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Das neue Netz.
Praktiken und Konsequenzen des „Web 2.0“
Dr. Jan-Hinrik Schmidt
Wissenschaftlicher Referent für digitale interaktive Medien und politische Kommunikation
Wiesbaden, 21.09.2010
Das neue Netz Seite 2 von 20
Was wäre, wenn es kein Internet gäbe?
[Zitate aus Gruppendiskussionen mit Jugendlichen in Hamburg und im Emsland]
• „Ich glaube, man würde damit klar kommen. Aber wenn man wüsste, dass es das mal gab und dann abgeschafft wird, ich glaub, dann würde ich durchdrehen. [- Warum? -] Ich müsste dann auf Youtube-Videos und so verzichten, und die sind schon witzig. Oder Chat und so.“ [Mädchen, 14 Jahre]
• „Bei mir ist es, ich nutze halt das Internet einerseits sehr viel zur Kommunikation – Messenger läuft bei mir fast 24 Stunden am Tag, SchülerVZ ist natürlich auch hoch frequentiert. Aber zum Zweiten nutze ich das auch sehr viel, um mir halt Informationen zu beschaffen, die ich brauche.“ [Junge, 17 Jahre]
• „Es geht auch ohne Internet, man kann ja auch was machen, was man nicht im Internet macht. Man kann zum Beispiel Playstation spielen, oder Nintendo DS, es gibt alles mögliche. Man muss nicht immer in Internet rennen, sonst is man n Internet-Freak.“ (Mädchen, 13 Jahre)
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Worüber spreche ich?
1. Warum „Das neue Netz?“
2. Drei Nutzungspraktiken, drei Mythen des Web 2.0
3. Wie verändert sich unser Verständnis von Öffentlichkeit – und was bedeutet das für die Privatsphäre?
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Entwicklung des Internets: Meilensteine
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Erste Internet-verbindung in USA
„Web 2.0“New-Economy-Blase
Start des World Wide Web (CERN Genf)
Erster deutscher Rechner angeschlossen (Uni Karlsruhe)
Vortrag „Das neue Netz“ bei Buch Habel in Wiesbaden
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Verbreitung des Internet in der Bevölkerung (ab 14 Jahren; in %)
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„Web 2.0“
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• Die Bezeichnung „Web 2.0“ spielt darauf an, dass das Internet inzwischen in eine neue Phase eingetreten sei – es also eine „neue Version“des World Wide Webs gebe, die anders, besser, revolutionärer sei als das alte Internet, z.B. durch…
– Wikipedia– Youtube– Facebook– Twitter– … und viele viele andere Dienste & Plattformen
• Die Bezeichnung ist problematisch, weil es solche „Updates“ im Internet nicht wirklich gibt, und weil in der ganzen Euphorie um das Web 2.0 oft vergessen wird, dass viele Menschen das Internet nach wie vor „traditionell“ (oder gar nicht) nutzen
• Dennoch: Das gegenwärtige Internet erleichtert bestimmte Nutzungsweisen und erzeugt so ganz bestimmte soziale Folgen, verändert also unser individuelles und gesellschaftliches Leben
Was ist das Web 2.0?
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Web 2.0 unter jungen Nutzern populär
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Twitter (3%) Weblogs (7%) PrivateNetzwerkplattformen
(39%)
Videoportale (58%) Wikipedia (73%)
14-19 20-29 30-39
40-49 50-59 60+
Nutzung ausgewählter Web 2.0-Anwendungen nach Altersgruppen (zumindest selten; in %)
Quelle: ARD/ZDF Onlinestudie 2010
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Was geschieht im Web 2.0?
Das Web 2.0 senkt die Hürden für onlinebasiertes…
www.flickr.com/photos/44029537@N00/12760664/
– Identitätsmanagement (Darstellung individueller Interessen, Erlebnisse, Meinungen, Kompetenzen, etc.) z.B. Weblogs, YouTube
http://flickr.com/photos/mylesdgrant/495698908/
– Beziehungsmanagement (Pflege von bestehenden und Knüpfen von neuen Beziehungen)
z.B. Facebook, studiVZ, XING, Wer-kennt-Wen
http://www.flickr.com/photos/axels_bilder/1267008046/
– Informationsmanagement (Selektion und Weiterverbreitung von relevanten Daten, Informationen, Wissen- und Kulturgütern)
z.B. Wikipedia, Twitter
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Die soziologische Perspektive
• Identitäts- und Beziehungsmanagement sind Anforderungen und Aufgaben, die in breiterem gesellschaftlichem Kontext stehen
• Individualität – die eigene unverwechselbare Identität zu entwickeln und darzustellen – ist gesellschaftliches Leitbild und normative Anforderung an den Einzelnen
• Identität ist aber nicht von der Einbettung in soziale Gebilde zu trennen und entsteht nur im Wechselspiel von individuell-persönlichen Merkmalen und sozialen Zugehörigkeiten
• Formen der sozialen Organisation haben sich geändert – zeitlich stabile, traditionell begründete und örtlich gebundene Gruppen verlieren gegenüber flexiblen, interessengeleiteten und ortsübergreifenden Bindungen relativ an Gewicht
• Teilhabe an Gesellschaft, die von „vernetzter Individualität“ gekennzeichnet ist, setzt daher auch die aktive Pflege und das Knüpfen von sozialen Beziehungen voraus; „Networking“ ist nicht nur im beruflichen Kontext eine Schlüsselqualifikation, sondern muss auch im alltäglichen Leben beherrscht werden
www.flickr.com/photos/44029537@N00/12760664/
http://flickr.com/photos/mylesdgrant/495698908/
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Internet – eine eigene Welt?
http://themiddleeastinterest.files.wordpress.com/2007/12/matrix.jpg
• Mythos #1: Das Internet ist ein „Cyberspace“, in dem Menschen ihren Körper hinter sich lassen und neue Identitäten schaffen könnten
Aber: Wie wird Identität im Internet tatsächlich abgebildet?
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Identitäten im Internet
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Artikulierte soziale Netzwerke
• Mythos #2: Im Internet gibt es nur flüchtige Kontakte, und das Verständnis von wahrer Freundschaft geht verloren
• 12-24jährige Nutzer von Netzwerkplattformen hatten 2008…• … im Durchschnitt: 130 Freunde
• … davon bereits persönlich getroffen
die meisten: 85 Prozent
weniger als die Hälfte: 5 Prozent
• … als enge Freunde angesehen
die meisten: 15 Prozent
weniger als die Hälfte: 62 Prozent
Das Internet dient als Werkzeug, um Kontakte aufrechtzuerhalten, die bereits auf anderem Weg bestanden
Quelle: Schmidt/Paus-Hasebrink/Hasebrink 2009
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Entstehen persönlicher Öffentlichkeiten
• Das Social Web unterstützt das Entstehen von persönlichen Öffentlichkeiten, in denen
• (a) Informationen nach Kriterien der persönlichen Relevanz ausgewählt werden,[anstatt nach journalistischen Nachrichtenfaktoren]
• (b) man sich an ein (intendiertes) Publikum richtet, das aus sozialen Kontakten besteht,[anstatt des verstreuten, unbekannten, unverbundenen Publikums der Massenmedien]
• (c) und sich im Kommunikationsmodus des „Konversation betreibens“ befindet
[anstatt im Modus des „Publizierens“]
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Entstehen persönlicher Öffentlichkeiten
• Vor allem in den persönlichen Öffentlichkeiten des Web 2.0 verschwimmt die Trennung zwischen „Sender“- und „Empfänger“-Rollen der Massenkommunikation
• Twitter, Facebook u.ä. Angebote haben Konzept des „streams“ popularisiert – der konstante Informationsfluss, der an die Seite bzw. Stelle von statischem Text tritt
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Informationsmanagement – Wie orientiere ich mich in der Welt?
http://www.flickr.com/photos/axels_bilder/1267008046/
• Die Grenzen zwischen journalistischen und „Laien“-Öffentlichkeiten werden fließender,…
– …weil Nutzer als Urheber von Informationen auftreten („user-generated content“)
– …insbesondere aber, weil Nutzer als Filter bzw. Multiplikatoren innerhalb ihrer sozialen Netzwerke agieren und Informationen (auch aus etablierten Medien) miteinander teilen
• Mythos #3: Das Web 2.0 verdrängt den professionellen Journalismus bzw. macht ihn überflüssig.
• Richtig ist: In dem Maße, wie Menschen ohne besondere technische oder berufliche Ausbildung Informationen mit anderen teilen können, schwindet das Monopol von professionellen Experten (Journalisten, Enzyklopädisten, Bibliothekare, …) auf das Auswählen, Aufbereiten und öffentliche zur-Verfügung-Stellen von Informationen
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Publizistische und persönliche Öffentlichkeiten
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Architektur netzbasierter Öffentlichkeiten
• Die Architektur von netzbasierten Öffentlichkeiten unterscheidet sich von der Öffentlichkeit der Schulhöfe, Stammtische oder Fernseh-Talkshows; sie sind…
– Dauerhaft: Fotos, Kommentare oder Meinungen sind auch Tage, Wochen oder Jahre später noch abrufbar
– Kopierbar: Texte, Bilder, Videos etc. können ohne Qualitätsverlust (und damit möglicherweise unbemerkt) kopiert und an anderer Stelle eingefügt werden
– Skalierbar: Ein Video, Foto, Text kann zehn, hundert oder fünf Millionen Menschen erreichen– Durchsuch/Aggregierbar: Informationen über eine Person oder ein Thema können von ganz
unterschiedlichen Stellen im Netz zusammen getragen werden
• Diese Merkmale beeinflussen z.B. auch politischen Aktivismus, Fragen des Urheberrechts sowie der Kreativwirtschaft
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Informationelle Selbstbestimmung im Web 2.0
• Vor allem aber erfordern die vernetzen Öffentlichkeiten des Web 2.0 eine Rückbesinnung auf das Prinzip der „informationellen Selbstbestimmung“
• Informationelle Selbstbestimmung im Web 2.0 (und darüber hinaus) hat drei Facetten:
1. Sie ist ausgeübte Praxis, da Nutzer sie (mehr oder weniger kompetent, reflektiert, evtl. auch scheiternd) ausüben, wenn sie sich in den vernetzten persönlichen Öffentlichkeiten des Social Web bewegen – problematisch ist, dass intendiertes bzw. adressiertes und faktisches Publikum auseinanderfallen können.
2. Sie ist ein normatives Konzept, da sie Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung (und in Datenschutzregelungen etc. näher spezifiziert) ist; sie umfasst die Kontrolle einer Person (a) über die von ihr selbst mitgeteilten Daten, (b) über die sie betreffenden Daten, die andere Nutzer preisgeben sowie (c) über die Daten, die Betreiber, aber auch staatliche Stellen sammeln.
3. Sie ist notwendige Kompetenz, weil das eigenständige Wahrnehmen des „Rechts auf Privatheit”, die informierte Einwilligung in Datenverarbeitung oder auch die informationelle Autonomie bestimmte Wissensformen und Fertigkeiten voraussetzt.
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Das Ende der Privatsphäre?
http://www.colinupton.com/illus/images/cyberillo1.jpg
http://www.flickr.com/photos/mrlerone/2360572263/
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Fazit
Das Internet hat sich in sehr kurzer Zeit gesellschaftlich etabliert und ist vor allem für jüngere Menschen, aber auch einen stetig wachsenden Teil von Älteren selbstverständlicher Teil des (Medien-)Alltags
Das Web 2.0 verändert das Umfeld, in dem Menschen Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagement betreiben
Es lässt einen neuen Typ von Öffentlichkeit entstehen: Persönliche Öffentlichkeiten bestehen aus Informationen von persönlicher Relevanz, die an vergleichsweise kleine Publika gerichtet sind; es geht eher um Konversation als um Publizieren
Durch diese Entwicklung verschieben sich Grenzen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, was neue Mechanismen und Strategien der Grenzziehung erforderlich macht
Weiterführende Frage: Wer kontrolliert und gestaltet die Architektur und Normen dieser neuen Kommunikationsräume? Wer hat Einfluss auf die Gestaltung von Algorithmen & Code? Wie begegnen wir neuen Formen der Medienkonzentration und Medienmacht? Wie lassen sich Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung mit staatlichen
Überwachungswünschen und kommerzieller Verwertung vereinbaren?
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Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Jan-Hinrik Schmidt
Hans-Bredow-Institut
Warburgstr. 8-10, 20354 Hamburg
j.schmidt@hans-bredow-institut.de
www.hans-bredow-institut.de
www.schmidtmitdete.de
www.dasneuenetz.de
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Weiterführende Literatur
– ARD-ZDF-Onlinestudie 2010:– Van Eimeren, Birgit/Beate Frees (2010): Fast 50 Millionen Deutsche online – Multimedia
für alle? Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2010. In: Media Perspektiven, Nr. 7-8, 2010, S. 334-349.
– Busemann, Katrin & Gscheidle, Christoph (2010). Web 2.0: Nutzung steigt – Interesse an aktiver Teilnahme sinkt. Media Perspektiven, 7-8/2010, 359-368.
– Benkler, Yochai (2006): The Wealth of Networks. How social production transforms markets and freedom. New Haven/London.
– Boyd, Danah/ Nicole Ellison (2007). Social network sites: Definition, history, and scholarship. Journal of Computer-Mediated Communication, 13(1), article 11.http://jcmc.indiana.edu/vol13/issue1/boyd.ellison.html
– Bruns, Axel (2008): Blogs, Wikipedia, Second Life, and beyond. From production to produsage. New York.
– Jenkins, Henry (2006): Convergence Culture. Where old and new media collide. New York.– Neuberger, Christoph/Christian Nuernbergk/Melanie Rischke (Hg.) (2009): Journalismus im
Internet. Profession – Partizipation – Technisierung. Wiesbaden. – Schmidt, Jan (2009): Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Konsequenzen des Web 2.0.
Konstanz.– Schmidt, Jan/Ingrid Paus-Hasebrink/Uwe Hasebrink (Hrsg.) (2009): Heranwachsen mit dem
Social Web. Berlin.
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