dietramszell und hindenburg im wandel der zeit · 2019/11/30 · im dörflichen mikrokosmos...
Post on 23-Oct-2020
8 Views
Preview:
TRANSCRIPT
-
1
30. November 2019 - Symposium:
Dietramszell und Hindenburg im Wandel der Zeit
Dietramszell, eine Gemeinde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Michael E. Holzmann
Vorbemerkung
Längst ist die Generation verschieden, die die erste Hälfte des 20. Jahrhundert bewusst mit-
erlebt hat. Auch Menschen, die die NS-Zeit und die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges aktiv
mitgestaltet haben oder sie erdulden mussten, befinden sich im hohen Alter, ihre persönlichen
Erinnerungen sind mittlerweile unscharf und verzerrt. Viele Deutsche haben diese Zeit eher in
optimistischer Stimmung und ohne Bitterkeit empfunden. Für viele begann diese Epoche mit
einem faszinierenden Rausch, die Ernüchterung kam später. Einige wollen bis heute nicht
erkennen, welche Katastrophe die Zeit des Hitlerregimes war, deren Auswirkungen bis heute zu
spüren sind. Nachwachsende Generationen sind in Wohlstand und mit anderen Wertvorstellun-
gen aufgewachsen. Ihnen stellt sich das Elend, das die Ideologie des Dritten Reichs erst ermög-
licht hatte, als etwas Unbegreifliches dar.
In dieser Zusammenschau wird es notwendig sein, damals aktiv Handelnde namentlich zu
benennen, ausdrücklich ohne daraus Vorwürfe auf jeweils die betroffenen Familien zu beziehen.
Das mag für die Nachfahren dieser Akteure schmerzhaft sein. Aber es gilt: Sippenhaft betrieben
die Nationalsozialisten, nicht die Historiker. Dennoch bietet dieser Ansatz gute Chancen für eine
sachliche Aufarbeitung. „Offenkundig ist […] der lokalgeschichtliche Ansatz besser als abs-
trakt-theoretische Forschungsdiskussionen geeignet, auch den lebensweltlichen Erfahrungs-
horizont der Zeitgenossen miteinzubeziehen, namentlich wenn die Geschehnisse an konkreten
menschlichen Schicksalen verdeutlicht werden können“, schrieb der Experte für die Ge-
schichte des 20. Jahrhunderts, Ulrich von Hehl. Dieser Befund lässt sich uneingeschränkt für
die Situation in Dietramszell in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und den aktuellen Um-
gang damit übernehmen, besonders im Hinblick auf die handelnden Personen. Im dörflichen
Mikrokosmos erkannte man schnell Gesinnungsgenossen und Widersacher, die stets aus der
vertrauten Umgebung stammten und vergleichbare Lebensbilder aufwiesen. Gegensätze zwi-
schen politischen Begleitern und Gegnern verliefen ungeordnet. Gewalt und die uneinge-
schränkte Bereitschaft dazu setzten - zumindest viele NSDAP-Anhänger ― hemmungslos
ein, verängstigten Gegner und erzeugten so öffentliche Aufmerksamkeit1.
Grundbedingungen im Königreich Bayern
Seit der Errichtung des Königreiches 1806 galt Bayern den Menschen als moderner Staat:
alle Staatsgewalt war streng nach monarchischem Prinzip in die Hand des von Gottes Gnaden
1 Hehl, Ulrich von: Nationalsozialismus und Region. Bedeutung und Probleme einer regionalen und lokalen
Erforschung des Dritten Reiches, in: ZBLG 56 (1993), S. 111–129, S. 120
-
2
regierenden Königs gelegt. Der Bayerische Landtag war keine Volksvertretung heutiger Prä-
gung, sondern ein nach Ständen gegliedertes und organisiertes Organ, das den Haushalt be-
schloss – eine durchaus wichtige Funktion mit Gestaltungsspielraum - und die Interessen des
Volkes gegenüber dem König lediglich vorbrachte. Zugleich wirkte eine zentralistische straffe
Bürokratie, die den Willen der königlichen Herrscher umsetzte. Eine konstitutionelle oder
demokratische Monarchie mit einer Volksvertretung als Souverän, wie sie im britischen Em-
pire praktiziert wurde, war das mitnichten. Zwar hatte unter dem Eindruck der Märzrevolution
von 1848 eine gemäßigte Verfassungsreform stattgefunden, die zu einer neuen Zusammenset-
zung des Landtags und veränderten legislativen Befugnissen führte. Neue, vom Parlament
beschlossene Gesetze mussten jedoch von den Ministern gegengezeichnet werden. Tatsäch-
lich hatte sich wenig geändert, nur insoweit, als nun das Parlament als „Organ der Regierung
des legitim herrschenden Königs“ galt. Die königliche Staatsmacht überließ ihre Entschei-
dungskompetenzen der Regierungsbürokratie, der Geheimkanzlei, die nach Ludwigs II. Tod
1886 an die Stelle des Kabinettssekretariats getreten war. Dort wurden – weil Prinzregent
Luitpold kaum eigene Entscheidungen zu treffen vermochte - politische Vorgänge bis zur
Unterschriftsreife vorbereitet und dem Regenten nur noch zur Zeichnung vorgelegt. Dies
führte dazu, dass die Geheimkanzlei eine starke, isolierte Position erlangte und als Nebenre-
gierung fungieren konnte, mit der sich die Minister zu arrangieren hatten. In politischen An-
gelegenheiten vertrat die Geheimkanzlei eine gegen die katholisch-patriotische Opposition
gerichtete Position, Interessen der besitzenden Bürger wurden weitgehend bewahrt2.
Wachsende öffentliche Aufgabenbereiche führten zur Notwendigkeit, die bayerische Ver-
waltung zu reformieren und auszubauen. So gab es trotz erheblicher wirtschaftlicher, indust-
rieller und sozialer Umwälzungen bis 1918 weder ein Wirtschafts- noch ein Arbeitsressort.
1904/05 wurde die bayerische Regierung reorganisiert, aus dem Außenministerium wurde ein
Verkehrsressort herausgelöst. Zum Ausgleich erhielt das Außenressort vom Innenministerium
die Abteilungen Handel und Gewerbe mit sozialer Fürsorge. Landwirtschaftliche Belange ver-
blieben beim Innenressort. Dies führte zum ewigen Widerspruch zwischen dem Anspruch der
Verfassung und der täglichen Realität und zur Lähmung des politischen Lebens 3.
Daran änderte auch das hohe Ansehen von Prinzregent Luitpold in der Bevölkerung wenig.
Er galt als körperlich wohlauf, charakterlich geradlinig, unkompliziert und gütig, aber er
konnte und wollte die Herrschaft in Anbetracht seines Alters nicht in dem erforderlichen Maß
straff ausführen. Die Dauer der Herrschaft Luitpolds war nicht abzusehen, sie nahm in Anbe-
tracht seines hohen Alters den Charakter eines Provisoriums an, eines Provisoriums, das 27
Jahre andauern sollte. Der Prinzregent zog sich von seiner originären Aufgabe als politischer
Gestalter auf repräsentative Einsätze für die gesellschaftliche Oberschicht, das hohe Beam-
tentum und den hohen Klerus zurück. Vertreter dieser Wirkungskreise hielten somit faktisch
die politische Gewalt. Parallel dazu fand – weil diese Eliten mit der Umsetzung ihrer Interes-
sen beschäftigt waren - ein wenig bemerkter Demokratisierungsprozess und eine leichte Bes-
serung der sozialen Bedingungen für die Unter- und Mittelschicht statt. Diese Bevölkerungs-
kreise waren damit beschäftigt, neue Handlungsspielräume auszunutzen, sodass sie bis zum
Ausbruch des I. Weltkriegs kein ausgeprägtes Verlangen nach Beteiligung an staatlicher Ge-
walt zeigten. Vielleicht lag in dieser Konstellation auch der Grund für die so liebevolle Be-
schreibung jener „guten, alten Zeit“. Dabei wird gerne übersehen, dass genau hier die Gründe
und das Potential für entscheidende politische wirtschaftliche und soziale Umbrüche in der
2 Bayerische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. 1800-1970. Hg. von Max Spindler (=Handbuch der Baye-
rischen Geschichte, Bd. 4). Sonderausgabe München 1978, S. 349 (= HBG); Karl Möckl: Gesellschaft und
Politik während der Ära des Prinzregenten Luitpold. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Revolution in Bayern.
In: Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen. Hg.
von K. Bosl. München Wien 1969, S. 5-36, S. 21 (= Möckl). 3 Axel Schnorbus: Wirtschaft und Gesellschaft in Bayern vor dem Ersten Weltkrieg (1890-1914). In: Bayern im
Umbruch, a.a.O., S. 97-164, S. 132f. (= Schnorbus), Möckl, S. 6-16.
-
3
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lagen. Luitpold starb hochbetagt im Alter von 91 Jahren am
12. Dezember 1912. Das markante Datum wurde als Endpunkt einer Epoche und Wendemarke
der bayerischen und deutschen Geschichte empfunden4.
Das bayerische Wahlrecht stammte aus der Frühzeit der Monarchie und war nur einmal
revidiert worden, am 4. Juni 1848. Landtagsabgeordnete wurden immer noch indirekt über
Wahlmänner in das Parlament mit einem absoluten Mehrheitswahlrecht bestellt. Mehrere Ver-
suche, per Gesetz direkte und geheime Wahlen einzuführen, scheiterten wegen des Krieges
von 1870/71, den Eigenheiten des „Märchenkönigs“ Ludwig II., am Unvermögen, eine erfor-
derliche Zweidrittelmehrheit zu erreichen, und an der staatsrechtlich problematischen Situa-
tion der Prinzregentenzeit. Nach dem Wahlgesetz von 1848 entfiel ein Parlamentssitz auf je
31.500 Einwohner. Die Einteilung der Wahlkreise war willkürlich und oblag der bayerischen
Regierung. Damit waren Manipulation und Begünstigung Tür und Tor geöffnet. Die Geset-
zesnovelle vom 21.3.1881 ermöglichte wenigstens ein geheimes Wahlverfahren und die An-
passung der Verteilungsschlüssel für die Wahlbezirke den Bevölkerungszahlen von 1875, was
jedoch den rapiden Bevölkerungszuwachs der 1880er und 1890er Jahre in den Städten nicht
berücksichtigte. Von dem Missverhältnis profitierten besonders konservative Parteien. So er-
hielt das Zentrum 1899 bei 48,2% der Stimmen 52% der Mandate, die Liberalen bei 20,4%
der Stimmen 28,5% der Sitze, die Sozialdemokraten bei 15,4% der Stimmen lediglich 7%.
Erst das Wahlgesetz vom 9.4.1906 brachte die direkte Wahl, das relative Mehrheitswahlrecht
und eine Neueinteilung der Wahlkreise bei gleichzeitiger Erhöhung der Parlamentsmandate
von 159 auf 163. Das aktive Wahlrecht stand nur Männern zu und war an das Mindestalter
von 25 Jahren, die Entrichtung einer direkten Steuer seit mindestens einem Jahr und den Be-
sitz der bayerischen Staatsangehörigkeit seit einem Jahr geknüpft. Erst am 2. November 1918
wurde das Verhältniswahlrecht eingeführt, da waren es allerdings nur noch fünf Tage bis zum
Ende der bayerischen Monarchie5.
Um die Jahrhundertwende war der Bezirk Wolfratshausen in sieben „Vorwahlbezirke“ ein-
geteilt: Beuerberg, Deining, Dietramszell, Ebenhausen, Münsing, Sauerlach und Wolfratshau-
sen. Die amtlichen Stimmzettel wurden jeweils bei der Partei oder Institution abgeholt, die
man zu wählen gedachte: Wähler des Bayerischen Zentrum, Vorgängerin der späteren Baye-
rischen Volkspartei und dann der CSU, gingen zum Pfarrer oder zum Mesner. Die Anhänger
anderer Parteien holten die Unterlagen bei ihrem Vertreter vor Ort. Die heute bekannten Wahl-
zettel, die erst im Wahllokal ausgegeben werden, waren damals unbekannt. Bei diesem Ver-
fahren waren der Einflussnahme und Kontrolle der Wähler durch örtliche Parteiführer Tür und
Tor geöffnet. Auch sonst waren damalige Wahlgewohnheiten nicht mit heute vereinbar. So
sah sich der Bürgermeister von Dietramszell, Michael Häsch, im Herbst 1913 veranlasst, beim
Bezirksamt erstmals eine Wahlurne zu beantragen6.
Der 1803 eingerichtete Verwaltungsbezirk des Landgerichts Wolfratshausen war 1862 dem
Sprengel des Verwaltungsgericht München zugeordnet worden. Zugleich wurden die Aufgaben ge-
teilt. Während die Rechtsprechung in Wolfratshausen verblieb, wurde die Gebietsverwaltung dem
neuen Bezirksamt (heute Landratsamt) „München rechts der Isar“, später „München II“ zugewiesen,
4 Möckl, S. 26-29. 5 HBG, S. 4, S. 318-321; Thränhardt, Dietrich: Wahlen und politische Strukturen in Bayern 1848-1953. Histo-
risch-soziologische Untersuchungen zum Entstehen und zur Neuerrichtung eines Parteiensystems. Düsseldorf
1973, S. 40, Anm. 5 (= Thränhardt). 6 Peter Kritzer: Bayern ist fortan ein Freistaat. Stationen bayerischer Verfassungsgeschichte von 1803 bis 1946.
Rosenheim 1992, S. 100 (= Kritzer); Staatsarchiv München, Bestand Landratsamt Wolfratshausen 38553, un-
datiertes Schreiben (ca. 1901) des Regierungspräsidiums von Oberbayern an das Amtsgericht Wolfratshausen
(= StAM LRA); StAM LRA 39014. Schreiben der Gemeindeverwaltung an das Bezirksamt Wolfratshausen vom
14.9.1913; zum Gemeindewahlrecht, das in engem Zusammenhang mit dem Heimat- und Bürgerrecht stand, sh. Klaus
Tenfelde: Proletarische Provinz. Radikalisierung Widerstand in Penzberg/Oberbayern 1900 bis 1945. In: Bay-
ern in der NS-Zeit, Bd. IV. München 1983, S. 1-382, S. 74f. (= Tenfelde)
-
4
zu dem die meisten Orte der Verwaltungsbezirke Wolfratshausen und Starnberg gehörten. Dieses
Amt wurde wiederum 1902 aufgelöst und für den Sprengel des Amtsgerichts Wolfratshausen ein
eigenes Bezirksamt eingerichtet, die übrigen Gemeinden dem Bezirksamt Starnberg zugeordnet. Die
Teile des Wolfratshauser Bezirks östlich bzw. rechts der Isar waren von ihrem Verwaltungszentrum
abgeschnitten. Für einen einfachen Verwaltungsgang musste man eine Zweitagesreise auf sich neh-
men. Erst die 1905 erbaute Tattenkofer Brücke bot deutliche Erleichterung. Der Sitz des Bezirksamts
Wolfratshausen war die größte Siedlung der Region und hatte schon immer zentralörtliche Funktion.
Der Ort wies seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine relativ günstige gewerbliche und hand-
werkliche Entwicklung auf. In den Landgemeinden überwog eine bäuerliche und kleinhandwerkliche
Struktur.
In ganz Bayern vollzogen sich im 19. Jahrhundert gravierende Änderungen in der Landwirt-
schaft und Agrarverfassung, in der Betriebsform der Bauernhöfe und besonders beim Verhält-
nis bäuerlicher Betriebe zum Markt. Bis 1848 erfolgte die Aufhebung des geteilten Eigentums
und der Pflichten zu Spanndiensten. Das führte zu einer deutlichen Verbesserung der Absatz-
verhältnisse und der wirtschaftlichen Lage der Bauern, die Getreide jetzt nach Frankreich und
in die Schweiz exportierten. Zugleich verteuerten sich die Güter und in der Folge die hypothe-
karische Belastung. Häufige Besitzerwechsel und eine zunehmende Verschuldung lockerten
jahrhundertealte Bindungen der Menschen an den Ort ihrer Herkunft.
Die meisten bayerischen Bauernhöfe umfassten zwischen fünf und 20 Hektar. Als Groß-
bauern galten Höfe bis 50 Hektar, Kleinbauern waren Höfe mit einer Betriebsgröße von zwei
bis fünf Hektar. Neue Erkenntnisse der Agrarwissenschaft führten zu tiefgreifenden Änderun-
gen: Übergang von der mittelalterlichen Dreifelder- zur Fruchtwechselwirtschaft, Aufhebung
gemeinschaftlicher Nutzungsrechte des Bodens, Flurbereinigungen und rationelle Bewirt-
schaftungsformen sowie der Erfolgszug des Kunstdüngers. Der Einsatz von Maschinen begann
Ende des 19. Jahrhunderts, die die Kraft der Zugtiere und der arbeitenden Menschen ersetzten.
1882 besaßen 3,2% der Betriebe eine Dampfdreschmaschine, bis 1907 war der Anteil auf
17.7% gestiegen. Schon 1907 wurden 20% der Betriebe mit elektrischem Strom versorgt.
Ende der 1870er Jahre, nach Aufhebung der bisherigen Schutzzölle, trat eine starke über-
seeische Konkurrenz – vor allem aus Argentinien und den USA - auf den deutschen Markt und
belastete mit ihren deutlich niedrigeren Getreidepreisen die Bauern. Der daraus resultierende
Wandel und eine große Agrarkrise zu Ende des 19. Jahrhunderts führten zur Politisierung der
Bauern und schließlich zur Gründung bäuerlicher Genossenschaften und Interessenvertretun-
gen wie die Bauernvereine oder der Bauernbund7.
Die ständige Technisierung und rasante Industrialisierung erforderte laufend einen Aus-
gleich zwischen Parteien, Interessenverbänden und Gewerkschaften. Die Lage war kompli-
ziert, da die wirklichen Inhaber der Macht in Berlin saßen und bayerische Politiker ihre Ein-
flusslosigkeit nicht richtig realisierten. Spätestens seit der Thronbesteigung Kaiser Wilhelms
II. betrieb das Deutsche Reich eine expansive und zuletzt aggressive Politik zur Durchsetzung
preußischer Interessen. Ab den 1860er Jahren entstanden in Bayern zahlreiche landwirtschaft-
liche Vereinigungen, u.a. 1868 der Bayerisch-Patriotische Bauernverein und 1880 der Frän-
kische Bauernverein. Vehemente Forderungen nach einer parlamentarischen Vertretung bäu-
erlicher Interessen führten zu Diskrepanzen in der Agrarpolitik der Zentrumspartei. Das
Klein- und Mittelbauerntum nahm eine kritische Haltung gegen den starken Einfluss von Adel
und Geistlichkeit und Großbauern in der Zentrumspartei ein. In Konkurrenz zu den Christli-
chen Bauernvereinen kam es nach 1893 zur Gründung des „Bundes der niederbayerischen
7 Schnorbus, S. 108ff. So stieg der durchschnittliche Gebrauch von Kalidüngern pro 100 Hektar 1890 von 21kg
auf jährlich 111 kg 1900 und 1908 auf 276 kg; Christa Landgrebe: Zur Entwicklung der Arbeiterbewegung im
südostbayerischen Raum. Eine Fallstudie am Beispiel Kolbermoor. München 1980, S. 28ff. (= Landgrebe).
-
5
Landwirte und Gewerbetreibenden“ als Wahlvereinigung, der im gleichen Jahr drei Reichs-
tagsmandate und sieben Sitze im bayerischen Landtag erreichte. Ohne die oberbayerische
Fraktion kam es am 2. März 1895 zur Gründung des „Bayerischen Bauernbundes“ (BBB),
dem 1897 der seit 1895 bestehende (oberbayerische) „Bayerische Bauern- und Bürgerbund“
beitrat. Programmatische Eckpunkte waren die Aufrechterhaltung einer bayerischen Eigen-
staatlichkeit, schulpolitische Forderungen und eine Wahlrechtsreform bei gleichzeitiger Ab-
schaffung der Ersten Kammer des Landtags, der „Ständeversammlung“. 1910/11 gingen die
fränkischen Teile vollständig zum Deutschen Bauernbund und Bund der Landwirte über, wäh-
rend in Altbayern der BBB blieb, der in scharfer Rivalität zur Zentrumspartei stand. 1912 kam
es nach den Reichs- (2 Sitze) und Landtagswahlen (5 Sitze) zu einem Block mit den Liberalen
und Sozialdemokraten, der eine radikale Politik verfolgte. Der linksstehende Karl Gandorfer
gewann gegen den gemäßigten Georg Eisenberger an Einfluss und hatte an der Revolution
von 1918 erheblichen Anteil.
In den 1880er Jahren erlebte die Zentrumspartei eine Spaltung, deren Ursachen in der libe-
ralen Kirchenpolitik des Deutschen Reichs und den internen Gegensätzen der Anhängerschaft
lagen. Nach dem Bruch setzte sich in der bayerischen Zentrumspartei der gemäßigte linke
Flügel unter der Leitung von „Bauerndoktor“ Georg Heim durch, der von Armut bedrohte
Gesellschaftsschichten und das bäuerliche Genossenschaftswesen schützen wollte. Das takti-
sche Bündnis mit den Sozialdemokraten führte zu einer relativ liberalen Wahlgesetzgebung.
Bis 1890 jedoch zerfiel die bayerische Zentrumspartei in zwei Flügel, die sich gegenseitig
lähmten. Strukturelle Änderungen der bäuerlichen Gesellschaft einerseits und die stetige Ver-
städterung durch die Industrialisierung führten zur Abspaltung des radikal-bäuerlichen Flü-
gels und Überführung in den BBB, der eine „standesegoistische“ mittelständische Politik und
deutliche Gegnerschaft zum Adel, hohen Klerus und zu den Großbauern betrieb. Der BBB war
formal gesehen eine bürgerlich-demokratische Partei, die sich zwar an christlichen Normen orien-
tierte, gleichzeitig jedoch den beherrschenden Einfluss der katholischen Kirche auf dem Lande
bekämpfte. Ab 1910 gewann der BBB an politischem Einfluss in Reichs- und Landtag, nachdem
eine Einigung mit bäuerlichen, ähnlich ausgerichteten Vereinigungen vollendet war. Mit einer Zweck-
koalition aus Liberalen und Sozialdemokraten ab 1912 bildete sich ein linker Flügel unter Karl
Gandorfer und eine rechte Fraktion unter Georg Eisenberger und Theodor Dirr. Die Linken ge-
wannen in München unter dem Regime von Kurt Eisner starken Einfluss. Danach setzte sich der
rechte Flügel durch, der bayerische BVP-Regierungen unterstützte und diesen nach 1924 zeitweise
auch angehörte. Mit der zunehmenden Verschärfung der Agrarkrise seit 1928 und der massiven
Agitation der NSDAP begann der Niedergang des BBB. Selbst eigene Anhänger äußerten ihre Unzu-
friedenheit und suchten nach einer neuen Interessenvertretung. Viele glaubten, in der NSDAP eine
neue politische Heimat zu finden. Ab 1930 wurde die Hitler-Partei zum Auffangbecken dieser
Abtrünnigen, ab 1932 liefen sie in Massen über. Dass sie sich damit den Totengräbern der Republik
auslieferten, wurde ihnen zu spät bewusst: 1933 wurde der Bauernbund im Zuge der nationalsozia-
listischen Gleichschaltung aufgelöst8.
8 HBG, Bd. 4, S. 298-307; 4, S. 312ff.; Hannsjörg Bergmann: Der Bayerische Bauernbund und der Bayerische
Christliche Bauernverein 1919-1928. München 1986, S. 8f., 342ff. (=Bergmann, Bauernbund); Tölzer Neueste
Nachrichten, 26.8.1998, S. 2: Artikel über den BBB von Dr. Martin Hille; Alois Hundhammer. Geschichte des Bauern-
bundes. München 1924; Historisches Lexikon Bayern (HLB): Artikel Bayerischer Bauernbund https://www.histori-
sches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Bayerischer_Bauernbund_(BB),_1895-1933 (Stand: 5.10.2019).
https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Bayerischer_Bauernbund_(BB),_1895-1933https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Bayerischer_Bauernbund_(BB),_1895-1933
-
6
Dietramszell seit der Jahrhundertwende
Auf alten Bildern und Photographien, die Dietramszell in der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts
zeigen, erkennen wir ein Bauerndorf, reizvoll wie viele andere in die oberbayrische Voralpenland-
schaft eingebunden. Als markantes Kennzeichen macht der Glockenturm der Klosterkirche auf das
alte geistliche Zentrum des Zeller Winkels aufmerksam und verweist auf die Tradition des 1098
gegründeten Klosters, das über 700 Jahre das Geschick des Ortes und seine Bewohner prägte. Die
Gemeindegrenzen entsprachen annähernd denen der alten Klosterhofmark, die am 23. April 1330
von Kaiser Ludwig dem Bayern in einem Dekret festgelegt worden war. Eine Hofmark war im alten
Bayern ein Verwaltungs- und Gerichtsbezirk, in dem der Grundherr die niedere Gerichtsbarkeit aus-
üben und Abgaben eintreiben durfte. Seit 1803 war aus der ursprünglich als Steuerbezirk eingeteilten
Verwaltungseinheit die Bürger- und Pfarrgemeinde Dietramszell geworden. Einwohner ohne ei-
genen oder mit nur geringem Besitz verdingten ihren Lebensunterhalt als Lohnarbeiter auf dem
Gutshof der Familie von Schilcher, was eine bescheidene Existenz ermöglichte. Als örtliche Be-
schäftigungsgeber tauchen in den Quellen wiederholt die Schilcher’sche Gutsverwaltung und
das Sägewerk von Johann Suttner9 in Untermühltal auf. Es bestand nur selten die Notwendigkeit
zur Auswanderung nach Amerika, wie es im 19. Jahrhundert in zahlreichen anderen Gegenden we-
gen bitterer Armut und Arbeitslosigkeit häufig vorgekommen war. Die hügeligen Straßen durch
dichte Wälder, die noch heute manchen ortsunkundigen Autofahrer in Verlegenheit bringen, waren
damals schlichte Feldwege, bestenfalls Schotterwege in schlechtem Zustand, die sich bei Regen
schnell in Schlammwüsten verwandelten. Von München aus dauerte die Fahrt mit der Kutsche über
Sauerlach acht Stunden, die kürzere Strecke über Endlhausen war nur im Winter mit Schlitten be-
fahrbar. Sie war ab 1816 mit kräftiger finanzieller Hilfe der Familie Schilcher angelegt worden.
Ab 1803 waren aus den ursprünglich als Steuerbezirke eingeteilten Verwaltungseinheiten der
Landgerichte die Bürgergemeinden entstanden. Jeder männliche, in den Orten gemeldete Steu-
erzahler mit dem sogenannten Heimatrecht war wahlberechtigt, den Frauen kam dieses Recht erst
seit Januar 1919 zu. Dieser persönliche Rechtsgebrauch verpflichtete jede Heimatgemeinde, im
Falle der Not für Unterstützung und eine Bleibe zu sorgen. Alle Dorfbewohner waren örtliche Bauern
oder Handwerker, die selbst für ihre Existenz sorgen und mit ihrer Arbeit ihre Gemeinde von Lie-
ferungen von außerhalb weitgehend unabhängig machen konnten. Die meisten hatten eigenen
Grundbesitz. Durch die Erbteilung, nach der immer der älteste Sohn das gesamte Anwesen be-
kam, konnten die Höfe in der Regel groß genug für ihre Existenzfähigkeit bleiben10.
Kriegszeiten
Wie überall schäumten im August 1914 auch im Kreisgebiet Wogen der „edlen, vaterländischen
Begeisterung" hoch. In allen Gemeinden läuteten die Kirchenglocken, gab es patriotische Aufmär-
sche und Kundgebungen. Diese Reaktionen entsprachen antiquierten Vorstellungen vom Krieg, viele
9 1896 erwarb der aus Arget stammende Joseph Suttner (sen.) das Anwesen und errichtete ein florierendes Sä-
gewerk mit eigenem Elektrizitätswerk, Dietramszell. Bd. I. Kloster – Hofmark- Altgemeinde 1098-1972.
Dietramszell 2000, S. 238ff. Weitere biografische Angaben in Bundesarchiv R 16-I_138 und R16-
I_1040_Suttner (=BArch R 16-I_138). 10 Andreas Höger: Dietramszell nach der Säkularisation. Im Spannungsfeld von Schloßherr. Kloster und Gemeinde (bis
1850). St. Ottilien 1998, S. 14, Anm. 14 (= Höger).
-
7
glaubten eher an eine Art Fortsetzung einer Wirtshaus-Rauferei als an ein durch moderne Waffentech-
nik geprägtes Inferno. Die ins Feld einrückenden Soldaten wurden jubelnd und mit Blumensträußen
verabschiedet. Es gab den pathetischen Parolen des Kaisers zufolge keine politischen Gegner mehr,
sondern nur noch eine eng verbundene Nation der Deutschen. Die seit Ende Juni 1914 heraufziehende
Krise hatte die Bevölkerung zunächst schlicht verdrängt. Es hatte in den letzten Jahren mehrfach
Spannungszeiten gegeben, die sich dann wieder beruhigt hatten. Das alljährliche Dietramszeller Le-
onhardifest konnte trotz der „drohenden Kriegsgefahr" Mitte Juli mit einem Waren- und einem
Viehmarkt noch in der vertrauten unbeschwerten Form stattfinden, zwei Wochen später wurde der
traditionelle Jahrmarkt in Holzkirchen abgesagt. Sicherlich waren alle Dietramszeller vom „ge-
rechten Kampf“ gegen die Feinde des Deutschen Reiches überzeugt. Zeitungen beschworen
schwülstig die „alte germanische Kraft“, ... die sich „mit wuchtigen Schlägen“ gegen „den
Störer des häuslichen Herdes“ zu wehren wisse. Und jedermann glaubte fest daran, dass es
sich nur um einen kurzen Bewegungskrieg handeln würde, der bis Weihnachten siegreich be-
endet sein würde und der einem „kostenlosen Ausflug nach Paris“ gleichen sollte11.
Überall, in den Gemeinden, in jeder Familie waren schnell einschneidende und schmerzhafte
Veränderungen zu verspüren. Alle wehrfähigen Männer waren aus ihrem Lebensmittelpunkt heraus-
gerissen worden und mussten an die Front. Die schwere landwirtschaftliche Arbeit lastete nun allein
auf Frauen, Alten und Kindern. Erschwerend kam hinzu, dass im Zuge der Mobilmachung nahezu
alle kriegsbrauchbaren Pferde der Front zugeführt wurden. Zunächst hatte man für diese Belastun-
gen großes Verständnis. Für die Bauern war es eigentlich eine gewohnte Situation, hatte doch in
früheren Zeiten die Last der Kriege fast ausschließlich bei ihnen gelegen, wenn sich fremde und
eigene Armeen aus dem Land versorgten. Die allgemeine Überzeugung war, mit der sprichwörtli-
chen Nachbarschaftshilfe würden alle Arbeiten eines Bauernjahres geschafft sein, ehe die Ehemän-
ner, Söhne und Brüder als siegreiche Helden vom Krieg zurückkämen.
Im März 1915 wurden Lebensmittelkarten eingeführt. Katastrophal wirkte sich die völlige Miss-
ernte von 1916 aus. Die Kriegswirtschaft war durch die Mobilmachungsmaßnahmen beim Preußi-
schen Kriegsministerium zentralisiert worden. Das war ein Umstand, der den traditionellen bayeri-
schen Preußenhass nährte und dem bayerischen König den Vorwurf der Kapitulation vor den Preußen
- in Bayern die Verkörperung von Militarismus und Kriegstreiberei - einbrachte. Schnell war das
Umland von München seiner Lebensmittelvorräte beraubt worden. Die Bevölkerung empfand dies
nicht unbedingt als Folge der Blockade der Feindmächte, sondern als Konsequenz einer unfähigen
bayerischen Politik. In bäuerlichen Kreisen galten die hungernden Städter als Plünderer, die staatli-
che Ordnungsmacht als gnadenlose Eintreiber. Es verbreitete sich ein völlig neues Gefühl, das
auf dem Land bis dahin nicht bekannt war: Hunger. Der war auch eine Folge der Entwicklung,
dass die beschwerliche Landarbeit nicht annähernd so gut bezahlt war wie Schichtarbeit in
den Rüstungsbetrieben. Es setzte eine regelrechte Landflucht ein, weil Rüstungsarbeiter
knapp waren und bevorzugt behandelt wurden. Ab 1917 jedoch war eine gegenläufige Ent-
wicklung zu verzeichnen. Je mehr sich die Ernährungssituation in den Städten verschlechterte,
desto attraktiver wurde die Landwirtschaft, weil es dort mehr zu essen gab. Außerdem waren
11 Wolfratshauser Wochenblatt, 18.7.1914, 8.8.1914, 4.8.1914 (= WWBl); Reinhard Bauer u.a.: München. Die
Geschichte einer Stadt. München-Zürich 1993, S. 234 (= Bauer), S. 243; Karl Dietrich Erdmann: Der Erste
Weltkrieg. München 61986, S. 87ff. (= Erdmann); Benjamin Ziemann: Front und Heimat. Ländliche Kriegser-
fahrungen im südlichen Bayern 1914-1923. Essen 1997 (Veröffentlichungen des Instituts zur Erforschung der
Europäischen Arbeiterbewegung. Schriftenreihe A, Darstellungen Bd. 8), S. 36 (=Ziemann), S. 141. - Weitere
Literaturhinweise(Auswahl): Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. Mün-
chen 2014; Bayern und der Erste Weltkrieg. Hg. von der Bayer. Landeszentrale für politische Bildungsarbeit.
München o.J.; Stephan Burgdorff und Klaus Wiegrefe (Hg.): Der erste Weltkrieg. Die Urkatastrophe des 20.
Jahrhunderts. Darmstadt 2004; Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich: Deutschland im Ersten Weltkrieg.
Frankfurt/M. 2018; Wolfgang Michalka (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. Mün-
chen 1994; Daniel Marc Segesser: Der erste Weltkrieg in globaler Perspektive. Wiesbaden 2010; Ulrich Tha-
mer: Der Erste Weltkrieg. Europa zwischen Euphorie und Elend. Berlin 2016.
-
8
inzwischen die Löhne für Landarbeiter angestiegen.12.
Kriegsende und bayerische Revolution
Mit zunehmender Kriegsdauer hatten sich bei den Deutschen Apathie und Friedenssehnsucht
breitgemacht. War 1914 ein ganzes Volk „gegen eine Welt von Feinden“ vereint, so forderten nach
vier schweren Kriegsjahren viele ein schnelles Kriegsende. Erschwerend kam eine katastrophale
Grippe-Pandemie hinzu, die im Herbst 1918 weltweit grassierte. Allein in München forderte sie
im Oktober 450 und in der ersten Novemberwoche 176 Todesopfer. Fronturlauber verstärkten die
Friedenssehnsucht und forderten angesichts der im September 1918 von Hindenburg und Luden-
dorff lancierten Forderung nach einem bedingungslosen Waffenstillstands-Angebot das Ende der
Kampfhandlungen. Überdies bezichtigten sie den bayerischen König Ludwig III., bayerische In-
teressen preiszugeben. Es gab sogar bisher unvorstellbare Forderungen zur Abschaffung der Mo-
narchie und zur Einführung eines parlamentarischen Volksstaates. Und trotzdem kamen Berichte
über das deutsche Waffenstillstands-Angebot überraschend und wirkten wie ein Schock. Die tatsäch-
lichen Umstände, die zur deutschen Kapitulation und zum demütigenden Rückzug geführt hatten,
waren nach vier Jahren Zensur unbekannt, verstehen wollte die Entwicklung niemand. Im Osten wa-
ren doch die russischen Armeen entscheidend besiegt worden, was der Friedensvertrag von Brest-
Litowsk vom März 1918 mit der deutschen Besetzung weiter Teile der Ukraine und Weißrusslands
ausdrücklich anerkannte. Noch im Sommer 1918 waren die Deutschen in Frankreich zu einer be-
eindruckenden Offensive angetreten. Und nun sollte die militärische Lage aussichtslos und vier
Jahre voller Qualen, Entbehrungen und Lebensgefahren umsonst gewesen sein?
Wichtigste Aufgabe war zunächst die Sicherung der Lebensmittelversorgung in ganz Bayern.
Gleich nach dem revolutionären Umsturz durch Eisner forderte ein Aufruf vom 8. November
1918 Ruhe und Ordnung: „...Jeder, der die neue Ordnung zu eigenen Zwecken missbraucht, sich
an Plünderungen und Raubzügen beteiligt, ist ein Feind des Volkes". Die Bauern, die allein die
Ernährung der städtischen Bevölkerung leisten konnten, waren an der Beendigung des Krieges und
nicht an Revolution interessiert: Von Anfang an war die ländliche Bevölkerung gegenüber der
Revolution äußerst misstrauisch und abweisend und vertraute nur den für „Ordnung“ wer-
benden Parteien. Es wirkte so, als ob sich die Landbevölkerung über Eisner und seine Räte heim-
lich lustig machte. Und der Erzbischof von München bezweifelte in einem Aufruf vom 19. Novem-
ber 1918, dass die Räte die „großen Vorräte an Lebensmitteln…vor Räubern und Räubergesell-
schaften […] schützen, die Volksernährung im Lande […] sichern, und die Einfuhr aus dem Aus-
land in die Wege […] leiten..." könnten. Zugleich wurde die Einrichtung von „Dorfwachen" emp-
fohlen, damit „in den Dorfbewohnern der gute Wille zur Versorgung der Städte lebendig erhalten "
werde13.
Wie viele bayerische Gemeinden folgte Dietramszell diesem Aufruf. Am 27. November 1918
beschloss ein Gremium der wehrfähigen und stimmberechtigten Ortsbewohner die Gründung einer
Ortswehr. Das erhaltene Protokoll vom 27. November 1918 beschreibt die „Errichtung einer Bür-
12 Karl-Ludwig Ay: Volksstimmung und Volksmeinung als Voraussetzung der Münchner Revolution von 1918.
In: Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen. Hg. von K. Bosl. Mün-
chen und Wien 1969, S. 345-386, S. 348ff., S. 371 (=Ay); StAM, LRA 16673, Schreiben der Gemeindeverwaltung
Dietramszell vom 20.11.1915, 28.8.1917 und 22.6.1918; Reinhard Bauer u.a.: München. Die Geschichte einer
Stadt. München-Zürich 1993, S. 234, S. 245f. 13 Ay, Volksstimmung, S. 354f.; Kritzer, S. 109, 114; WWB1 19.11.1918.
-
9
gerwehr und des Sicherheitsausschusses ... zum Schutz gegen ... Angriffe auf Person und Eigen-
tum der Gemeindebürger...". Für die einzelnen Gemeindebezirke wurden verantwortliche Führer
eingeteilt. Es sollte „alsbald" eine öffentliche Versammlung stattfinden, bei der alle Bürger, be-
sonders Kriegsteilnehmer, zum Beitritt aufgefordert werden sollten. Die Gemeinde sollte sich mit
den Nachbargemeinden abstimmen und sich bei Gefahr gegenseitig unterrichten. Neben Bürger-
meister Michael Häsch unterzeichneten neun weitere Bürger aus Dietramszell, Ried, Osten und
Schönegg. Zum ersten Mal tauchten hier die Namen auf, die in den nächsten 25 Jahren die Geschi-
cke des Dorfes entscheidend prägen sollten: Johann Jaud14 und Josef Suttner, der 1929 verstorbene
Vater des späteren NS-Funktionärs15. Offiziell wurde die Bürgerwehr am 14. Dezember 1918 bei
einer öffentlichen Bürgerversammlung von 70 Männern gegründet, die mit Gewehren bewaffnet
werden sollten. Diese erhielten sie aber nie, obwohl heftig um die „Volksbewaffnung“ gestritten
worden war. Zum Einsatz kam diese Bürgerwehr auch nicht, Plünderer und Übergriffe von ver-
sprengten Soldaten hat es in Dietramszell und im Kreisgebiet nicht gegeben. Im ganzen Bezirk
Wolfratshausen existierten bis Mai 1919 in jeder der 37 Gemeinden eine Einwohnerwehr. Die
politische Symbolik war unübersehbar: jeder kleinste Versuch zur Radikalisierung von außen, der
zu Unruhen und Übergriffe hätte führen können, sollte im Keim erstickt werden16.
Bei der gleichen Bürgerversammlung wurde mit einem „Bauern- und Arbeiterrat" ein zweites
wichtiges politisches Gremium gegründet. Die Behörden sollten unter seiner Aufsicht weiterarbei-
ten und Fragen der Demobilisierung und des Waffenstillstandes regeln. Etwa 70 Dietramszeller
Bürger wählten - übrigens im Widerspruch zu den „vorläufigen Richtlinien für die Bauernräte"
des Bezirksamtes, die von der Wahl aller volljährigen Männer und Frauen sprachen - einstimmig
als Vorsitzenden den Lehrer Georg Bichler, Johann Jaud als Vertreter und drei weitere Vertrau-
ensleute als Beisitzer. Bichler, ein Sozialdemokrat, wurde wenig später als Vertreter der Gemeinde
in den Bezirksbauernrat berufen. Dies war im Vergleich zu anderen Gemeinden des Bezirksamts eher
die Ausnahme: häufig wurden zum großen Missfallen des Gesamtarbeiterrats in München der Bür-
germeister der Bayerischen Volkspartei (BVP), der konservative Lehrer oder sogar der Pfarrer zum
Vorsitzenden des Arbeiterrates bestimmt. Bemerkenswert war der Auftrag des bayerischen Gesamt-
14 Ein weit über die Grenzen des Bezirksamtes Wolfratshausen hinaus bekannter örtlicher Repräsentant des BBB war
der Dietramszeller Bäckermeister, langjährige Gemeinderat und stellvertretender, von 1928 bis 1945 Bürgermeister Jo-
hann Jaud. Er wurde am 26. Dezember 1882 in Mindelheim geboren und kam 1907 nach Dietramszell, wo seine Vor-
fahren seit 1693 gelebt hatten. 1911 kaufte er einen Bauernhof und eine Bäckerei, seit 1911 gehörte er dem Gemeinderat
an. Zugleich war er Posthalter, übte aber diesen Beruf nie selbst aus, sondern übergab dieses Amt einem ständigen
Vertreter. Neben seiner Parteitätigkeit war er Funktionär in verschiedenen Berufsgenossenschaften, später Vorsitzender
des Aufsichtsrates des Edeka-Großhandels in München und Berlin. Er tauchte bei zahllosen Versammlungen und
Kundgebungen des BBB auf und war Gründungsmitglied der „Freien Bürger- und Bauernwehr“, der Selbstschutz-
organisation des BBB. Zudem bekleidete er verschiedene Ehrenämter im Ort, so als Ehrenvorstand des Volkstrach-
tenerhaltungsvereins „Edelweiß". Selbst seine Gegner lobten seine persönliche Integrität, sein Rednertalent, seine poli-
tische Kompetenz und Fairness. In noch erhaltenen Ausführungen finden sich aber auch erste Hinweise auf eine spätere
Anfälligkeit für nationalistische Parolen: vom „verderblichen Einfluß des internationalen Börsenkapitals" und von
der „schwarzen Schmach" war da die Rede. Mehrfach kandidierte Jaud für ein Landtagsmandat der Wahlbezirke
Wolfratshausen, Garmisch, Tölz, Miesbach und Aibling, wegen seiner gemeindepolitischen Verpflichtungen jedoch ohne
Erfolg. Wiederholt bescheinigte man ihm, zu größeren Aufgaben berufen zu sein und „die Qualitäten zu einem an-
gesehenen Führer des Bauern- und Mittelstandes in sich" zu vereinigen. Bei der Gemeindewahl im Dezember 1924
unterlag er noch dem bisherigen Bürgermeister Michael Häsch. Vermutlich kam seine Wahl zum ersten Bürgermeister
1928 seinen anderen Ambitionen im Landtag zuvor. Er leitete ununterbrochen von 1928 bis Mai 1945 und erneut in den
1950er Jahren die Geschicke der Gemeinde.
Literatur: GAD, Akte Alte Schriftstücke. Schreiben des Postamts Holzkirchen vom 27.3.1946; Wolfratshauser Tagblatt
26.8.1924 (= WTgBL); WWB1. 16.5.1922; Tölzer Kurier 19.5.1928; WTgBl. 13.3.1925; WWBl. 4.12. und 11.12.1924. 15 Josef Suttner (sen.) stand der BVP nahe, vgl. StAM SprKA Karton 3722 Ludwig Suttner, undatierter Schrift-
satz des Rechtsvertreters von Ludwig S.; BArch R 16-I_138_Suttner, handschriftlich verfasster Lebenslauf
Josef Suttners vom 12.6.1935. 16 StAM LRA30936; StAM LRA 40936, Mitteilung des Ersten Bauern- und Arbeiterrates G. Bichler an das BA
Wolfratshausen vom 8.1.1919; StAM LRA 40937, Mitteilung des BA Wolfratshausen vom 16.5.1919; WWBl.
vom 20.31919.
-
10
Arbeiterrats an dieses neue politische Organ, das „die ländliche Bevölkerung mehr als bisher...zur
politischen und wirtschaftlichen Mitarbeit heranziehen und...das Interesse am Staate und allge-
meinen Wohle...fördern" sollte. Die politischen Ziele des Dietramszeller Bauernrates galten keiner
revolutionären Umwälzung, sondern dem Wohlergehen der Heimatgemeinde, dem Erhalt ge-
wohnter bäuerlicher Lebensbedingungen und der Abwehr von Zugriffen von außen. Aus der lan-
gen zeitlichen Distanz entsteht der Eindruck, dass in einem katholisch und konservativ geprägten
Dorf für die Rätebewegung keine Unterstützung zu erwarten war. Bürgermeister und einflussrei-
che Bewohner haben sich den Anordnungen aus München gefügt und die verlangte Aufstellung
des örtlichen Arbeiterrats organisiert, mehr aber auch nicht. Man war sich sicher, dass die Rätere-
publik nur eine vorübergehende Episode sein würde17.
Die zunächst lose organisierten Einwohnerwehren wurden nach dem Ende der Räteherrschaft
zu einem straff strukturierten paramilitärischen Heimatschutz unter staatlicher Leitung. Im Juli 1919
versammelten sich alle Ortswehren des Bezirks Wolfratshausen und schlossen sich zu einem Ver-
band „Isartalgau“ 18 der Einwohnerwehr unter „Gauleiter“ und „Oberleutnant des Beurlaubtenstan-
des“ Adolf Seitz aus Kreuzpullach zusammen. Seitz wurde zugleich „Werbeposten für die Reichs-
wehr“, er erhielt nahezu völlige Handlungsfreiheit für die Einwohnerwehr, da sich das Bezirksamt
Wolfratshausen aus den Tagesgeschäften heraushielt. Die Formationen erfreuten sich einer hand-
festen Unterstützung durch demokratische gewählte, bürgerlich-konservative Politiker. Der Vorsit-
17 StAM LRA 39010, Meldung von Bürgermeister Häsch an das BA Wolfratshausen vom 14.12.1918, Zu Bichler
ebd., Meldung von Bürgermeister Häsch an das BA Wolfratshausen vom 22.12.1918; StAM LRA 38550, BA
Wolfratshausen, Vorläufige Richtlinien für die Bauernräte vom 22.1.1919. 18 Einwohnerwehren (EW): Militärische Organisationen des regionalen und örtlichen Selbstschutzes mit zeitlich be-
grenztem Auftrag, die nach dem Ende des I. Weltkrieges in ganz Deutschland entstanden. Sie sollten neben dem Schutz
persönlichen und allgemeinen Eigentums Aufgaben des Land- und Grenzschutzes übernehmen. Durch eine Verord-
nung des Rates der Volksbeauftragten vom 13.1.1919 wurden die preußischen EW zur „Republikanischen Schutz-
truppe“ organisiert. Nach dem Willen von Reichswehrminister Gustav Noske sollten die EW von allen Länderregie-
rungen installiert, im Rahmen der Landesverteidigung eng mit der Reichswehr zusammenarbeiten und auch mit schwe-
ren Infanteriewaffen ausgestattet werden. Zahlreiche EW entwickelten sich zu antirepublikanischen Organisationen mit
nationalistischen Absichten. Auf alliierten Druck mussten die EW endgültig per Gesetz vom 19.3.1921 aufgelöst wer-
den.
Die EW in Bayern sind zu differenzieren: 1. die unmittelbar nach dem Kriegsende und auf Empfehlung der staatlichen
Instanzen gebildeten Ortswehren und 2. die Bayerische EW von selbsternannten Volksführern wie Dr. Georg Escherich,
Rudolf Kanzler und Otto Pittinger, die von den Behörden finanziell und politisch massiv gefördert wurden. Sie standen
parteipolitisch zunächst dem Bayerischen Bauernbund nahe, ignorierten jedoch dessen demokratische Orientierung. Spä-
ter entwickelten sich in einem überzogenen Verständnis als innerer Staatsselbstschutz zu einer rechtslastigen Bürger-
kriegstruppe, die alle innerbayerischen Aufgaben – u.a. Restauration der Monarchie als ureigene bayerische Angele-
genheit – lösen wollte. Dies hinderte die bayerischen EW nicht, sich mit der finanziellen und militärischen Unterstüt-
zung der österreichischen Heimwehr in ausländische Angelegenheiten einzumischen. Die durch die Alliierten erzwun-
gene Auflösung im Frühjahr 1921 wurde als empfindlicher Verlust politischer Selbständigkeit aufgefasst. Die EW nä-
herten sich nun stärker der Bayerischen Volkspartei an, die seit 1920 die Bayerische Regierung unter Gustav von Kahr
stellte. Allerdings führte das auch zu einer deutlichen Hinwendung zu autoritären, demokratiefeindlichen Tendenzen
mit dem Anspruch für Bayern als „Ordnungszelle des Reiches“. Das paramilitärische Potential der EW näherte sich
ideologisch der Hitler-Bewegung an. Nach dem Verbot der EW durch die Alliierten traten zahlreiche „wehrfähige“
Männer in die SA ein und sorgten für deren buchstäbliche Schlagkraft. Nach der offiziellen Auflösung der EW über-
nahmen eine „Notpolizei“ bzw. „Technische Nothilfe“ deren alte Aufgaben (auch Grenzschutz); sehr häufig bestanden
die neuen Strukturen aus Angehörigen der ehemaligen EW.
Literatur: Lexikon der deutschen Geschichte. Personen Ereignisse Institutionen. Von der Zeitenwende bis zum
Ausgang des 2. Weltkrieges. Hg. von Gerhard Thaddey. Stuttgart 1979 (Sonderausgabe), Artikel EW; Horst
G.W. Nusser: Konservative Wehrverbände in Bayern. Preußen und Österreich 1918-1933. München 1973; Bernd Steger: Be-
rufssoldaten oder Prätorianer. Die Einflußnahme des bayerischen Offizierskorps auf die Innenpolitik in Bayern
und im Reich 1918-1924. Frankfurt/M. 1980, bes. Kap. VII und VIII, S. 122-165; HBG Bd. 4, S. 462ff.; HLB: Artikel
Einwohnerwehren (https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Einwohnerwehren,_1919-1921,
Stand 5.10.2019); StAM LRA 40937 Josef Seitz an BA Wolfratshausen vom 11.7.1919; ebd., BA Wolfrats-
hausen an die Regierung von Oberbayern, Kammer des Innern vom 12.7.1919.
https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Einwohnerwehren,_1919-1921
-
11
zende der BVP, Sebastian Schlittenbauer, setzte sich in einem Schreiben vom 9. April 1920 vehe-
ment beim damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Gustav von Kahr für die Wehren ein und
warnte vor einer Auflösung. Ähnlich äußerte sich auch der BBB. Im Bezirk Wolfratshausen kon-
kurrierte mit den Einwohnerwehren die Gruppe „Bayern und Reich", von Otto Pittinger gegründet
und der BVP nahestehend. In Dietramszell leitete die Gruppe Alois Schiessl von der BVP. Jede
Gemeinde hatte ihre eigene Einwohnerwehr, zu deren Aufgaben der Schutz von Elektrizitäts- und
Wasserwerken, die Sperrung von Straßen und Brücken bei Gefahr und die Bewachung von Zügen
und Eisenbahneinrichtungen gehörten. Eine finanzielle Beteiligung der Reichsregierung war an
eng gesteckte Auflagen gebunden. Die Gemeinde Dietramszell beteiligte sich an den Kosten der
Einwohnerwehr mit einem Zuschuss von 300 Reichsmark; eine für damalige Verhältnisse unbe-
deutende Summe. Verbindungen der Einwohnerwehren zum damaligen Vorsitzenden des Bezirksaus-
schusses und Präsidenten der Landesbauernkammer, Hubert von Schilcher, sind belegt. Initiativen
zur Aufstellung einer neuen „Freien Bauern- und Bürgerwehr", einer „Schutzorganisation“ des
BBB, in der Gegend von Dietramszell, die maßgeblich von Johann Jaud und Hubert von Schilcher
ergriffen wurden, hatten zunächst wenig Zulauf. Vielleicht auch durch die rhetorische Begabung
von Johann Jaud wurde diese Organisation in den kommenden Jahren zum Reservoir für radikale
Positionen der NSDAP. Sie bereitete dem Tölzer Landrat ernste Sorgen, da er eine NSDAP-
Tarnorganisation vermutete19.
In Dietramszell traten wieder die vor 1914 vertretenen Parteien bzw. ihre bayerischen Zweigor-
ganisationen an, die Ergebnisse entsprachen im Wesentlichen jenen der Vorkriegszeit. Zwei Par-
teien, die BVP20 und der BBB waren seit den ersten direkten und demokratischen Wahlen vom
Januar 1919 zunächst die stärksten politischen Kräfte. Ortsvorsitzender der BVP in Dietramszell
war der Monteur und spätere Maschinenmeister Alois Schiessl. Er war in dem kleinen, zur
Schilcher'schen Gutsverwaltung gehörenden Elektrizitätswerk in Untermühltal angestellt, das be-
reits damals das Dorf mit Strom versorgte. Weitere wichtige politische und gesellschaftliche Kräfte
waren der „Katholische Männerbund Oberland" mit dem „Frauenbund" und der „Katholische Bur-
schenverein", die beide der BVP nahestanden. Die NSDAP kam erst sehr viel später dazu. Alle
anderen Parteien spielten in Dietramszell nur eine untergeordnete Rolle, die KPD war nicht vertre-
ten, die SPD hatte nur wenige Anhänger. Ihre Ergebnisse bei den Reichstags- und Landtagswahlen
lagen klar unter den Ergebnissen bürgerlicher Parteien. Die SPD-Wähler stellten Arbeiter und Tage-
löhner aus dem Gut der Familie Schilcher. SPD-Versammlungen waren schlecht besucht. Während
die in der Hobmeier'schen Gastwirtschaft (heute Gasthof Peiss) abgehaltenen Versammlungen der
19 Claudia Friemberger: Sebastian Schlittenbauer und die Anfänge der Bayerischen Volkspartei. St. Ottilien
1998, S. 169f., Anm. 75; Hannsjörg Bergmann: Der Bayerische Bauernbund und der Bayerische Christliche
Bauernverein 1919-1928. München 1986, S. 143ff.; StAM LRA 40937 Bayerisches Staatsministerium des In-
nern an die (Bezirks-)Regierungen vom 15.9.1919; StAM LRA 31261, Schreiben der Leitung der Einwohner-
wehren Gau Oberland an das Bezirksamt Tölz vom 28.6.1921; StAM LRA 134039 Schreiben des Bezirksamts
Tölz an den Bürgermeister in Jachenau vom 13.9.1921; StAM LRA 134039 Schreiben des Bezirksamtes Tölz
an den Bürgermeister in Jachenau, hier: Vormerkung; weiteres Schreiben des Bezirksamts Tölz an den Bür-
germeister in Jachenau vom 14.12.1921; StAM LRA 40936 Bericht der Gendarmerie-Station Schönegg vom
30.6.1923. 20 Die BVP war am 12.11.1918 in Regensburg von großen Teilen der bayerischen Zentrumspartei und des Bayerischen
Christlichen Bauernvereins unter Führung des populären „Bauerndoktors" Georg Heim gegründet worden. Damit
wollte sich das bayerischen Zentrum von der Parteileitung in Berlin abspalten und seine bayerische Eigenständigkeit
beweisen, um sich von der empfundenen preußischen Schuld an Krieg und Niederlage distanzieren zu können. Die Partei
befürwortete immer den föderalistischen Aufbau der Weimarer Republik, musste aber wiederholt ihre diesbezüglichen
Ansprüche zurückstecken und setzte sich so dem Vorwurf der Nachgiebigkeit gegenüber der Berliner Reichsregierung
und der Berliner Parteileitung des Zentrums aus. Die BVP war als Vertreterin bürgerlicher und bäuerlicher Kreise
1922/23 und 1925-32 Regierungspartei im Reich und in Bayern. Nach Ende des Rätesystems stellte sie als stärkste Partei
von 1920-33 die Regierungsmehrheit, seit 1924 unter dem Ministerpräsidenten Dr. Held.
Literatur: Klaus Schönhoven: Die Bayerische Volkspartei 1924-1932. Düsseldorf 1972; HLB: Artikel BVP
https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Bayerische_Volkspartei_(BVP),_1918-1933 (Stand:
5.10.1029).
https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Bayerische_Volkspartei_(BVP),_1918-1933
-
12
BVP oder des BBB fast immer zwischen 70 und 120 Teilnehmer mobilisieren konnte, besuchten die
SPD-Versammlungen in der Pöttinger'schen Wirtschaft in Obermühltal (heute Gasthof Liegl) selten
mehr als fünf Personen21.
Dunkle Schatten – der Aufstieg der NSDAP in der Region
Der von den alliierten Siegermächten auferlegte Friedensvertrag von Versailles war das
zentrale Problem der Zwischenkriegszeit. Er wurde über alle Parteigrenzen hinweg als „Schand-
diktat" empfunden und vehement bekämpft. Besonders galt das für die von den Alliierten durchge-
setzte Auslegung der Kriegsschuldfrage zu Lasten Deutschlands. Mit nur ganz wenigen Ausnahmen
empfanden die Deutschen den „Schuld-Artikel 231“ des Vertrages und die für damalige Verhält-
nisse unvorstellbar hohen Reparationsforderungen als Demütigung. Es gab keine öffentliche Diskus-
sion, die nicht dieses Thema behandelte, überall wurde die Revision der Friedensbedingungen gefor-
dert. In diesem Gebräu von Verzweiflung, Forderung nach Revision des Vertrages und Hass auf die
Alliierten wucherten Träume und Pläne für einen „nationalen Umsturz“. Deutsche Politiker, die im
Juni 1919 in Versailles aus Staatsräson und teilweise unter Zwang unterschrieben hatten, wurden
als „ehrlose Erfüllungspolitiker“ diffamiert. Etliche von ihnen –darunter Matthias Erzberger und
Walter Rathenau - fielen Mordanschlägen zum Opfer. Zugleich grassierte die sogenannte „Dolch-
stoßlegende". Diese, erstmals von Paul von Hindenburg am 18. November 1919 vor einem
parlamentarischen Untersuchungsausschuss vorgebracht, verbreitete die Behauptung vom „im
Felde unbesiegten" deutschen Heer, das erst infolge der sozialistischen Agitation in der Heimat
geschwächt und durch die Novemberrevolution von „hinten erdolcht" worden sei. Diese Lüge grif-
fen die Nationalsozialisten besonders wirksam auf, vergifteten das politische Klima und stürzten
Deutschland ins Unglück22.
Andere ungünstige Faktoren kamen hinzu: die deutsche Wirtschaft hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts kriegsbedingt und durch politische Veränderungen eine schwierige Entwick-lung genommen. Wichtigste Konsequenz war die bereits im Kaiserreich begonnene Trans-formation von der ausschließlichen Landwirtschaft zur Industrie. Die Zahl der Beschäftigten in der Land- und Forstwirtschaft nahm deutlich ab, dagegen stieg sie in Industrie und Dienstleis-tungsbereich. Die Landwirtschaft blieb dennoch der wichtigste politische und gesellschaftliche Faktor. Zunächst konnten die Bauern durch die grenzenlose Inflation problemlos Schulden und Hypotheken tilgen. Aber bald wurden Neukredite aufgenommen, die für Investitionen, mehr noch zum Ausgleich von Betriebsverlusten eingesetzt wurden. Die Friedenswirtschaft hatte eine baldige Umstellung von extensivem Anbau auf qualitätsbewusste Produktion versäumt, wie sie für die Versorgung Deutschlands nach Kriegsende notwendig gewesen wäre. Als erneuerte Außenhandelsbeziehungen einsetzten sah sich der deutsche Markt einem starken Angebot billiger ausländischer Agrarprodukte und einer Verknappung an hochwertiger Exportware ausgesetzt. Trotz zaghafter Maßnahmen konnte dieses Grundübel nicht gelöst werden, die Unzufriedenheit der Landwirtschaft richtete sich gegen die Republik von Weimar.
Am 15. Oktober 1923 stoppte der Reichsfinanzminister die Notenpresse, mit der ungehemmt
21 StAM LRA 39037. Bericht der Gendarmeriestation Schönegg vom 2.4.1924; ebd. LRA 39010 Bericht der Gendar-
meriestation Schönegg vom 17.11.1924. 22 Wolfram Pyta: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler. München 2007, bes. Kapitel 14
und 15.
-
13
neue Geldscheine ohne Wert gedruckt worden waren. In der Folge wurden den Ländern und Ge-
meinden keine weiteren Darlehen zur Erhaltung ihrer Liquidität bereitgestellt. Erforderliche Gelder
mussten im Anleiheweg beschafft werden, die öffentliche Hand war zahlungsunfähig. Darauf grün-
dete die Reichsregierung unter Gustav Stresemann die Deutsche Rentenbank und führte am
15.11.1923 die neue „Rentenmark“ ein. Sie war über „Goldobligationen“ auf deutschen Grundbe-
sitz und Absicherungen auf die Getreideernte des kommenden Jahres sowie durch eine hypothe-
karische Belastung des gesamten landwirtschaftlich genutzten Bodens und industriellen Vermö-
gens abgedeckt. Das war insofern ein gewagter Schritt, denn in den Jahren zuvor hatte die Reichs-
regierung mit einer „Getreideumlage“ die Sicherung der Brotversorgung finanziert. Das war in
der jetzigen Situation unmöglich. Am 23. Juni 1923, also noch vor dem Höhepunkt der Inflation,
verabschiedete die Reichsregierung ein Gesetz, nach dem auf Grundlage des freien Marktpreises
eine Reserve von Getreidevorräten anzulegen war. Die Regierung konnte erforderliche Ver-
pflichtungen in entwertetem Geld bezahlen, wodurch der inflationäre Anstieg des Getreideprei-
ses gestoppt wurde. Es war kein Wunder, dass landwirtschaftliche Interessensvertreter diese
Maßnahmen bemängelten.
Die Abwertung der bisherigen „Papiermark“ wurde am 28. November 1923 im Verhältnis l zu
einer Billion bei einer Berechnung von 4,2 Billionen Mark für einen Dollar festgelegt. Auf dieser
Basis erholte sich allmählich die deutsche Wirtschaft, es sanken die Preise und die Warenknappheit
konnte beseitigt werden. Der bis dahin instabile und nicht planbare Reichshaushalt sowie sein Aus-
gleich waren wieder möglich. Auf die Bevölkerung wirkte sich die Inflation demoralisierend aus.
Alle hatten ihre Sparguthaben verloren und viele wurden in tiefe Armut gestürzt. Das Millionenheer
der Enttäuschten und Verbitterten wurde ein riesiges Potential für radikale Parteien. Sogar angesparte
Gelder des Bezirks Tölz bei der „Bayerischen Siedlungs- und Landbank“, die für künftige Woh-
nungsbauvorhaben angespart wurden, waren verloren. Für die Landwirtschaft zeigte der Währungs-
schnitt fatale Folgen. Bauern mussten ihre Produkte im Sommer 1923 in „Papiergeld“ verkaufen,
ihre Steuerschuld jedoch ab August 1923 in „Rentenmark“ bezahlen. Die Übergangszeit bis zur
Einführung der „Rentenmark“ bedeutete eine extreme Belastung, von der sich viele bäuerliche Be-
triebe nicht erholen konnten. Die Zeit der kurzen wirtschaftlichen Erholung bis 1929, die als die
„Goldenen Zwanziger Jahre" in die Geschichte eingegangen ist, war nur von kurzer Dauer und bei
vielen Deutschen ist sie nicht angekommen23.
Erschwerend kam ab 1928 eine internationale Konjunkturverschlechterung in den USA hinzu, die
alle anderen Wirtschaftsnationen beschädigte. Die Belastung Deutschlands durch Kriegslasten, Re-
parationen und Inflation hatte bis Ende der 1920er Jahre eine hohe Auslandsverschuldung mit kurz-
fristigen Zahlungsverpflichtungen mit Laufzeiten von weniger als einem Jahr verursacht. Nach dem
„Schwarzen Freitag" am 29.10.1929 stürzte die Weltwirtschaft ins Chaos – mit fatalen Folgen für
Deutschland: Abzug internationalen Kapitals, Rückforderung von Krediten und der Zusammenbruch
von Banken. Angesichts der verheerenden Inflation von 1923 scheute die Reichsregierung unter
Heinrich Brüning jede Verschuldung und setzte eine strikte Einhaltung eines ausgeglichenen Haus-
halts durch. Diese Deflationspolitik senkte Löhne und Preise und höhlte die Arbeitslosenversicherung
aus. Die folgende Minderung der Kaufkraft verursachte Arbeitslosigkeit, Depression, Verelendung
und eine Radikalisierung der Bevölkerung. Das Volkseinkommen sank von 1929 bis 1932 um 43%,
die Verkaufserlöse in der Landwirtschaft fielen bis Ende 1932 auf 62% im Vergleich zu 192824.
23 Bergmann, Bauernbund, S. 199-205, 217f.; C.-D. Krohn. Stabilisierung und ökonomische Interessen. Die Finanzpolitik
des Deutschen Reiches 1923-27. Hamburg 1974; StAM LRA 165781 Abdruck eines Schreibens des Reichsministers
der Finanzen vom 6.11.1923; StAM LRA 132568 Schreiben der Bayerischen Landessiedlung an den Vorstand
der Bezirksverwaltungsbehörde vom 25.11.1924. 24 Theo Balderston: The Origins and Course of the German Economic Crisis November 1923 to May 1932.
Berlin 1993; Fritz Blaich: Der Schwarze Freitag. Inflation und Wirtschaftskrise. München 1990; Knut
Borchardt: Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik. Studien zur Wirtschaftsgeschichte
des 19. und 20. Jahrhunderts. Göttingen 1982; Jan-Otmar Hesse, Roman Köster, Werner Plumpe: Die Große
Depression. Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939. Frankfurt/New York 2014; Philipp Heyde: Das Ende der
https://de.wikipedia.org/wiki/Knut_Borchardthttps://de.wikipedia.org/wiki/Knut_Borchardthttps://de.wikipedia.org/wiki/Jan-Otmar_Hessehttps://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Plumpe
-
14
Für das ausgesprochene Agrarland Bayern wirkte sich diese Problematik besonders aus. Be-
reits zu Ende des Krieges fielen die Holzpreise und seit 1924 auch die Erlöse des Milch- und
Viehmarktes. Die Bauern hatten mit extremen Absatzproblemen zu kämpfen. Im gesamten bayeri-
schen Voralpengebiet mit seinem traditionell hohen Anteil an Waldbauern fiel der Holzpreis ins
Bodenlose. Seit Mitte der 1920er Jahre sank der übliche Marktwert von 30 bis 35 Mark pro Raum-
meter auf acht Mark zu Beginn der 1930er Jahre. Diese Entwicklung bekam auch Dietramszell zu
spüren. Hohe Transportkosten, durch die abgelegene Lage des Dorfes in die Höhe getrieben, fraßen
jeden bescheidenen Verdienst auf. Gleichzeitige Steuererhöhungen verschärften die ländlichen
Probleme und führten zu weiterer Verschlechterung, während sich für wenige Jahre die Situation
für die Arbeiter und Angestellten verbesserte. Die hiesigen Bauern blieben buchstäblich auf ihrem
Holz sitzen, ein Ausweichen auf die Vieh- und Weidewirtschaft war wegen fehlender zusätz-
licher Absatzmärkte für Milchprodukte und Käse keine echte Alternative. So kam es zu ei-
nem explosionsartigen Anstieg der Verschuldung: In den Wirtshäusern wurde die Klage von zu
niedrigen Preisen und zu hohen Steuern laut und der Unmut über die Arbeiterschaft und die angeb-
lich privilegierte Beamtenschaft immer deutlicher. Diese Krisenstimmung führte zur offenen Ab-
lehnung des politischen Systems. Hier konnte die Propaganda der NSDAP ansetzen25.
Über die NSDAP im Kreisgebiet liegen nur vereinzelte Informationen vor. Zunächst be-
schränkte sie sich auf ihre Entfaltung in München, auf dem Land war sie bedeutungslos. Die Aus-
breitung der NSDAP begann ab April 1920, als in Rosenheim die erste Ortsgruppe außerhalb Mün-
chens gegründet wurde. Danach gab es weitere Gründungen von Ortsgruppen, besonders dort, wo
vor Ort eine größere Anhängerschar vorhanden war. Erstmals im Juli 1922 warnte das Bayerische
Innenministerium vor den „aufreizend auf die Öffentlichkeit“ wirkenden nationalsozialistischen
Kundgebungen und der „gegen das Judentum getriebene[n] Agitation“, der „energisch entgegen zu
treten“ sei. Dennoch vernachlässigten verantwortliche bayerische Politiker die Gefahr von rechts,
sie sahen die eigentliche Gefahr am linken Spektrum. Nur dort erwartete man die Auslösung innerer
Unruhe und Putschversuche. In Tölz begann sich die NSDAP ab Frühsommer 1922 auszubreiten, am
17. Juni 1922 wurde mit Münchner Unterstützung eine Ortsgruppe gegründet, zeitgleich entstand
eine SA-Gruppe. Allerdings muss der Schlussfolgerung einer neueren Forschungsarbeit entgegen-
getreten werden, dass „von Tölz aus der gesamte Isar- und Loisachwinkel von der neuen Ideologie
vereinnahmt wurde, dass die Region von der NS-Ideologie völlig eingenommen“ war. Das Gegenteil
war der Fall, teilweise bis zum Beginn der NS-Herrschaft. Die gewissenhafte Lektüre der Akten
und Wahltabellen zeigt, dass sich die NSDAP vorerst auf Bad Tölz beschränkte und die Bewohner
der ländlichen Gemeinden lange Zeit bis auf wenige Ausnahmen gegen die neuen Ideen immun
blieben. Teilweise wirkten nationalsozialistisch gesinnte Kurgäste und Urlauber als Werbeträger26.
Reparationen. Deutschland, Frankreich und der Young-Plan 1929–1932. Paderborn 1998; Carl-Ludwig Holt-
frerich: Alternativen zu Brünings Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise. In: Historische Zeitschrift.
235 (1982), S. 605–631; Harold James: Deutschland in der Weltwirtschaftskrise. 1924–1936. Stuttgart 1988;
Florian Pressler: Die erste Weltwirtschaftskrise. Eine kleine Geschichte der Großen Depression. München
2013; Albrecht Ritschl: Deutschlands Krise und Konjunktur 1924–1934. Binnenkonjunktur, Auslandsver-
schuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre. Berlin 2002; Gilbert Ziebura:
Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/24-1931. Zwischen Rekonstruktion und Zusammenbruch. Frankfurt/M.
1984; Wolfgang Stäbler: Weltwirtschaftskrise und Provinz. Studien zum wirtschaftlichen, sozialen und politi-
schen Wandel im Osten Altbayerns 1928 bis 1933. Kallmünz 1992. 25 Interview mit Altbürgermeister M. Häsch am 30.1.1999 aus seiner Kenntnis als Vorsitzender des Bayerischen Waldbesitzer-
verbandes. Übrigens wurde 1938 aufgrund dieser Erfahrungen ein Preissystem für den Holzmarkt entwickelt, das den
Waldbauern Mindestpreise garantierte. Dieses System ist in seinen Grundgedanken noch heute gültig. 26 Michael E. Holzmann: Die österreichische SA und ihre Illusion von „Großdeutschland“. Bd. 1: Völkischer
Nationalismus in Österreich bis 1933. Berlin 2011, bes. Kapitel 2, 3 und 5; StAM LRA 134022, Schreiben des
Staatsministeriums des Innern an die „Regierungspräsidenten als Staatskommissare“ vom 5.10.1920; ebd.
Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums des Innern an die Regierungen, Kammern des Innern von
3.7.1922; Martin Hille: Der Aufstieg der NSDAP im Bezirksamt Tölz bis zur Machtergreifung. In: Zeitschrift
für Bayerische Landesgeschichte (ZBLG) 66 (2003), S. 891-935, S. 898f. mit dort verwendeter Literatur (=
https://de.wikipedia.org/wiki/Carl-Ludwig_Holtfrerichhttps://de.wikipedia.org/wiki/Carl-Ludwig_Holtfrerichhttps://de.wikipedia.org/wiki/Historische_Zeitschrifthttps://de.wikipedia.org/wiki/Harold_Jameshttps://de.wikipedia.org/wiki/Albrecht_Ritschl_(Wirtschaftshistoriker)
-
15
In der Folge dehnten die Nationalsozialisten ihre Aktivitäten entlang der Isar bis in die Jachenau
aus. Allerdings blieben die etablierten Parteien, besonders BVP und BBB die wichtigsten Kräfte. Trotz
einiger früher Erfolge der Partei in der Jachenau hatten die Nationalsozialisten einen schweren Stand
und wurden meist von jungen Knechten und Holzarbeitern, aber nicht von Bauern unterstützt. In Wa-
ckersberg misslang der Versuch, eine Ortsgruppe der NSDAP zu gründen. Gelegentlich wurden aus-
wärtige Redner eingeladen, so Mitte September 1922 anlässlich einer NSDAP-Veranstaltung in Leng-
gries, wo der SA-Funktionär und Angehörige der NSDAP-Landesleitung Salzburg, Hans Koller, auf-
trat. Dessen Auftritt sollte der geplanten Umorganisation der NS-Partei vorausgreifen, den Salzburger
SA-Verband zusammen mit den Kräften des Bundes Oberland der Münchner Partei-Zentrale zu un-
terstellen. Weitere NS-Funktionäre aus Tirol kamen zu Versammlungen in das Kreisgebiet. Mitte
1924 gab es eine Ortsgruppe in Otterfing mit 25 eingetragenen Mitgliedern und eine in Wolfrats-
hausen mit 40 registrierten Parteigenossen. Anfang 1927 berichtete der Wolfratshauser Landrat,
dass sich die Otterfinger Ortsgruppe aufgelöst habe und die Wolfratshauser NSDAP „keinerlei Tä-
tigkeit mehr“ entfalte. Gleichwohl beobachteten die Behörden verdeckte Aktivitäten der National-
sozialisten. Ein „deutscher Schützen- und Wanderbund“ wurde Anfang 1924 als „verbotene Fort-
setzung der aufgelösten NSDAP“ eingeschätzt27.
Im Juli und Dezember 1925 konstatierten Tölzer Behörden, dass im Bezirk keine Ortsgruppe der
NSDAP existiere und „von einer Tätigkeit seitens der nationalsozialistischen […] Partei nichts
wahrzunehmen“ sei. Ihre Anhänger sammelten sich nun im „Völkischen Block“ (VB), allerdings
mit nur bescheidenem Erfolg. Dies lag jedoch im Gegensatz zum gesamtbayerischen Trend, wo bei
der Reichstagswahl am 6. April 1924 18,8% der Wähler für den VB gestimmt und diesem zum
zweiten Platz verholfen hatten. Die vorläufige Ruhe täuschte: bereits im September 1924 berichtete
das Bayerische Innenministerium, „dass in der letzten Zeit militärische Übungen, auch Nachtübun-
gen, von verbotenen Organisationen vorgenommen wurden, von Oberland, Nationalsozialisten und
Rossbachleuten [Angehörige eines Freikorps]. Auch der Jung-Schlageter-Bund mit schwarzer
Flagge und dem weißen Hakenkreuz war beteiligt. Die Uniformierung bestand aus Feldröcken,
Windjacken und Sturmmützen mit schwarz-weiß-roter Kokarde, z.T. mit dem Hakenkreuz“. Das Mi-
nisterium forderte, derartige Geländespiele zu verhindern. Am 30. Januar 1925 erfuhr die Polizeidi-
rektion München von einer für den nächsten Tag geplanten militärischen Übung der “ehemaligen
Rossbach-Kompagnie...in der Wolfratshauser Gegend“. Die Militärspiele wurden vom berüchtigten
schlesischen Freikorpsführer Edmund Heines geleitet und sollten Bürgerkriegsszenarien durchspie-
len. Der Bund Oberland, Nachfolge-Organisation des gleichnamigen Freikorps und zu großen Tei-
len eine NS-Tarnorganisation, gründete zahlreiche Ortsgruppen. Das geschah im August 1925 auch
im Wolfratshauser Bezirk. Die relativ kleine Gruppe unterstand organisatorisch dem ehemaligen
Gauführer der Einwohnerwehr Seitz28.
Hille, Aufstieg); neuerdings ders.: Ländliche Gesellschaft und Nationalsozialismus in Oberbayern (1926-
1933). In: Eine Neue Zeit. Die „Goldenen Zwanziger“ in Oberbayern. Hg. v. J. Borgmann u. Kania-Schütz,
Monika. München 2019, S. 103-120; StAM LRA 132515, Auszug aus dem Sitzungsprotokoll des Bezirkstages
vom 21.12.1922. 27 Hille, Aufstieg, S. 900f.; Beitrag von Michael E. Holzmann in: Der Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Land
an Isar und Loisach. Ein Geschichtsbuch, besonders S. S. 201-227; Archiv des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ)
MA 1225 Schreiben des SA-Kommando Salzburg der NSDAP an das SA-Oberkommando München vom
26.7.1923; StAM LRA 134338 Bericht der Schutzmannschaft Tölz vom 25.7.1932; StAM LRA 134338 An-
schreiben der NSDAP Ortsgruppe Walchensee an die Ortspolizeibehörde Kochel vom 29.6.1932; StAM LRA
134047 Halbmonatsbericht des Landrats Tölz vom 14.8.1924; ebd. Halbmonatsbericht des Landrats Tölz vom
13.3.1925; StAM LRA 39019 Bericht der Gendarmerie-Hauptstation Sauerlach an das Bezirksamt Wolfrats-
hausen vom 7.12.1924; StAM LRA 40945 (Rechtsbewegung) Bericht des Bezirksamt Wolfratshausen an die
Polizeidirektion München Abt. VI d vom 26.7.1924; ebd. Antwortschreiben des Bezirksamt Wolfratshausen
an die Polizeidirektion München vom 11.3.1927; StAM LRA 134024 Bericht des Bezirksamts Tölz vom
18.1.1924. 28 StAM LRA 134026 Bericht der Gendarmeriestation Jachenau an das Bezirksamt Tölz vom 17.11.1924; StAM
LRA 134027 Schreiben des Bezirksamts an den Stadtrat und die Gendarmerie-Bezirksleitung Tölz vom
-
16
Im Kreisgebiet machte sich die NSDAP, deren Organisationsstruktur nicht mit den staatli-
chen Regionalgrenzen übereinstimmte, Ende 1928 wieder bemerkbar. Zunächst war das Be-
nediktbeuern, das nach damaliger NSDAP-Organisation zum Starnberger Kreis gehörte und
die heftigen Aktivitäten des dortigen Leiters Franz Buchner zu spüren bekam. Buchner, Be-
amter des Starnberger Vermessungsamts, war im Frühjahr 1927 wegen seiner NS-Agitation
strafweise nach Wolfratshausen versetzt worden. Buchners Zielsetzung war klar, er wollte
Benediktbeuern als „nationales Bollwerk gegen das rote Penzberg“ aufbauen. Dennoch liefen
viele NSDAP-Kundgebungen in den Orten des Loisachgebiets vor leeren Sälen ab. So war
Ende November 1928 in Münsing kein einziger Interessent erschienen. In den kommenden
Jahren wollte in Wolfratshausen keine Ortsgruppe gedeihen. Erst im Frühjahr 1931 gelang es
dem Bankgestellten Franz Hille aus Dorfen, eine Ortsgruppe zu gründen. Am 19. April 1931
fand ein so genannter „Deutscher Tag“ der NSDAP statt, der nur wegen zahlreicher auswär-
tiger Teilnehmer gut besucht war.
Ende 1927 wurde in Tölz durch den „alten Kämpfer“ Kirchmair eine neue Ortsgruppe der
NSDAP ins Leben gerufen. Das war zunächst schwieriger als erwartet, denn erst im Februar
1928 fanden sich zehn Interessenten zusammen, jene Anzahl von Parteimitgliedern, die nach
parteiinternen Kriterien zur Gründung einer Ortsgruppe notwendig war. In Holzkirchen,
Starnberg, Miesbach und Murnau hingegen entfaltete die Hitlerpartei durch die emsige Wühl-
arbeit des Kreisleiters Buchner eine rege Propagandatätigkeit. Im Mai 1928 kam mit dem
NSDAP-Reichstagsabgeordneten Wilhelm Frick NS-Prominenz nach Bad Tölz und sorgte für
einen Eklat. Die genauen Vorgänge bei der Versammlung sind unbekannt, der Bericht des
Landrats sprach beschwichtigend von „etwas provozierende[m] Verhalten des Redners,
Reichstagsabgeordneten Dr. Frick, [das] einigen Unwillen der Gegner hervorrief“. Anläss-
lich der jährlichen Gefallenenehrung durch die Stadt Tölz hatte die NSDAP-Ortsgruppe am
Kriegerdenkmal einen Kranz mit großer Schleife und überdimensioniertem Parteiabzeichen
abgelegt. Für die Anwesenden war das eine Provokation, und es war auch so gemeint. Der
Tölzer Bürgermeister ließ die Schleife entfernen und löste einen schrillen Aufschrei der Hit-
ler-Anhänger aus, die von Unterdrückung und Missachtung der Kriegsgefallenen sprachen.
Die Propagandatätigkeit der NSDAP, die nun Gründungen von Ortsgruppen einer Min-
destzahl von 15 Parteimitgliedern in Gemeinden mit mehr als 1000 Einwohnern forcierte,
dehnte sich allmählich auf andere Bezirksgemeinden aus, teilweise mit bescheidenem Erfolg.
Bei den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 stimmten im Bezirk Tölz 5,6% der Wähler für
die NSDAP. Diese für diese Zeit relativ hohen Ergebnisse (deutschlandweiter Schnitt: 2,6%)
relativieren sich beim Vergleich mit den Nachbarbezirken: Holzkirchen 23,3%, Miesbach
18,7% und Fischbachau 32,2%. Auf einer Partei-Veranstaltung am 12. Mai 1929 in Bad Tölz
erschienen aus Wackersberg neben dem späteren Ortsgruppenleiter nur zwei Bauern. Zu-
gleich war diese Phase für die Tölzer Gegend ein Wendepunkt. Erster Höhepunkt war der
Auftritt von 180 SA-Leuten aus dem Bezirk Tölz im Juni 1929, die in voller Montur eine
Kundgebung der NSDAP in Penzberg eröffneten.
In den frühen 1930er Jahren verfügte die NSDAP nur in wenigen Gemeinden über feste
Organisationsstrukturen, eindeutige Führungsverhältnisse und eine eigene SA-Truppe. In
Tölz waren Partei und SA im Gegensatz zur ersten Periode vor dem 9. November 1923 spär-
lich besetzt. Erst zur Sonnwendfeier des Jahres 1929 trat die Tölzer SA wieder öffentlich auf.
Eine Ausnahme war der Auftritt von SS-Führer Heinrich Himmler am 20. August 1930 in
Tölz vor immerhin etwa 250 Personen, was als die seit Jahren best besuchte Veranstaltung
21.12.1925; ebd. Bericht der Gendarmerie-Hauptstation Tölz vom 30.7.1925; StAM LRA 40945 (Rechtsbe-
wegung) Anfrage der Polizeidirektion München an das Landratsamt Wolfratshausen vom 30.1.1925; ebd. Mit-
teilung der Ortsgruppe Bund Oberland an das Bezirksamt Wolfratshausen vom 18.8.1925; Peter, Longerich:
Die braunen Bataillone. Geschichte der SA. München 1989, S. 64, 145, 176, 217.
-
17
beschrieben wurde. Im Januar 1931 umfasste die Organisation nur 37 Angehörige. Das führte
dazu, dass die Tölzer Ortsgruppe für größere Auftritte sich öfter der Hilfe anderer SA-Grup-
pen bedienen musste. Die große, flächenübergreifende Wende kam erst auf dem Höhepunkt
der Weltwirtschaftskrise ab Mitte 193129.
Seit den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 wurde deutlich, dass die mannigfachen
Krisen zur unaufhaltsamen Radikalisierung in der Bevölkerung geführt hatten. Davon profitierte die
NSDAP besonders stark, bis 1933 verschärfte sich die Lage nur noch. Die Verweildauer der einzel-
nen Reichskanzler und -minister wurde ständig kürzer, während der NSDAP immer mehr Anhä-
nger zuflogen. Keine andere Partei in Deutschland hat in so kurzer Zeit einen derartigen Sprung
von einer Splitterpartei zur mit Abstand stärksten politischen Kraft erreicht. 1928 hatten sich ins-
gesamt 810.000 Wähler für die NSDAP entschieden. Das waren bescheidene 2,6% und nach heuti-
gen Kriterien wäre die Partei an der Fünfprozentklausel gescheitert. Nur zwei Jahre später sam-
melte die NSDAP bereits 6,5 Millionen Wähler oder 18,3% und wurde zur zweitstärksten Fraktion
im Reichstag. Und noch einmal knapp zwei Jahre später stimmten 13,8 Millionen bzw. 37,3% der
Wähler für die NSDAP, die mit großem Abstand vor der SPD (acht Millionen) zur stärksten politi-
schen Kraft geworden war30.
Die NSDAP in Dietramszell
Über die Anfänge der Dietramszeller NSDAP sind bisher nur wenige Unterlagen bekannt. Aus
den Spruchkammerakten von 1945 bis 1948 ergibt sich, dass hier erst am 6. Februar 1932 in Anwe-
senheit des Bezirksleiters Dr. Bichler eine eigene Ortsgruppe gegründet wurde. Zuvor hatten die Diet-
ramszeller Nationalsozialisten zur Ortsgruppe Baiernrain gehört. Der Initialzündung folgten mehrere
Kundgebungen und von der NSDAP „gesprengte“ Versammlungen anderer Parteien. Die Ortsgruppe
stand bis 1936 bis zu dessen abrupten Rücktritt unter der Leitung des am 25. Oktober 1903 geborenen
Josef Suttner (jun.), der als sehr dominante Person beschrieben wurde, die andere „terrorisierte“ und
zum Parteieintritt mit der Drohung der Entziehung von Arbeitsaufträgen oder der Verweigerung von
Anstellungen erpresste. Andererseits geht aus dem von Suttner verfassten Lebenslauf ein innerer Kon-
flikt hervor, den er lange mit sich selbst ausgefochten hat. Zunächst gehörte er, ganz der katholisch-
nationalen Familientradition entsprechend, der BVP an, war aber spätestens 1923 von der angeblich
„gut organisierten Bewegung“ Hitlers fasziniert. Während seiner Wanderschaft durch ganz Deutsch-
land 1925, seiner Tätigkeit als „Chaufför“ in München von 1927 bis 1928 und seiner Tätigkeit als
Verwalter eines großen landwirtschaftlichen Gutes in Penzberg dürfte er umfassende Kontakte zu
29 Kurt Pätzold und Manfred Weissbecher. Geschichte der NSDAP 1920-1945. Köln 1998, S. 226f.; Carl-Wilhelm Reibel:
Das Fundament der Diktatur. Die NSDAP-Ortsgruppen 1932-1945. Paderborn 2002, S. 29f.; Joachim Braun:
Ende und Neubeginn. Die NS-Zeit im Altlandkreis Wolfratshausen. Wolfratshausen 1995, S. 7ff. (= Braun);
Hille, Aufstieg, S. 905-908; Sibylle Friedrike Hellerer: Die NSDAP im Landkreis Starnberg. Von den Anfän-
gen bis zur Konsolidierung der Macht (1919-1938). Dissertation an der LMU München 2014; StAM LRA
134052 Halbmonatsbericht des Landrats Tölz vom 30.8.1930. Z.B. StAM LRA 134052 Halbmonatsbericht des
Landrats Tölz vom 15.4.1930 und 30.5.1930 über NSDAP-Versammlungen, vgl. Tenfelde, S. 150ff., S. 193;
StAM LRA 134050 Bericht der Gendarmerie-Hauptstation Tölz vom 28.3.1928; Tölzer Zeitung vom 6.7.1936;
StAM LRA 134050 Halbmonatsbericht des Landrats Tölz vom 14.5.1928; StAM LRA 134022 Schreiben des
Bezirksamt Tölz an das Bayerische Staatsministerium des Innern vom 21.11.1928; StAM LRA 134050 Bericht
der Gendarmerie-Hauptstation an das Bezirksamt Tölz vom 24.11.1928. 30 Charles P. Kindleberger: Die Weltwirtschaftskrise. München 1973 (= Geschichte der Weltwirtschaft im 20.
Jh., Bd. 4.
-
18
NSDAP-Aktivisten gehabt haben, die sein Weltbild als praktizierender Katholik eindeutig beeinfluss-
ten. 1929 musste er nach dem Unfalltod seines Vaters ab 1929 zusammen mit einem Bruder den
elterlichen Betrieb leiten. In dieser Zeit müssen seine Zweifel am politischen Katholizismus und zu-
gleich seine Begeisterung für die NSDAP gewachsen sein. Schließlich war er die treibende Kraft bei
der Gründung der Dietramszeller NSDAP-Ortsgruppe im Februar 1932. Besondere Verdienste rech-
nete er sich selbst mit der Eroberung einer „Hochburg der BVP“ und beim „Kampf Hitler oder Hin-
denburg“ in Dietramszell zu31.
Die Umstände seines Rückzugs von der NSDAP-Ortsgruppe von 1936 sind unklar. Fragmenta-
rische Auszüge aus der – nicht auffindbaren - Spruchkammerakte von Johann Jaud verweisen darauf,
dass sich Suttner mit gemäßigten örtlichen NSDAP-Funktionären nicht einigen konnte. Jedenfalls
folgte auf Anordnung des Kreisleiters Eduard Bucherer der im Mai 1931 der NSDAP beigetretene
Kaufmann Josef Peiss, gegen dessen Willen. Josef Peiss führte sein Amt als Ortsgruppenleiter bis
zum Kriegsende ausgenommen passiv und schützte NS-Gegner und Kritiker vor der Verhaftung. Ob-
wohl er sich zurückziehen wollte verblieb er in seiner Position, auch auf Bitten von Jaud und anderer
gemäßigter NS-Funktionäre, von Pfarrer Aerzbaeck und der Klosterschwestern, um die Ernennung
eines „Fanatikers“ („…wir baten Herrn Preiss dringend, nicht abzulehnen, weil sonst ein berüchtig-
ter Aktivist Ortsgruppenleiter geworden wäre“) zu vermeiden. Beim US-Einmarsch am 2. Mai 1945
erklärte Josef Peiss, dass der Ort „unter gar keinen Umständen“ verteidigt werde, ging mit anderen
Gemeindebürgern dem Kampfverband entgegen und übergab das Dorf kampflos.
Einige örtliche NSDAP-Funktionäre begründeten nach 1945 ihre Sympathien für die National-
sozialisten mit politischer Unreife („jugendlicher Unverstand“), der schlechten Wirtschaft und den
heftigen Appellen Josef Suttners, die an „politische Anfeindungen“ erinnert hätten. Sie seien wieder
von der NSDAP abgerückt, allerdings ohne das offen zu zeigen. Um die Existenz nicht zu gefährden,
habe man die Zweifel an der NSDAP für sich behalten. Georg Peiss, der der NSDAP seit 1932 ange-
hörte, behauptete in seinem Spruchkammerverfahren, er sei von Suttner „durch Nötigung verschie-
denster Art zur Mitgliedschaft […] gepresst worden“. Während seiner Amtszeit will Peiss „den Na-
zismus mehr und mehr hassen gelernt“, aus seiner Abneigung gegen „die Nazipartei und […] ihre
fanatischen Anhänger“ kein Hehl gemacht und ihm bekannte „Schwarzhörer der englischen Sender“
nicht gemeldet haben. Ebenso widersetzte er sich vehement der Anbringung eines Schaukastens für
das NS-Hetzblatt „Der Stürmer“ auf seinem Anwesen und strebte seit 1943 erfolglos seinen eigenen
Parteiaustritt an. Die Spruchkammer bescheinigte Peiss in seinem Berufungsverfahren, dass er „stets
offen die […] Partei kritisierte, seiner Kirche treu blieb“. Ähnliches bestätigte Ortspfarrer Aerzbäck.
Allerdings existieren auch glaubhafte Hinweise, dass Peiss am 8. April 1932 als aktiver Agitator der
NSDAP auftrat. So soll er seinen Gasthaussaal zwar für eine BVP-Veranstaltung vermietet, die
Durchführung aber durch aktive Zulassung gewaltsamer NS-Aktionen nachhaltig gestört („…dass er
den Saal frühzeitig […] den Nazis öffnete, die durch […] Suttner von 4 Bezirksämtern […] zusam-
mengeholt wurden“), und so indirekt den Auftritt des BVP-Vorsitzenden Fritz Schäffer „gesprengt“
haben.
Die „Sturmabteilung“ (SA) war eine als Ordnerdienst für den Schutz von Parteiveranstaltungen
gegründete Parteitruppe. Sie fiel durch ihre militärische Ausbildung und ihr gewaltbereites Auftreten
auf. Ihr bei jeder Gelegenheit zur Schau gestellter „Kampfgeist" sollte Entschlossenheit demonstrie-
ren und die politischen Qualitäten ihres „Führers" unterstreichen. Ihr rücksichtsloses und brutales
Vorgehen gegen jeden politischen Gegner wurde zum unverwechselbaren Bild und prägte das innen-
politische Leben der Weimarer Republik. Die Dietramszeller SA gehörte zum sogenannten NSDAP-
31 BArch R 16-I_138_Suttner, handschriftlich verfasster Lebenslauf von Josef Suttner vom 12.6.1935; ebd. R
16-18683, Anlage zum Fragebogen des Reichsnährstandes Josef Suttners vom 4.4.1934.
Neue Dokumentenfunde (StAM Vermögenskontrolle Wolfratshausen 233) weisen auf Immobiliengeschäfte
Josef Suttners hin. Eine Auswertung und Beurteilung ist für diese Darstellung noch nicht möglich.
-
19
Gau Oberbayern und war ab 1930 der SA-Gruppe „Oberland" zugeordnet. Sie wurde als „be-
sonders gewalttätige Formation“ beschrieben. Hier musste sie nicht wie in den Städten zuerst das
bürgerliche Lager und die Arbeiterschaft gewinnen. Sie gewann hier auch deswegen eine große An-
hängerschaft, weil nur die Uniformen neu waren und als schick galten, nicht aber die Menschen, die
darin steckten. Das waren bekannte, vertraute Gesichter aus dem Ort, die man seit früher Jugend
kannte und von deren persönlicher Integrität man überzeugt war. Wenn die sich schon der Sturmab-
teilung anschlössen, dann konnte man das selbst auch tun. Wer sich dieser Bewegung anschloss, war
davon überzeugt, für bessere Zeiten ohne Not, für ein Deutschland ohne Fesseln des Versailler Ver-
trages und ohne alliierte Reparationsforderungen zu kämpfen. Auf erhaltenen Bildern sind hiesige
SA-Angehörige erkennbar, ernst im Blick und entschlossen, aber zuversichtlich. Allerdings bestan-
den bereits zuvor Verknüpfungen zu führenden NSDAP-Funktionären in München. Besonders galt
dies für Hermann Esser, einem Redakteur mit Potential zum innerparteilichen Konkurrenten für Hit-
ler, und Christian Weber, einem ehemaligen Pferdeknecht und Leibwächter Hitlers in der frühen
NSDAP. Weber war ab 1926 an einer Busverbindung von Dietramszell nach München, Blumen-
straße, Gasthaus „Blauer Bock“ – Webers Stammlokal - beteiligt. Möglicherweise waren verwandt-
schaftliche Bande des „alten Kämpfers“ Franz Moos mit dem Wirt von Hechenberg weitere Naht-
stellen32.
An dieser Stelle ist ein Exkurs angebracht. Im Ort selbst hinterließ der bereits erwähnte BBB von
Anbeginn seine Spuren. Dieser hatte seit jeher Positionen vertreten, die kaum mit heutigen freiheitlich
demokratischen Grundsätzen vereinbar waren und wie verborgene NS-Propaganda wirkten. Aus er-
haltenen Dokumenten wird deutlich, dass die Behörden schon früh erhebliche Zweifel an der
politischen Rechtschaffenheit des BBB hegten. Das Bezirksamt Tölz war bereits vor der Jahr-
hundertwende von den Behörden aufgefordert worden, über Versammlungen dieser neuen
politischen Kraft, die ein bedeutender Konkurrent zur Bayerischen Zentrumspartei geworden
war, zu berichten. Begründet wurde die Aufforderung, dass „seit einiger Zeit die aufreizenden
Agitationen des Bayerischen Bauern- und Bürgerbundes und des Niederbayerischen Bauern-
bundes...an Intensität m
top related