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7 | 2009
1
DER RABE
DES ELIJA
Zeitschrift des Dritten Orden im Karmel – Johannes Soreth ISSN 1861-4965 www.dritterordenimkarmel.de
ludi divini
Im letzten Jahr haben die
Mitglieder des Dritten Orden
Johannes Soreth zusammen
mit einigen Künstlern die Ini-
tiative zu einer Vereinsgrün-
dung ergriffen: Der Verein
ludi divini – Musiktheater
und christliche Spiritualität
e.V. wurde aus der Taufe ge-
hoben. Der Verein ist gemein-
nützig und hat sich zum Ziel
gesetzt, Kunst insbesondere
durch Musiktheater im Be-
reich der christlichen Spiri-
tualität ideell und finanziell zu
fördern.
Kunst und christliche Spiri-
tualität haben in der europä-
ischen Kultur eine lange ge-
meinsame Geschichte. Über
weite Strecken ist diese Ge-
schichte gekennzeichnet
durch die Dominanz der Spiri-
tualität. In der Moderne hat
sich die Kunst allerdings aus
der Vormundschaft der Spiri-
tualität emanzipiert und hat
in der Folge eigene Wege ge-
sucht. Das waren oftmals We-
ge der Konfrontation und des
Konflikts mit der kirchlichen
Institution. In der Postmo-
derne hat sich das Blatt nun
wiederum gewendet. Neu ist
heute nicht nur, dass beide
Disziplinen wieder zusam-
menarbeiten, neu ist vor allem
die Art der gemeinsamen Ar-
beit, das Aufeinander-Zukom-
men von Kunst und Spirituali-
tät. Dies ist möglich geworden
auf der Grundlage des ehrli-
chen Interesses an der je ei-
genen Kompetenz der ande-
ren Disziplin. Spiritualität und
Kunst stehen auf gleicher Au-
genhöhe: Beide haben sich
gegenseitig etwas zu sagen
und helfen sich gegen-
seitig in der Erfassung
und Formulierung der
menschlichen Grunder-
fahrung, der sie sich hier
zuwenden. Beide beteili-
gen sich gemeinsam an
einer vertieften Entdek-
kung des Religiösen. An
den Grenzen, wo Kunst
und Spiritualität sich
treffen, fordern sich bei-
de gegenseitig zur Echtheit im
Denken, im Fühlen und im
Ausdruck heraus.
LUDI divini
Der Verein befasst sich zur
Zeit mit den folgenden beiden
Projekten:
1) Alte Mauern, Neue Klänge.
In diesem Projekt sollen vor
restaurierten Kirchen- und
Klostergebäuden in Nord-
rhein-Westfalen neue sakrale
Klänge zu Gehör gebracht
werden.
2) Die dunkle Stille. In diesem
Projekt geht es um die wissen-
schaftliche Aufarbeitung der
gleichnamigen Produktion des
Musiktheater Köln aus dem
Jahre 2009.
Für die Zukunft sind weitere
Projekte geplant. Neue Mit-
glieder können sich formlos
anmelden bei Frau Dr. Elisa-
beth Hense, Rehweg 15, 47533
Kleve,
email: ludi-divini@live.de
Auch Anregungen werden hier
gern entgegen genommen.
Elisabeth Hense T.OCarm.
und Paul Menting T.OCarm.
47533 Kleve
Aus dem Inhalt
ludi divini S. 1
Elisabeth Hense & Paul Menting
Aufnahme von Barbara Schachtner
in den Dritten Orden S. 2
Ursula Albrecht
Brief Edith Steins an Pius XI S. 2
Edeltraud Klueting
Die dunkle Stille – Zukunft für my-
stische Vergangenheit? S. 8
Elisabeth Hense
Teresa von Avila – Der Tod, die
Liebe und der ewige Augenblick
Gottes S. 15
Ursula Albrecht
Supplement: S. 24
Jean de Saint-Samson
Der Stachel, die Flammen, die
Pfeile und der Spiegel der Gottes-
liebe, geeignet die Seele in Gott
verliebt zu machen, in Gott selbst
übers. von Edeltraud Klueting
Der Rabe des Elija 7 | 2009
2
Aufnahme von Barbara
Schachtner T.OCarm in den
Dritten Orden Johannes
Soreth
Erst wo wir erahnen, dass
Gott nicht etwas, sondern al-
les ist; und darin so aussieht,
als wäre er nichts, nähern
wir uns dem Geheimnis Got-
tes.
Diese Aussage von Karl Rah-
ner hast Du Dir ausgesucht,
liebe Barbara.
Barbara Schachtner steht vor P.
Martin Segers O.Carm
Als wäre er nichts – in diesem
nichts, das ein Alles ist, ist
auch Dein Weg geborgen und
verborgen.
Du wirst heute in
den Karmel ein-
treten, in wel-
chem Du Deinen
Weg in seiner und
in Deiner Verbor-
genheit, weiter
gehst.
Dein Eintritt er-
forderte Dein
ganzes JA. Deine
innere Entwick-
lung wird heute in
eine Form ge-
führt, die aus
Deinem tiefen Bedürfnis nach
Liebe und Freiheit entstanden
ist.
Eine Ordensgemeinschaft
zeigt einen Weg auf. Du hast
Dir eine Gemeinschaft ge-
wählt, die aus Einsiedlern am
Berg Karmel bei Haifa in Is-
rael hervorging und die als
einzige Ordensgemeinschaft
keinen Ordengsgründer hat.
Die Karmeliten betrachten
aber das Leben des Propheten
Elija und das Leben der Mut-
ter Gottes.
Das Eremitische zog Dich in
den Karmel. Der Schatz der
Abgeschiedenheit, das Ge-
trennt von Allen und vereint
mit Allen. Dieses Dasein setzt
die Nüchternheit der Liebe
voraus. Denn der Einsiedler
ist nicht mit sich, sondern mit
Gott allein.
In dem Wort ‚Orden‘ ist ord-
nen, ist Ordnung enthalten,
die Ordensregel, nach der Du
leben wirst – solange, bis ER
die Liebe in Dir geordnet hat
und Du über alles hinaus ge-
zogen wirst.
Vor 16 Jahren sind wir uns
zum erstenmal begegnet. In
der Hochschule für Musik in
Köln, wo Du aus Bayern
kommend, mit 17 Jahren ein
Gesangsstudium begonnen
hast. Du hast Dich schon in
dieser Zeit dem Abgründigen
nähern müssen, der Entgren-
zung. Dem Ganz-und-Gar.
Das Unbequeme suchend,
schautest Du zuerst wie ein
Zaungast auf und in alles
Schillernde, Verführende.
Der Hunger nach Dir selbst
trieb Dich in die Kunst, in
welcher eine hohe Aufmerk-
samkeit, also Selbsterkenntnis
gefordert ist – und als der
Heilige Geist Dich nicht in
Ruhe ließ und in Dir rüttelte,
war nichts mehr bequem.
Nichts genügte mehr. ER
fasste Deine Mitte mehr und
mehr in seiner Mitte zusam-
men...
Das unstillbare Bedürfnis
nach tief unten und nach
hoch oben – und der Einheit
darin, brachte Dich hierher, es
lässt Dich heute an dieser
Stelle stehen.
Damit klopfst Du ganz und
gar mit Deinem Herzen an
sein Herz – und wir machen
Dir jetzt unsere Tür auf und
sagen das zu Dir, was die Lie-
be unentwegt im verborgenen
ausspricht: „Komm meine
Braut, komm vom Libanon
her, komm, und lass Dich be-
kränzen.“
Ansprache von Ursula Alb-
recht T.O.Carm zum Eintritt
von Barbara Schachtner
T.O.Carm in den Karmel, am
26. Juni 2009 im Karmeliten-
kloster in Mainz.
Der Brief Edith Steins an Pius
XI.
Ein Beitrag zu seiner Entste-
hungsgeschichte
„Heiliger Vater!
Als ein Kind des jüdischen
Volkes, das durch Gottes
Gnade seit elf Jahren ein Kind
der katholischen Kirche ist,
wage ich es, vor dem Vater der
Christenheit auszusprechen,
was Millionen von Deutschen
bedrückt.
Barbara Schachtner und P. Martin unterschreiben
das Versprechen
Der Rabe des Elija 7 | 2009
3
Seit Wochen sehen wir in
Deutschland Taten geschehen,
die jeder Gerechtigkeit und
Menschlichkeit – von
Nächstenliebe gar nicht zu re-
den – Hohn sprechen. Jahre
hindurch haben die national-
sozialistischen Führer den
Judenhass gepredigt. Nach-
dem sie jetzt die Regierungs-
gewalt in ihre Hände gebracht
und ihre Anhängerschaft –
darunter nachweislich verbre-
cherische Elemente – bewaff-
net hatten, ist diese Saat des
Hasses aufgegangen. Dass
Ausschreitungen vorgekom-
men sind, wurde noch vor
kurzem von der Regierung zu-
gegeben. In welchem Umfang,
davon können wir uns kein
Bild machen, weil die öffentli-
che Meinung geknebelt ist.
Aber nach dem zu urteilen,
was mir durch persönliche
Beziehungen bekannt gewor-
den ist, handelt es sich kei-
neswegs um vereinzelte Aus-
nahmefälle. Unter dem Druck
der Auslandsstimmen ist die
Regierung zu „milderen“ Me-
thoden übergegangen. Sie hat
die Parole ausgegeben, es solle
„keinem Juden ein Haar ge-
krümmt werden“. Aber sie
treibt durch ihre Boykotter-
klärung – dadurch, dass sie
den Menschen wirtschaftliche
Existenz, bürgerliche Ehre
und ihr Vaterland nimmt –
viele zur Verzweiflung: es sind
mir in der letzten Woche
durch private Nachrichten 5
Fälle von Selbstmord infolge
dieser Anfeindungen bekannt
geworden. Ich bin überzeugt,
dass es sich um eine allgemei-
ne Erscheinung handelt, die
noch viele Opfer fordern wird.
Man mag bedauern, dass die
Unglücklichen nicht mehr
inneren Halt haben, um ihr
Schicksal zu tragen. Aber die
Verantwortung fällt doch zum
grossen Teil auf die, die sie so
weit brachten. Und sie fällt
auch auf die, die dazu schwei-
gen.
Brief, Seite 2
Alles, was geschehen ist und
noch täglich geschieht, geht
von einer Regierung aus, die
sich „christlich“ nennt. Seit
Wochen warten und hoffen
nicht nur die Juden, sondern
Tausende treuer Katholiken in
Deutschland – und ich denke,
in der ganzen Welt – darauf,
dass die Kirche Christi ihre
Stimme erhebe, um diesem
Missbrauch des Namens Chri-
sti Einhalt zu tun. Ist nicht
diese Vergötzung der Rasse
und der Staatsgewalt, die täg-
lich durch Rundfunk den
Massen eingehämmert wird,
eine offene Häresie? Ist nicht
der Vernichtungskampf gegen
das jüdische Blut eine Schmä-
hung der allerheiligsten
Menschheit unseres Erlösers,
der allerseligsten Jungfrau
und der Apostel? Steht nicht
dies alles im äussersten
Gegensatz zum Verhalten un-
seres Herrn und Heilands, der
noch am Kreuz für seine Ver-
folger betete? Und ist es nicht
ein schwarzer Flecken in der
Chronik dieses Heiligen Jah-
res, das ein Jahr des Friedens
und der Versöhnung werden
sollte?
Wir alle, die wir treue Kinder
der Kirche sind und die Ver-
hältnisse in Deutschland mit
offenen Augen betrachten,
fürchten das Schlimmste für
das Ansehen der Kirche, wenn
das Schweigen noch länger
anhält. Wir sind auch der
Überzeugung, dass dieses
Schweigen nicht imstande
sein wird, auf die Dauer den
Frieden mit der gegenwärti-
gen deutschen Regierung zu
erkaufen. Der Kampf gegen
den Katholizismus wird vor-
läufig noch in der Stille und in
weniger brutalen Formen ge-
führt wie gegen das Juden-
tum, aber nicht weniger sys-
tematisch. Es wird nicht mehr
lange dauern, dann wird in
Deutschland kein Katholik
mehr ein Amt haben, wenn er
sich nicht dem neuen Kurs
bedingungslos verschreibt.
Zu Füssen Eurer Heiligkeit,
um den Apostolischen Segen
bittend
Dr. Editha Stein
Dozentin am Deutschen Insti-
tut für wissenschaftliche Pä-
dagogik
Münster i.W.,
Collegium Marianum“1
Bis zum 15. Februar 2003 war
der Brief in seinem Wortlaut
nicht bekannt. Er wird in ei-
nem Bestand des Vatikani-
schen Geheimarchivs aufbe-
wahrt, der Archivalien über
die Beziehungen des Vatikan
zu Deutschland zwischen 1922
und 1939 enthält. Sie waren
bis Mitte Februar 2003 für die
Benutzung verschlossen. Erst
nach der Teilöffnung des
Archivs für die wissenschaftli-
che Forschung durch Papst
1 Archivio Segreto Vaticano, AES, Germania, Pos. 643, fasc. 158, f. 16/17.
Der Rabe des Elija 7 | 2009
4
Johannes Paul II. zum 15.
Februar 2003 wurde dieses
wichtige Dokument inhaltlich
näher bekannt. Der Brief
Edith Steins erschien in Ta-
geszeitungen, er wurde erör-
tert und kommentiert und
Gegenstand geschichtswissen-
schaftlicher Darstellungen.2
Von der bloßen Existenz die-
ses Briefes wußte man jedoch
schon lange aus den autobio-
graphischen Aufzeichnungen
der Schreiberin aus dem Jahr
1938: „Ich weiß, daß mein
Brief dem Heiligen Vater ver-
siegelt übergeben worden ist;
ich habe auch einige Zeit da-
nach seinen Segen für mich
und meine Angehörigen er-
halten. Etwas anderes ist
nicht erfolgt. Ich habe aber
später oft gedacht, ob ihm
nicht dieser Brief noch
manchmal in den Sinn kom-
men mochte. Es hat sich näm-
lich in den folgenden Jahren
Schritt für Schritt erfüllt, was
ich damals für die Zukunft der
Katholiken in Deutschland
voraussagte.“3
Edith Stein war sicher eine
der bedeutendsten Frauen des
20. Jahrhunderts.4 Geht man
2 Genannt seien hier insbesondere M. Amata Neyer OCD, Der Brief Edith Steins an Papst Pius XI. Ver-such einer Dokumentation. In: Edith Stein Jahrbuch 10, 2004 S. 11-29; Konrad Repgen, Hitlers „Machtergreifung“, die christlichen Kirchen, die Judenfrage und Edith Steins Eingabe an Pius XI. vom [9.] April 1933. In: Ebda., S. 31-68. 3 Edith Stein Gesamtausgabe (ESGA), Bd. 1: Aus dem Leben ei-ner jüdischen Familie und weitere autobiographische Beiträge. Neu bearb. und eingeleitet von M. Amata Neyer OCD. Frei-burg/Basel/Wien 2002. Darin: Wie ich in den Kölner Karmel kam [1938], S. 345-362, hier S. 348f.. 4 Die Fülle der Literatur zu Leben und Werk Edith Steins kann an dieser Stelle nicht ausgebreitet werden; hingewiesen sei lediglich auf die konzise Studie von Harm
in Köln vom Hauptbahnhof
aus in Richtung auf St. Gereon
zu, dann passiert man in der
Höhe des Priesterseminars an
der Kardinal-Frings-Straße
eine Skulptur, die 1999 von
Bert Gerresheim geschaffen
wurde. Das Denkmal zeigt
Edith Stein, aufgestellt wurde
es nach ihrer Heiligsprechung
(11. Oktober 1998) bzw. nach-
dem sie im Jahr 1999 zur Pat-
ronin Europas erklärt wurde.
Edith Stein wurde am 12. Ok-
tober 1891 als Tochter des
Kaufmanns Siegfried Stein
und seiner Frau Auguste geb.
Courant in Breslau geboren.
Sie war preußische Staatsan-
gehörige und Jüdin. In ihrer
autobiographischen Schrift
„Aus dem Leben einer jüdi-
schen Familie“ berichtete sie
was sie „als jüdisches Men-
schentum erfahren“ hatte.5
Die Atmosphäre ihres Eltern-
hauses war geprägt von der
gläubigen, gesetzestreuen
Religiösität der Mutter. Aber
die 14-jährige Schülerin ver-
ließ die Bahnen der religiösen
Erziehung: „Ich habe mir das
Beten ganz bewußt und aus
freiem Entschluß abge-
wöhnt“,6 sagte sie später über
diese Zeit. Sie bezeichnete
sich selbst als Atheistin7 und
beschrieb damit ihre Orientie-
rungslosigkeit und Suche nach
der Wahrheit. Sie galt als
hochbegabte Schülerin und
Studentin. Abitur, Staatsexa-
Klueting, Edith Stein und Dietrich Bonhoeffer. Zwei Wege in der Nachfolge Christi. Leutesdorf 2004 (mit einer umfassenden Bibliogra-phie) sowie auf die Darstellung von Edith Steins Zeit in Münster: Eli-sabeth Lammers, Als die Zukunft noch offen war. Edith Stein – das entscheidende Jahr in Münster. Münster 2003. 5 Aus dem Leben einer jüdischen Familie (wie Anm. 3), S. 3. 6 Aus dem Leben einer jüdischen Familie (wie Anm. 3), S. 109. 7 Klueting, Edith Stein (wie Anm. 4), S. 21.
men und Doktorarbeit wur-
den mit Höchstprädikaten
bewertet. Sie begann ein Stu-
dium der Philosophie, weil sie
sicher war, dazu die geeigne-
ten Anlagen mitzubringen.
Edith Stein als Lehrerin in Speyer 1926
Die Studienjahre in Göttingen
brachten Begegnungen mit
den Philosophen und
Phänomenologen Husserl,
Reinach, Scheler, Hedwig
Conrad-Martius – sie ver-
mittelten ihr den Sinn für das
Transzendente, für religiöse
Erfahrungen und Entschei-
dungen.
Die Lektüre der Schriften Te-
resas von Avila bereitete
schließlich die Entscheidung
vor. Am 1. Januar 1922 wurde
sie durch die Taufe in die ka-
tholische Kirche aufgenom-
men. Das ist ein Anhaltspunkt
für die Datierung des Briefes,
in dem sie schreibt, sie sei seit
elf Jahren ein Kind der katho-
lischen Kirche. Demnach ist er
in das Jahr 1933 zu datieren.
Zu dieser Zeit hatte sie bereits
Beachtliches an eigenen phi-
losophischen Arbeiten gelei-
stet. Ihre Bemühungen, sich
an einer Universität zu habili-
tieren, scheiterten jedoch. So
entschied sie sich für andere
Weisen der Bildungsarbeit,
wurde Lehrerin am Lyzeum
Der Rabe des Elija 7 | 2009
5
der Dominikanerinnen und an
der Lehrerinnenbildungsan-
stalt in Speyer, später Dozen-
tin am Deutschen Institut für
wissenschaftliche Pädagogik
in Münster. An diesem Fort-
bildungsinstitut für katholi-
sche Lehrerinnen und Lehrer
arbeitete sie in der Zeit, als sie
die Eingabe an Pius XI. ver-
fasste. Große Resonanz erfuhr
sie bei ihrer Vortragstätigkeit
in den großen katholischen
Verbänden; zugleich publi-
zierte sie die Ergebnisse ihrer
wissenschaftlichen Studien
und Übersetzungen.
Schließlich trat Edith Stein am
14. Oktober 1933 in Köln in
den Orden der Allerseligsten
Jungfrau Maria vom Berge
Karmel (Unbeschuhte Karme-
litinnen) ein, ein halbes Jahr,
nachdem sie die Supplik an
Papst Pius XI. verfasst hatte.
„Seit fast 12 Jahren war der
Karmel mein Ziel“, erklärt sie
in ihrer autobiographischen
Schrift. Und sie fügt hinzu:
„Als ich am Neujahrstage 1922
die hl. Taufe empfing, dachte
ich, daß dies nur die Vorberei-
tung zum Eintritt in den Or-
den sei.“8 Edith Stein trug im
Orden den Namen Sr. Teresia
Benedicta a Cruce. Sie hatte
sich diesem Namen erbeten.
Unter dem Kreuz verstand sie
das Schicksal des jüdischen
Volkes, das sich abzuzeichnen
begann und das sie in ihrem
Brief hellsichtig auch für die
Katholiken vorhersah.
Am 21. April 1938 legte Edith
Stein die Ewigen Gelübde ab
und siedelte im selben Jahr
nach Echt in Holland über,
um die Schwestern in Köln
durch ihre Anwesenheit im
Kloster nicht in Gefahr zu
bringen. Als mit der deut-
schen Besetzung auch dort die
Judenverfolgungen begannen,
8 Wie ich in den Kölner Karmel kam (wie Anm. 3), S. 350f.
wurde sie verhaftet und ver-
schleppt. Am 9. August 1942
wurde Edith Stein zusammen
mit ihrer Schwester Rosa in
den Gaskammern von Au-
schwitz-Birkenau ermordet.
Papst Pius XI.
Gerichtet war die Eingabe an
Papst Pius XI. (Achille Ratti),
der sein Pontifikat am 23. De-
zember 1922 mit der Enzykli-
ka „Pax Christi in regno Chri-
sti“ begonnen hatte, mit Mus-
solini 1929 die Lateran-
verträge abschloss und da-
durch die Souveränität des
Kirchenstaates sicherte – er
ist der Papst, der mit Hitler
das Reichskonkordat ab-
schloss und der 1937 mit der
Enzyklika „Mit brennender
Sorge“, Ardente cura, die na-
tionalsozialistische Ideologie
verurteilte.
Wie man unschwer erkennen
kann, trägt der Brief Edith
Steins kein Datum. Die Frage
nach seiner Datierung ist seit
seinem Bekanntwerden mehr-
fach erörtert worden, wobei
allerdings nicht alle Einzelhei-
ten seiner Entstehungsge-
schichte hinreichend gewür-
digt wurden. Deshalb soll die-
se Frage hier noch einmal
erörtert werden. Edith Stein
hatte sich in den Wochen vor
Ostern 1933 mit dem Gedan-
ken getragen, „nach Rom zu
fahren und den Heiligen Vater
in Privataudienz um eine En-
zyklika zu bitten“, wie wir aus
ihrer 1938 verfassten Auto-
biographie wissen.9 Sie
schrieb diesen autobiographi-
schen Bericht unter dem Titel
„Wie ich in den Kölner Karmel
kam“ mit einem Abstand von
fünf Jahren zu den geschilder-
ten Ereignissen. Sie führt aus,
dass sie diese Absicht einer
Romreise mit Raphael Walzer,
dem Abt des Benediktinerklo-
sters Beuron, besprach. Zu
ihm hatte sie großes Vertrau-
en, er war ihr Beichtvater und
geistlicher Begleiter, und sie
hörte auf seinen Rat. Vom 7.
bis zum 18. April 1933 hielt sie
sich in Beuron auf und feierte
dort Ostern mit. Der Beuroner
Erzabt, der mit den Gepflo-
genheiten des Hl. Stuhles ver-
traut war, wies sie drauf hin,
dass sie wegen des großen
Andrangs – 1933 wurde als
Heiliges Jahr begangen zur
Erinnerung an den Tod Chri-
sti vor 1900 Jahren – keine
Aussicht auf eine Privatau-
dienz hätte. Deshalb verzich-
tete sie auf die Reise und die
persönliche Übergabe ihrer
Supplik an den Papst oder den
Kardinalstaatssekretär Pacelli.
Sie kehrte am 19. April 1933
nach Münster zurück und gab
an diesem Tag, veranlasst
durch ein Gespräch mit dem
Geschäftsführer des Instituts
für wisssenschaftliche Päda-
gogik, ihre Dozentenlaufbahn
auf.10
Wie aber kam ihre Eingabe,
ihr Brief nach Rom? Er war
ihr zu wertvoll, als dass sie ihn
einfach in den nächsten Brief-
kasten geworfen hätte. Wenn
schon nicht von ihr selbst, 9 Wie ich in den Kölner Karmel kam (wie Anm. 3), S. 347. 10 Wie ich in den Kölner Karmel kam (wie Anm. 3), S. 349.
Der Rabe des Elija 7 | 2009
6
dann sollte doch eine ver-
trauenswürdige Persönlich-
keit das Schriftstück dem
Papst oder seinem Kardinal-
staatssekretär überreichen. Da
Erzabt Raphael Walzer kurz
nach Ostern für die Zeit vom
25. bis 28. April 1933 in Or-
densangelegenheiten nach
Rom an der Heiligen Stuhl
reisen wollte,11 vertraute sie
ihm den Brief an. Die Termi-
nierung seiner Reise lässt sich
aus der Klosterchronik der
Erzabtei Beuron entnehmen.
Edith Stein sagt in ihren Auf-
zeichnungen dazu: „Ich weiß,
dass mein Brief dem Heiligen
Vater versiegelt übergeben
worden ist; ich habe auch ei-
nige Zeit danach seinen Segen
für mich und meine Angehö-
rigen erhalten.“
Erzabt Raphael Walzer OSB
Erzabt Raphael Walzer fügte
der Supplik ein Begleitschrei-
ben bei,12 das in seinem Stil
eine gewisse Distanz zu der
11 Neyer, Der Brief Edith Steins (wie Anm. 2), S. 16f. 12 Archivio Segreto Vaticano, AES, Germania. Pos. 643, fasc. 158, f. 15. Konrad Repgen hat in seinem Auf-satz „Hitlers Machtergreifung...“ (wie Anm. 2) die Angaben zur Foliierung beider Schreiben irr-tümlich vertauscht, S. 59, Anm. 99.
Person Edith Stein enthält. Er
gab mit keinem Wort zu er-
kennen, dass sie sein Beicht-
kind war, dass sie regelmäßig
zu Exerzitien nach Beuron
kam, dass sie mit ihm schon
längst über ihren Wunsch ge-
sprochen hatte, in einen Or-
den einzutreten. Er verfasste
sein Begleitschreiben völlig
neutral wie ein Notar. Er leite-
te es ein: „Eine Bittstellerin
hat mich inständigst gebeten,
den beigefügten Brief, den sie
mir versiegelt übergab, an
Seine Heiligkeit weiterzulei-
ten.“13 Erzabt Raphael Walzer
stellte dann die berufliche Tä-
tigkeit Edith Steins kurz vor
und fügte eine knappe Ein-
schätzung der Lage der Juden
und der Katholiken in
Deutschland aus seiner Sicht
an. Insgesamt beurteilte er die
Lage nicht anders als sie. Sein
Begleitschreiben richtete er an
Seine Eminenz, den Staats-
sekretär des Vatikans, Euge-
nio Kardinal Pacelli, den spä-
teren Papst Pius XII. Das Be-
gleitschreiben datiert vom 12.
April 1933, die Eingangsbestä-
tigung Kardinal Pacellis
stammt vom 20. April. Daraus
ist zu schließen, dass der
Beuroner Abt das Schreiben
dem Kardinalstaatssekretär
nicht persönlich während sei-
nes eigenen Aufenthalts (25.-
28. April) übergeben hat,14
sondern dass er es selbst auch
13 Wiedergabe in deutscher Über-setzung; das Schreiben ist in latei-nischer Sprache verfasst. 14 Darauf hat bereits Konrad Repgen hingewiesen, siehe Repgen, Hitlers „Machtergreifung“ (wie Anm. 2), S. 59 Anm. 99; jüngst auch Katharina Oost, In caritate Dei. Raphael Walzer und Edith Stein. In: Jakobus Kaffanke OSB, Joachim Köhler (Hg.), Mehr nüt-zen als herrschen! Raphael Walzer OSB, Erzabt von Beuron, 1918-1937. Münster 2008 (Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 17), S. 333-360, hier S. 354.
durch eine dritte Person
weitergeleitet hat. Weiteres ist
darüber nicht bekannt. Für
die Übergabe des Briefes
kommen somit nur wenige
Tage zwischen dem 12. und
dem 20. April 1933 in Frage.
Wann aber hat Edith Stein ih-
ren Brief abgefasst? Der Zeit-
raum, wann sie ihn unter-
schrieben hat, lässt sich auf
wenige Tage eingrenzen – das
war in den Tagen zwischen ih-
rer Ankunft in Beuron am 7.
April und der Abfassung des
Begleitschreibens von Erzabt
Raphael am 12. April 1933.
Konrad Repgen formuliert
vorsichtig, dass er „vermutlich
vom 9. April 1933 datiert“.15
Doch wird sie den Brief wohl
kaum in diesen Tagen im Klo-
ster Beuron formuliert und
eine Reinschrift in die
Schreibmaschine geschrieben
haben. Eine Reiseschreibma-
schine besaß sie nicht,16 und
im Kloster Beuron wird man
für Gäste keine Schreibma-
schine bereitgehalten haben.
Mir erscheint eine andere
Entstehungsgeschichte als
wahrscheinlich. Edith Stein
hat ihr Anliegen bereits vor
ihrer Abreise in Münster for-
muliert und brachte den ma-
schinengeschriebenen Ent-
wurf für eine Eingabe an den
Hl. Stuhl mit nach Beuron.
Und zwar, um im Gespräch
den Rat von Erzabt Raphael
einzuholen und das Schreiben
dann gegebenenfalls noch
einmal zu ändern. Dann hätte
sie von dem möglicherweise
geänderten Brief daheim in
15 Repgen, Hitlers „Machtergrei-fung“ (wie Anm. 2), S. 66. 16 Die Schreibmaschine, mit der sie ihre Arbeiten erledigte, steht in der Bibliothek des Karmel von Echt, Abbildung bei Lammers, Als die Zukunft noch offen war (wie Anm. 4), S. 188.
Der Rabe des Elija 7 | 2009
7
Münster eine maschinen-
schriftliche Reinschrift ange-
fertigt und ihn – nach ihrem
ursprünglichen Plan – selbst
nach Rom gebracht. Doch es
kam ja anders, und Erzabt
Raphael nahm den Brief un-
mittelbar an sich, um ihn an
seinen Empfänger weiterzulei-
ten. Damit wird auch ver-
ständlich, warum Edith Stein
nicht nur ihre Unterschrift,
sondern auch die Erläuterun-
gen zu ihrer Person hand-
schriftlich nachgetragen hat,
was in einem solchen Schrei-
ben gänzlich ungewöhnlich
ist. Schließlich klärt sich auch
auf, warum ihr Brief nicht da-
tiert ist und keine korrekte
Absenderangabe trägt. Dem
Stil der Zeit entsprechend,
hätte sie am Kopf des Briefes
ihren Namen, ihre Anschrift
und das Datum vermerkt. De-
ren Fehlen ist eine Nachläs-
sigkeit, die ihr als korrekter
Wissenschaftlerin sonst nie
unterlaufen ist. Noch einmal
deutlich gesagt: Edith Stein
hat einen Entwurf für eine
Supplik aus Münster mit nach
Beuron gebracht und dieses
Konzept dann bei oder nach
dem Gespräch mit Erzabt Ra-
phael wohl in aller Eile unter-
schrieben. Damit wurde der
Briefentwurf zur Reinschrift.17
In dem ersten längeren Ab-
schnitt ihres Briefes be-
schreibt Edith Stein die Fol-
gen der antijüdischen Aus-
schreitungen und des „Boy-
kotts“ vom 1. April 1933 mit
bewegenden Worten und er-
wähnt fünf Selbstmorde, von
denen sie gehört habe. Daran
knüpft sie die unerbittliche
Frage, wer für diese menschli-
chen Tragödien verantwort-
lich sei. Ihr Fazit lautet: Zum
17 Repgen vermisst zu Recht „Vo-rentwürfe“, Hitlers „Machtergrei-fung“ (wie Anm. 2), S. 59.
Edith Stein im Jahr 1931
großen Teil fällt die Verant-
wortung „auch auf die, die da-
zu schweigen.“ Damit ist der
Papst angesprochen. Er darf
nicht schweigen. Was erwartet
sie aber vom Papst? Edith
Stein bittet nicht direkt um
eine Enzyklika, was ursprüng-
lich einmal ihr Plan gewesen
war, sondern sie verbirgt die-
ses Anliegen hinter der Schil-
derung der bedrückenden Si-
tuation in Deutschland. Vor
allem aber bittet sie den Papst
darum, sein Schweigen zu
brechen. Sie stellt ihm die Si-
tuation der Juden in Deutsch-
land vor Augen und verleiht
ihren Befürchtungen Aus-
druck, dass der Kampf des na-
tionalsozialistischen Regimes
sich gleichermaßen auf die
Katholiken ausdehnen werde.
Ein Satz ist aber eine schal-
lende Ohrfeige für den Papst,
der sein Pontifikat unter das
Wort „Der Friede Christi im
Reich Christi“ gestellt hat:
„Wir sind auch der Überzeu-
gung, dass dieses Schweigen
nicht imstande sein wird, auf
die Dauer den Frieden mit der
gegenwärtigen deutschen Re-
gierung zu erkaufen.“ Diesen
Satz zu schreiben erfordert
Mut – ihn dem Papst direkt zu
schreiben, erfordert noch
mehr Mut, als ihn in einem
Brief an eine gute Freundin zu
äußern.
Edith Stein erwartete von dem
Papst als dem obersten Glau-
bens- und Sittenrichter der
Kirche allerdings auch keine
diplomatisch-unverbindliche
Äußerung, wenn die Kirche
Christi ihre Stimme erhebt.
Sie erwartete eine lehramtli-
che Verlautbarung, die „dem
Missbrauch des Namens Chri-
sti Einhalt gebieten“ sollte.
Der Papst sollte klarstellen,
dass eine Regierung, die der-
artige Ausschreitungen orga-
nisiert oder zulässt, nicht das
Recht hat, sich „christlich“ zu
nennen. Edith Stein forderte
damit eine päpstliche Zu-
rückweisung der Berufung des
NS-Regimes auf das Christen-
tum, wie sie Hitler am 23.
März 1933 im Reichstag vor-
getragen hatte. Hingegen
nahmen die deutschen Bi-
schöfe am 28. März 1933 in
ihrer Erklärung zum Thema
„Kirche und Nationalsozialis-
mus“ diese scheinbar kirchen-
freundliche Haltung Hitlers
zum Anlass, die früheren Ver-
bote und Warnungen vor dem
Nationalsozialismus teilweise
zurückzuziehen. Wie Konrad
Repgen herausgestellt hat,
ging es Edith Stein um eine
lehramtliche Aussage zur
„Christlichkeit“ oder „Un-
christlichkeit“ der Berliner
Reichsregierung: Sie erwarte-
te eine deutliche Distanzie-
rung. Wie sie feststellt, ist die
Vergötzung der Rasse und der
Staatsgewalt, wie sie sich in
Deutschland ständig ereignet,
häretisch – und dagegen for-
derte sie das Einschreiten des
päpstlichen Lehramtes.
Die historische Situation, in
der Edith Stein ihren Brief
schrieb, war die Zeit der Ver-
tragsverhandlungen zwischen
Der Rabe des Elija 7 | 2009
8
der nationalsozialistischen
Regierung des Deutschen Rei-
ches und dem Heiligen Stuhl.
Die Verhandlungen waren in
der ersten Aprilwoche 1933 in
Rom in Gang gekommen. Der
Hitler-Regierung war an ei-
nem solchen Abkommen gele-
gen, vor aller Welt mit der ka-
tholischen Kirche ein Konkor-
dat zu schließen. Verhand-
lungsführer waren auf
deutscher Seite der Vizekanz-
ler Hitlers, Franz von Papen,
und Prälat Ludwig Kaas, der
ehemalige Vorsitzende der
Zentrumspartei. Auf Seiten
des Heiligen Stuhles führte
Staatssekretät Eugenio Pacelli
– der Korrespondenzpartner
von Erzabt Raphael Walzer –
die Verhandlungen. Dass das
„Reichskonkordat“ dann so
schnell, schon am 20. Juli
1933 zustande kommen wür-
de, konnte im April noch nie-
mand voraussehen. So traf die
Eingabe Edith Steins um eine
lehramtliche Äußerung des
Heiligen Stuhles in eine Situa-
tion, die durch eine äußerst
schwierige Verquickung meh-
rerer kirchpolitischer Proble-
me belastet war.
Detail Holocaustdenkmal zu Köln
Auf die Frage nach den Folgen
ihres Briefes gibt es bis heute
keine befriedigende Antwort.
Man wird kaum erwarten,
dass eine Dozentin an der
Lehrerinnenbildungsstätte in
Münster das Rad der Ge-
schichte herumwerfen konnte.
Doch hat sie mit ihrem klaren
Wort zur Juden- und zur Ka-
tholikenfrage keine Minder-
heitenposition vertreten, son-
dern stand in der Tradition
des deutschen Katholizismus.
Auf ihre Supplik erhielt sie
aus Rom keine sachbezogene
Antwort, keine Würdigung
und kein Eingehen auf ihre
Argumente, denn das ent-
sprach nicht den Gepflogen-
heiten des Heiligen Stuhls. Sie
persönlich erhielt auch keine
Antwort auf ihr Schreiben.
Jedoch bekam Erzabt Raphael
Walzer acht Tage nach seiner
Eingabe, am 20. April bereits,
eine Antwort von Kardinal
Pacelli. Er stellte anheim, „die
Einsenderin in geeigneter
Weise wissen zu lassen, dass
ihre Zuschrift pflichtmässig
Sr. Heiligkeit vorgelegt wor-
den ist.“ Ihr wird auch nicht
der in solchen Fällen übliche
apostolische Segen übermit-
telt. Der nächste Satz bezieht
sich auf Abt Raphael selbst
und „innige Wünsche für die
ganze Erzabtei“.18
So hat Edith Steins Eingabe
den Heiligen Stuhl zwar er-
reicht. Über die Beachtung,
die er fand, lassen sich aber
nur Vermutungen äußern. Die
Ausrichtung der Enzyklika
„Mit brennender Sorge“ und
selbst einige wörtliche Formu-
lierungen deuten aber darauf
hin, dass Edith Steins Schrei-
ben durchaus zur Kenntnis
genommen wurde. Danach
wurde das Schreiben zu den
Akten genommen, in einem
Ordner mit der Aufschrift „La
questione degli Ebrei in Ger-
mania“, die Judenfrage in
18 Archivio Segreto Vaticano, AES, Germania, Po. 643, fasc. 158, f. 18.
Deutschland. Dort lag es 70
Jahre lang, bis die Öffnung
dieses Bestandes durch Papst
Johannes Paul II. dieses be-
deutende Zeugnis einer be-
deutenden Frau der Öffent-
lichkeit zugänglich machte.
Die Würdigung dieses zwei-
seitigen Textes kann aus we-
nigen Worten bestehen. Es
handelt sich um das hellsich-
tigste Dokument, das in den
März- und Apriltagen des
Jahres 1933 geschrieben wur-
de. Während andere noch mit
einer positiven Entwicklung
rechneten, hat Edith Stein ge-
sehen, dass dem Vernich-
tungskampf der Nationalso-
zialisten mit einem Friedens-
vertrag oder einem Konkordat
nicht Einhalt zu gebieten war.
In dieser klaren Sicht und ih-
rer klaren Aussage ist dieses
Dokument einzigartig.
Dr. Edeltraud Klueting
T.OCarm. 48165 Münster
Die dunkle Stille – Zukunft für
mystische Vergangenheit?
Auf der Grundlage des Epitha-
lamiums von Jean de Saint-
Samson (1571-1636) hat das
MusikTheaterKöln unter der
Leitung von Ursula Albrecht
T.OCarm eine Musiktheater-
performance erarbeitet.
Nachdem in diesem Jahr Auf-
führungen an der Radboud
Universität Nijmegen (4.
März), im Geistlichen Zent-
rum St. Peter / Schwarzwald
(28.3.), im Kloster Gerleve (9.
Mai), in der Fronleichnams-
kirche zu Köln (24. Mai) und
in der Liebfrauenkirche in
Freiburg-Günterstal (20. Ju-
ni) stattgefunden haben,
möchte ich nun auf die Pro-
duktion zurückblicken und
verschiedenen Fragen nach-
gehen:
Der Rabe des Elija 7 | 2009
9
(1) Wer war Jean de Saint-
Samson und worum ging es
ihm in seinen Texten? Wer
waren seine Leser?
(2) Welche Produktionen hat
das MusikTheaterKöln im Be-
reich der christlichen Mystik
bislang herausgebracht, wie
arbeitet das Ensemble und
wer sind seine Zuschauer?
(3) Wie wurde mit dem Epi-
thalamium umgegangen und
wie entstand die Form dieser
Produktion?
1. Jean de Saint-Samson und
seine Mystik
a. Sein Leben
Als Sohn des Steuerbeamten
Pierre du Moulin und dessen
Frau Marie d’Aiz wurde Jean
am 30. Dezember 1571 in Sens
getauft. Geboren wurde er
wahrscheinlich wenige Tage
vorher. Jean hatte mindestens
zwei ältere Brüder, vielleicht
auch Schwestern. Im Alter
von drei Jahren erblindete er
an den Folgen einer unglück-
lichen Behandlung der Pok-
ken. Trotzdem erhielt er eine
schulische Grundausbildung.
Vor allem Grammatik und
Spinett- sowie Orgelspiel
standen auf seinem Lehrplan.
Zudem erwarb er zumindest
mittelmäßige Lateinkenntnis-
se und beschäftigte sich mit
der Belletristik. Mit zehn Jah-
ren verlor er seine Eltern und
zog in das Haus seines Onkels
und Vormunds Zacharie d’Aiz,
ebenfalls in Sens. Jean machte
große Fortschritte auf musika-
lischem Gebiet. Mit zwölf Jah-
ren war er bereits Organist in
St. Pierre-le-Rond und in der
Jakobinerkirche. Bei den zahl-
reichen Konzerten des Musik-
vereins war er ein beliebter
Instrumentalist. Doch allmäh-
lich entzog er sich immer
mehr dem Druck seiner Fami-
lie, die für ihn als Blinden eine
Zukunft nur in der Entwick-
lung seiner musikalischen Ta-
lente sah. Er bekam Interesse
am geistlichen Leben und ließ
sich u.a. die Nachfolge Christi
von Thomas von Kempen, die
Institutiones von Pseudo-
Tauler und das Mäntelchen
des Bräutigams von Frans
Vervoort, einem Ruusbroec-
Schüler vorlesen.
Jean de Saint-Samson
Umschlagbild von Arie Trum nach
einem alten Stich von P. Clouwet.
Quelle: Jean de Saint-Samson. La
pratique essentielle de l’ amour.
Paris 1989.
Ab etwa 1597 lebte Jean in Pa-
ris bei seinem zweitältesten
Bruder Jean Baptiste und des-
sen Frau und Schwiegermut-
ter in der Nähe von St. Eusta-
che. Nach dem Tod seines
Bruders (Februar 1601) und
seiner Schwägerin (Juni 1601)
blieb Jean noch mehrere Mo-
nate bei der Schwiegermutter
seines Bruders, bis er Anfang
1602 zu Herrn von
Montdidier zog, der in der
Nähe von Notre Dame wohn-
te. Dieser war Prior der Dom-
herren des heiligen Augusti-
nus in Abbeville und wohnte
damals für etwa zwei Jahre in
Paris. Jean fand bei ihm eine
bescheidene Gastfreund-
schaft, d.h. einen Schlafplatz
für die Nacht und etwas Nah-
rung. Die meiste Zeit ver-
brachte Jean in den Kirchen
von Paris, wo er lange Stun-
den im Gebet und in der Me-
ditation verweilte. Als Orga-
nist von St. Pierre-aux-Beoufs
hatte er eine kleine Einkom-
mensquelle. Nach der Abreise
seines Wohltäters nach
Abbeville musste Jean sich ei-
nen anderen Unterschlupf su-
chen. Er wohnte zunächst in
der Nähe von St. Séverin und
dann nicht weit vom
Karmelitenkloster am Place
Moubert. Am Fest der hl. Ag-
nes im Jahr 1604 bat Jean den
jungen Karmeliten Matthieu
Pinault, beim Hochamt Orgel
spielen zu dürfen. So begann
eine tiefe und dauerhafte
Freundschaft, deren Basis ein
gemeinsames Interesse für
geistliches Leben und Mystik
war. Allmählich bildete sich
ein geistlicher Kreis um Jean
du Moulin.
1606 äußerste Jean gegenüber
Matthieu den Wunsch, Kar-
melit zu werden und ins Klo-
ster von Dol in der Bretagne
eintreten zu wollen. Bei seiner
Einkleidung fügte er zu sei-
nem Taufnamen den Namen
des ersten Bischofs und Pat-
rons von Dol hinzu: Saint
Samson. So wurde aus Jean
du Moulin Jean de Saint-
Samson. Der neue Lebensab-
schnitt brachte neue Prüfun-
gen mit sich: Unterernährung
wegen der bitteren Armut des
Klosters von Dol, dann Fieber,
die Wassersucht und schließ-
lich die Pest. Nicht nur Jean
wurde von Krankheiten heim-
gesucht, für viele Menschen
war Unterernährung und
Krankheit an der Tagesord-
nung. Jean begann als Ge-
sundbeter zu wirken, was ihm
den besorgniserregenden Ruf
eines Wunderheilers ein-
brachte. Doch überzeugte sich
der Bischof von Dol, Antoine
Revol, bald von der Recht-
gläubigkeit Jeans und ließ
sich gern von diesem beraten
und geistlich begleiten.
Der Rabe des Elija 7 | 2009
10
1612 folgte Jean der Einla-
dung der Initiatoren der Re-
formbewegung innerhalb des
Karmelordens und ging nach
Rennes. Seit dieser Zeit wirkte
er bis zu seinem Tod an der
Ausbildung der jungen Or-
densmänner mit. Zwar hatte
er nie ein offizielles Amt inne,
doch war er auf Grund seiner
eigenen geistlichen Erfahrung
ein wichtiger Katalysator für
die Reform. Bis 1650 und dar-
über hinaus waren die
Novizenmeister der Provinz
zugleich Schüler von Bruder
Jean. Unter ihnen befanden
sich Dominique de St. Albert
(1596-1634), Léon de St. Jean
(1600-1671), Marc de la
Nativité (1616-1696) und
Maur de l’Enfant-Jésus
(1617/8-1690). 1616 ging Jean
für ein Jahr ins Kloster von
Dol zurück, weil Antoine
Revol ihn ausdrücklich be-
auftragt hatte, die Reform
auch hier einzuführen. 1617
war Jean dann wieder in Ren-
nes, wo er bis zu seinem Tod
blieb. Er verließ das Kloster
nur, um Kranken und
Sterbenden Beistand zu lei-
sten. Am liebsten aber zog er
sich in die Einsamkeit zurück.
Während seiner letzten Le-
bensjahre war Jean beinahe
ununterbrochen krank. Er
starb am 14. September 1636,
dem Fest der Kreuzerhöhung,
nachdem er die Worte des
Apostels Paulus wiederholt
hatte: Christo confixus sum
cruci.
b. Die Art seiner Mystik
Es scheint, dass Jean de
Saint-Samson die Gabe besaß,
seine Schüler und seine Leser
verliebt zu machen, verliebt in
Gott. Trotz seiner oft sehr ab-
strakten Sprache entfachte er
eine Art Wirbelwind, einen
Strudel, der in endlosen
Wiederholungen und Varia-
tionen von Liebesseufzern al-
les an sich zog. Als Leitfaden
hierfür diente Jean ein Motto,
das er aus der niederländi-
schen Mystik kannte: „Liebt
die Liebe, die euch ewig liebt“
(Hadewijch und Ruusbroec).
Die wirklich geschmeckte Er-
fahrung (expérience
savoureuse) der göttlichen
Liebe stellte Jeans Leben total
auf den Kopf: Gott wurde zum
Mittelpunkt seines Denkens
und Fühlens. Unter dem Ein-
druck dieses Geschehens hör-
te Jean nicht auf, die doppelte
Bewegung von Sterben und
Zunichte-Werden für sich
selbst und ekstatischer und
leidenschaftlicher Liebe für
Gott in Worte zu fassen. Ei-
nerseits spürt der Mensch hier
die zurückziehende Bewegung
(se retirer / se rétracter) Got-
tes oder seine Abwesenheit (l’
absence), die das menschliche
Festhalten an dieser Erfah-
rung unterbindet. Anderer-
seits lernt der Mensch die
Möglichkeit der ganz einfa-
chen Liebe (l’ amour tres
simple) kennen. Jean sah sich
durch diese Erfahrungen in
der Nachfolge des gekreuzig-
ten Christus (l’ example de
notre saveur).
Das Vokabular, in das Jean
diese Erfahrung kleidete,
gehörte hauptsächlich zu dem
des aspirativen Gebets. Bei
dieser Form des Betens geht
es um ein Ruhen in Gott
(repos en Dieu), an den man
sich mit einem einfachen,
nackten Blick heftet (adhesion
de Dieu). Man bewegt sich
dann nicht mehr selbst, son-
dern wird von innen her, von
Gott her in Bewegung ge-
bracht durch den göttlichen
Hauch der Zuwendung (l’ as-
piration). Göttliche Zuwen-
dung ist der wesentliche und
feurige Liebesimpuls, der
Menschen dazu befähigt, am
wahren Leben der unverdien-
ten Liebe teilzuhaben. Zu-
wendung wird von Gott her
eingehaucht und vom Men-
schen aus aufgesogen, wonach
der Mensch seinerseits ande-
ren Zuwendung einhaucht. Im
Ein- und Ausatmen göttlicher
Zuwendung erfährt der
Mensch Einswerdung mit
Gott (l’ union / l’ unité avec
Dieu). Der Mensch nimmt da-
bei Abschied von jedem Mittel
zwischen sich selbst und Gott.
Er lebt in totaler Abgeschie-
denheit (l’ abstraction) von
jeglichen Mitteln und dadurch
in der Einsamkeit des Geistes
(solitude d’ esprit). Das führt
zum Loslassen (renonciation)
aller Dinge und sogar Gottes,
insofern er als Mittel ge-
braucht wird. In nackter, rei-
ner und wesentlicher Liebe
(l’amour pur, nud, essentiel)
liebt Gott den Menschen und
der Mensch antwortet mit
derselben göttlichen Liebe.
Das geht über alle Erfahrung
hinaus (surpasser) in ein
sprachloses, selbstvergessenes
Verkosten ekstatischer Liebe.
Ausgedrückt hat Jean de
Saint-Samson diese Liebe auf
besonders eindrückliche Wei-
se in seinem Epithalamium.
In zwei Dritteln des Textes
schmachtet die menschliche
Seele im Bild der Braut nach
der Liebe Gottes, ihres Bräuti-
gams. Die Seele verzehrt sich
vor Sehnsucht, sie erinnert
sich an frühere Liebesbegeg-
nungen, sie schwärmt von den
Vorzügen ihres Liebsten, sie
ruft und schreit und wütet in
Leidenschaft. Im letzten Drit-
tel des Textes antwortet der
göttliche Bräutigam. Er zeigt
sein zärtliches Verlangen nach
der Braut und schenkt ihr den
gemeinsamen und gegenseiti-
gen Genuss (commune et
reciproque jouissance) der
göttlichen Liebe.
Der Rabe des Elija 7 | 2009
11
c. Seine Leser
Die Leser Jeans waren sicher-
lich vor allem seine Schüler,
Mitbrüder und Novizen im
französischen Karmel, die in
der Reformbewegung von
Touraine nach einer neuen
und lebendigen Form des
geistlichen Lebens suchten.
Auch der Bischof von Dol, An-
toine Revol, gehörte zu seinen
Lesern. Zudem hat Jean seine
Auffassung von der göttlichen
Liebe denen nahe gebracht,
um die er sich ganz besonders
kümmerte: Kranken und
Sterbenden.
2. Das MusikTheaterKöln und
seine Arbeit
a. Die Produktionen
Seit 1997 widmet sich das Mu-
sikTheaterKöln explizit der
Auseinandersetzung mit den
Schriften christlicher Mysti-
ker. Dies erfolgte meistens in
der Sprache neuen Musik-
theaters durch die Zusam-
menarbeit mit verschiedenen
Komponisten bzw. Musikern.
Die szenische Arbeit stand
durchweg auf der Grundlage
der Improvisation. Dadurch
wurde jede Aufführung zum
Ereignis, das den lebendigen
Augenblick sucht. Für die ver-
schiedenen Produktionen
wurden Künstler aus ver-
schiedenen Sparten engagiert.
Gelegentlich wirkten auch Or-
densleute mit.
(1) Der Opferstock (1997). Al-
les begann mit der Predigt
Nolite timere eos von Meister
Eckhart, die auch als Opfer-
stockpredigt bekannt ist. In-
haltlich geht es in dieser Pre-
digt um ein Thema, das Eck-
hart oft behandelt hat: um
den Unterschied zwischen der
ungewordenen Gottheit und
dem werdenden Gott. Von
Gott kann der Mensch spre-
chen, von der verborgenen
Gottheit nicht, weil die Got-
theit eins ist in sich selbst und
nicht von außen als ein
Gegenüber wahrgenommen
werden kann. Zu diesem Text
schuf Christoph Maria Wag-
ner eine dreiteilige Komposi-
tion für Flöte, Klarinette,
Trompete, Gitarre, Klavier
sowie fünf Sänger und einen
Schauspieler.
Das Stück ist leidenschaftlich,
humorvoll, stellenweise
schmerzhaft zerrissen. Es
drückt die Fremdheit der Got-
theit aus, seine unbegreifliche
Ungeschöpflichkeit. Zugleich
zeigt es Menschen, die nicht
wissen, wie sie mit der un-
fassbaren Gottheit umgehen
können. Manchmal wird der
komödiantische Weg gewählt,
manchmal auch erotische Bil-
der oder mit der Tiefe ver-
bundene Übertreibungen, die
zu skurrilen Formen führen.
Zwischen all dem gibt es Au-
genblicke, in denen geistliche
Erfahrungen erahnbar wer-
den, z. B. ein geistliches
Erschaudern und Geschüttelt-
Werden.
(2) Scala nostra, die Himmels-
leiter (1998). Die Leiter zum
Paradies von Johannes
Klimakus und Äußerungen
Kölner Kirchgänger zum
Thema Himmelsleiter waren
das Ausgangsmaterial dieser
Produktion. Genauer gesagt
ging es um die ersten fünfzehn
Kapitelüberschriften der Lei-
ter, die den persönlichen Aus-
sagen der befragten Kirchen-
besucher gegenübergestellt
wurden. Diese Kapitelüber-
schriften bezeichnen die Stu-
fen, die hinabführen zum tief-
sten Punkt der Gottferne. Erst
von hieraus steigt der mysti-
sche Mensch dann empor zu
Gott.
Wie im Opferstock wurde
auch in diesem Stück mit dem
äußeren Reiz des Textes ge-
spielt. Die Kapitelüberschrif-
ten ließen sich über die
Kommentare der Kölner
Kirchgänger ins Komische
kippen, aber auch umgekehrt
schaukelte und federte der
Humor plötzlich einen erns-
ten Augenblick herbei. Beide
Wortreihen, die gesungenen,
frei improvisierten Kapitel-
überschriften (Koloratursop-
ran und Bass) und die gespro-
chenen Kommentare (Schau-
spieler), korrespondierten mit
den wippenden, kippenden
und hart aufschlagenden Bret-
tern des Bühnenbildes. So
wurde die Scala paradisi von
Johannes Klimakus zur Scala
nostra, zu unserer Himmels-
leiter, also zu einer Leiter, die
wir Heutigen besteigen kön-
nen.
(3) Las Canciones (1999). Der
geistliche Gesang von Johan-
nes vom Kreuz war die textli-
che Basis für eine weitere
Produktion. Viele Bilder des
Geistlichen Gesanges sind
dem alttestamentlichen
Hohenlied entnommen. Das
Lied der Lieder, wie dieses
auch genannt wird, stellt die
Liebe Gottes zu seinem Volk
und umgekehrt die Liebe Is-
raels zu seinem Gott wie ein
Verhältnis zwischen Bräuti-
gam und Braut dar. So jeden-
falls legten es die jüdischen
Schriftgelehrten aus, und die
frühen Kirchenschriftsteller
folgten dieser allegorischen
Deutungsweise, nur wurde
das Hohelied bei ihnen zu ei-
nem Bild der mystischen
Hochzeit zwischen Christus
und der Kirche oder zu einem
Bild der mystischen Vereini-
gung der Seele mit Gott. Kein
anderes Buch des Alten Te-
stamentes hat auf das Ver-
ständnis der unio mystica ei-
nen größeren Einfluss gehabt
als das Hohelied.
Für Ursula Albrecht (Regie)
und Andreas Daams (Kompo-
sition) wurde die Beschäfti-
gung mit dieser Materie zur
ernsthaften Wendung nach
Der Rabe des Elija 7 | 2009
12
innen: die brennende Sehn-
sucht nach dem göttlichen
Bräutigam stand nun auf der
Bühne. Ganz ohne Komik und
Distanz drückten Text und
Musik (vier Sängerinnen und
vier Celli) die Hingabe der
Seele an Gott aus. Die Sänge-
rinnen verbargen sich in ei-
nem Seelenhaus aus Tüll, wo-
durch der Fokus auf das Inne-
re des menschlichen Herzens
noch sinnfälliger wurde.
(4) Alberts Garten (2002). Ei-
ne sehr einfache,
unaufwendige und leichtfüßi-
ge Theaterarbeit für zwei Per-
sonen und eine Nachtigall
folgte. Texte aus De
animalibus und De
vegetabilibus sowie aus weite-
ren Schriften des Albertus
Magnus waren der Ausgangs-
punkt. Pater Willehad Paul
Eckert OP sprach den Part des
Heiligen Albertus Magnus
und der Schauspieler Frank
Albrecht gab einen Menschen
unserer Tage, der sich wis-
send und neugierig offen dem
großen Heiligen und Gelehr-
ten annäherte. Zwischen bei-
den entspann sich ein tief-
gründiges und oft amüsantes
Wort-, Satz- und Gedanken-
spiel, das dem Publikum
überraschende Wahrnehmun-
gen und Einsichten nahe
brachte.
(5) Die Kammer der Andacht
(2004). Als Leitfaden für die-
se Produktion diente ein Text
des Karmelmystikers Francis-
cus Amelry, der folgenderma-
ßen beginnt: „In der Kammer
der Andacht saßen die Braut
des Hohenliedes und ihre
Amme, die Schriftauslegung,
und haben sehr freundlich
über die Minne gesprochen.“
In diesem Text geht es um die
Geschichte einer Seele (Sän-
ger), die sich in Gott verliebt
hat. Sieben Tage lang verweilt
die Seele in der Kammer der
Andacht. Während dieser Zeit
kommt ab und an ihre Amme
(Sänger) zu ihr. Schritt für
Schritt führt die Amme die
Seele in die Gegenwart Gottes.
Immer wenn dies gelungen
ist, zieht die Amme sich zu-
rück, damit die Seele mit ih-
rem geliebten Gott allein sein
kann. Die Momente der un-
mittelbaren Gottesbegegnung
schildert der Mystagoge
(Schauspieler). Er hebt ins
Bewusstsein, was mit einem
Menschen geschieht, der Gott
immer näher kommt.
Das MusikTheaterKöln erar-
beitete unter der Leitung von
Reiner Witzel (Komposition)
und Ursula Albrecht (Regie)
eine szenisch-musikalische
Improvisationsstruktur zu
diesem Text, die den beteilig-
ten Künstlern viel Spielraum
für die je eigenen Möglichkei-
ten bot.
Die dunkle Stille
Köln, 24. Mai 2009
(6) Die dunkle Stille (2009).
Die aktuelle Produktion des
MusikTheaterKöln für
Clavicord, Performance und
Gesang stellt das Epithala-
mium von Jean de Saint-
Samson in den Mittelpunkt.
Das Epithalamium ist eines
der leidenschaftlichsten und
berührendsten Liebeslieder
aus der Karmelmystik. Über
den Weg der Soliloquien erar-
beiten die Mitwirkenden die
Gottesliebe in ihrer Mehr-
stimmigkeit. Zugleich wirkt
die Bündelung der Soliloquien
wie ein intersubjektives Aus-
loten der verschiedenen Er-
fahrungen mit der Gotteslie-
be, an der alle Künstler, je-
doch auf unterschiedliche
Weise, teilhaben. Im Ergebnis
führt dies zu einer Arbeit, die
dem Zuschauer sinnfällig
macht, wie Menschen sich in
der Berührung mit Gott ent-
sprechend ihren je eigenen
Möglichkeiten unterschiedlich
und doch gemeinschaftlich
äußern. Die Arbeit zeigt zu-
dem den Weg von der Sehn-
sucht nach Gott zum Schwei-
gen in Gott.
b. Die Art dieser Arbeit
Entscheidend für das Gelin-
gen dieser Arbeit ist das War-
ten der Regisseurin auf eine
Liebesverwundung bei den
Mitwirkenden. Die Mitwir-
kenden sollen ihr Herz für den
Text öffnen und aus dieser
Haltung heraus zu ihrem per-
sönlichen Ausdruck finden.
Manchmal ist viel Geduld
notwendig, bis der oder die
einzelne zur szenischen und
musikalischen Improvisation
gelangen kann. Dazu ist es
notwendig, auf alle äußeren
Vorgaben zu verzichten und
nicht vor der Herausforde-
rung eines konkreten Textes
auszuweichen. Jeder wird
ganz auf den Boden seiner
selbst, seiner Eigenheit und
damit auch seiner Einsamkeit
gestellt. Von hieraus wird
dann gemeinsam gearbeitet.
Jeder spürt, dass er oder sie
selbst gewollt ist. Das wirkt
befreiend. Oft wird deshalb
auch ausgiebig während der
Probenarbeiten gelacht – ge-
lacht, weil die Mitwirkenden
viel Elan empfinden, sich
künstlerisch und seelisch ent-
falten können, weil alle Ener-
Der Rabe des Elija 7 | 2009
13
gie für die gemeinsame Arbeit
zur Verfügung steht. Keiner
muss seine Stellung behaup-
ten oder seinen Frust verar-
beiten. Keiner muss sich den
Vorstellungen anderer unter-
ordnen.
Eine solche freilassende Ar-
beit kann nur gelingen, wenn
alle Beteiligten ein hohes Maß
an Verantwortung und künst-
lerischer Reife mitbringen.
Probleme oder Fragen werden
in einem Prozess der Selbst-
verständigung gelöst, der es
den einzelnen erlaubt, ganz
bei sich zu bleiben und gleich-
zeitig das Andere der Kollegen
zu berücksichtigen. Es gehört
zu dieser Arbeit, Initiativen zu
nehmen, Vorschläge zu ma-
chen und ebenso gehört es zu
dieser Arbeit, sich auf die Lö-
sungen der anderen einzulas-
sen und diese konstruktiv
mitzugestalten. Immer wieder
ist auch vonnöten, Ideen und
Möglichkeiten, die sich als ei-
nengend erweisen, loszulassen
und miteinander weiter zu su-
chen.
Die dunkle Stille
Köln, 24. Mai 2009
Die Improvisation – das sagt
ja schon das Wort – ist etwas
Nicht-Vorhergesehenes, etwas
Unvermutetes (lat.
improvisus). Etwas wird un-
vorhergesehen aus dem Au-
genblick heraus neu gelesen
und die Grenze des inneren
Verarbeitens und Verstehens
wird aufs Neue abgetastet.
Genau das geschieht in jeder
Probe. Zwar wird Bewährtes
beibehalten, aber es wird nie
einfach kopiert, es wird nie
fest einstudiert und routine-
mäßig abgewickelt. Immer
wieder aufs Neue stellt sich
die Frage nach dem lebendi-
gen Augenblick. Die profes-
sionelle Improvisation
braucht daher im Gegensatz
zur landläufigen Meinung
sehr viel Vorbereitungszeit,
weil sie den Handlungsraum
zunächst auf zahllose Mög-
lichkeiten hin öffnen muss,
bevor sie aus dem Augenblick
heraus unvorhergesehen und
unvermutet das Spiel entfal-
ten kann. Somit kann man die
Improvisation als
Entgrenzungsarbeit verste-
hen: Die Grenzen des bereits
Ausprobierten werden immer
weiter verschoben. Die Im-
provisation ist gleichsam ein
ständig neues Probehandeln,
das von Erfahrung zu Erfah-
rung führt. Der lebendige
Moment der Improvisation
behauptet nie, dass er die ein-
zige oder die optimale Umset-
zung des Textes ist. Er ist aus
dem heraus gestaltet, was den
Darstellern zur Verfügung
steht: ihrer Tagesform, ihrer
(Nicht-) Verbindung zu Gott,
dem ihnen geschenkten Au-
genblick. So ist die Herme-
neutik des Musiktheaters als
eine demütige Hermeneutik
aufzufassen und lädt den Zus-
chauer dazu ein, seinerseits
demütig hinzuschauen: mit
seiner Tagesform, mit seiner
(Nicht-) Verbindung zu Gott,
mit dem ihm geschenkten Au-
genblick.
c. Die Zuschauer
Es ist meistens ein recht di-
verses Publikum, das zu den
Vorstellungen des MusikThea-
terKöln kommt: Kunstinteres-
sierte ebenso wie spirituell
Interessierte, Kirchennahe
ebenso wie Kirchenferne.
Deutlich ist, dass nicht der
Mainstream angesprochen
wird. Wie die Darsteller be-
wegen sich auch die Zus-
chauer in Randbereichen von
Kunst und Spiritualität. Man
möchte sehen, was sich da
Neues entfaltet. Man lässt sich
auf Unbekanntes und schwer
Einzuordnendes ein. Manch-
mal können die Zuschauer
zunächst einmal gar nichts
sagen zu dem, was ihnen dar-
geboten wird. Künstlerkolle-
gen werden mitunter zu neuen
Herangehensweisen an ihre
eigenen Produktionen ange-
regt. Auffällig ist, dass immer
wieder neue Konstellationen
der Zusammenarbeit entste-
hen und in verschiedene Rich-
tungen immer wieder neue
Kunstformen entwickelt wer-
den.
Die dunkle Stille
Nimwegen, 4. März 2009
3. Die Rezeption des Epithala-
miums
a. Der Text
In der letzten Ausgabe des
Raben (6/2008) publizierten
Edeltraud Klueting und Elisa-
beth Hense eine deutsche
Erstübersetzung des Epitha-
lamiums. Diese Übersetzung
Der Rabe des Elija 7 | 2009
14
wurde von Ursula Albrecht
und Frank Albrecht für die
Produktion „Die dunkle Stille“
zu Grunde gelegt. Da der Ori-
ginaltext für eine Aufführung
viel zu lang ist, kürzten die
beiden den Text zunächst auf
eine Stunde Sprechzeit ein.
Dann experimentierten sie
mit Tonaufzeichnungen des
Textes. Die Worte sollten
nicht zu weich aber auch nicht
zu kantig gesprochen sein. Sie
sollten die richtige Schnellig-
keit, den richtigen Fluss, die
richtige Bewegung erhalten
und all dies musste zunächst
ausprobiert werden. Zu Be-
ginn der Tonaufzeichnung
überlagern sich die Stimmen.
Sie kommen näher und ent-
fernen sich. Sie begegnen und
trennen sich. Dann spricht
lange die Braut. Der ur-
sprüngliche Charakter des
Textes ist gut erhalten. In
immer neuen Variationen be-
singt sie ihre Sehnsucht nach
dem Bräutigam. Sie schmach-
tet und verzehrt sich. Sie klagt
über seine Abwesenheit. Sie
erinnert sich an frühere Lie-
besbegegnungen. Immer wie-
der setzt sie neu an und
kommt an kein Ende. Schließ-
lich – nach endlosen Monolo-
gen – antwortet der Bräuti-
gam. Auch er umspielt in end-
losen Variationen den Liebes-
gesang mit seiner Braut. Er
preist ihre Liebe, kündigt ihr
seine Gegenwart an, be-
schreibt den Genuss ihrer lie-
bevollen Begegnungen. Auch
er setzt immer wieder neu an
und scheint ihr Schweigen in
seinen Seufzern weiterzufüh-
ren. So wird eine einstündige
Meditation gehalten, die sich
fortwährend und unablässig
um die Liebe von Braut und
Bräutigam dreht. Wie bei ei-
nem Rosenkranz hört man
immer wieder dieselben Wor-
te, dieselben Gedanken, die-
selben Seufzer. Auf diese Wei-
se werden allmählich die vie-
len willkürlichen Gedanken,
die ein jeder mit sich herum-
trägt, beruhigt und zum
Schweigen gebracht. Der Geist
entflammt in Liebessehnsucht
nach Gott und öffnet sich
schweigend.
b. Die Form dieser Produktion
In jeder Vorstellung erarbeitet
Ursula Albrecht mit ihrem
Ensemble aus der gegebenen
Situation heraus eine Impro-
visation zu dieser Tonauf-
nahme: Die vier Künstler,
Prof. Margareta Hürholz
(Clavicord), Barbara
Schachtner (Gesang), Joerg
Bräuker (Gesang) und Ursula
Albrecht (Performance), be-
treten die Bühne, schalten den
Tonträger an und lauschen
auf den Text. Wie in einer
lectio divina öffnen sie ihr
Herz für die Liebesstrophen
von Jean de
Saint-Samson.
Sie lassen sich
anstecken von
seiner Sehnsucht
nach Gott und
werden zu eige-
nen Liebesseuf-
zern bewegt. Je-
de(r) gestaltet
mit den je eige-
nen künstleri-
schen Mitteln ein
persönliches So-
liloquium: Margareta Hürholz
improvisiert auf dem
Clavicord, Barbara Schachtner
und Joerg Bräuker singen
Geistliches und Profanes in
inniger Durchdringung, Ursu-
la Albrecht zeigt schweigend
oder lesend den Innenraum
einer Meditierenden.
Zwischendurch lauschen sie
immer wieder auf den Text
und greifen auf, was Jean an-
reicht: immer neue
Sehnsuchtstrophen erklingen
– das Liebeslied wird endlos
weiterimprovisiert und zieht
auch die Zuschauer in eine
Bewegung hinein, die sich in
ihren Herzen fortsetzen kann.
Nach jeder Aufführung wird
ein Gespräch zwischen den
Künstlern und den Zus-
chauern angeboten. Die
Künstler erzählen vom Ent-
stehungsprozess der Produk-
tion, von ihren Erfahrungen
mit dieser Arbeit und von dem
Zusammenwirken unterei-
nander. Die Zuschauer berich-
teten von dem, was sie wäh-
rend der Aufführung empfun-
den haben, aber auch von
spannungsvollen Reibungen
im eigenen Herzen und von
eigenen Sehnsüchten nach
geistlicher Erfahrung. Beides,
die Aufführung und das an-
schließende Gespräch,
vermitten allen Beteiligten ei-
nen sehr modernen Ge-
schmack an der
Karmelmystik.
Die dunkle Stille
Nimwegen, 4. März 2009
Erstausgabe des L’Épithalame:
nach dem Manuskript aus den
Archives Départementales
d’Ille-et-Vilaine, Fond Grands
Carmes, 9 H 40, no. 11, f.
271r-290r:
L’Épithalame de l’époux divin
et incarné et de l’épouse
divine en l’union conjugale de
son époux, texte de Suzanne
P. Michel, in: Carmelus 1,
1954, S. 158-175.
Der Rabe des Elija 7 | 2009
15
Einleitung dazu: Suzanne P.
Michel, L’Épithalame de Jean
de Saint-Samson, in:
Carmelus 1, 1954, S. 72-110.
Kritische Textausgabe:
Jean de Saint-Samson, Oeuv-
res Completes 2. Méditations
et Soliloques 1, édition criti-
que par Hein Blommestijn,
Rom / Paris: Institutum
Carmelitanum / FAC-éditions
1993, S. 335-360.
Übersetzung ins Neufranzösiche:
Jean de Saint-Samson, Épi-
thalame. Chant d’amour,
transcription moderne et
présentation par Jean Perrin,
Paris: Éditions du Seuil 1997.
Die Übersetzung ins Deutsche
(s. unten) folgt dieser Text-
ausgabe.
Jean de Saint-Samson,
L’Épithalame de l’époux divin
et incarné et de l’épouse
divine en l’union conjugale de
son époux, in: Jean de Saint-
Samson, Oeuvres mystiques,
texte établi et présenté par
Hein Blommestijn et Max
Huot de Langchamp, Paris:
O.E.I.L. 1984, S. 127-155.
Übersetzung ins Niederländi-
sche:
Hein Blommestijn, Spel van
liefde. Het loflied van de blin-
de mysticus Jean de Saint-
Samson, Einleitung und
Kommentar von Hein
Blommestijn, Übersetzung
von Sicco Spoelstra, Gent /
Baarn: Carmelitana / Ten Ha-
ve 2001.
Übersetzung ins Deutsche:
Jean de Saint-Samson, Das
Hochzeitslied des göttlichen
und menschgewordenen
Bräutigams und der göttlichen
Braut, in ehelicher Vereini-
gung mit ihrem Bräutigam,
übersetzt von Elisabeth Hense
und Edeltraud Klueting in:
Der Rabe des Elija, 6, 2008,
S. 16-29.
Andere Literatur zu Jean de
Saint-Samson:
Blommestijn, H., Die mysti-
sche Erfahrung eines blinden
Karmelitenbruders, in: Geist
und Leben 6/1987, 402-410.
Bouchereaux, S.-M., La
Reforme des Carmes en Fran-
ce et Jean de Saint-Samson,
Paris: Vrin 1950.
Bouchereaux, S.-M., Domini-
que de Saint-Albert: sa vie et
sa correspondance avec Jean
de Saint-Samson, Rom: Daily
American Publishing Co 1950.
Hense, E., Einfachheit, in:
Grundkurs Spiritualität des
Karmel, Stuttgart: Bibelwerk
2006,111-129.
Hense, E. / Plattig, M., Dich
suchen Tag und Nacht. My-
stik in der Tradition des
Karmel, Mainz: Grünewald
2001.
Hense, E. (1997). Loslassen
macht glücklich – Jean de
Saint-Samson, in: Geist und
Leben 70, 5, 1997, 366-369.
Hense, E. (1995). Johannes
vom hl. Samson – In der
Gegenwart Gottes (1571-
1636), in: Carmelus 42, 1995,
190-196.
Hense, E. (1995). Jean de
Saint-Samson (1571-1636) -
Leben aus der Tiefe, in:
Christliche Innerlichkeit
3+4/1995, 126-133.
Hense, E., Jean de Saint-
Samson und die Reform von
Touraine, in: Benker, G. (Hg.),
Die Gemeinschaften des
Karmel, Mainz: Topos 1994,
91-101.
Hense, E., Tanz der göttlichen
Liebe, Das Hohelied im Kar-
mel, Freiburg: Herder 1991, 75
– 84.
Janssen, P.W., Les Origines
de la Reforme des Carmes en
France au XVIIe siècle, Den
Haag: Martinus Nijhoff 1963.
Jean de Saint-Samson, La
Pratique Essentielle de
l’Amour, textes établis et
présentés par Max Huot de
Longchamp et Hein
Blommestijn, Paris: Cerf
1989.
Jean de Saint-Samson,
L’éguillon, les flammes, les
flèches, et le miroir de
l’amour de Dieu, propres
pour enamourer l’âme de
Dieu en dieu mesme, Hein
Blommestijn (ed.), Rom:
Institutum Carmelitanum
1987.
Jean de Saint-Samson,
Prayer, aspiration, and
contemplation: from the
writings of John of St. Sam-
son, Venard Poslusney (ed.),
Staten Island, N. Y.: Alba
House 1975.
Sciculina, I., L’Épithalame of
Jean de Saint-Samson (1571-
1636), Studies in Spirituality
Supplement 18, Leuven: Pee-
ters 2008.
Steggink, O., Frère Jean de
Saint-Samson et sa lecture
spirituelle: Initiation biblio-
graphique, Rom: Collège
Internat. des Grands Carmes
1950.
Dr. Elisabeth Hense T.OCarm.
47533 Kleve
Teresa von Avila – Der Tod,
die Liebe und der ewige Au-
genblick Gottes
Vortrag von Ursula Albrecht
T.OCarm., 31. März 2009 in der
Liebfrauenkirche Frankfurt
Dieser Vortrag handelt vom
Offenbarwerden des Heiligen
und vom verborgenen Heili-
gen in uns. Er handelt von
Selbsterkenntnis und Gottes-
erfahrung und vom Sterben
im Dreifaltig-Einen-Gott.
Heilige gehen ihren Weg in
der Verborgenheit, über alles
hinaus. In ihnen ist die Selbst-
Der Rabe des Elija 7 | 2009
16
erkenntnis zur Gotteserfah-
rung geworden.
Wenn ein Mensch die Askese,
die Sehnsucht nach Gott, das
Erfülltsein von Ihm, die Freu-
de und das Warten auf Seine
Gnade hinter sich lässt, und in
der Liebe zunichte wird, be-
deutet dies, dass er hinaus ge-
gangen ist aus dem, was er
liebt. Er hat seine Abhängig-
keit von sich und anderen
nach und nach verlassen und
ist getrennt von allen, vereint
mit allen. Er ist frei.
Weg von daheim nach St. Georg
Die, die ihr Leben behalten
wollen, wie es ist, die auf all
das bauen, was ihnen in ei-
nem Augenblick genommen
werden kann, könnten einmal
keine Wahl mehr haben. Eine
solche Erschütterung drängt
sie zu sich, in die bedingungs-
lose Liebe.
Immer neu wird das gesche-
hen müssen, was sie aus ihren
Vorstellungen, Wünschen und
Bedürfnissen hinaus und hin-
ein in die Freiheit treibt. Sie
werden wachsam und versu-
chen, Gedanken von sich zu
weisen, die sie überfallen, be-
drängen und beunruhigen. Sie
lassen sich zunehmend weni-
ger verführen vom Schein der
Vergänglichkeit.
Sie, die in sich, in Seiner Ver-
borgenheit, manchmal Sein
Licht schauen dürfen und die
in der Öde aufseufzen nach
diesem Licht und doch von
ihm rings umgeben sind. Ihre
Leiden sind mit Wonnen ver-
bunden. Von der Schönheit
des Eros lassen sie sich anzie-
hen und hineinziehen in die
nüchtern machende Liebe. Sie
gelangen damit über sich hin-
aus, in das hinein, was ihnen
nicht genommen werden
kann.
In der Bedrängnis der Welt
warten sie auf die reinigende
Glut, das alle Spaltung verzeh-
rende Feuer. Ihr Leben läuft
in alle Erbärmlichkeit hinein
und hört nicht auf, immer
nackter in die inneren Kam-
mern zu dringen, um schließ-
lich entkleidet in die innerste
Kammer gezogen zu werden.
Der, der zur Liebe werden
darf, liebt nicht mehr von Ei-
nem zum Anderen.
Teresas Liebe galt Gott allein
– Er allein genügte ihr, denn
IN IHM ist alles enthalten.
Alle, die dies erkennen durf-
ten und dürfen, sind vom Ich
zum Du und vom Du zum Ich
unterwegs gewesen, bis die
Finsternis im Licht zunichte
wurde und das Licht sich
scheinbar verdunkelte.
Der spanische Ritter von der
traurigen Gestalt, der aus
Knochen und Haut bestehen-
de erbärmliche Narr Don Qui-
jote, der die Wahrheit su-
chend, seinen Besitz verkauf-
te, musste sich, als sein Tag
herangekommen war, mit sei-
nem dürren Pferd Rosinante,
das allen Rossen der Welt
vorangehen sollte, und mit
seinem Ehre und Ruhm su-
chenden Begleiter Sancho auf
den Weg machen.
Zuvor hatte er die mit
Schimmel überzogene Rü-
stung seiner Großeltern gerei-
nigt, bis sie fast so weiß war,
wie Hermelin, hatte das feh-
lende Visier durch einen Vor-
derhelm aus Pappdeckel er-
setzt und ihm so den vollstän-
digen Anschein eines Tur-
nierhelms gegeben. Diesen
Helm aus Pappe hatte er, in
Erprobung seiner Tauglich-
keit, durch einen scharfen
Hieb mit dem Schwert zunich-
te gemacht.
In einem glänzenden Gegen-
stand, der auf seinem Weg lag,
erkennt Don Quijote den
Helm des Mambrin, während
sein zunehmend treuer Die-
ner, der mehr und mehr nicht
wusste woran er ist, ein Bar-
bierbecken darin sieht. Und
einem Dritten wird es wieder
als etwas anderes vorkom-
men.
Eintritt in die Kirche
Der, der scheinbar nichts er-
kennt, wie es ist, erkennt, dass
ein jeder Mensch die Dinge
auf seine Weise sieht. Er muss
sich an der Festung der Her-
zen, am Urteil der Vielen, rei-
ben und dies tragen als sein
Kreuz. Er, der zur offenen
Wunde Gewordene, der alle
um sich herum ansehen will
mit den Augen der Liebe.
Die nüchtern trunkene heilige
Teresa von Jesus, und Miguel
Der Rabe des Elija 7 | 2009
17
de Cervantes, der sich in sein
Herz hinein schreibende
Dichter jenes Narren Don
Quijote: zwei, die keine ir-
dische Ruhe mehr begehrten,
gehörten einem Land und fast
einer Zeit an, einer Zeit, in der
einst verehrte Ritter zu Nar-
ren wurden.
Teresas Mutter las Ritterro-
mane und auch Teresa las Rit-
terromane. Das spanische
Mädchen wollte eine von ei-
nem edlen Ritter zum Burg-
fräulein Erhobene sein, die
mit schönen Händen, glän-
zendem Haar und prachtvol-
len Kleidern im Gemach sei-
ner Burg auf ihn, ihren Lieb-
sten wartet, um von ihm allein
erkannt zu werden. Sie aber
musste ihre Burg aus Stein,
Anerkennung und Ehre ver-
lassen, um die durchschei-
nende Burg in sich zu finden.
Während er, der über die Ver-
nunft gehobene Ordensritter,
mit seiner Sehnsucht nach ei-
ner ganz weißen Rüstung und
seiner Angst vor der Ritterun-
tauglichkeit seinen Leib in ei-
ne irdische Rüstung zwang
und darin schwitzend, keu-
chend und blutend gegen das
Böse focht, nahm sie, die Or-
densfrau, die Rüstung der
Liebe an sich, und widerstand
damit den listigen Anschlägen
des inneren Gegenfreundes,
bis sie nackt war.
Auch sie, die in großen und
kleinen Abständen die Bücher
der Teresa zur Hand nahm,
träumte quälend oft von ei-
nem Leben in einem ‚sicheren
Schloß‘, war vom Wunsch
nach prachtvollen Anwesen
eingenommen, der ihr Den-
ken Tag für Tag bedrängte.
Auf atemlose Weise richtete
sie in der Fantasie eine große
Anzahl von Burgen und
Schlössern ein. Sie baute
Türme an, verlegte, der
Schönheit wegen, Türen,
Fenster und Treppenaufgän-
ge, erwarb eine Anzahl
Schränke, die mit den schön-
sten Kleidern gefüllt waren.
Vergrößerte und verkleinerte
Parks. Legte in unbeirrbarer
Regelmäßigkeit Brunnen in
der Mitte des Gartens an.
Stellte im Park kleine Holz-
häuschen in verborgenen Ek-
ken auf. Schließlich gingen die
Umbauten in immer größer
werdender Geschwindigkeit
vor sich. Dann wurden die
Räume asketischer, die Ein-
richtung verschwand zuneh-
mend und schließlich ganz.
Kahle Mauern, steinige Bö-
den, altes Brot und heißes
Wasser mussten sein und bald
ergriffen diese Gedanken ihr
ganzes Sein.
Mein Taufbecken
Die Askese hatte sie im Griff.
Die erhoffte Ruhe aber, die sie
gewinnen wollte, blieb aus.
Unruhe peinigte sie, es war
keine Rast in diesen perfekten
Formen, in diesem Mangel an
Essen, im Drang des Wollens
und Beherrschens, in der
Schnelligkeit. Von ihren Wün-
schen und Begierden ge-
drängt, wurde ihre Seele mit
Bildern überladen, die unter
der Last der täglichen Bilder
litt.
Da ergriff sie eine heftige Lei-
denschaft, die ihre Askese in
einem Punkt zunichte machte
und gegen die sie nichts ma-
chen konnte. Nach langem
Ringen wurde diese scheinba-
re Liebe in ihr entlarvt. Und
so war sie unvermittelt und
plötzlich ohne diese Leiden-
schaft.
Mit dieser Erschütterung be-
trat sie die Wüste. Das Ringen
in der Wüste brachte sie fast
um. Am letzten Tag, dem Tag
des Todes, lag sie ohne
Sicherheiten in ihrem Ende.
Da stieg eine Kraft von den
Füßen zum Haupt empor und
richtete ihren Leib auf. Sie
stand auf ihren Füßen außer-
halb des Erschütterbaren, im
Unerschütterlichen.
Das jahrelange Weinen, die
Freude die ihr zusammen mit
dem Leid jetzt zuteil wurde,
innere Liebesbekundungen –
gleichzeitig Wort und Nicht-
Wort, das sichtbare Stehen,
Sitzen und Liegen der Drei in
Einem, das Süß- Angespro-
chen- Werden im Geist, nähr-
te sie über ein jegliches Maß
mit Ewigem. Sie lag in ihrer
Inneren Kammer, die dem All
gleichkam.
Eines Tages, vor nicht allzu
langer Zeit, der Tisch war ge-
deckt, da sagte der Mann ne-
ben ihr: „Sie sehen aus, wie
Teresa von Avila.“ Da legte sie
langsam das große Stück Ku-
chen aus der Hand, um über
diese Aussage nachzudenken.
Denn sie konnte jetzt unmög-
lich den Kuchen einfach es-
sen.
Es fiel ihr aber nichts ein.
Ganz und gar nichts. Teresa
war tot. Sie hat sie nie gese-
hen. Nur ihre Schriften kann-
te sie.
Sie wartete in einem Da-
zwischen. Nirgends zeigte sich
eine Kurve, um die sie hätte
Der Rabe des Elija 7 | 2009
18
gehen können und wo sich ein
Anblick oder Ausblick hätte
zeigen können. Keine Teresa.
Kein Kuchen. Nichts.
Dass sie wieder und wieder in
Krankheiten, die scheinbar
keine waren, IHM nahe kam,
fiel ihr ein. Ihr Herz also in
seinem Herzen. Ihre Abwe-
senheit in seiner Anwesenheit.
Wer und was berührt und be-
wegt mich eigentlich an Tere-
sa? Das schien ihr eine kluge
Frage.
Beichtstuhl und Tür zur Orgel
Da kam ihr Simeon der Heili-
ge Narr in den Sinn, der,
nachdem er Jahrzehnte als
Einsiedler gelebt hatte, mit
einem toten Hund an der Lei-
ne in die Stadt einzog, der auf
dem Marktplatz seine Not-
durft verrichtete, am Grün-
donnerstag Kuchen aß und im
Bordell auf Frauen gebunden,
geschlagen wurde. Der in sei-
ner Bildlosigkeit zum Spiegel
seines Gegenübers wurde. Der
Licht gewordene, der sich,
und mit sich die Liebe ließ.
Und der heilige Franziskus,
dessen von Tränen eiternde
Augen mit einem glühenden
Eisen behandelt wurden. Der
dem fleischgewordenen Wort
so nah kam, dass es durch ihn
Gestalt bekam. Der Skandal
von Assisi, Stein des Anstoßes,
bis heute Halt für viele. Der
Angst macht, der abstößt und
anzieht.
Und die Unbekannten, Ver-
borgenen heute – an alle die-
se Trunkenen, Liebesverrück-
ten dachte sie. Und bewegt
von ihren Leben, wurde sie all
denen dankbar, die ihr Leben
annehmen wie es ist, aushal-
ten, durchleben und damit
vollbringen. Was konnte sie
anderes tun, als den Kuchen
jetzt essen!
Dann kam der Tag, an dem sie
an keinen einzigen Heiligen
mehr denken konnte. Der
Überdruss an den Heiligen er-
fasste sie.
Wieder konnte sie nur warten,
die Sehnsuchts-losigkeit gut-
heißen und die Nähe in der
Ferne aushalten.
Dann trat ein Name hervor:
Johannes vom Kreuz, der
flammend im Wort ver-
mummte Tänzer der Schön-
heit, im hochroten Gewand
der Liebe. Abgründiger. Heili-
ger. Spanischer Dichter der
Dunklen Nacht. Der von sei-
nen Brüdern gefangengehal-
ten, – 9 Monate in dunkler
Kerkerhaft –, hinabgestiegen
ist und jubelnd emporkam im
Nichts und der überseligen
Erkenntnis, dass die Dunkel-
heit zugleich das größte Licht
ist.
Sie schaute sich um und sah
sich stehen und reden – von
innen blickte sie auf ihren
Blödsinn redenden Mund,
während sie hinter ihren Wor-
ten in der Verborgenheit ruh-
te.
Sie sah das Tote im Gegenü-
ber, wie es sich unaufhörlich
behauptete. Wie es sein Maul
aufriss und wie das ganze
Haupt zur Fratze geriet. Wäh-
rend ihr Leib die Welt beinah
zeitlos durchforstete. Mein
Doppelleben ist eine Narrheit,
dachte sie.
Wieder war der Tisch gedeckt,
der Mittagstisch diesmal, und
die Japanerin neben ihr sagte:
„Sie sehen aus wie die kleine
Terese. Etwas an ihnen erin-
nert mich an Terese von Li-
sieux.“
Da war sie wieder, die Bürde,
die sie hinab trieb in die Qual
ihrer und jener Seele, die einst
gefragt wurde, was sie denn
wählen würde, und die sagte:
„Ich wähle alles!“
Wie lange ging sie um das Re-
gelgerüst der Karmeliten he-
rum, ging hinein, verweilte
darin, bekam Form, die Zelle
wuchs in ihrem Innern heran,
weitete sich, verlor sich im
Nichts. Die Regel wurde zur
Ordnung und diese Ordnung
würde sie verlassen müssen,
nachdem sie die Ordnung als
Liebe erkannte. Wie sagt Au-
gustinus: „Liebe und tu was
Du willst.“ In jeder Faser ihres
Seins zeigte sich auf nicht
erkennbare und nicht erklär-
bare Weise, was zu tun ist.
Meine Orgel
Vor einem kleinen Tisch sa-
ßen sie zusammen, die Kerze
brannte, es war dunkel und
still um sie beide. Sie spra-
chen nicht – lange – da hörte
sie sie sagen: „Du siehst der
Edith Stein so ähnlich.“
Der Rabe des Elija 7 | 2009
19
Sie schaute sie an und sah,
dass sie keine Augen hatte. Sie
schaute hinein und hindurch
und sah kein Ende, da war
Nichts, nichts Sagbares. Wie
es denn ist, dachte sie, als sie
wieder denken konnte, so ein
Heiliges Leben ?
Da ist ihr ihre schmerzhafte
Sehnsucht eingefallen, das:
„Wehe, wenn ich mein Leben
nicht lebe!“ Da ist ihr eingefal-
len, dass das alles gewesen ist.
Es muss ein Zeichen in mei-
nem Gesicht geben, dachte sie
jetzt. Es muss etwas aus der
Seele in meinen Leib fließen.
Sie bewegte sich im Entzug
des Wissens. Wer viel weiß,
muss das viele Wissen lassen.
Eines Tages wird es soweit
sein.
Manchmal sah sie ihr ganzes
Leben in ihrem Innern liegen,
und wenn sie anfing zu über-
legen, wie genau denn ihr Le-
ben aussieht, wusste sie es
nicht.
Dann verschwand alles im
Augenblick. Die Verborgen-
heit ihres gesamten Daseins
inmitten aller machte sie zu
einer Verschwundenen.
Nur die, die ihr gleich waren,
sahen ihren Schmerz in der
Welt der verführten, ekstati-
schen Entzweiungen, bis sich
auch dieser Schmerz im Ver-
lust der Vergangenheit und
Zukunft auflöste.
Wieder versuchte sie Teresas
Leben zu betrachten und
wusste nicht weiter –.
Wieder quälten sie ihre Über-
legungen zwischen Marta und
Maria, bis sie die Zusammen-
gehörigkeit, die Einheit darin
bedachte. Maria hatte das
Amt der Marta erfüllt gehabt,
als sie zu seinen Füßen nur
Ihm zuhörte.
Sie musste erst eine Marta
gewesen sein, ehe sie wirklich
eine Maria werden konnte.
Das sind keine zwei Leben.
Lieben und die Qualen der
Zerrissenheit durch den Leib
zittern sehen. Dann die Erlö-
sung aus der Enge. Es scheint
eine immerwährende Begeg-
nung im Innern zu geben. In
der Seele wird gearbeitet,
auch ohne unser Wissen. So
einfach ist das.
Blicke zu Jesus
Teresa sagt: „Weil ich begann,
mich vor dem inneren Beten
zu fürchten, da ich mir so ver-
loren vorkam.“ Diese Aussage
zeigte eine Ähnlichkeit zwi-
schen Teresa und ihr.
Manchmal fragte sie sich, ob
sie weiter auf ihrem Weg ist.
Oder ob sie vielleicht unbe-
merkt abgekommen ist, weil
ihr das Vertraute, das sonst
Halt Gebende, nicht mehr
schmeckte. Die gewohnten
Gebetszeiten waren nicht
mehr möglich.
Aber aus der Ferne sah sie,
dass dies gut war. Dabei dach-
te sie, dass sie eine unentweg-
te innere Anbetung feiert und
dass das wahr ist. Dass es kei-
nen geringsten Zweifel darü-
ber gibt.
Es ist mir nicht möglich, mich
dem Leben Teresas weiter zu
nähern dachte sie, aber dann
fiel ihr ein, Teresa und sie hat-
ten als Kinder große Abnei-
gungen und große Zunei-
gungen. Alles musste „groß“
sein.
Sich ungeteilt hineinspielen in
das Unabwendbare, waren Te-
resa und ihr eigen. Bei Teresa
ist es der Wunsch, den Kopf
abgeschlagen zu bekommen,
damit Pein und Herrlichkeit
für immer anhalten.
Diese Absolutheit in dem „ für
immer“ fiel ihr sofort auf.
Später bauten sie und ihr
Bruder Eremitenhäuschen,
die oft einstürzten. Die Bewe-
gung in den aufbauenden und
einstürzenden Eremitenhäu-
schen, diese Annäherung dar-
in, dieses sich Hineinbasteln,
Hineinformen in ihr Leben,
daraus lugt die Unbedingtheit
mit der sie wesentlich werden
sollte, hervor.
Bei ihr wiederum waren es die
beständigen Besuche mit Mut-
ter und Schwester im Lei-
chenschauhaus des städti-
schen Friedhofes. Es wurden
Verstorbene angeschaut, die
hinter den Fenstern aufge-
bahrt lagen. Dabei wurden
während der gemeinsamen
Betrachtung der Toten, Ein-
zelheiten besprochen, um zu
einer Einschätzung zu gelan-
gen. Es wollte herausgefunden
werden, an was sie gestorben
waren. Die Mutter achtete auf
Wunden und zugenähte
Schnitte, auf die Hautfarbe,
die Kleidung, den Gesichts-
ausdruck und vor allem auf
ein mögliches Lächeln, das in
den Gesichtern einiger Ver-
storbener zu sehen war.
Dieses Anschauen der Toten
setzte sich zwischen ihr und
ihrer Schwester in der Küche
fort: Sie „spielten“ Leichen-
schauhaus. Dabei legten sie
sich nacheinander als Tote in
die Holzbank hinter dem Kü-
Der Rabe des Elija 7 | 2009
20
chentisch, schlossen ihre Au-
gen, falteten ihre Hände, hiel-
ten den Atem an. Dann wurde
der Deckel der Bank von der
jeweils draußen Stehenden
zugemacht. Die Hinterbliebe-
ne trauerte.
Dieses Spiel nahm eines Tages
ein jähes Ende, als sich näm-
lich ihre Schwester, statt zu
trauern, auf die geschlossene
Bank setzte und lachte und
verkündete, dass sie nie mehr
wieder aufmachen würde.
Nachdem die Luft knapp wur-
de in der Bank, bekam sie
Angst, sie dachte aber an das
Lächeln, das der Mutter so ge-
fiel. Das Kommen der Mutter
beendete diese Todesangst.
Später suchte sie immer neu
die Nähe des Todes. So wurde
ihr deutlich, dass sie vom Tod
her leben muss, wenn sie le-
ben will.
Mein großer Platz
„Ich bin geboren, Sancho, um
sterbend zu leben,“ sagte der
traurige Ordensritter zu sei-
nem Begleiter.
Denn ich sterbe fast vor
Schmerzen, weil ich doch
nicht sterben kann, sagte Te-
resa.
Jesus Christus, das Wort Got-
tes, ist in der Kontemplation
gegenwärtig, sagte Teresa –
und: Die Menschheit Jesu ist
an sich kein Hindernis für den
Höchsten Grad der Kontemp-
lation, doch aufgrund der
menschlichen Schwachheit
müssen die Geschöpfe auf ih-
rem Weg zur reinen Kontemp-
lation für eine Zeit die Be-
trachtung der Menschheit
Christi aufgeben.
Und Meister Eckhart sagt:
„Denn liebst Du Gott, wie er
Gott, wie er Geist, wie er Per-
son ist, wie er Bild ist, das al-
les muss weg. Wie aber soll
ich ihn lieben?
Du sollst ihn lieben wie er ist.
Ein Nicht-Gott, ein Nicht-
Geist, eine Nicht-Person, ein
Nicht-Bild, mehr noch: wie er
ein lauteres, reines, klares
EINES ist, abgesondert von
aller Zweiheit. Und in diesem
Einen sollen wir ewig versin-
ken vom Etwas zum Nichts.“
Ihre Gedanken verloren sich
in der Ungewissheit.
Nach einer Weile schaute sie
nach rechts. Das Schwarz ei-
nes Habits trat erneut in ihre
Augenwinkel. Unbewegt saß
er da, der alte Mönch. Ver-
sunken in seinen Gott. Hoch
oben in den Bergen.
Sie stand auf und ging den
Steinboden entlang auf das
Kirchentor zu.
Es war Nacht geworden.
Die Mahlzeiten sind zu üppig
im Kloster, dachte sie. Es
bleibt kein Platz im Magen.
Der Magen braucht eine ge-
wisse Leere. Die Gespräche
während des Essens sind
mühsam, weil zerstreuend.
Das Hinabsteigen in den
Ranft des Bruder Klaus, und
das Verweilen im Holzhaus
des Einsiedlers umfing ihre
Seele. Die Betrachtung seines
Lebens zog in ihr alles Ver-
gangene und Zukünftige in
den Augenblick.
Dass er mit 50 Jahren alles
verlassen musste. Frau, Kin-
der, Beruf! Dass er sich so nah
bei seiner Familie niederlas-
sen musste. Dass er dann
doch in seiner Familie starb.
Dass er an die 20 Jahre nichts
gegessen hatte. Es ist gedank-
lich unzugänglich.
Mein St. Georg mit Weihrauch
Lange stand sie vor seinem
Ehebett, oben im Haus der
Familie, und später vor der
Holzbank mit dem Stein als
Kissen, unten in seiner Klau-
se.
Beide waren nicht zu trennen.
So sehr sie sich mühte – sie
konnte sein Leben nicht aus-
einanderteilen, einteilen, be-
urteilen. Also konnte sie nicht
über ihn nachdenken.
Sie hielt sich am besten an
seine Liebe. Darin kam sie
ihm ohne Gedanken nah.
Der Einsame ist allein mit
sich, der Einsiedler ist allein
mit Gott.
Im Geschäft unterhalb der
Klause, kaufte sie eine mit-
telgroße, einfache Kerze. Die
Augen der Verkäuferin trafen
ihre Augen in ihrer beider Er-
fahrung.
Teresa sagt: „Beten ist Lie-
ben.“ Was sollte sie dazu
noch sagen.
Der Rabe des Elija 7 | 2009
21
Selbstliebe und Nächstenliebe
ist Eins. Alles ist gesagt.
Es fiel ihr der gute Ruf ein,
der Teresa wichtig war. Der
gute Ruf und die Geheimhal-
tung des Nicht-Guten vor de-
nen, die nicht unterscheiden
können.
Die Qual, sich um den guten
Ruf zu sorgen, - erschien ihr
da wie Entfernung bei ge-
wünschter Nähe.
Das Mädchen Teresa empfand
eine große Abneigung gegen
das Klosterleben.
Sie wurde krank.
Sie empfahl ihrem Bruder, ins
Kloster zu gehen.
Teresa war beständig krank,
sehr krank und schwer krank.
„Du lässt aber auch nichts aus,
um dem Herrn nachzufolgen“
sagte die Schwester zu ihr, als
sie sie auf Krücken heran-
kommen sah.
Und da sah sie in jeglicher
Krankheit diesen einen Sinn,
nämlich,
Seine Nähe zu ihr und ihre
Nähe zu Ihm.
Im Leid, durch das Leid hin-
durch, in die Leidlosigkeit.
Auf dem Kreuz bleibend, alles
zurücklassend.
Heute im Wald stach die
Schönheit eines jeden einzel-
nen Baumes hervor.
Der Stamm, seine Rinde, die
Krone, seine kleinen Äste an
den großen Ästen,
sein sanftes hörbares Ächzen
im Wanken des Windes.
Ja, es gibt ihn, den Einen
Baum, - dessen Leuchten ihre
Augen eines Tages sekunden-
lang blind machte, so dass sie
noch heute die kühle Glut hin-
ter den Augen sieht -, und der
seitdem eingeprägt in Herz
und Leib da ist.
In der Mitte des Berges, in ei-
ner Lichtung, standen ein
grauer, sauberer, jugendlicher
Esel mit einem weißen Fell
um sein Maul, und eine auf-
geweckte beige Ziege. Beide
standen hinter dem Zaun vor
ihr und schauten sie an.
Manchmal bewegte der Wind
das Fell der Tiere und ihre
Haare, oder es zuckte das Fell
unter den Fliegen.
Sonst war da nichts.
Mein Blick nach draußen
Einige Male legte die Ziege ih-
ren Kopf an den Hals des
Esels, schaute länger zu ihm
auf, biss in sein Ohr hinein,
legte sich in sein Futter.
Es kam ihr so vor, als ob der
Esel sie mit seinen Augen ver-
bindlich durchschaute. Seine
weichen übereinander geleg-
ten Mundwinkel hoben sich,
und seine hohen gelben Zähne
fassten nach ihr, wenn sie ihre
Hand nach ihm ausstreckte.
Der feine, kleine helle Mund
der gut genährten Ziege, ihre
deutlichen Augen,
das Wenden und Drehen ihres
Kopfes nach einer Ansprache,
das verschiedenartige Herab-
fallen oder Hinaufstellen ihrer
Ohren und der Ohrenspitzen,
die, je nachdem, ein Auge
oder zwei Augen verbargen
oder freilegten, waren ein Ge-
winn.
Manchmal stand sie auf einem
Stamm, der ihr zu diesem
Zweck hingelegt worden war –
regungslos, wie eine Laubsä-
gearbeit; während der Esel
umherging und da und dort
einen Halm aufnahm und zer-
kleinerte.
In der warmen Jahreszeit lag
sie mit geschlossenen Augen
an der Seite der Hütte in der
Sonne, während er daneben
stand.
Wenn der Rauhreif oder der
Schnee auf ihrer beider Fell
lag, und die Kälte sie in den
Stall trieb, so dass nur noch
Teile von ihnen sichtbar wa-
ren, lachte sie über diesen
Ausschnitt.
Am 27. Dezember lag der Esel
tot vor seinem Stall. Die Ziege
stand in der gegenüberliegen-
den Ecke.
Am 3. September bekam sie
von einem noch namenlosen
Künstler, der in einem der ab-
gelegenen Winkel des Klo-
stergartens ein Atelier ohne
Wärmequelle und Wasser hat,
ein Geschenk.
Eine kleine Plastik aus beweg-
lichem Silberpapier, welche
sie und den Maler im Wald
neben hohen Bäumen stehend
zeigt, wie sie sich über die
großen, wesentlichen Dinge
unterhalten. Das „Nichts“ hat-
te es ihm angetan.
Das Alles im Nichts.
Begegnungen auf dem Weg,
die Mitteilungen waren, und
sich in dieser silbern glänzen-
den Darbietung verdeutlich-
ten. Zwei Bäume, zwei Perso-
nen, zwei Wege auf einem
Weg im Wald.
Sie dachte an die Karmelitin,
die ein Stammeln ist in ihrem
Heiligen Ernst
und die ihr schrieb:
„ ... Ich denke an Elija: voll
von Angst und verzweifelt
ging er in die Wüste, in eine
Der Rabe des Elija 7 | 2009
22
Höhle. Es kamen Sturm, Erd-
beben, Feuer. Gottesbegeg-
nung geschah einzig im
Schweigen, in der Stille
„verschwebenden Schwei-
gens“, ein Schweigen, das tie-
fer ist als alles, Schweigen in
unserem innersten Innen-
raum, und aus diesem Innen-
raum der Begegnung, der
Bergung, werden wir heraus-
gerissen zu den anderen, den
vielen Geschwistern-, jedoch
immer bleibend in DIR, im
Schweigen eines „Ich-weiß-
nicht-was ...“ (Sr. Ancilla
Wissling O.C.D)
Teresa sagt:
„Es schien mir zwar, als hätte
ich nichts gesehen; ob dies
aber auch wirklich so gewe-
sen, kann ich nicht geradezu
behaupten. Denn etwas muss
ich doch wohl gesehen haben,
weil ich sonst das, was mir ge-
zeigt wurde, nicht mit einem
Gleichnis, das ich gebrauchen
will, erklären könnte; nur
wird dieses Sehen auf eine so
feine und zarte Weise gesche-
hen sein, dass der Verstand es
nicht erfasste.“
Wie es sich wohl zugetragen
haben mag, in diesem heiligen
Leben? Es überkommt sie das
Abstand-Nehmen-Müssen
von Teresas Erfahrungen und
Überlegungen.
Sie begibt sich in das Rau-
schen des Bergbaches in ihrer
Nähe - und verweilt darin, bis
das Rauschen aufhört zu raus-
chen.
Teresas Leben und ihr Leben -
eine Zusammenführung.
Teresa sagt:
„Einmal, als ich mit den an-
dern Schwestern die Horen
betete, geschah es, dass meine
Seele plötzlich in eine Samm-
lung versetzt wurde, in der sie
mir wie ein klarer Spiegel er-
schien. An ihm war weder
hinten noch an den Seiten,
weder oben noch unten etwas,
das nicht ganz klar gewesen
wäre; in der Mitte aber zeigte
sich mir Christus unser Herr
... es wurde mir auch zu ver-
stehen gegeben, dass dieser
Spiegel, wenn
die Seele sich in
einer Todsünde
befindet, wie
mit einem dich-
ten Nebel über-
zogen und ganz
schwarz ist, so
dass der Herr
darin sich we-
der darstellen
noch gesehen
werden kann, obwohl er uns,
indem er uns das Sein gibt,
immer gegenwärtig ist.“
Dass da beständig zwei Mög-
lichkeiten sind.
Und, dass es eine sichere Ah-
nung gibt, die eine Gewissheit
ist.
Instinkt, hohe Begabung für
das Erkennen der Wahrheit.
Gnade.
Dass diese 2 Gestalten mit ih-
ren 2 Tieren hinaus gezogen
sind.
Weg von der Heimat.
Der Ritter wusste, wer er war
und ließ es zu, es vor den an-
deren, den Fremden, nicht zu
wissen.
Teresa sagt:
„Da bot sich mir dar, was ich
nunmehr als Fundament ge-
brauchen möchte: Nämlich
unsere Seele als eine Burg zu
betrachten, die ganz aus ei-
nem Diamant oder einem sehr
klaren Kristall besteht und in
der es viele Gemächer gibt,
gleichwie im Himmel viele
Wohnungen sind ... ihr dürft
euch nicht vorstellen, dass
diese Wohnungen wie aufge-
reiht eine hinter der anderen
liegen. Richtet vielmehr eure
Augen auf die Mitte, die das
Gemach und der Palast ist, wo
der König weilt, und stellt die
Burg euch vor wie eine
Zwergpalme, bei der viele
Hüllen das köstliche Herzblatt
umschließen.
Mein Blick danach
So liegen dort rings um diesen
Raum viele andere Gemächer,
und ebenso darüber.
Denn die Dinge der Seele
muss man sich immer in Fülle
und Weite und Größe den-
ken...“
Ich bin SEIN Tun, denkt sie.
Seine Zeitlose Tat.
Die bewegungslose Mitte.
Die höchste Geschwindigkeit
um die Mitte herum.
Die Innen und Außenseite des
Einen.
Das Nüchtern Sein Wollen in
diesen Qualen.
Zwischen ihr und der Heiligen
ist Nichts.
Ohne Liebe gäbe es keine ein-
zige Verbindung.
Ohne Liebe gäbe es keine Per-
son.
Kein von Person zu Person.
„ Vom Sein zum Sein, und von
Person zu Person werden wir
ein Eins, über unsere persön-
liche Vereinigung hinaus ....“ .
(Jean de Saint Samson)
Teresa sagt:
„Wollte die betreffende Per-
son ein in ihrer Muttersprache
geschriebenes Buch zur
Der Rabe des Elija 7 | 2009
23
Handnehmen, so geschah es
ihr nämlich, dass sie – obwohl
sie gut lesen konnte – nicht
mehr davon verstand, als
wenn sie die Buchstaben nie
gelernt hätte; denn ihr Ver-
stand hatte das Fassungsver-
mögen verloren.“
Sich niederlassen in der
sechsten Wohnung. Was gibt
es über Heilige zu sagen?
Nichts.
Nicht einmal mehr Heiligkeit
denken. Dass er mich in sich
liebt und ich ihn in mir liebe.
Schweigen im Wort.
„Als alle Dinge mitten im
Schweigen waren, da kam
hernieder, vom königlichen
Stuhle, in mich ein verborge-
nes Wort“ (Weish.18.14).
Im Wort verborgen.
Teresa sagt:
„Wir brauchen also nicht in
den Himmel hinaufsteigen,
noch aus uns selbst hinausge-
hen; denn dies wäre Ermü-
dung des Geistes und Zer-
streuung der Seele.“
Seit Tagen regnet es, sie setzt
sich vor das Fenster und hört
dem Regen zu - und muss an
ein Ereignis denken:
Eines Tages stand sie neben
dem Pater am Fenster in der
Küche, während es draußen
regnete.
Sie schwiegen -
Da muss Gott sie im Regen
angesprochen haben.
Mit absoluter Gewissheit.
Sie hörte, dass er zu ihr
sprach, hörte aber nicht „was“
er zu ihr sprach.
Er regnete sie an und sie hörte
ihn im Regen und als Regen
reden -
„Am Mittwoch den 28. März
des Jahres 1515 um 5 Uhr
früh, mehr oder weniger,
denn es war schon fast Tages-
anbruch an jenem Mittwoch,
wurde meine Tochter Teresa
geboren.“ So schrieb Teresas
Vater Don Alonso in sein
Buch, in das er die Geburten
seiner Kinder eintrug.
Die Karmelitin und Mystike-
rin, Kirchenlehrerin und Hei-
lige stammte aus einer Fami-
lie von konvertierten sephar-
dischen Juden väterlicher-
seits, ihre Mutter kam aus alt-
kastilischem Adel. Teresa hat-
te neun Brüder und zwei
Schwestern.
Ihre Mutter ist mit 33 Jahren
gestorben.
Am 2. November 1535, dem
Allerseelentag, riss Teresa
sich ihre Familie aus ihrem
Herzen, so als würde sie jeden
einzelnen Knochen zurücklas-
sen müssen und trat in das
Karmelitinnenkloster ihrer
Heimatstadt Avila ein. Diesen
Eintritt beschreibt sie als Se-
gen von Anfang an.
Das Tor zu Jesus in der
Abgeschiedenheit
Sie, die sich im Herzen der
Kirche aufhielt, um von dort
alles in sich, um sich, in die
Einheit zu ziehen, starb 1582
auf einer ihrer vielen Reisen
durch das glühend kalte Spa-
nien in einem von ihr gegrün-
deten Kloster.
In Zusammenarbeit mit Jo-
hannes vom Kreuz gründete
sie 32 Klöster. In jedem Klo-
ster sollten nicht mehr als 21
Schwestern leben. Es wurden
Einsiedeleien in den Gärten
gebaut. Dem Ursprung der
Karmeliten gemäß. Denn der
Orden ging aus Einsiedlern
hervor, die eine gemeinsame,
nicht ausformulierte Regel
bekamen. Innerhalb dieses
Regelgerüstes aber war Raum
für Anfänger auf dem Geistli-
chen Weg, für Fortgeschritte-
ne und für Erleuchtete.
1614 wurde Teresa selig- und
1622 heiliggesprochen. Papst
Paul VI. ernannte sie zur Kir-
chenlehrerin.
Sie dachte an einen Augen-
blick auf ihrem Heimweg. Da
schnitt sich blitzartig eine kla-
re, kühle, bleibende Erkennt-
nis in ihre Seele, nicht fassbar,
nicht erklärbar, von unaus-
löschbarem Bestand von An-
fang an.
Gott liebt sich selbst – von
Ewigkeit zu Ewigkeit.
Ursula Albrecht T.OCarm.
79100 Freiburg
Bildnachweis: Ursula Albrecht
fotografierte ihre Heimatkir-
che in Amberg.
Impressum
© Dritter Orden im Karmel – Johannes Soreth. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. ISSN 1861-4965 Redaktion: Drs. Ing. Paul Menting T.OCarm. Dr. Elisabeth Hense T.OCarm. Dr. Edeltraud Klueting T.OCarm. Anschrift: Rehweg 15, 47533 Kleve E-Mail: P.Menting@hotmail.com Redaktionsschluss für die achte Ausgabe: Juli 2010.
Der Rabe des Elija Supplement Der Stachel von Jean de St. Samson
24
Jean de Saint-Samson -
Der Stachel, die Flammen,
die Pfeile und der Spiegel der
Gottesliebe,
geeignet die Seele in Gott
verliebt zu machen, in Gott
selbst
Übersetzt von Dr. Edeltraud
Klueting T.OCarm
Vorbemerkung
Im „Raben des Elija“ 6/2008,
S. 16-29, erschien die Über-
setzung des Hochzeitsliedes
von Jean de Saint-Samson
O.Carm., eines der
berührendsten Liebeslieder
der Karmelmystik. Jeans
„Éguillon“, sein „Spiegel der
Gottesliebe“, ist von anderer
Art. Es ist ein Traktat, in dem
er den Kern der Tourainer Re-
form des Karmelitenordens
entfaltet und den Weg zu ei-
ner spirituellen Neuorientie-
rung weist. Das letzte [8.] Ka-
pitel ist der Frage gewidmet,
wie der Mensch von der Sorge
um sich selbst loskommen
und sich ganz zu Gott hin-
wenden kann.
Kapitel 8
Sich selbst loslassen
Es ist wahr, dass Gott sich am
meisten danach sehnt, dass
der Mensch sich selbst los-
lässt, denn so ein Leben des
Loslassens stimmt am besten
mit ihm überein. Aber es ist
auch wahr, dass es für den
Menschen, der für Gott lebt,
das schmerzlichste ist, was
dazu führt, dass der Mensch
die Vorzüglichkeit eines sol-
chen Lebens nicht sehen oder
begreifen kann. Der Mensch,
der beinahe nur sinnlich und
auf sinnlicher Ebene vernünf-
tig lebt, weiß nicht, was sein
Geist ist, der sein Begreifen
und seine Vernunft ist. Diese
Vernunft ist sehr weit von den
Sinnen entfernt. Darum will
der Mensch so ein Leben auch
nicht. Wer nämlich seinen
Hunger danach, dass es ihm
selbst vorzüglich gehe, über
seine Sinne befriedigen will,
möchte sich nicht dem Risiko
aussetzen, sich selbst zu ver-
lieren, etwas zu tun, was er
nicht kennt, oder dort
entlangzugehen, wo er unbe-
kannt ist, einzig geführt von
Gott, den er nicht sieht, den er
nicht begreift, außer in einem
sehr entfernten Glauben, der
hierfür keine Kraft in ihm hat.
Die Mystiker haben diese
Gegenstände, die ihrer Art
nach verborgen sind, sehr
weit entfaltet. Deshalb über-
nehme ich weder ihren Weg
noch ihren Stil, sondern ich
werde ganz einfach und wie
en passant, wie es mir der
Geist Gottes eingeben wird,
über die Theorie und die Pra-
xis dieses Lebens von absolu-
ter Wichtigkeit für den wahr-
haft spirituellen Menschen
sprechen.
Wenn wir hierüber sprechen,
müssen wir unsere Definition
kennen. Loslassen ist also:
sich selbst ganz und gar Gott
überlassen, ohne eine Ein-
schränkung auf die praktische
Anwendung oder die Zeit. In
der Kraft und Wahrheit des
Loslassens bewirkt, will, ord-
net, erleidet oder empfängt
das Geschöpf nichts für sich
oder seine eigene Zufrieden-
heit als solche, sondern einzig
für das Behagen Gottes, mit
unendlicher Reinheit und Ein-
fachheit. Zwar mag die Ent-
wicklung der entsprechenden
Umstände hier mehr langwei-
lig als nützlich scheinen. Doch
so oft sich die Entwicklung in
den wahrhaften Gelegenhei-
ten und einigen Gelegenheiten
der echten Hingabe an Gott,
im Verlieren und im völligen
Loslassen seiner selbst für
seine unendliche Liebe zeigt
und zeigen wird –, so ist es
gerade immer dies, was man
tun muss, und ist es immer
dort, wohin man gelangen
muss.
Dass die Vorzüglichkeit eines
solchen Lebens so unbekannt
ist, kommt daher, dass der
Mensch Gott nur mit seinem
Erkenntnisvermögen sucht
und begreifen will, und fast
nichts davon begreift, was
sein Wille für ihn in dieser
Angelegenheit ist. Ebenso be-
greift er nicht, ob seine Sehn-
sucht dem entspricht, was er
sieht. Das heißt, dass seine
ganze Heiligkeit in der starken
Erhebung und in dem Glanz
seines von Gott erleuchteten
Verstandes bestehen müsste,
um ihn zu erkennen und zu
genießen. Daraus folgt als Er-
gebnis, dass er seinen Willen
damit vereinigt. Der Wille
folgt dem Erkenntnisvermö-
gen pflichtgemäß, und beide
sind mehr oder weniger ange-
zogen und erleuchtet durch
Gott, ihn zu erkennen und ihn
zu lieben. Aber angenommen,
dass er in seinen Vermögen
überhaupt keine vorherige Be-
rührung und nicht die minde-
ste eingegossene oder ange-
nommene Übung gehabt hät-
te, verbleibt der Mensch dort,
auf der Erde, in der Suche
nach Tröstung und Zufrie-
denheit durch seine Sinne und
durch die Geschöpfe, soviel
wie er kann und darf. Sehr oft
geht er darüber hinaus bis zur
unerlaubten Lust an der Sün-
de. Diese Fehler des Wollens
vergehen, wenn man das
gegenwärtige Wohlbefinden
loslässt für die Liebe und das
Wohlgefallen an Gott.
Sicher ist es auch wahr, dass
man in diesen Vermögen von
Gott erhoben sein muss, nach
der Ordnung, die Seine Maje-
stät dem Menschen dafür be-
reithält, ihn so viel zu er-
Der Rabe des Elija Supplement Der Stachel von Jean de St. Samson
25
kennen und zu lieben. In der
Tat wird der gewöhnliche
Glaube auf einfacher Stufe
den Menschen gewöhnlich
niemals die ausreichende
Kraft geben, und zwar aus
endlosen Gründen. Jedoch
wirkt der Heilige Geist
manchmal auf außerordentli-
che Weise in einigen Men-
schen Wunderbares, wie es ih-
rem natürlichen Gut ent-
spricht. Unter ihnen gibt es
die der Natur nach Tugend-
haften und andere, die der
Natur nach einer Todsünde
zugeneigt und in ihr gefangen
sind. Aber sie sind alle gleich-
ermaßen ausgezeichnet durch
ihre Hochachtung für Gott
und die Überzeugung, dass sie
für ihn sterben würden, wenn
es sein müsste – Motive, die
nur aus einem natürlichen
Gut kommen können. (Da-
von haben vielleicht die be-
sten Mystiker geschrieben,
und ich auch.) Das findet sich
öfter bei den besten und
großherzigsten Kriegsmän-
nern; gleichwohl ist es sehr
glaubhaft, oder mehr noch, ist
es wahr, dass man glauben
sollte, dass diejenigen, die
überhaupt nicht von Sünde
befleckt sind, dadurch wahr-
haft von Gott und seiner Gna-
de ausgezeichnet sind, wäh-
rend die anderen ihr natürli-
ches Gut benutzen, um den
Faden ihrer Laster noch wei-
ter zu verlängern, und um un-
ter dieser Schutzdecke umso
sicherer zu sündigen.
Aber es scheint mir, dass ich
von meinem Vorhaben abge-
wichen bin, das das Leben des
Loslassens ist – ein Leben,
von dem niemand Gutes re-
den möchte. Obwohl jeder es
im Leben unseres gesegneten
Heilands mit großer Tapfer-
keit geübt sieht, will auf jeden
Fall niemand sein Vorbild auf
seine eigenen Kosten nach-
ahmen, wenn es nicht gerade
um eine Kleinigkeit geht, oder
um sehr wenig und für sehr
kurze Zeit, aber niemals für
das Gute und für immer. Ich
sage das selbst über die Men-
schen, die Gott erkannt und
geliebt haben aufgrund seiner
sehr starken Anziehung und
Wirkung in ihnen. Solange
diese Aktion andauert, ver-
sprechen sie Gott wunder was,
aber sobald sie ihn vermissen,
haben viele von ihnen nicht
mehr die Seele, das Herz, den
Mut, um Seiner Majestät zu
folgen, beladen mit einem
kleinen Zipfel seines Kreuzes,
um mit ihm zu leiden und zu
sterben, weder in dem Kreuz
des Geistes noch in dem Kreuz
des Körpers. Deshalb be-
schwert sich Seine Majestät zu
Recht über die Menschen, die
nur an seinem Tisch seine
Freunde sein wollen (Si 6, 10),
ihn aber der Barmherzigkeit
seiner grausamen Feinde
überlassen, damit er unter ih-
ren ungerechten, grausamen
und todbringenden Gewaltta-
ten leidet und stirbt. Unter
ihnen lässt sich kaum jemand
finden, der von besserer und
stärkerer Art ist, um Seiner
Majestät in lebendiger Nach-
folge in dem Blutopfer seines
eigenen Lebens zu folgen, we-
der in den Einzelheiten wie
auch insgesamt genommen.
Seine Majestät hat sein einzi-
ges Wohlgefallen an ihrer Lie-
be und an ihrer Kraft, wenn er
sieht, wie sie einzig darum
bemüht sind sein Beispiel
nach-zuahmen, ihm zu folgen
und ihm ähnlich zu werden in
ihrem Leben des völligen
Sich-Überlassens, indem sie
nichts für sich selbst wollen
außer Verachtung und Ver-
wirrung, indem sie aber für
Gott alles Gute wollen, Preis
und Ehre, ebensosehr von sich
selbst ganz und gar wie auch
von allen Geschöpfen. Das ist
das Leben, das die Mystiker
geführt haben nach einigen
besonderen Zuwendungen des
Willens, der begierig ist nach
der brennenden Sehnsucht
nach Gott und seiner Liebe,
die den Willen entflammen
und ihn beglücken über alles
verstandesmäßige Erkennen
hinaus. Diese Zuwendungen
und diese Gemütsbewegungen
aber sind die Entäußerung
und die Entblößung, die
Übereinstimmung (mit dem
Willen Gottes) und derglei-
chen mehr, was diesem not-
wendigerweise folgt. Diese
Zuwendungen haben die My-
stiker in allen Einzelheiten
beschrieben.
Nun ist es wahr, dass derjeni-
ge, den man Fortschritte ma-
chen sieht in dem Leben der
Liebe, fast sein ganzes Han-
deln einrichtet und immer
einrichten wird entsprechend
den verschiedenen Gelegen-
heiten, die sich ihm draußen
anbieten, sowohl von Seiten
Gottes wie auch durch die Hil-
fe der Menschen, die ihm
mehr oder weniger oft ausrei-
chende Mittel für diese Ange-
legenheit verschaffen. Indem
er sie mit reinem Herzen an-
nimmt, lässt er sie so ihre vol-
le und ungeteilte Wirkung
entfalten gemäß allem, was er
ist. Wenn ein solcher Mensch
wahre Fortschritte macht,
dann weiß er wohl auch war-
um und wie. Aber um den
großen Umweg dieser ganzen
Praxis in einigen wichtigen
Begriffen zusammenzufassen,
muss man wissen, dass ein
Mensch überhaupt keine
Fortschritte machen wird,
wenn er nicht irgendeine Un-
terscheidungsgabe, irgendeine
Erleuchtung, irgendeine Er-
kenntnis hat, was die Wege
angeht, die er hinterher von
Gott gewiesen bekommt. Die-
sem Menschen kann niemand
Der Rabe des Elija Supplement Der Stachel von Jean de St. Samson
26
durch Worte oder Unterwei-
sungen von außen eine ausrei-
chende Erleuchtung für die
wahre Unterscheidungsgabe
geben, selbst wenn er sich
sehr bemüht. Und zwar des-
halb, weil die Unterschei-
dungsgabe eine Folge der
Übungen ist, seien sie einge-
gossen oder angenommen,
deren Ergebnis es ist, im Ver-
stand die Sinne des Menschen
zu ändern. Und ebenso ist sie
eine Folge des Bemühens, die-
se Menschen ausreichend
unterrichten und erleuchten
zu wollen. Da ist nur wenig zu
machen, weil dieser Weg eini-
ge enge oder schlechte Weg-
strecken enthält, um die man
sie sorgfältig herumführen
muss. Die Mystiker behandeln
das ausführlich in ihren
Schriften, die ihr zu eurem
Nutzen oft lesen sollt – das ist
aber hier nicht unser Thema.
Aber dennoch muss man dar-
über wissen, dass man sein
Wohl nach der Ordnung Got-
tes wählen kann und dass die
Dinge, die man loslässt, nur
klein sind und dass es nur
ganz wenige sind. Es ist aber
immer sehr zu loben, wenn
das Loslassen aus dem alleini-
gen Motiv der reinen Liebe
geschieht. Das wahre Leben
des Loslassens in totaler
Übereinstimmung und
Gleichförmigkeit findet jedoch
erst statt, wenn Gott oder die
Menschen oder Gott und die
Menschen gemeinsam von
uns verlangen, in eine Rich-
tung zu gehen und zu leben,
die uns selbst ganz entgegen-
gesetzt ist – und zwar ohne
auf den Zeitpunkt, den Ort
oder die Personen zu achten.
Aber wie wir uns in völliger
Freiheit um unser sehr großes
Wohl kümmern dürfen, ist es
uns immer möglich, Besseres
und sehr Nützliches zu sehen,
den Gesprächen mit den Men-
schen zu entfliehen und die
völlige Zurückgezogenheit des
Körpers und des Geistes zu
wählen; dabei bleibt die Un-
terscheidung ausgenommen,
um alle Eigentümlichkeiten zu
vermeiden. Wenn wir uns das
Wohlsein für einen Moment
entziehen oder den Entzug
dem einen oder anderen unse-
rer Sinne auferlegen, wird das
besser Abtötung als Loslassen
genannt. Denn die Abtötung
entfernt aus uns die Wirkung
und den Gebrauch unserer
vollen Freiheit, während das
Loslassen die bleibenden Din-
ge in uns hineinbringt und
solche Dinge, die uns von gro-
ßer Dauer und Widersprüch-
lichkeit sind. Ihnen gegenüber
haben wir, wie es uns scheint,
überhaupt keine Freiheit uns
von ihnen freizumachen oder
etwas anderes zu tun als das,
was sich zu erdulden anbietet.
Und wir wissen nicht, dass wir
sehr frei sind diese Duldung
zu wollen durch einen positi-
ven Akt der Wahl, oder besser
gesagt, durch unsere liebende
Sehnsucht und durch unsere
liebende Duldung. Wenn wir
das Kreuz auf uns nehmen,
das dem Geist wie dem Körper
schwer, äußerst schmerzhaft
und beschwerlich wird, und
wenn es für eine lange Zeit ist,
dann geraten wir von der Ver-
fassung des Loslassens zu der
Verfassung der Hingabe,
wenn wir in dieser Lage im-
mer so stark und großmütig
sind, wie ich es annehme, dass
man es sein muss.
Damit sieht man ein wenig
davon, was die Abtötung, das
Loslassen und die Hingabe
sind. In ihrer Vollendung sind
sie sehr sanft und einfach;
aber am Anfang sind sie
schwer, in der Mitte sind sie
leicht, ganz nach dem An-
spruch, den der wahrhaft spi-
rituelle Mensch aufgrund ih-
rer wahren Stellung für die
vollendete Liebe an sie stellt.
Denn es läuft für ihn tat-
sächlich darauf hinaus, dass
er in völliger Übereinstim-
mung mit dem Willen Gottes
handelt, wenn er nicht gänz-
lich zwischen seinen Vermö-
gen schwebt, ohne große An-
strengung der Sinne, aber im
tiefsten Streben des Herzens
und im tiefsten und innersten
Streben seines Geistes. Wenn
er gänzlich zwischen seinen
Vermögen schwebt, so dass er
in seinen Entbehrungen nicht
tätig sein kann, wird er in der
ewigen Hingabe die Qualen
seines schmachtenden Stre-
bens des Geistes mit Freude
und Wonne aushalten, wenn
es nötig ist. Darin besteht die
besonders geläuterte und be-
sonders ausgezeichnete
Heiligkeit bei den starken und
großmütigen Seelen, die auf
diese Weise Gott vor allem das
Wirken und die Erleuchtung
durch seine Mitwirkung und
seine sachten Erleuchtungen
gewähren. Und es kommt von
der reinen und wesentlichen
Liebe, dass diese unaufhörli-
che Übung zu der Seele passt,
die wahrhaft treu ist bis zu
diesem Punkt.
Man braucht darüber nicht zu
einem Menschen zu sprechen,
der einzig den Geist eines na-
türlichen Gutes hat und der
nur in den Sinnen verharrt
und ihnen gemäß tätig ist.
Tat-sächlich wird er niemals
etwas besseres sein als seine
guten Werke, und er wird sich
niemals gebührend selbst los-
lassen und so wie es nötig ist,
wenn er sich unvermögend
sieht und ohne die Fähigkeit,
es zu tun. Deshalb ist das ak-
tive Leben, das mehr auf der
Ebene der Sinne als im mittle-
ren, d. h. in dem von den Sin-
nen getrennten vernünftigen
Teil der Seele ist, ein außeror-
Der Rabe des Elija Supplement Der Stachel von Jean de St. Samson
27
dentlicher Genuss für solche
Menschen, wegen der großen
Ehren, die sie dort zu finden
hoffen und glauben. Wenn sie
auch immer nur neue An-
strengungen in diesem Leben
unternehmen, wo sie vieles er-
leiden und erdulden, und dar-
in selbst ganz erfüllt sind von
ihren eigenen Wegen, ihren
Begierden und ihrem Trach-
ten, erfüllt von ihrem Besitz,
der alles ausmacht, was sie
sind, in totalem Nichtwissen
von sich selbst und von dem
wahren Gut in ihnen selbst.
Alle diese Menschen wollen
sich niemals loslassen, auch
nicht ein klein wenig. Wenn
sie manchmal dazu überredet
werden sich loszulassen, tun
sie es nur in einer extremen
Furcht, ihre Empfindungen
für Gott und ihren Geschmack
für ihn zu verlieren. Deshalb
lassen sie sich nicht los, und
deshalb geben sie sich von
sich selbst wirklich nur Klein-
igkeiten und das wenigste,
was sie können. Denn sie
können nicht glauben, dass es
für den Menschen die wahr-
haftige Heiligkeit ist, sich
selbst loszulassen, gleichgültig
gegen alles und ergeben zu
sein. Diese Irrtümer,
Dunkelheiten und Unglück
entstehen daraus, dass der
Mensch die Gabe und den Ge-
schmack Gottes als aus sich
selbst kommend ansieht, wäh-
rend sie doch von Gott gege-
ben sind, um ihn für die
Heiligkeit bereit zu machen.
Das ist eine sehr große Blind-
heit und ein sehr großes Un-
glück, denn dieses ist nur das
Mittel, um die Übung der
Heiligkeit zu erwerben, und
die Übung ist das Ziel, in dem
die wahrhaftigen Akte das
wahre Leben des Loslassens
sind und bewirken. Denn, um
es genau zu nehmen, was ist
dieses Leben anderes als die
Akte aller heiligen Übungen,
die nicht so viel an und für
sich selbst als darüber hinaus
geübt werden, während man
völlig verloren ist in Gott, des-
sen Majestät man in allem
immer wahrhaftig zufrieden-
stellen möchte, und nicht sich
selbst? Diese Wahrheit in ei-
nem solchen Leben löst die
wahren Freunde Gottes auf
diese Weise von sich selbst ab
und macht sie vollkommen an
Gott fest, damit sie aus und
von ihm und in ihm leben mit
einem völligen Loslassen von
allem, was sie sind, über die
süßesten Tröstungen seiner
zärtlichen Liebe hinaus, denn
das, was sie am meisten fürch-
ten, ist es, diese Tröstungen
selbst zu bekommen, wenn
man es sagen darf. Darüber-
hinaus wissen sie genau, dass
darin keinerlei dauerhaftes
Gut besteht, und dass das
wahre Gut in einer starken
Übung besteht, die teilweise
eingegossen und teilweise er-
worben ist, und auf alle Arten
von Akten aller Übungen
unablässig erstrebt und prak-
tiziert wird, die ein Leben des
völligen und vollständigen
Loslassens ausmachen, in ei-
ner völligen und wahren Ab-
sonderung von allem, was
nicht Gott ist. Dieses Wissen
und diese Kraft regen die
treue Seele immer mehr an,
sich vom Nachdenken über
sich selbst und über ihre eige-
nen Vorteile loszumachen und
zu befreien, mit Ausnahme
der Gaben Gottes; um in gro-
ßer Gleichgültigkeit zu leben
gegenüber Besitz oder Besitz-
losigkeit, dem Leben in Frie-
den oder Krieg, in der Samm-
lung oder Zerstreuung, Ver-
lust oder Gewinn, Demut oder
Neigung zum Hochmut, Akti-
on oder Kontemplation, in
innerer Ordnung oder Unord-
nung. Ja, sie lebt in großer
Gleichgültigkeit gegenüber all
diesen Ereignissen und Hand-
lungen. Sie glaubt, dass sie
immer auf sehr vollkommene
Weise von Gott viel mehr er-
hält als sie im Grund ihres
Elends verdient. Sie erweist
Gott in allem und unablässig
die Ehre für das, was er in sich
selbst ist, für das, was er in ihr
macht, und weil er erlaubt zu
ihm zu kommen mit ihrem
übergroßen inneren wie äu-
ßerlichen Unglück, Mühsal
und Beschwernissen, die ver-
ursacht werden durch die
Teufel wie durch die Men-
schen, sogar durch die besten
und heiligsten, die sich sehr
oft gegen sie erheben als sei
sie der eigentliche Feind Got-
tes und des ganzen Men-
schengeschlechts.
So aber, wie wir es beschrie-
ben haben, überlässt sich eine
Seele gemäß der Ordnung,
dem Wissen und der Erfah-
rung mit sehr großem Nutzen
dieser sehr mystischen
Heiligkeit in dem Maß, wie sie
Fortschritte macht in dieser
Praxis. So kann man zu Recht
sagen, dass solche Personen
in der mystischen Heiligkeit
leben, oder dass sie von ihr
leben. Von einem solchen Le-
ben wissen die Menschen, die
heilig sind nach der höchsten
Wirkung des aktiven Lebens,
oft überhaupt nichts, aber sie
missbilligen und verfolgen
diejenigen, die es führen, als
Müßiggänger und Feinde der
wahren Heiligkeit. Es ist diese
Heiligkeit, die die Menschen
des rein aktiven Lebens in Be-
tracht ziehen und nach der sie
vielleicht begierig streben,
wenn sie gut sind. Aber ande-
rerseits denken diejenigen, die
ein Leben des völligen Loslas-
sens führen, ebensowenig für
sich selbst daran, dass es je-
mals sein könnte, während ihr
Leben in Gott geborgen ist, in
dem sie völlig untätig ruhen.
Und wenn er ihnen erscheint,
Der Rabe des Elija Supplement Der Stachel von Jean de St. Samson
28
werden sie selbst mit ihm in
Herrlichkeit erscheinen. Das
wird dann sein, wenn der
Winter dieses Lebens endgül-
tig vorbei ist und wenn der
blühende Frühling mit allen
duftenden Schönheiten ge-
kommen sein wird, wenn man
die Reben schneidet und
wenn man auf Erden die
Stimme der Turteltaube hört.
Danach werden alle notwen-
digen Folgen eintreten, bis in
die Unendlichkeit und wie auf
einmal, um ein solches Leben
und einen solchen Tod mit
unendlichem Glück und Herr-
lichkeit zu erfüllen, einen sol-
chen Tod für ein solches Le-
ben. Übrigens ist ein solches
Leben über alle Wunder erha-
ben, die die Heiligen gewirkt
haben und wirken, was immer
ihr Platz bei Gott ist. Soweit es
so wunderbar ist in so weni-
gen Menschen, die es treu
üben, gehen sie darin auf, und
es scheint zuweilen, dass es
ganz und gar ist, was man
manchmal nicht glauben
muss: Es scheint so wegen der
großen Nacktheit, der Entbeh-
rung und der Schwäche, unter
denen man gebückt geht in
völliger Unwissenheit von sich
selbst und von Gott, in der
völligen Auflösung der niedri-
geren Kräfte. Dadurch weiß
man nicht, ob man tot ist oder
lebt, ob man verliert oder ge-
winnt, ob man nachgibt oder
Widerstand leistet. Nun, hier
gibt die sterbende Seele Gott
ihr Leben zurück. Es scheint
ihr, dass sie mehr aus
Schmerz und Angst stirbt und
ihr Leben aushaucht als aus
Liebe, doch empfindet sie den
Schmerz und die Liebesangst
in den Armen Gottes, wo sie
für immer bleibt. Sie ist ganz
und gar nachgiebig und hat
sich losgelassen, ja sie fügt
sich hingebungsvoll in alles,
was es auch sei, um ihm zu ge-
fallen.
Die Mystiker entwickeln diese
ganze Theorie im Hinblick auf
den Weg und die Mittel, das
heißt nach einer zweckmäßi-
gen Ordnung, um den Gipfel
der höchsten Vollkommenheit
zu erklimmen. Derjenige ist
ganz und gar vollkommen und
vollendet, wenn er einfach ge-
blieben ist und stark in der
Übung der Passivität, sei es
um auf ewig in Kontemplation
zu sein in einem sehr einfa-
chen und sehr schmucklosen
Festkleben an Gott, sei es um
sich an Gott festzumachen in
der Einfachheit und Schmuck-
losigkeit seiner Majestät
selbst, geschaffen im gering-
sten Stand; sei es auch um
gänzlich verlassen und ver-
sunken zu sein in diesem
unendlichen großen, wilden
und unergründlichen Meer, in
dem man völlig versunken,
einfach und ewig ist wie Seine
Majestät, oberhalb von jeder
Unterscheidung und jedem
Unterschied ist in dem Schau-
en und Erkennen des ewigen
Anblicks. Aber davon soll jetzt
nicht die Rede sein; wir haben
es nur en passant und bei die-
ser Gelegenheit gesagt.
Wenn wir also den Faden un-
serer Abhandlung wieder auf-
nehmen und fortsetzen, so sa-
gen wir, dass es niemals ein
Sich-selbst-Loslassen bei ei-
nem Subjekt geben wird, das
von Gott mit einer zärtlichen
Liebe berührt werden wird.
Ebenso sagen wir: wer nicht
Gott selbst mehr als seine Ga-
ben und seine Werke liebt,
wird niemals dazu gelangen,
das Einströmen der göttlichen
sehr starken und sehr ausge-
zeichneten Übungen zu erhal-
ten: sie sind es, die wahrhaft
das Loslassen bewirken und
die ihm eigen sind. Die Grün-
de dafür sind ohne Ende, ob-
gleich mehr oder weniger spi-
rituell bei diesen Personen in
dem ganzen Leben nach ihrer
ganzen Natur, in dem sie nie-
mals etwas verlieren wollen;
und wenn sie sich verlieren an
einer Stelle oder in einer Sa-
che, dann ist es um für sich
selbst mehr Vorteile zu ge-
winnen. Ebenso kennen diese
Menschen nur den Ge-
schmack und das Licht, und
sie wissen überhaupt niemals
etwas von dem wahren Lei-
den, von dem sie in dem Maße
entfernt sind wie sie unwis-
send und selbstverliebt sind.
Darauf muss man bemerken,
dass die ganze Kraft Gottes in
dem sich selbst loslassenden
Menschen in der Zeit der
Trockenheit in seinen oberen
Seelenvermögen wohnt. Denn
während dieser Zeit verspürt
und erleidet nur der untere
Teil die heftigen Stürme und
die Angriffe der Teufel und
der Natur, sein oberer Teil
bleibt stark und kräftig, um an
Gott festzukleben, er bleibt
völlig frei von diesen Gewal-
ten, und das geschieht trotz
der Heftigkeit seines starken
Schmerzes; die Seele ist dann
gleichermaßen weit entfernt
davon zu sündigen wie sündi-
gen zu wollen. Und selbst
wenn die Seele nicht bei ei-
nem so hohen Grad von Kon-
templation und einer so star-
ken Vereinigung und Umfor-
mung ihrer selbst in Gott an-
gekommen sein sollte, ist es
dasselbe: sie gelangt dort auch
hin wegen der liebenden Be-
mühungen, die die Seele in
der ganzen Zeit ihrer Ruhe
gemacht hat, um Gott, ihrem
vollendeten Bräutigam, in ih-
rer brennenden Liebe unab-
lässig alles zu geben, was ihr
zueigen ist.
Schließlich, so wie die Seele
sich beunruhigt und sich sorgt
das größte und das kleinste in
Der Rabe des Elija Supplement Der Stachel von Jean de St. Samson
29
seinen Werken zu suchen, be-
sitzt sie selbst darin weder die
Unterscheidungsgabe noch
die Erleuchtung. Ja, wirklich,
sie ist ohne Erleuchtung und
ohne wahre Unterscheidungs-
gabe – wie ich schon gesagt
habe –, denn sie weiß bei die-
ser Gelegenheit nicht, worin
ihr wahres Wohl besteht. Das
ist: Achtsam zu bleiben, um
sich allein in ihren Bräutigam
zu versenken, wenn es ihr
möglich ist – und wenn nicht,
mit Standfestigkeit und Ge-
duld den heftigen Schmerz
über sein Zurückziehen aus-
zuhalten, in der Erwartung
seiner ersehnten Rückkehr,
wenn es ihm gefallen wird das
zu tun. Aber niemals darf man
seinen Trost in den geschaffe-
nen Dingen suchen, was auch
immer geschehe. Wenn man
sich dem Äußeren zuwendet,
um sich dort auf irgendeine
Weise zu zerstreuen, darf es
nur dann sein, wenn es abso-
lut unvermeidlich ist. Schließ-
lich muss man auch lieber in
eine immerwährende Agonie
fallen, wenn Gott es so haben
will, als sich gegenüber seiner
göttlichen Majestät auch nur
im geringsten Maße untreu zu
zeigen.
Wie wir gesagt haben, ist das
wahre hingebungsvolle Sich-
Fügen nur für einige Zeit hart,
am Anfang und für die jungen
Anfänger; es ist schließlich
leicht und am Ende sehr
unangenehm. Das alles mutet
der treuen Seele ja überhaupt
immer zu, dass sie nach ihrem
ganzen Vermögen ihr Bestes
tut. Wenn sie dies tut und sich
von Gott führen lässt, macht
er sie zu einem sehr klaren
und glänzenden Spiegel, der
seine Größe, seine Einheit,
seine Vielfalt und all seine
göttlichen Vollkommenheiten
auf das beste wiederspiegelt,
was sie zur größten Freude
Gottes und zugleich auch zu
ihrer eigenen Freude völlig
genießt. Überhaupt kann
nichts Störendes, nichts Uner-
freuliches und nichts Be-
fremdliches diese Seelen er-
reichen, zumal da das Leben
aus Gott, aus dem und für den
sie leben, ihnen die Fülle des
Guten, der Ruhe und des
Friedens ist, über alle geschaf-
fenen Ereignisse hinaus.
Diese ganze Entwicklung
macht hinreichend deutlich,
wie selten solche Menschen
sind, wenig bekannt, geschätzt
und zum Vorbild genommen
– selbst in allem, was in den
Augen der Menschen sehr
vorzüglich und hervorragend
an Heiligkeit ist, folgen doch
die meisten Menschen nur ih-
rem Körper und seiner Heilig-
keit, selbst wenn es unter ih-
nen viele bessere im Hinblick
auf den Geist gibt dank der
ununterbrochenen Berührun-
gen, die in ihnen geschehen:
ich sage, dass alle den An-
schein für das Wahre und den
Schatten für die Wahrheit hal-
ten. Auch die wahren Freunde
Gottes sind bei Ihresgleichen
nicht bekannt, denn ihre Ei-
genart ist es, soweit wie mög-
lich verborgen zu sein, gemäß
dem Anspruch des Lebens im
wahrhaften Loslassen seiner
selbst. Wer verstehen kann,
wird verstehen; wer nicht, der
lässt die Dinge so wie sie sind,
wie alles, was über ähnliche
Themen geschrieben worden
ist.
Was wir darüber gesagt ha-
ben, dass die Seele, die sich
selbst losgelassen hat, in ih-
rem Schwebezustand alle Akte
ihrer Übung macht, muss man
so verstehen, dass das voll-
kommen richtig ist für alles,
was sie darüberhinaus voll-
bringen möchte, was immer es
sei und so lange wie man dar-
an denken kann. Denn sie
verbleibt in ihrem Inneren in
Jubel, Freude und Zufrieden-
heit, sehr erhoben durch Gott
in ihm selbst, von ihm in sei-
nen tiefsten Grund und in all
seine Vermögen gezogen, und
in ausgezeichneter Weise und
für lange Zeit wieder einge-
setzt in die Übung seiner
„passiven Kraft“, wodurch sie
in allen Ereignissen edel und
ausgezeichnet handelt, gemäß
der sehr reinen und sehr we-
sentlichen Liebe. Dadurch
hängt sie in großer Hingabe,
einfach, ausgezeichnet und in
Frieden seiner unendlichen
Liebe an, und sie sehnt sich
danach, in dieser Fülle im
ewigen Paradies zu sein, im
völligen Loslassen ihres Le-
bens und ihres Todes, wenn
Seine Majestät es so haben
will. Auch erfreut eine solche
Seele nichts anderes als Gott
unablässig zu erfreuen in al-
lem, was sie ist, auf ihre eige-
nen Kosten für die Ewigkeit.
Sie gibt die kostbare Heilig-
keit Gottes in all ihren sehr
kostbaren Gaben an alle seine
Freunde weiter, ohne sich
sonderlich um sich selbst zu
sorgen, da sie meint, immer
viel mehr zu haben als sie
verdient, ohne damit zu rech-
nen, dass sie unablässig die
Heiligkeit Gottes in all seinen
Freunden mehr liebt als in
sich selbst und für sie. Da es
so ist, ist sie erfüllt von der
Heiligkeit aller in der Wahr-
heit der reinen, innigen, star-
ken, hingebungsvollen, einfa-
chen und wesentlichen, näm-
lich bei vielen Mystikern
„überwesentlich“ genannten
Liebe, nicht zurückstrahlend
und oft nicht zurückgestrahlt,
und sie lebt auf diese Weise,
indem sie sich an Gott fest-
macht in dem Loslassen ihrer
selbst und dem vollkomme-
nen hingebungsvollen Sich-
Fügen; darin und dafür lebt
Der Rabe des Elija Supplement Der Stachel von Jean de St. Samson
30
sie über alles Wissen, alle
Kenntnis, alle Überlegung und
alle Unterscheidung hinaus,
und sie ist immer vollkommen
und gleichermaßen zufrieden
mit allem, was geschieht.
Ferner ist es gut zu wissen,
dass die Natur selbst bei den
sehr Fortgeschrittenen dazu
neigt, sich selbst noch einmal
zu suchen und sich an sich
selbst zu erfreuen, so dass,
wenn man ihr eine Sache
wegnimmt, sie sofort ihre Zu-
flucht zu einer anderen
nimmt, um dort zu ruhen und
sich zu erfreuen. Wenn man
ihr ein sinnlich wahrnehmba-
res Objekt wegnimmt, nimmt
sie sofort Zuflucht zu einem
spirituellen. Wenn man ihr
die Objekte des Geistes
nimmt, wird sie zu Gott selbst
ihre Zuflucht nehmen, um bei
ihm zu ruhen, das heißt als
gegenwärtiger Akt, der den
gegenwärtigen Schmerz über
die Sache betrifft, die ihr ge-
nommen wurde. Man muss
das sorgfältig mit solchen
mehr oder weniger groben
oder mehr oder weniger fei-
nen Überlegungen bedenken,
um die spirituellen Menschen,
die zu uns gehören, auf keinen
Fall stillstehen oder an sich
selbst festhalten zu lassen.
Man muss ihnen vorschrei-
ben, dass sie sich von all die-
sem und von sich selbst zu-
rückziehen, um sich mit Gott
zu vereinen und sich an ihm
festzumachen in der Zeit des
Verborgenseins und des Zu-
rückziehens. Dieses machen
die Menschen in sich selbst,
beziehungsweise Gott macht
es mit seinen Gaben und sei-
nem sachten Wirken in ihnen,
bevor er sie zur gänzlichen
Läuterung und Vervollkomm-
nung bringt. Deshalb ist es
während dieser ganzen Zeit
gut, dass sie diese Art von
Schmerz weder übersteigern
noch ihm Widerstand
entgegensetzen, wenn es nicht
in der Tiefe des einfachen
Wunsches ist. Aber sie dürfen
sich nicht selbst ein Objekt
der Zuneigung zu Herzen
nehmen, um es auf Gott hin
auszudehnen und das Wider-
streben, den Widerspruch und
die Regungen über das, was
ihnen genommen wurde,
überhaupt nicht mehr zu ver-
spüren. Und sie dürfen dabei
auch nicht mehr bei Gott
selbst ihre Zuflucht suchen,
denn das wäre auch von einer
subtilen Sinnlichkeit, selbst
wenn die Sache und die Akti-
on gut, vernünftig und sinn-
voll erscheinen. Dieser Punkt
hat keine geringen Folgen.
Man muss folgende Wahrheit
kennen: alle, für die die
Übung nur in der alleinigen
Klarheit besteht, bleiben in
sich selbst und in ihrer natür-
lichen Liebe. Deshalb kom-
men sie niemals über sich
selbst hinaus und vermögen
auch nicht über sich selbst
hinauszukommen, um Gott
durch Leiden und Sterben in
bloßer Liebe zu folgen. Selbst
wenn sie große Dinge zu tun
scheinen, gelangen sie in ih-
ren Werken kaum einmal über
eine Aktion hinaus, die für die
Natur angenehm und akzep-
tabel ist, ohne dass es ihnen
möglich ist, jemals weiter vor-
anzukommen. Und das umso
mehr, da sie den Geist Gottes
des öfteren nach ihrem eige-
nen Geschmack und ihren ei-
genen Vorlieben umgewandelt
haben; und indem sie über
sich selbst und nicht in Gott
nachsinnen, sind sie sinnlich
geblieben in ihrem Empfin-
dungsvermögen und dem Ge-
schmack ihres eigenen natür-
lichen Geistes, und sehr oft
dem Geist des Teufels, der
sich mit ihrem Geist vereinigt.
Daraus folgt, dass sie für im-
mer unfähig sind zur Wen-
dung des Geistes nach innen,
tief, einfach und bloß, um sich
selbst hingebungsvoll zu fü-
gen, wie ich es gesagt habe.
Doch diejenigen, deren Übung
nicht allein in der Klarheit,
sondern zugleich in der Lie-
besglut besteht, die unablässig
über Gott und nicht über sich
selbst nachsinnen, sind allein
frei, um auf vollkommene
Weise Gott zu folgen auf sei-
nen einsamen, trockenen und
steinigen Wegen des Loslas-
sens von Leib, Seele und
Geist, auf jede nur denkbare
Weise, nämlich auf ihre eige-
nen Kosten, selbst bis zur
gänzlichen Aufzehrung des
tiefsten Kerns ihrer Seele und
ihres Lebens. Deshalb streben
sie unablässig in die Höhe
durch die einfache und hinge-
bende Liebe, in der sie bren-
nen und sich verzehren, und
sie verbleiben unablässig
durch ihre sehr einfache
Übung in der Ewigkeit, wo es
unmöglich ist, sie jemals zu
erfassen. Wenn solche Men-
schen in irgendeine Unbußfer-
tigkeit fallen, erheben sie sich
alsbald wieder daraus, indem
sie mit neuer Liebesglut und
Aktivität des Geistes in Gott
versinken, von dem sie ge-
trennt waren.
Das ist der Unterschied zwi-
schen den einen und den an-
deren, durch den man sehr
leicht und vollkommen den
Anschein von dem Wahren
unterscheiden kann. Denn
darin unterscheidet sich die
heilige Liebe von der Eigen-
liebe: die beiden sind sich
ähnlich wie zwei Haare des
Kopfes und sie unterscheiden
sich doch völlig durch die Zeit
und die Wirkungen. Infolge-
dessen muss man sagen, dass
die sinnlichen Menschen, von
denen wir oben gesprochen
Der Rabe des Elija Supplement Der Stachel von Jean de St. Samson
31
haben, die irgendetwas der
wahren Barmherzigkeit Ent-
sprechendes zu tun scheinen,
sich ein Leben der Phantas-
men erdacht und eingerichtet
haben, das zwar vernünftig ist
mit seinen Vorschriften, aber
doch mehr dazu dient, zu
handeln als zu büßen und sich
selbst loszulassen. Seine Be-
grenzungen und Grenzen sind
die einer rein natürlichen
Vernunft, innerhalb deren
man nicht über sich hinaus-
kommen kann und können
wird, selbst nicht mit den Be-
griffen und in den Grenzen,
die sie sich dafür vorgeschrie-
ben und eingerichtet haben.
Deshalb muss man sie, wenn
man sie auf die Probe stellt,
ob das von Gott oder ebenso
von den Menschen kommt,
notwendigerweise so sehen
wie sie sind, nämlich voll von
Fehlern, verdorben und völlig
sinnlich im Geist, wie man sa-
gen muss. So ist es nicht not-
wendig, den Sinn des ganzen
in seinen Einzelheiten zu ent-
wickeln: sie sind hinreichend
bekannt und verstanden unter
den umfassenden Begriffen
des sinnlichen Menschen und
der Sinnlichkeit.
Im übrigen übt sich jede wah-
re Tugend über den Verstand
ein, entweder indem sie in ihn
selbst eingeht, oder in dem
Gleichmut des Herzens und
des Geistes, wenn sie vollkom-
men erworben ist. Das ist eine
ziemlich leichte Theorie, aber
dennoch ist sie nicht allge-
mein. In der Tat, solange man
das geringste Widerstreben
gegen die Welt im Verstand
spürt, gibt es dort überhaupt
keine Tugend; aber wenn der
Verstand sich an der Tugend
erfreut und das Herz hier
ebenso ruht wie sie, welche
Tugend es auch sei, ist sie ver-
nunftgemäß erworben.
Textgrundlage:
Jean de Saint-Samson. Oeuv-
res Completes 1. L’Éguillon,
les Flammes, les Flèches et le
Miroir de l’Amour de Dieu,
propres pour enamourer
l’Âme de Dieu en Dieu
mesme. Intro-duction et
Commentaire par Hein
Blommestijn. Rom 1992
(Vacare Deo 11).
Jean de Saint-Samson, Oeuv-
res mystiques. L’Aiguillon, les
Flammes, les Flèches et le
Miroir de l’Amour de Dieu,
propres à éprendre l’Âme de
Dieu en Dieu lui-même. Texte
établi et présenté par Hein
Blommestijn O.Carm. et Max
Huot de Longchamp. Paris
1984 (Sagesse chrétienne).
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