiligung des Verfassers an der
Drucklegung seines Werkes, können sie größten-
teils nicht haben. Sie waren, soweit sie keine Nach-
drucke waren, Abdrucke, häufig nachlässige Ab-
drucke einer Handschrift, die oft nur eine Abschrift
von Abschriften war. Wenn trotzdem die Wieder-
erweckung der antiken, der griechischen und römi-
schen Schriftsteller durch die Humanisten um die
Editiones principes den Glanz eines begeisterungs-
treuen Bibliophilenglaubens wob, wenn die Erst-
druckreihe eines Werkes künstlich verlängert wurde,
indem man der editio primaria princeps die eigent-
liche editio princeps nachstellte, weil das vollstän-
Aurelius Augustinus
14
dige Werk erst allmählich, nach und nach in ver-
schiedenen Ausgaben, gedruckt worden ist, dann
könnten deshalb diese alten Buchdenkmäler lächeln-
den Skeptikern leicht als Wahrzeichen eines be-
ginnenden Buchnarrentums erscheinen. Aber die
Editio-princeps-Bibliomanen hatten nicht ganz und
gar unrecht. Mancher Erstdruck eines antiken Klas-
sikers hat uns seine beste Handschrift überliefert,
die später verloren wurde. Und die Wissenschaft
des zwanzigsten Jahrhunderts erfuhr aus den Pa-
pyrusfunden, daß die eleganten Konjekturen-Kri-
tiker der klassischen Philologie nicht überall recht
gehabt hatten.
Der erste Druck eines antiken Klassikers über-
haupt war der 88 Blätter zählende Foliant, den
J . Fust und P. Schoef fe r 1465 von Mainz ausgehen
ließen: Marcus Tul l iu s Cice ro , De o f f i c i i s ,
e t pa radoxa . Auch Quintus Hora t ius Flac -
cus erschien, freilich nur mit einer Ode, in dem
dünnen Bande zum erstenmal gedruckt, und dieser
bringt weiterhin, wofern ihm die am 30. Oktober
des gleichen Jahres in Subiaco vollendete Lactan-
Die erste editio princeps
15
tiusausgabe nicht voranging, dazu die ersten Druck-
proben in griechischer Sprache. In der Mönchs-
klosterwerkstätte Subiaco , die dort die deutschen
Meister C. Sweynheym und A. Pannar t z errichtet
hatten, entstand 1465 noch eine andere Cice ro-
Editio princeps, die der Schrift De ora tore , das
älteste erhaltene (?) in Italien gedruckte Buch. Und
das (vermutlich) erste in Rom (von den gleichen
Meistern) gedruckte Buch war wiederum eine Cicero-
ausgabe, der 1467 veröffentlichte Erstabdruck der
Epi s to l ae ad f ami l i a re s . Daß Cicero neben dem
Donatus , dem lateinischen Lehr- und Lesebuch
für Anfänger jener Tage, sich der besonderen Vor-
liebe der Wiegendruckzeit erfreute, verdankte er
weniger dem Inhalt seiner Schriften als deren
Sprache, er war der Sprachführer für die Fortge-
schritteneren. In den meisten Offizinen, in denen
bedeutendere editiones principes erschienen sind,
wirkte als ihr Herausgeber und als treibende Kraft
der Unternehmungen ein bescheiden im Hinter-
grunde der Schlußschriften und Widmungsbriefe
sich zurückhaltender Humanist, ein Bibliophile, um
Humanisten-Typographen
16
dessentwillen der Eifer seiner geistigen Nachfahren
für die Editio princeps auch noch einige Ent-
schuldigung verdienen würde. In der Sweynheym-
Pannar t z -Werkstätte war das Johannes Andrea s ,
Bi schof von Ale r i a . Wir verdanken dem vor-
trefflichen Mann noch den ersten römischen Ver -
g i ldruck (1469; die editio princeps des Vergil hatte
wahrscheinlich J . Mente l in in St raßburg einige
Monate früher vollendet) sowie die Erstdrucke der
Phar sa l i a des Marcus Annaeus Lucanus
( 1469 ) , der Opera des Luc ius Apule ius ( 1469 ) ,
der Commentar i i des Ga ius Ju l iu s Caesa r
(1469) und der Hi s tor i a rum l ib r i qu i super -
sunt des Ti tus L iv ius ( 1469 ) .
Die erste Ausgabe der Opera des Quintus
Hora t ius Flaccus ist vermutlich 1470 in Ve-
ned ig , die der Sa t i r ae des Dec imus Jun ius
Juvena l i s ebenfalls 1470 von N. Ga l lu s (Han)
in Rom (wofern ihr nicht der Vened iger Druck
gleichen Jahres von Vinde l inus de Sp i ra voran-
ging) gedruckt worden. Auch die Epigrammaton
l ib r i des Marcus Va le r iu s Mar t i a l i s hat ver-
Deutsche Erstausgaben Drucker
17
mutlich der römische Drucker Si l v iu s It a l i cus
1471 mit einem kleinen Vorsprunge vor der im
Juli dieses Jahres in Fer ra ra erschienenen Martial-
edition herausgegeben. Den Anspruch, die editio
princeps der Opera des Pub l ius Ovid ius Naso
zu sein, dürfte die 1471 in Bo logna von Ba l tha -
s a r Azoguid ius veröffentlichte Ausgabe behaupten
können, obschon auch die im gleichen Jahre in
Rom von Sweynheym und Pannar t z veran-
staltete ihn vielleicht erheben würde. Der Catu l l i ,
Tibu l l i , Proper t i i ca rmina e t Sta t i i S i l vae ,
die, Vened ig : 1472 , Vinde l inus de Sp i ra in
einer Sammelausgabe vorlegte, werden in dieser
nicht allein zum ersten Male vereinigt, sondern auch
zum ersten Male gedruckt sein, wie denn überhaupt
bisweilen editiones principes in Ausgaben anderer
Autoren eingeschlossen sind, die selbst in diesen
bereits nicht mehr als Erstdrucke erschienen. Die
Comoediae de s Pub l ius Terent ius Afe r sind
bei J . Mente l in in St raßburg um 1469 erst-
malig gedruckt erschienen, des Ti tus Macc ius
P lautus Comoediae 1472 in Vened ig bei Vin-
Altrömische Dichter
18
de l inus de Sp i ra . Die Ins t i tu t iones Ora to-
r i ae des Marcus Fab ius Quint i l i anus gab
1470 J . A . Campanus , Bi schof von Teramo,
in Rom heraus, der dritte Drucker Roms, J . P. de
L ignamine , hatte die Ausgabe hergestellt. Im glei-
chen Jahre besorgte dieser Herausgeber auch die
ebenfalls von J . P. de L ignamine gedruckte Editio
princeps der Vi tae XII Caesa rum des Ga ius
Sueton ius Tranqui l lu s . Als N. Jenson in Ve-
ned ig 1471 die Vi tae exce l l ent ium impera -
to rum veröffentlichte, galt als der Verfasser dieses
jetzt dem Corne l iu s Nepos zugeschriebenen
Werkes noch Aemi l iu s Probus . 1470 waren des
Ga ius Cr i spus Sa l lu s t iu s Be l lum Cat i l i -
nar ium e t Jugur th inum von Vinde l inus de
Sp i ra in einer Auflage von 400 Abzügen (die
Durchschnittsauflagen der Wiegendrucke betrugen
200 bis 500 Abzüge) gedruckt worden, höchst-
wahrscheinlich zum ersten Male, und um 1473
die Opera des Corne l iu s Tac i tus . Die Editio
princeps des Lehrgedichtes de re rum natura des
Ti tus Lucre t iu s Carus ist etwa in das Jahr
Altrömische Geschichtsschreiber
19
1473 zu setzen (Bre sc i a , T. Fer randus ), die
der Opera des Luc ius Annaeus Seneca datiert
aus dem Jahre 1475 (Neape l , Mat th ia s Mora-
vus ). Ähnlich wie die bedeutenden lateinischen
Klassiker sind auch die griechischen anfangs zumeist
in Italien veröffentlicht worden, nur daß, ent-
sprechend den später ausgebildeten griechischen
Studien, ihre Reihen später beginnen, und daß ein
gelehrter Verleger, A ldus Manut ius in Vened ig ,
ihre Editiones principes im ersten Viertel des sech-
zehnten Jahrhunderts gewissermaßen für sich mono-
polisiert hatte. Der erste gedruckte griechische Klas-
sikertext dürfte, vermutlich von T. Fer randus
um 1474 in Bre sc i a hergestellt, die Bat racho-
myomachia gewesen sein. Theocr i t und Hes iod
hat, um 1480 , Bonus Accur s ius in Mai l and
zu einer Editio princeps vereinigt, die erste grie-
chische Homerausgabe Bar to lommeo d i L ibr i
in Florenz , seinem Namen Ehre machend, ge-
druckt. 1494–95 gab A ldus Manut ius einen
Quartanten, in dem er verschiedene griechische
Werke zusammen gedruckt hatte, heraus, die älteste
Griechische Wiegendrucke
20
Aldine. Von den 28 editiones principes griechischer
Klassiker dieser Offizin sind des Ar i s tophanes
Komödien 1498 , die Tragödien des Sophoc le s
1 502 , des Eur ip ide s 1 503 , des Aeschy lus
1 5 18 , die Reden des Demosthenes 1 504 , die
Geschichtswerke des Herodot und des Thucy-
d ide s 1 502 , die Gesamtausgabe des Ar i s to te l e s
in fünf Foliobänden 1495–98 , die erste grie-
chische Ausgabe der Werke P la tos 1 5 1 3 (die in
der lateinischen Übersetzung des Mars i l iu s Fic inus
schon 1491 — zu Florenz bei Bernard inus
de Chor i s & Simon de Luero für A . Torre -
s anus — veröffentlicht waren) bekannt gemacht
worden. Jedenfalls zeigt die lang auszudehnende,
an philologischen und typographischen Zweifels-
fragen reiche Liste der Editiones principes antiker
Klassiker, daß von Anfang an dem auf den Erst-
druck schwörenden Bibliophilen das Leben nicht
leicht gemacht war, selbst wenn er sich mit Gleich-
gültigkeit gegen gute oder schlechte Texte wappnen
wollte. Datierungsrechnungen, die deshalb so große
Schwierigkeiten machen, weil die abweichenden
Die Aldinen-Klassiker
21
Zeitrechnungen der verschiedenen Druckorte bei-
nahe schon auf die Sekunde Genauigkeit verlangen,
will man die ›echte‹ editio princeps herausfinden,
Ungenauigkeiten und Unwahrheiten der Drucker
und Herausgeber, Unvollständigkeiten der Werke
beeinträchtigen in immer neuen Wiederholungen
die Erstdruckrechte. Kurz, der gewissenhafte Mann,
der die editio princeps sucht, hat mit der Wahl
allzuoft die Qual, für welche von mehreren gleich-
artigen und gleichzeitigen Ausgaben er sich ent-
scheiden soll. Aber jene dem Bibliophilen wohl
anstehende Entschlußkraft beseitigt alle Zweifel.
Er erkennt die editio princeps an, die er hat.
Dante A l igh ie r i s Div ina Commedia — der
Erstdruck mit dem Titelwort ›Divina‹ ist freilich
erst das in Vened ig 1 5 5 5 von Gabr i e l Gio l i to
de Fer ra r i gedruckte Bändchen — hat in den
Ausgaben Fo l igno , J . Numei s t e r : 1472 ; Je s i ,
Feder i cus Veronens i s : 1472 ; Mantuae , Geor -
g ius e t Pau lus Teutonic i : 1472 dreifache Erst-
druckgeltung. Trotzdem ist der Bibliophile auch
mit diesem Dreigestirn nicht zufrieden, vielleicht,
Dante Alighieri
22
weil es Sterne sind, die man nicht begehrt. Er
braucht noch die Ausgaben mit den Erstdrucken
der Kommentare und die Ausgaben, die Erstdrucke
neuer Textrezensionen sind, er kommt mit einem
halben hundert Ausgaben, die diese oder jene Eigen-
tümlichkeit zum ersten Male gedruckt zeigen, ge-
rade aus. Etwas voreilig war es freilich, auf den
Auktionserfolg der Va ldar f e r schen Ausgabe von
Boccacc io s Decamerone (Vened ig : 1471 ) in
der Roxburgh-Versteigerung 1812 den Roxburghclub
zu gründen. Denn nun glaubte und glaubt alle
Welt, dies sei die Erstausgabe, während doch
eigentlich jedermann wissen sollte, daß schon ein
Jahr früher ein unbekannter Druckmeister Deo
gratias gerufen hatte, als er mit dem Geschichten-
buch des lustigen Hans fertig geworden war. Der
ersten Ausgabe von Francesco Pe t ra rca s Canzo-
niere (Sonet t i e Tr ionf i . Vened ig : 1470 ) hat
Vinde l inus de Sp i ra bei weitem nicht diejenige
Sorgfalt zugewendet, die er für die Editio princeps
eines antiken Klassikers zu haben pflegte. Den Ge-
fallen, auch die Drucklegung ihrer Werke zu leiten,
Bocaccio — Petrarca
23
haben so, wie das die Bibliophilen und Philologen
verlangen, auch die meisten modernen Klassiker
ihnen nicht getan. Lodov ico Ar io s to machte eine
Ausnahme, wenn er die drei bei seinen Lebzeiten
erschienenen Originalausgaben des Or lando Fu-
r io so genau überwachte. Wenn von seiner Erst-
ausgabe (Fer ra ra , J [oanne] M[azocco] : 1 5 16 )
heute auch kaum ein halbes Dutzend Exemplare
nachzuweisen ist, so liegt, ein Widerspruch mit
dem Bibliophilenverlangen, auch das in den Wün-
schen des Dichters. Sein Werk sollte in der end-
gültigen Gestaltung, die er ihm gegeben hatte, leben,
nicht in der anfänglichen Fassung, die der Erst-
druck wiedergab. Die bibliographischen Probleme
von Erstausgabe und Erstdruck, berechtigter spä-
terer und unberechtigter früherer Ausgabe, schlechter
und unvollständiger Erstausgabe und besserer, voll-
ständigerer folgender Ausgabe, Teilveröffentlichung
und Vorveröffentlichung lassen sich an den Erst-
ausgabenreihen der Gerusa l emme l ibe ra ta Tor -
quato Tas sos studieren, zu deren Übersicht man
schon eine Tabelle aufstellen müßte. Das befreite
Ariosto — Tasso
24
Jerusalem haben Freunde Tassos herausgegeben,
er selbst hat nur die gegen dessen Erstausgaben
gerichtete Umarbeitung seines Gedichtes (Gerusa -
l emme conqui s t a ta . Rom, Facc io t t i : 1 593 )
veröffentlichen lassen, um sein Meisterwerk zu
widerrufen.
Daß Cer vante s schreiben konnte, beweist sein
Don Quixote . Ob er auch das Korrekturenlesen
übte und verstand, bleibt eine nicht ganz gelöste Frage.
Freilich erschien die Erstausgabe des Don Quixote
(Madr id , Por Juan de l a Cues ta , Vendese
en ca sa de Franc i s co de Roble s , l ib re ro de l
Rey ñro s eñor. I 1605 , I I 1615 ) in einem Lande,
in dem die Zensurbehörden über jedes Komma
wachten und in dem der Verfasser weder sagen
noch schreiben, geschweige denn drucken lassen
konnte, was er wollte. Die Approbation war die
Drohung, die jeder Feder ihren Lauf vorschrieb.
Womöglich noch achtsamer war die Heilige In-
quisition in Portugal auf die gedruckten Gedanken.
Ob sie es auch verschuldet hat, daß die Erst-
ausgabe der Lus i aden des Camoens (L i s s a -
Cervantes — Camoens
25
bon, Antonio Gonça le z : 1 572 ) bis auf einen
kleinen ›Rest‹ von 2 bis 3 Stück verschwun-
den ist?
Die Anwendung der Bezeichnung Editio princeps
auf die Erstdrucke antiker Klassiker und das Be-
gehren dieser Editiones principes durch die Samm-
ler hatte eine historische und eine praktische Ten-
denz gehabt, war Bemühung um die Antiquität und
den authentischen Codexersatz gewesen. Die biblio-
graphisch-kritisch-literarhistorische Tendenz, die die
Bibliophilen gegenwärtig als ihre Erstausgaben-
Meinung hochhalten, entstand recht eigentlich erst
im neunzehnten Jahrhundert und hat sich mit der
französischen édition originale herausgebildet. Als
nach der napoleonischen Zeit die Erinnerung an
das Grand siècle entschiedener hervortrat, als die
Gesamtausgaben der Klassiker ihren Aufbau auf
die Erstdrucke gründeten, kamen allmählich die
Bibliophilen im Einvernehmen mit der Buch-
forschung von ihrer Bewunderung der altertümlich
gotischen Drucke, der anderen Seltenheiten, wie
der Elzeviers, die noch in Verbindung mit dem
Die édition originale
26
Klassikergeschmack der eleganten Philologie des
siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts stand,
auf die bibliographisch-kritische Wertschätzung auch
der neueren Schriftwerke. Das läßt sich deutlich
in der Auflagenreihe des Brunet verfolgen, in dem
Eifer, mit dem etwa die alten Rabe la i s -Aus-
gaben geprüft und gewertet wurden, in der sich
ändernden Zusammensetzung der großen Liebhaber-
sammlungen. Die bibliographischen Untersuchungen
vermehrten jetzt in Frankreich und den anderen
Ländern, entsprechend den verschiedenen klassi-
schen Literaturperioden, den Ausgabenschatz der
wichtigen Erstdrucke durch fortgesetzte Ausgra-
bungen, die auch die Kuriositäten- und Raritäten-
sucht in andere Bahnen lenkten, bis dann die Buch-
kunst und die Liebhaberausgabe auch den Gegen-
wartsbüchern, aber in Verbindung mit denen der
Vergangenheit, den Rang von Sammlerstücken ver-
liehen.
Daß etwa die beiden Kleinoktavbände der Erst-
ausgabe der Es sa i s Miche l de Monta ignes ,
die der Imprimeur ordinaire du Roy S . Mi l l anges
Rabelais — Montaigne
27
in Bourdeaus 1 580 veröffentlicht hatte, historische
Repräsentanten französischer »culture« waren, eben
weil sie mit ihrem Datum einen Höhepunkt des
bibliographisch-literarhistorischen Systems zeigten,
fand seine sinngemäße Anwendung in den Erst-
ausgabenreihen, die den nationalen Bildungsschatz
in den Privatbibliotheken zu einer klaren Auf-
stellung bringen sollte. Die psychologische und
sentimentalische Freude an der Anekdote, an der
Anmerkung verstärkte weiterhin die nüchterne
Wissenschaftlichkeit, nicht allein an der Ausgaben-
geschichte erfreute sich der Bibliophile, auch der
einzelne Abzug, in der Gestalt eines bemerkens-
werten Provenienzexemplares, diente jetzt seiner
feingebildeten Bücherlust. Die Einzelheiten, durch
gelehrte Monographien erforscht, führten ihn dazu
von dem Einzelstück wieder zurück auf dessen Be-
deutung, die es für einen Verfasser und sein Werk,
für den geschichtlichen Zusammenhang hatte. Wer
die Erstausgabe der Erstauflage von Le Cid .
Trag i -Comédie . A Par i s , chez Augus t in
Courbé , Impr imeure t L ibra i re de Monse i -
Erstdruck Freuden
28
gneur, f r è re du Roy, dans l a pe t i t e Sa l l e du
Pa la i s , à l a Pa lme : MDCXXXVII zur Hand
nehmen durfte, man kennt von dem kostbaren
Quartanten nur einige Exemplare, der schritt an
der Hand Pie r re Corne i l l e s durch die Tore
von Versailles und erlebte mit dem großen Dichter
allen Glanz versunkener Stunden von neuem, war
mit ihm auf einem Gipfel nationaler Tradition. Und
wer einen der zwei oder drei Abzüge besaß, deren
Titel: Nouve l l e s en ve r s t i r ée de Bocace e t
de l ’Ar io s t e . Par M. de L . F. A Par i s , chez
Claude Barb in : 1665 nicht ohne Druckfehler ihm
verkündete, daß er mit dem schmächtigen Duodez-
bändchen den Erstdruck der Contes La Fonta ines
erworben hatte, hatte von einem, solchen biblio-
graphischen Anfangspunkt einen weiten Erstaus-
gabenrundblick. Wozu noch kam, daß eine äußere
Einheitlichkeit, eine Formatgleichheit vieler wert-
voller französischer Originalausgaben des sieb-
zehnten und achtzehnten Jahrhunderts ihre For-
mationen auch in den Bücherschränken sehr re-
präsentabel aufmarschieren ließ. Aus dieser Buch-
Corneille — La Fontaine
29
größeneinheit sowie einigen anderen verlegerischen
Gewohnheiten waren schon in der Entstehungszeit
jener Erstdrucke die Recueils factices entstanden,
häufig mit besonderen Titelblättern ausgestattete
Sammelausgaben, in welcher Form zum Beispiel
die Originalausgaben von Pasca l s Le t t re s pro-
v inc ia l e s den Bibliophilen um so schätzbarer ge-
worden sind, als die Sammler und Verleger jener
frühen Tage unbedenklich erste und spätere Auf-
lagen durcheinander mischten. Dafür, daß die erhöhte
Beachtung auch der bibliographischen Geringfügig-
keiten nicht gleichgültig ist, können die Molière-
Erstdrucke entschieden erstaunenswerte Proben
zeigen. Von der Originalausgabe des Sganare l l e ou
l e cocu imag ina i re , comédie , avec l e s Argu-
ment s de chaque Scène . A Par i s , chez Jean
Ribou: 1660 sind etwa ein Dutzend Abzüge bekannt,
die fast alle voneinander durch Abweichungen ihres
Druckes verschieden sind. Freilich, wenn ein Werk
bei Lebzeiten des Verfassers nicht gedruckt wurde
— das gilt zum Beispiel für die Le t t re s de Mar ie
Rabut in-Chanta l , marqui se de Sév igné à
Pascal — Molière
30
Madame l a Comtes se de Gr ignan sa f i l l e .
(Rouen: ) 1726 [ I I . 12 ° ] — mußte man den Erst-
druck, der keinen Esprit der Originalausgabe hatte,
wenigstens als einen Ersatz inzwischen verlorener
Urhandschriften wieder schätzen. Den Bibliophilen
zeichnet eine ungewöhnliche Konsequenz aus, und
er beendet den Streit, welches die besten Dramen
Rac ines sind, durch die Antwort, La Thebayde
(Par i s , C laude Barb in : 1664 ) , A lexandre l e
Grand (Par i s , Pi e r re Traboui l l e t : 1666 ) , An-
dromaque (Par i s , C laude Barb in : 1668 ) seien
die seltensten, wenigstens in reinen, mit nach-
gedruckten Bogen nicht ergänzten, Erstdrucken.
Ist doch überhaupt der Karton, das Ergänzungs-
blatt, das Verfasser oder Zensor forderten, der
Schrecken des Erstdrucksammlers. Denn es gibt
manche Originalausgaben, die sich im Erstdruck,
das heißt, mit ihren ursprünglichen Blättern und
Bogen, überhaupt nicht mehr, es sei denn in öffent-
lichen Bibliotheken, vorfinden. Da muß dann der
beschämte Bibliophile sein durch Kartons maku-
liertes Exemplar vor den neidischen Freunden ver-
Sévigné — Racine
31
stecken. Andere Autoren wiederum haben nicht
schnell genug gearbeitet, und Le Sage hat für die
Veröffentlichung der vier Bände seiner Hi s to i re
de Gi l Bia s de Sant i l l ane , die in Paris bei
Pie r re Ribou erstmals 17 15 - 1724 - 1735 er-
schienen sind, zwanzig Jahre gebraucht, um schließ-
lich doch noch den Erstdruck durch eine andere
Fassung (A Paris, par les Libraires associés: 1747.
IV. 12°) zu ersetzen. Oder aber sie brachten den
Erstdruck in einem Sammelwerk unter, das der
Bibliophile mit einem nassen und einem trockenen
Auge betrachtet. Ein Vorwurf, der Anto ine-
Franço i s Prévos t nicht erspart werden kann,
denn der Erstdruck der Manon Lescaut steht
im letzten, siebenten, Bande der Mémoire s e t
Aventure s d ‘un homme de qua l i t é qu i s ‘e s t
re t i r é du monde . A Amste rdam, aux dépens
de l a Compagnie : 173 1 .
Die berühmten englischen Erstausgaben sind in den
englisch sprechenden Ländern, in den Vereinigten
Staaten von Amerika vor allem, längst zu einer
Angelegenheit des Nationalstolzes geworden, der
Le Sage — Prévost
32
den Ausdruck ihrer Verehrung zu einem Bekenntnis
angelsächsischen Volkstums werden ließ. Durch
Bestandsaufnahmen, durch einen bibliographischen
Zensus vergewissert man sich, daß diese Wahr-
zeichen englischen Schrifttums da oder dort noch
vorhanden sind, durch hohe Liebhaberpreise schützt
man sie gegen ausländische Begehrlichkeit. Und
wie der Brite sich die »kontinentale« Literatur
solcherart aneignet, daß er sie auf die englische
bezieht, so gibt er seiner Hochschätzung der Meister-
werke des Weltschrifttums nicht zum wenigsten
dadurch einen eigenen Ausdruck, daß er sie auch
in ihren englischen Erstdruckübersetzungen wertet.
Daß viele berühmte englische Erstdrucke den Glanz
ihrer Heimat in anderen Ländern nicht zeigen, darf
aus derartigen Gründen sich erklären lassen. Und
während die Druckerstlinge kontinentaler Proto-
typographen meist lateinische Werke gewesen sind,
hat der erste englische Wiegendrucker, Wi l l i am
Caxton , seine Arbeit begonnen, indem er ein
englisches Buch veröffentlichte (Raoul le Fèvre,
Recuyell of the historyes of troye. Brügge, Colard
William Caxton
33
Mansion & William Caxton um 1474). Seit 1476
in Wes tmins te r, druckte er hier die Erstausgabe
von Geof f rey Chaucer s Cante rbur y Ta le s ,
und, da dieser Druck sehr fehlerhaft war, wieder-
holte er ihn etwa 1484 in einer zweiten verbesserten
Auflage. Die Caxtons, gleichzeitig als Inkunabeln
hochgewertet, sind von großer Seltenheit, von einer
anderen auch literarhistorisch bedeutsamen Erstaus-
gabe der Caxtonwerkstätte, S i r Thomas Malor y s
Mor te d ’Ar thur (Wes tmins te r : 1485 ) , von der
keine Handschrift mehr vorhanden ist, sind überhaupt
nur zwei Abzüge bekannt. Die dramatischen Werke
Wi l l i am Shakespeare s sind bei Lebzeiten des
Dichters in von ihm anerkannten Ausgaben nicht
erschienen. Das lag teils daran, daß Dichterruhm
Dramatikern in der Elizabethanischen Epoche nicht
zuerkannt wurde und das Buchdrama keine Schrift-
tumsgeltung hatte, teils daran, daß der Schauspieler
Shakespeare aus wirtschaftlichen Gründen keine
Verbreitung seiner Stücke wünschen konnte. Für
ihren Erfolg zeugen trotzdem die nicht wenigen
schlecht und recht gedruckten Einzelausgaben, die
William Shakespeare
34
sogenannten Quartos, die nicht ohne weiteres als
Raubausgaben zu bezeichnen sind. Denn nach dem
englischen Verlagsrechte jener Zeit war wohl der
Besitzer einer Handschrift auch zu ihrer Veröffent-
lichung autorisiert. Abschriften der auf dem
Shakespearetheater gespielten Bühnenbearbeitungen
brauchten nicht auf unredliche Weise erworben zu
sein, sondern konnten auf Nachschriften zurück-
gehen, die stenographierende Zuhörer genommen
hatten. Daß auf diese Weise die Überlieferung des
Wortlautes nicht gerade gut wurde, zumal da das
benutzte Stenographiesystem nur ungefähre Wieder-
gaben gestattete, versteht sich von selbst. Trotzdem
sind die Shakespearequartos von unschätzbarem
Wert für den Shakespearetext und die bibliogra-
phische Würdigung dieser Erstnachdrucke trifft mit
ihrer bibliophilen zusammen. Die Entdeckung eines
bisher unbekannten Quartos, noch die letztver-
flossenen Jahrzehnte brachten dergleichen Funde,
pflegt deshalb mit Recht gefeiert zu werden, nicht
zum wenigsten von ihrem Entdecker, dem sie den
Millionärsrang (nach deutscher Valuta) verleiht,
Die Shakespeare Quartos
35
wenn er sich von seinem Schatze trennt. Ob die
vielgepriesene, von Freunden Shakespeares besorgte
erste Folio, unter deren 36 Stücken 20 zum ersten
Male gedruckt wurden, hinsichtlich ihres Textes
nach den Versicherungen ihrer Herausgeber auf
Treu und Glauben hinzunehmen ist, darüber ist
die Shakespeare-Philologie durchaus nicht einig.
Jedenfalls aber sind Mr. Wi l l i am Shakespeare s
Comedies, Histories, & Tragedies. Published
accord ing to the True Or ig ina l l Copie s .
London, Pr in ted by Isaac Jaggard , and Ed.
Blount : 1623 ein Buch, das selbst den Erstdruck-
sammler strengster Observanz verführen wird, um
so mehr, als ihr Titelblatt das gepriesene, »Martin
Droeshut sculpsit London« unterzeichnete, Porträt
weist. Die drei anderen Folios (1632, 1664, 1685)
gehören zur vollständigen Reihe, wie der kalt-
blütige Antiquar sagt. Aber es ist doch nicht ganz
einfach, sich eine solche zusammenzubringen. Alle
bekannten Exemplare sind nach ihrer Schönheit
und Vollständigkeit registriert. Es ist ein von Miß-
trauen gegen die Fälscherkünste veranlagter Ge-
Die Shakespeare Folios
36
brauch, daß keine Shakespeare-Folio aus ihrem
Einbände entfernt und gewaschen werden darf,
und neuerdings ist man hier sogar so empfindlich
geworden, daß man nicht einmal aus zwei defekten
Exemplaren ein ganzes zu machen wagt. Da nun
die meisten gelegentlich noch im Handel auf-
tauchenden Abzüge fehlerhaft sind, bleibt dem
korrekten Bibliophilen, der etwas auf sich hält,
nichts weiter übrig, als mehrere sich gegenseitig
ergänzende Exemplare nebeneinander zu stellen.
Man sieht, auch die großen Sammler haben ihre
kleinen Sorgen, und man versteht, weshalb Mr.
Huntington jede auf den Markt kommende erste
Folio erwirbt.
Der Erstdruck von Edmund Spense r s Faer i e
Queene , dessen beide Quartanten 1 590 und 1 596
im Londoner Verlage von Wi l l i am Ponsonbie
unvollständig veröffentlicht wurden, ist nur eines
der nicht wenigen Beispiele jener Rücksichtslosig-
keit der Buchhändler und Schriftsteller, die zu er-
dulden der Erstdrucksammler so lange genötigt
sein wird, bis nicht ein Gesetz sich seiner annimmt,
Edmund Spenser
37
indem es bestimmt, daß endgültige und vollständige
Erstdrucke erscheinen müssen, ganz zu schweigen
von der Unverschämtheit der Titelblattausgaben.
Ist doch die Erstauflage von John Mi l tons Pa-
r ad i s e Los t [London, Pe te r Parker & Rober t
Boul te r & Mat th ia s Walker : 1667 ] in sechs
Titelblattausgaben vorhanden, die der Bibliophile,
wenn er nicht gerade an die veränderte und ver-
mehrte zweite Auflage von 1674 denkt, alle haben
müßte, um ganz zufrieden zu sein. Daß ein Abzug
heute dem Verfasser mehr als das ihm für das
ganze Werk zugebilligte Honorar, mehr als 10 Pfund
kosten würde, sei nebenbei erwähnt. I zaak Wal -
tons Complea t Ang le r. London (Pr in ted by
T. Maxey fo r Rich . Marr io t : ) 1653 zum ersten
Male gedruckt und seitdem immer von neuem wieder
aufgelegt, ist das Record Sportbuch, das in einer
englischen Klassikerbibliothek ebenso unentbehrlich
ist wie John Bunyans Pi lg r ims Progre s s
[Par t I & I I , London, Nath . Ponder : 1678
-84 ] und The L i f e o f Samue l Johnson LL.
D. by James Boswe l l , Esq . (London, Char l e s
Milton — Walton — Bunyan — Boswell
38
Dil l ey : 1791 ) , die populärste Biographie, vielleicht
nicht nur in englischer Sprache, ein Werk, das eng-
lische Denkweise kennen lehrt wie kein zweites.
Von den abenteuerlichen englischen Reisen des
achtzehnten Jahrhunderts haben drei nicht immer
streng bei der Wahrheit bleibende Bücher Welt-
ruf: der Robinson Crusoe, der Gulliver und der
Münchhausen. Die Bearbeitung, die Bürger der eng-
lischen Schrift des Deutschen Raspe angedeihen
ließ, war mehr als eine Rückübersetzung der auch
von Raspe verwerteten deutschen Vorlagen und
so dürfen wir wohl den Münchhausen trotz seines
englischen Erstdruckes den deutschen Meisterwerken
zurechnen. Aber Defoes Verwertung der Berichte
eines Schiffbrüchigen bleibt trotzdem ein Original
nach Anlage und Wirkung und die Beziehungen
zu ihrer Quelle, die den Erstdruckruhm des Ro-
binson in Frage stellen könnten, erhöhen ihn viel-
leicht noch, weil der Robinson die früheste Großtat
modernen Reportertums ist. Und wer wollte wohl
den Urrobinson unter seinen Büchern nicht ver-
wahren, auch wenn er dessen sehr zahlreicher
Freyherr v. Münchhausen
39
Nachkommenschaft die Bücherschranktür ver-
schließt. (Als die Erstausgabe des ersten Teiles
gilt und wird in den Bücherschlachten heiß um-
stritten: The L i f e and s t r ange surpr i z ing Ad-
venture s o f Robinson Crusoe , o f York , Ma-
r iner. Wr i t t en by Himse l f . London, W. Tay-
lo r : 17 19 . ) Ob der eigentliche Erstdruck des Ro-
binson in einer Zeitschrift (The Original London
Post, Heathcote’s Intelligencer) zu finden ist, darf als
eine bibliographische Streitfrage deshalb erwähnt
werden, weil diese Frage auf die seit dem neun-
zehnten Jahrhundert sich ausbreitende Erstdruck-
verwirrung durch Erstabdrucke und Vorveröffent-
lichungen in Zeitschriften und Zeitungen verweist.
Wie denn überhaupt die Neigung der Verfasser
zu veränderten, verbesserten, vermehrten Auflagen
seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts immer
stärker wurde. Daran, daß sein Werk als ein Kinder-
buch weiterleben würde, hat indessen Defoe eben-
sowenig gedacht wie Swift, als er seine grandiose
Satire schrieb, die am Ende in ihrer Menschen-
verachtung erstickte. Er hat seinem im November
Robinson Crusoe
40
1726 zum erstenmal ausgegebenen Buche (Trave l s
in to s eve ra l Remote Nat ions o f the Wor ld ,
By Lemue l Gul l i ve r. Vo l . I . London, Ben j .
Mot te : 1726 ) eine Verbreitung vorhergesagt, die
der des Pilgrims Progress gleichen würde. Er hatte
sich nicht getäuscht. Bereits im Dezember 1726
erschien die geänderte, um einen Band vermehrte
zweite Auflage, 1727 die erste Neuauflage beider
Teile, der Beginn eines noch immer anhaltenden
Bucherfolges, obschon die alten Schiffskapitäne aus-
gestorben sind, die beschworen, auch die Länder
gesehen zu haben, die Gullivers Karten zeigten,
und obschon die die Bosheiten Swifts verstehenden
Leser nicht zahlreicher wurden.
Die Amerikaner haben neben den berühmten
englischen Erstdrucken noch ihre eigenen, nämlich
die Americana, jene Bücher, in denen zum ersten
Male etwas über oder von Amerika gedruckt worden
ist, und sie haben das Americanaaufspüren zu
einem Erstdrucksport ausgebildet, der den groß-
zügigen amerikanischen Verhältnissen entspricht.
An der Spitze dieser Americana stehen die sagen-
Lemuel Gulliver
41
umwobenen Erstdrucke des (in seiner spanischen
Originalfassung unbekannten) Kolumbusbr i e f e s ,
das heißt jenes Berichtes über die Entdeckung
Amerikas, den Kolumbus am 14. Februar 1493 an den
spanischen Kronschatzmeister geschrieben hat. Will
man das amerikanische Buch nennen, das in Europa
die größte Verbreitung und Wirkung hatte, so ist
der Titel von Mrs . Harr i e t Beecher Stowes
Unc le Toms Cabin . (Bos ton : 1852 . I I »Key« .
Bos ton : 1853 ) anzuführen. Es ist ganz gewiß
kein Meisterwerk der schönen Wissenschaften, aber
es gibt Leute, die es einen Hebel der Politik des
neunzehnten Jahrhunderts nennen. Kleine Ursachen
— grobe Wirkungen. Daß der Bucherfolg, die Buch-
verbreitung auch über den Erstdruckruhm ent-
scheidet, bedarf keiner Beweise. Beschränkt sich
doch der Klassikerruhm des europäischen Kultur-
kreises auf die Literaturen der bekanntesten euro-
päischen Sprachen, und die berühmten Erstdrucke
der kleineren Literaturen sind außerhalb ihrer Län-
der wenig genannt.
Die allerberühmtesten und die berühmtesten deut-
Americana
42
sehen Erstdrucke sind durch die Bemühungen der
Bibliographie und Bibliophilie in den letztver-
flossenen dreißig Jahren immer zahlreicher gewor-
den. Die Antiquariats- und Auktionskataloge ent-
decken beinahe tagtäglich bisher unbekannte Erst-
drucke hinzu und, wenn sie auch nur gelegentlich
den erstaunenden Sammlern das letzte Halbdutzend
eines Unikums verschaffen können, so lassen sie
ihnen doch wenigstens die Hoffnung auf bisher
noch unbeachtete und daher unbekannte Erstaus-
gaben. Erwägt man weiterhin, daß diese Bemühun-
gen sich großenteils auf einen kleinen Zeitraum
erstrecken, auf die Klassiker- und die mit ihr ver-
bundene Romantikerepoche, so läßt sich leicht ver-
stehen, weshalb vorsichtige Sammler jedes etwa
von 1770 bis 1820 gedruckte deutsche Buch, das
einigermaßen nach Dichtung aussieht und nicht
durch einen Auflagenvermerk verschandelt wird,
behalten möchten. Es ist vielleicht noch kein Erst-
druck, aber es könnte einer werden. Da mag schon
die Entschuldigung gelten, daß gegenüber solcher
Gewissenhaftigkeit eine kurze Aufzählung der deut-
Deutsche Klassiker und Romantiker
43
schen Erstdrucke ersten Ranges, für die hier die
Bände fehlen, Vermessenheit sein würde. Und nur
zwei seien erwähnt, die Erstausgaben des ›Faus t ‹
und die der ›Räuber ‹. ›Bekanntlich‹ ist das Faust-
fragment zum ersten Male in der Göschenschen
Ausgabe von Goethes Schriften 1787 gedruckt und
durch Sonderausgaben verbreitet worden, nicht
ohne bibliographische Verwirrungen der Titelfrage,
die O. Denekes Untersuchungen gelöst haben. Weit
weniger ›bekanntlich‹ aber scheint es zu sein, daß
der ›ächte‹ erste Druck des ›Faust‹ sich im achten
Bande der zwölf-, dreizehn-, zwanzigbändigen Aus-
gabe der Werke (Tübingen, Cotta: 1806 [1817]—
1808—1810—1819) befindet. Denn der ebenfalls
noch im Jahre 1808 von dem Verleger Cotta ver-
anstaltete Druck, der als erste Ausgabe des ersten
Teils verehrt wird, ist nach dieser Gesamtausgabe
hergestellt worden und Goethe selbst hat ihn, wie
er an Zelter schrieb, erheblich später kennengelernt.
Auch der Erstdruck der »Räuber« ist keine ganz
ungetrübte Bücherlust, da er kaum noch anders
aufzufinden ist als in einem teilweisen Zweitdruck.
Der Erstdruck des „Faust“
44
Aus seinem Schauspiel hatte Schiller zwei Stellen
schon im November 1780 in dem »Versuch über
den Zusammenhang der tierischen Natur des Men-
schen mit seiner geistigen« drucken lassen. Die
Drucklegung des ganzen Werkes, im März und
April 1781, scheint dann aber noch zu einer Vor-
ausgabe geführt zu haben, die wir nicht kennen,
und die vielleicht nur in Aushängebogen Ende
April unter den Karlsschülern zirkulierte. Jeden-
falls waren in der zur Jubilatemesse 1781 veröffent-
lichten Erstausgabe Bogen des Erstdruckes durch
geänderte, neugedruckte Bogen ersetzt worden, so
daß der Erstdruck der ›Räuber‹ in einer unter-
drückten Fassung vorhanden war, von der bisher
zwei Bogen (der der Vorrede und der Bogen B)
aufgefunden und mit einer ausführlichen Darstellung
des Sachverhaltes in der, von Carl Schüddekopf
besorgten (Leipzig: 1905 erschienenen) Faksimile-
ausgabe wiedergegeben sind. —
So ist die Begeisterung des Bibliophilen für den
Erstdruck überall von der kritischen Nörgelei des
Bibliographen gestört. Dem Bibliographen kann
Der Erstdruck der „Räuber“
45
es kein Verfasser und kein Verleger recht machen.
Kümmerte sich der Verfasser nicht um die Druck-
legung seines Werkes, hatte der Verleger nicht die
beste Druckvorlage mit der höchsten Sorgfalt in
die schönste Buchform gebracht, dann fragte der
Bibliograph nachher, was denn eigentlich an diesen
druckgeschwärzten Papieren wertvoll sei. Und hatten
Verfasser und Verleger immer von neuem Blätter
und Bogen durch andere, ihrer Ansicht nach bessere,
ersetzt, dann ließ der Bibliograph auch den defek-
ten Erstdruck nicht gelten. Er möchte die Fehl-
drucke vollständig beisammen haben, die Hand-
schrift, die Korrekturbogen vergleichen, damit er
über die Druckgeschichte unfehlbar urteilen kann.
Nicht daß etwas gedruckt wurde, sondern wie es
gedruckt wurde, ist ihm zunächst wichtig, und dem
im Stande der Unschuld dahinlebenden Bücher-
sammler vernichtet er den letzten Rest schöner
Träume, in denen dieser gläubige Mann den Erst-
druck aus den Händen des Verfassers zu emp-
fangen glaubt, mit den kalten Worten: Waren Sie
denn dabei, als das gedruckt wurde? Der Biblio-
Bibliographischer Pessimismus
46
phile, der sonst vielleicht nicht mit dem ewigen
Juden tauschen würde, hätte dessen ruhelose
Wanderfahrten wenigstens dazu benutzt, eine ein-
wandfreie Reihe der berühmt werdenden Erstdrucke
zustande zu bringen. In Mainz und in Rom und
Venedig, in London, Madrid und Paris, in Frank-
furt und Leipzig, überall, wo ein Erstdruck ersten
Ranges entstand, hätte er sich zur rechten Zeit
eingefunden, und er hätte vielleicht sogar, wofern
das damals schon üblich war, ohne Mäkeln den
Sortimenterzuschlag auf den Ladenpreis bezahlt.
Ob er freilich, Zins auf Zinzeszins gerechnet, dabei
billiger gekauft hätte, als die Bibliophilen des zwan-
zigsten Jahrhunderts, die die alten Erstdrucke sich
durch Liebhaberpreise streitig machen, mag ein
Mathematiker nachrechnen. Einen Nutzen hätte
aber auch der ewige Jude von der Bücherjagd
nach den Erstdrucken gehabt, er wäre nicht zur
Selbstbesinnung gekommen, er hätte, durch die
Jahrhunderte weiterziehend, den ihm begegnenden
Neugierigen nicht einmal auf die verfänglichen
Fragen, die einem Bibliophilen gern entgegentreten,
Ahasver als Bibliophile
47
etwas anderes erwidern können als: Ich sammle
Erstdrucke, ich bin jedoch kein Sachverständiger
für die sonstige Weltgeschichte, und ich habe mich
bisher nur ein einzigesmal aufgehalten, es mag um
1500 gewesen sein, weil sie dem Erfinder des
Titelblattes ein Denkmal setzen wollten.
Er hat mir das Leben
leichter gemacht.
Das Tittelblatt-Denkmal
Die Weihnacht sgabe wurde
in 1000 numer ie r t en Exemplaren
für Pau l Graupe Ant iquar i a t , Ber l in be i
Poesche l & Trepte , Le ipz ig im Jahre 1920
gedruckt . Davon kommen Nr.501 — 1000
in den Hande l . Die s i s t Nummer
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