manfred kiüppel 'euthanasie' · der euthanasie von dem der lebensvernichtung abgrenzt...
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Manfred KIüppel 'Euthanasie'
Nationalsozialismus in NordhessenSchriften zur regionalen Zeitgeschichte
Herausgeber:
Gesamthochschule Kassel, Fachbereiche 1 und 5
Heft 4Redaktion: Dietfrid Krause-Vilmar
Lektorat: Wolfgang Prinz
Der Autor Manfred Klüppel, geboren 1958, studierte von 1977 bis 1982
Ges.ellschaftswissenschaften und Musikerziehung an der Gesamthochschule Kassel.
Das Photo auf der Umschlagseite zeigt die Landesheilanstalt Merxhausen
im Jahre 1942.
Repros und Titelgestaltung: W. Prinz/Tiegel
Druck und Bindearbeiten: difo-druck, Bamberg
Repros und Satz Umschlag: S. Prinz/Tiegel
3. berichtigte Auflage 1985
© Gesamthochschule Kassel, Fachbereich 1 und 5 Gesamthochschulbibliothek
1. Auflage 1. Tsd. Kassel 1984 ISBN: 3-88122-216-2
2. unveränderte Auflage 2. - 4. Tsd. Kassel 1984 ISBN: 3-88122-216-2
3. berichtigte Auflage 5. Tsd. Kasse11985 ISBN: 3-88122-250-2
Manfred Klüppel
'Euthanasie' und Lebensvernichtung
am Beispiel der LandesheilanstaltenHaina und Merxhausen
Eine Chronik der Ereignisse 1933-1945
Und einer war dabei,
ein halbes Kind noch,
der spielte nur mit einem Schaukelpferd.
Und weil er sonst nichts konnte,
schrieb man in seine Akte: "nicht Iebenswert."
Und einer war dabei,
der saß im Winkel
und sang ein Lied den lieben langen Tag.
Und sang und sang und hörte auf zu singen,
als man ihn holte noch vor Tau und Tag.
Und einer war dabei,
der schrie und kreischte
und griff auch einmal einen Wärter an.
Man legte ihn in Ketten für die Reise,
so fuhr er mit den andern dann.
Und einer war dabei,
der hörte Stimmen,
die mit ihm plauderten fast jede Nacht.
Er hörte noch der Stimmen traulich Summen,
als man ihn schweigend hat hinausgebracht.
Und einer war dabei,
der gar nicht hingehörte,
denn sein Verstand war hell und klar
und mächtig seiner Rede Worte,
nur für die Zeiten damals viel zu wahr.
Und einer war dabei, der litt für alle
als neuer Christus einen neuen Tod.
Er sprach: "Nun darf ich Euch er lösen
von allem Übel Eurer Erdennot."
Eva Köberle1
Vorwort der Herausgeber
Die Vorgeschichte, der Ablauf, die Bedingungen, Voraussetzungen und das Ausmaß
der Vernichtung sogenannten "lebensunwerten" Lebens sind in der verdienstvollen
Gesamtdarstellung Ernst Klees ("Euthanasie" im NS-Staat. Frankfurt a. M. 1983)
behandelt. Klee geht auch auf grundlegende Zusammenhänge und Fragen der
"Euthanasie"-Aktionen ein, wie z: B. diejenigen der allmählichen Zusammenziehung
und Erfassung der Patienten als Voraussetzung der planmäßigen Tötungen, diejenige
der wissenschaftlichen Denk- und Haltungstraditionen aus der Zeit vor 1933 oder
diejenige nach der Mitwirkung verantwortlicher Juristen und Mediziner.
Die sorgfältig recherchierte regionale Studie von Manfred Klüppel kann Klees
Ergebnise durch die Auswertung bislang wissenschaftlich noch nicht erschlossenen
Materials in den Archiven der Lh Haina und Merxhausen nur bestätigen.
Vielleicht kann jedoch durch die von Klüppel vorgenommene Beschränkung auf die
beiden nordhessischen Lh der Blick sowohl für die Entscheidungs- und Gestaltungs
räume der Lh als "unterster" bzw. "letzter", wenn auch entscheidender Instanz ge
schärft werden. Klüppel weist darauf hin, daß z. B. in gewissem Rahmen die
Möglichkeit der Entlassung von Patienten unmittelbar vor ihrer "Verlegung" gegeben
war und in einem Fall auch praktiziert wurde (S. 42, 52).
Auch rücken in einer "Mikro"-Studie die Personen näher an den Leser heran, z. B.
die Marburger Mutter (S. 42 ff.), die ihren Töchtern über Weilmünster und Scheuern
bis Hadamar nachreiste, um anschließend zwei verlogene "Trostschreiben" zu
erhalten.
Schließlich gehört die Geschichte der Lh Haina und Merxhausen, auch in ihren
dunklen Seiten, zur Region. Die Erinnerung an die von dort aus nach Hadamar
"transportierten" und dort unschuldig umgebrachten Menschen und an die Umstände
dieser Untat hat einen Ort und einen Namen.
Die Studie von Klüppel stellt eine veränderte und ergänzte Neufassung seines Bei
trages für die Festschrift des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (450 Jahre Psychi
atrie in Hessen. Marburg 1983, S. 321- 348) dar.
D. Krause-Vilmar Kassel, im Juli 1984
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort des Verfassers
Abgrenzung der Lebensvernichtung zum Begriff derEuthanasie und ideologische Voraussetzungen
Begr iffsklärung
Ideologische Voraussetzungen
Lebensvernichtung und Krieg
Lebensvernichtung und Rassenhygiene
Lebensvernichtung und Psychiatriegeschichte
Chronologische Darstellung der Lebensvernichtungauf Reichsebene und Auswirkungen auf die Situationder Landesheilanstalten Haina und Merxhausen
'Gesetzliche Grundlagen'
Ver legungsaktionen aus kirchlichen Anstalten indie Landesheilanstalten Haina und Merxhausen inden Jahren 1937 - 1938
Die 'Kinder-Aktion'
Die 'Aktion T 4'
Exkurs: Die Tötung der jüdischen Patienten
Die Transporte der Merxhäuser und HainaerPatienten über die Zwischenanstalten in dieTötungsanstalt Hadamar
Das Verhalten der Ärzte, der Justiz und der KircheAnpassung und Widerstand
Das Schicksal der in Haina und Merxhausen untergebrachten psychisch erkrankten polnischen undrussischen Zwangsarbeiter
Die Verschleppung der nach § 42 b (StGB) straffällig gewordenen Hainaer Patienten in dasKZ Mauthausen
Die pflegerische Betreuung der Patienten und dieErnährungssituation in Haina und Merxhausen
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Über den Umgang mit der nationalsozialistischenVergangenheit oder warum diese Arbeit geschriebenwurde
Anmerkungen
AbbiIdungsnachwe is
Nachweis der abgebildeten Dokumente
Abkürzungsverzeichnis
Personen-, Sach- und Ortsregister
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Vorwort des Verfassers
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Geschichte der Landesheilanstalten
Haina und Merxhausen im Nationalsozialismus. Sie dokumentiert so genau wie irgend
möglich die systematische Ausgrenzung und Vernichtung psychisch Kranker. Die
Arbeit wurde im wesentlichen in den Jahren 1981 und 1982 geschrieben, sie ist den
leidenden und ermordeten Patienten der damaligen Landesheilanstalten gewidmet,
die die ersten Opfer der systematischen Vernichtungsaktionen der Nazis waren.
Die theoretische Beschäftigung mit der Psychiatrie im Nationalsozialismus weckte
mein Interesse für die aktuelle Situation der Psychiatrie: von Januar 1983 bis April
1984 leistete ich meinen Zivildienst im heutigen- Psychiatrischen Krankenhaus
Merxhausen, machte eine Ausbildung als KrankenpflegeheJfer und erlebte
Psychiatrie 'hautnah'. Ich war betroffen, wie Menschen, die 'draußen' nicht mehr
zurechtkamen, verwirrt, verwahrlost und leidend freiwillig oder auch manchmal mit
Zwang in das Krankenhaus kamen, dort einige Wochen behandelt wurden und in ihre
gewohnte Umgebung zurückkehren konnten. Ich erlebte aber auch, wie Menschen
nicht 'geheilt' werden konnten, die wohl ihr ganzes Leben im Krankenhaus zubringen
werden, weil kein anderer sie haben will. Für diese Patienten ist das Krankenhaus
lebenslängliche 'Zufluchtstation' , manchmal leider auch' Abschiebestation'. Kritik an
der heutigen Situation der Psychiatrie ist gleichzeitig Kritik an der Gesellschaft und
Kritik am einzelnen Menschen: jeder muß sich die Frage stellen, ob er bereit ist,
abweichendes Verhalten in seiner nächsten Umgebung zu akzeptieren. Insofern gilt
meine Solidarität den psychisch Kranken und dem weitaus überwiegenden Teil des
Personals des Psychiatrischen Krankenhauses Merxhausen.
Mein Dank gilt dem kaufmännischen Betriebsleiter des PK Merxhausen, Herrn
Winfried Ise, dem ärztlichen Betriebsleiter des PK Merxhausen, Herrn Dr. Hermann
Erckenbrecht und dessen Ehefrau Marieluise, die die Arbeit wohlwollend
unterstützten. Weiter gilt mein Dank Ernst Klee, Willi Klüppel, Dr , Eberhard Frei
herr Wolff von Gudenberg, Gerd Faatz, Jutta Maria Schlee, Dr. Arnd Friedrich,
Helga Hernpel und Sonja Prinz. Bei meiner Arbeit wurde ich von den
Staatsanwaltschaften der Landgerichte Kassel, Marburg und Frankfurt a. M. und von
der Staatsanwaltschaft am Oberlandesgericht Frankfurt a. M. unterstützt.
Ferner gilt mein Dank ehemaligen Pflegern, Pflegerinnen und Einwohnern aus
Haina und Merxhausen, die nicht namentlich genannt werden möchten.
Zwischen der systematischen Vernichtung von psychisch Kranken als Krieg nach
innen und dem Weltkrieg als Krieg nach außen besteht ein enger inhaltlicher und
zeitlicher Zusammenhang. Die Vernichtung 'lebensunwerten' Lebens stellt den
Auftakt zur 'Endlösung der Judenfrage' dar, eine Kontinuität des Tötungspersonals
- 8 -
von den ersten Tötungsanstalten in Deutschland zu den Vernichtungslagern in Polen
ist nachweisbar. Diese von Klaus Dörner 2 1967 aufgestellten Thesen sind Ausgang
und Hintergrund der vorliegenden Arbeit. Eine zentrale Frage ist z. B., inwieweit
die Heilanstalten Haina und Merxhausen Möglichkeiten hatten, die Vernichtung ihrer
Patienten zu verhindern oder zumindest teilweise zu boykottieren. Im wesentlichen
stützt sich die Arbeit auf folgende Quellen:
1. Dokumente (Aufnahmebücher, Verlegungslisten, Jahresberichte etc.) aus den
Archiven der Krankenhäuser Haina und Merxhausen.
2. Gerichtsakten der Landgerichte Kassel und Marburg zu Ermittlungsverfahren
gegen die Direktoren der damaligen Landesheilanstalten Haina, Marburg und
Merxhausen.
3. Gespräche mit ehemaligen Pflegern, Pflegerinnen, sowie älteren Einwohnern aus
Haina und Merxhausen.
4. Dokumente (Sitzungsprotokolle, Verlegungslisten) aus dem Archiv des
Hessischen Diakoniezentrums Hephata in Schwalmstadt-Treysa.
5. Gerichtsakten des LG Frankfurt a. M. zum Verfahren gegen Reinhold Vorberg
und Dietrich ABers (Ks 2/66 GStA).
6. Gerichtsakten des OLG Frankfurt a. M. zum Verfahren gegen Prof. Dr , Heyde
u. a. (Ks 2/63. GStA).
7. Gerichtsakten aus dem Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 461 Nr ,
32442, 1 - 11 zum Verfahren gegen Dr. Friedrich Mennecke, Dr. Walter Schmidt u.
a, ('Eichberg-Prozeß').
Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis befindet sich im Anhang der
Arbeit. Eine chronologische Darstellung mit Hilfe der vorliegenden Quellen
erscheint dem Verfasser als Möglichkeit, diesem bis heute nahezu verdrängten
Thema gerecht zu werden. Der Chronik ist ein Teil vorangestellt, der den Begriff
der Euthanasie von dem der Lebensvernichtung abgrenzt und ideologische Voraus
setzungen der Lebensvernichtung beleuchtet.
Abschließend folgt ein Teil über den Umgang mit der nationalsozialistischen
Vergangenheit, der Erfahrungen des Verfassers, die bei der Entstehung der Arbeit
gemacht worden sind, einbezieht.
Kassel, im Mai 1984 Manfred Klüppel
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Abgrenzung der Lebensvernichtung zum Begriff der Euthanasie und ideologische
Voraussetzungen
Begr iffsklärung
Der Begriff der "Euthanasie im Sinne von Sterbehilfe") hat nichts mit den
Vernichtungsaktionen gegen 'lebensunwertes' Leben zu tun. Seit dem Nürnberger
Ärzteprozeß, wo der Begriff Euthanasie fälschlicherweise für die verschiedensten
Tötungsaktionen gebraucht wurde, ist der Begriff bis heute nicht aus der Literatur
und den Diskussionen über die Vernichtung 'lebensunwerten' Lebens verschwunden.
H. Erhardt charakterisiert die Vernichtung 'lebensunwerten' Lebens folgendermaßen:
"Es handelt sich nicht um Sterbende, wenn auch die Lebenserwartung mehr oder
weniger begrenzt sein kann. Da es nicht um Sterbehilfe geht, sind Begriffe wie
'Euthanasie im weiteren Sinn' oder 'begrenzte Euthanasie' irreführend.,,4 Aus diesem
Grund erscheint der Begriff Euthanasie im Titel der Arbeit bewußt in Anführungs
zeichen.
Ideologische Voraussetzungen
Die Idee der Vernichtung 'lebensunwerten' Lebens ist keine Erfindung der
Nationalsozialisten. Im Jahre 1920 erschien in Leipzig eine 62 Seiten umfassende
Schrift der Professoren Dr. jur , et. phil. Kar! Binding und Dr, rned, Alfred Hoche
mit dem Titel 'Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens - Ihr Maß und
ihre Form.' Binding schlägt eine Staatsbehörde vor, die über eine Freigabe zur
Tötung entscheidet:
"Da der Staat von heute nie die Initiative zu solchen Tötungen ergreifen kann, so
wird die Initiative 1. in der Form des Antrages auf Freigabe bestimmten
Antragsberechtigten zu überweisen sein. Das kann in der ersten Gruppe der tödlich
Kranke selbst sein oder sein Arzt oder jeder andere, den er mit der Antragstellung
betraut hat, insbesondere einer seiner nächsten Verwandten.
2. Dieser Antrag geht an eine Staatsbehörde. Ihre erste Aufgabe besteht ganz allein
in der Feststellung der Voraussetzungen zur Freigabe: das sind die Feststellung
unrettbarer Krankheit oder unheilbaren Blödsinns und eventuell die der Fähigkeit zu
beachtlicher Einwilligung in den Fällen der ersten Gruppe. Daraus dürfte sich ihre
Besetzung ergeben: ein Arzt für körperliche Krankheiten, ein Psychiater oder ein
zweiter Arzt, der mit den Geisteskrankheiten vertraut ist und ein Jurist, der zum
Rechten schaut. Diese hätten allein Stimmrecht ••. Zur Freigabe dürfte Einstimmig
keit zu erfordern sein. Der Antragsteller und der behandelnde Arzt des Kranken
- 10 -
dürften als Mitglieder dem Ausschusse nicht angehören. Dieser Behörde müßte das
Recht des Augenscheins und der Zeugenvernehmung erteilt werden.
3. Der Beschluß selbst dürfte nur aussprechen, daß nach vorgenommener Prüfung
des Zustandes des Kranken er nach den jetzigen Anschauungen der Wissenschaft als
unheilbar erscheint, eventuell daß kein Grund zum Zweifel an der Beachtlichkeit
seiner Einwilligung vorliegt, daß demgemäß der Tötung des Kranken kein hindernder
Grund im Wege steht und dem Antragsteller anheimgegeben wird, in sachgemäßester
Weise die Erlösung des Kranken von seinem Übel in die Wege zu leiten,,5
Interessanterweise vertrat Hoche nur ein Jahr vor der Veröffentlichung der oben
zitierten Schrift eine ganz andere Meinung. Anläßlich eines Vortrages am 6.
November 1918 in Freiburg führte er aus: "Die Aufgabe des Arztes ist es, das
Sterben derjenigen zu erleichtern, denen nach der Art ihrer Krankheit ein schweres
Sterben beschieden ist. Es ist eine uner läßliche Forderung der ärztlichen Ethik, daß
dieser Akt der Erleichterung keine Verkürzung des Lebens bedeuten darf. Die Zu
mutung, dieses letztere aus Mitleid zu tun, tritt von seiten der Angehörigen nicht
so selten an den Arzt heran. Ein kurzes Nachdenken zeigt aber, daß der in solchen
Lagen von Laien immer wieder vertretene Gedanke, man möge die Ärzte angesichts
aussichtsloser, qualvoller Zustände von Staatswegen zur Tötung ermächtigen, unaus
führbar ist. ,,6
Die von Binding und Hoche gemeinsam ver faßte Schrift aus dem Jahr 1920 blieb
nicht ohne Widerspruch; im Jahre 1925 entgegnete Dr , med, Ewald Meltzer:
"Der Vorschlag der Tötung von Idioten oder Geisteskranken, und seien sie geistig
noch so tiefstehend, ist aus rechtlichen und ehtischen Gründen abzulehnen.
Ihre Beseitigung würde der Gesellschaft auch kaum einen nennenswerten mate
riellen Vorteil bringen. Er würde wenigstens ziemlich ausgeglichen werden durch die
Kosten des Verfahrens. Beobachtungs- und Pflegeanstalten müßte es auch dann noch
geben. Ob sich Ärzte oder andere Personen zur Ausführung des Verfahrens finden
würden, ist zur Zeit sehr zu bezweifeln. Unabsehbarer Schaden würde der Volksmo
ral zugefügt werden. Jedes chronisch kranke Geschöpf würde als überflüssig
empfunden und als beseitigungswert charakterisiert werden können. Das Vertrauen
zu den Kranken-, Heil- und Pflegeanstalten, Siechen- und Versorghäusern, das im
letzten Jahrhundert mit den Fortschritten der Wissenschaft dauernd gewachsen ist,
würde einem für die Volksgesundheit höchst bedenklichen, tiefen Mißtrauen Platz
machen."?
Die späteren Ereignisse widerlegten Meltzer, es fanden sich Ärzte, die zur Tötung
von 'lebensunwerten' Lebens bereit waren. Im Rückblick mutet Hoches Schlußwort
geradezu prophetisch an:
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"Es gab eine Zeit, die wir jetzt als barbarisch betrachten, in der die Beseitigung
der lebensunfähig Geborenen oder Gewordenen selbstverständlich war; dann kam die
jetzt noch laufende Phase, in welcher schließlich die Erhaltung jeder noch so wert
losen Existenz als höchst sittliche Forderung galt; eine neue Zeit wird kommen, die
von dem Standpunkt einer höheren Sittlichkeit aus aufhören wird, die Forderungen
eines überspannten Humanitätsbegriffes und einer Überschätzung des Wertes der
Existenz schlechthin mit schweren Opfern dauernd in die Tat umzusetzen ... ,,8
Diese, wohl unter den Eindrücken des ersten Weltkrieges niedergeschriebenen
Sätze deuten bereits die Verbindung von Krieg und Lebensvernichtung an.
Lebensvernichtung und Krieg
Die Verbindung von Lebensvernichtung und Krieg ist zweifach: inhaltlich und
zeitlich. Zunächst zum Inhaltlichen: Am 1. Sept. 1935 hielt der zum Professor
aufgestiegene "Altmeister der natlonalsozialistischen Rassenhygiene,,9, Alfred
Ploetz, in Berlin einen Vortrag zum Thema 'Rassenhygiene und Krieg'. Er schloß
seinen Vortrag mit dem Satz: "Direkt rassenhygienisch müßten wir uns bestreben,
die kontraselektorische Wirkung eines Krieges durch Erhöhung der
Ausmerzungsquote wettzumachen."lO Vorläufer dieses Gedankens fanden sich schon
bei K. Binding: "Denkt man sich gleichzeitig ein Schlachtfeld, bedeckt mit
Tausenden toter Jugend, oder ein Bergwerk, worin schlagende Wetter Hunderte flei
ßiger Arbeiter verschüttet haben, und stellt man in Gedanken unsere Idioteninstitute
mit ihrer Sorgfalt für ihre lebenden Insassen daneben - und man ist erschüttert von
diesem grellen Mißklang zwischen der Opferung des teuersten Gutes der Menschheit
im größten Maßstabe auf der einen und der größten Pflege nicht nur absolut
wertloser, sondern negativ zu wertender Existenzen auf der anderen Seite."ll
Die zeitliche Verbindung zwischen Lebensvernichtung und Krieg wird besonders in
den Aussagen von Hitlers Leibarzt Dr , Kar! Brandt vor dem amerikanischen Militär
gerichtshof in Nürnberg deutlich: "Ich muß annehmen, daß der Führer der Meinung
war, daß ein solches Problem im Krieg zunächst glatter und leichter durchzuführen
ist, daß offenbare Widerstände, die von kirchlicher Seite zu erwarten waren, in dem
allgemeinen Kriegsgeschehen nicht diese Rolle spielen würden als sonst.,,12 Aus den
Aussagen Brandts ergibt sich, daß Hitler den 'Tötungserlaß' tatsächlich auf den l .
September 1939, also den Tag des Kriegsbeginns, zurückdatierte: "Vielleicht ist es
noch von Bedeutung, darauf hinzuweisen, daß der Erlaß tatsächlich zurückdatiert
ist. Die Unterzeichnung und die Formulierung überhaupt ist erst erfolgt im Oktober,
während das Datum der 1. September 1939 ist.,,13
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Lebensvernichtung und Rassenhygiene
Ein Zitat aus Hitlers 'Mein Kampf' verdeutlicht die nationalsozialistische Rassen
und Vernichtungslehre:
"Alle großen Kulturen der Vergangenheit gingen nur zugrunde, weil die
ursprünglich schöpferische Rasse an Blutvergiftung abstarb. Immer war die letzte
Ursache eines solchen Untergangs das Vermessen, daß alle Kultur vom Menschen
abhängt und nicht umgekehrt, daß also, um eine bestimmte Kultur zu bewahren,
der sie erschaffende Mensch erhalten werden muß. Diese Erhaltung aber ist
gebunden an das eherne Gesetz der Notwendigkeit und des Rechtes des Sieges des
Besten und Stärkeren. Wer leben will, der kämpfe also, und wer nicht streiten will
in dieser Welt des ewigen Ringens, verdient das Leben nicht.,,14
A. Schwendy u. a. charakterisieren die Zeit des Nationalsozialismus "als eine
Epoche der totalen Unfähigkeit, Anderssein zu akzeptieren: Was nicht stark und
nützlich war, wurde ausgerottet.,,15 Neben diesen sozialdarwinistischen Zügen der
nationalsozialistischen Rassenhygiene ist dem Vernichtungswahn noch ein
pseudoökonomisches Element zugeordnet, das den Wert des Einzelnen lediglich nach
seinem, in mathematischen Größen faßbaren, Beitrag zur 'Volksgemeinschaft'
bestimmt. Der Giessener Rassenhygieniker Prof. Dr. H. W. Kranz:
"Wir haben den Einzelmenschen danach zu bewerten, wie er sich zu dieser
Gemeinschaft stellt, ob und wie er sich in die Gemeinschaft einordnet und welche
Leistungen er für sie vollbringt. Grundsätzlich ergibt sich jedenfalls, daß nicht nur
die Kriminellen eine wirtschaftliche und biologische Gefahr für das Volksganze
bilden, sondern daß es noch eine viel größere Zahl von Menschen gibt, die ohne
straffällig zu werden, als Schmarotzer an der Gesamtheit anzusehen sind, Schlacken
der menschlichen Gesellschaft: das wahrscheinlich an die Million heranreichende
Heer der Gemeinschaftsunfähigen, deren erbliche Anlagen nur auf dem Wege der
Ausmerze aus dem Fortpflanzungsprozeß ausgeschieden werden können ... "16
Die Diskriminierung sämtlicher Anstaltsinsassen reichte bis in den Mathematik
unterricht der Schulen hinein; folgende Aufgaben seien als Beispiele genannt:
"Aufg. 94. In einem Lande des Deutschen Reiches sind in staatlichen Anstalten
4400 Geisteskranke, in offener Fürsorge 4500, in Kreispflegeanstalten 1600 unterge
bracht, in Heimen für Epileptiker usw. befinden sich 2000, in Fürsorgeerziehungshei
men 1500 Personen. - Der Staat allein wendet für die genannten Anstalten jährlich
mindestens 10 Mio. RM auf.
(a) Was kostet also ein Kranker den Staat durchschnittlich im Jahre?
In den staatlichen Anstalten verblieben: I. 868 Kranke mehr als 10 Jahre, 11. 260
Kranke mehr als 20, 111. 112 Kranke mehr als 25 Jahre.
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(b) Was kostet ein Kranker der I. (11., 111.) Gruppe während der ganzen Zeit seiner
Unterbringung nach dem aus a) ermittelten Mindest-Durchschnittsatz?
Aufg. 95. Der Bau einer Irrenanstalt erforderte 6 Mio, RM. Wieviel
Siedlungshäuser zu je 15000 RM hätte man dafür erbauen können?" 17
Lebensvernichtung und Psychiatriegeschichte
Um die Situation der Psychiatrie im Nationalsozialismus zu erhellen, sollen hier die
wesentlichen Punkte des Aufsatzes 'Psychiatrie und Faschismus' von Hans Georg
Güse und Norbert Schmacke wiedergegeben werden. Die Autoren versuchen, eine
Kontinuität der Psychiatriegeschichte vom 19. Jahrhundert bis 1945 nachzuweisen
und betonen, "... daß die faschistische Phase der Psychiatrie in Deutschland keine
Episode, keinen Betriebsunfall darstellte, den wir bedauernd zur Kenntnis nehmen
müssen .•. vielmehr wurde hier der Gipfelpunkt einer kontinuierlichen Entwicklung
erreicht, deren Wurzeln bereits im 19. Jahrhundert gelegt wurden.,,18
1. Psychiatrie als Lehre von der Entstehung und Behandlung psychischer Störungen
befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen Natur- und Sozialwissenschaft.
Psychische und psychopathologische Phänomene sind wesentlich ein Resultat sozialer
Lernvorgänge, im Umgang mit den Patienten wird die gesellschaftliche Realität
reflektiert, psychiatrische Therapie ist also auch Therapie der sozialen
Gemeinschaft.
2. Die massiv einsetzende Industrialisierung Deutschlands im letzten Drittel des
19. Jahrhunderts zog eine "sprunghafte Vergrößerung des Aufgabenbereichs der
Psychiater nach sich, denen immer umgreifendere Ordnungsfunktionen gegenüber
Verrückten und sozial Auffälligen übertragen wurden.,,19 Die Zahl der öffentlichen
und privaten Anstalten stieg von 207 im Jahr 1877 auf 546 Anstalten mit 240.000
Kranken zu Beginn des ersten Weltkrieges. Die Hilflosigkeit der Psychiater in
überfüllten, personell und materiell schlecht ausgestatteten Anstalten führte zu
einer Ignorierung des therapeutischen Anspruches. "Biologismus und Sozialdarwinis
mus blendeten die konkrete Situation des Patienten vollends aus, naturwissen
schaftliche Exaktheit und medizinische Kompetenz wurden nur noch vorgespiegelt.
Unter Einbeziehung des wirtschaftlichen Kalküls und eines therapeutischen
Nihilismus war die totale Ausgrenzung der Patienten, letztlich ihre physische
Vernichtung vorgebahnt.,,20
3. Ansätze einer emanzipatorischen Psychiatrie mit familiennahen Einrichtungen,
Verbindung zu Laiengruppen etc. bei Wilhelm Griesinger (1817 - 1868) blieben eine
Ausnahme in den obrigkeitsstaatlich verwalteten Anstalten. Im Zuge der Restaura
tion wurden psychische Krankheiten ausschließlich der Biologie und einer
behaupteten 'Veranlagung' zugeschrieben.
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4. Diese Entwicklungstendenz wurde besonders bei Emil Kraepelin (1865 - 1926)
deutlich, der den "Kerngedanken des Sozialdarwinismus, daß die soziale Gliederung
in der Gesellschaft der Ausdruck der natürlichen Verteilung der Anlagen und
Fähigkeiten sei,,21, übernahm und von 'geborenen Verbrechern' und 'geborenen
Prostituierten' sprach.
5. "In der letzten Stufe auf dem Weg in eine offen faschisierte Psychiatrie
verband sich nun das biologistische Verdikt, daß diese Degenerierten, diese erblich
Minderwertigen, für die es kraft der organischen Grundstörung keine therapeutische
Hoffnung gab, die das Erbgut des Volkes zerstörten, wegen ihrer potentiellen
Kriminalität eine ständige Gefahr für die Gesellschaft darstellten und daher
möglichst weit von ihr entfernt gehalten werden müßten, mit dem ökonomischen
Kalkül, besonders in der Krise möglichst wenig für die unproduktiven Invaliden und
'Ballastexistenzen ' auszugeben.,,22
6. "Die einmal der soziaJdarwinistischen Ideologie geöffneten Pforten, die
unkritische Reduktion auf den biologistischen Ansatz, die willkürliche Einteilung der
psychiatrischen Systematik und Einordnung von psychischen Phänomenen auf Grund
rechts- und ordnungspolitischer Erwägungen, die opportunistische Diskriminierung
von psychisch und sozial Devianten, die Suche nach öffentlicher und
wissenschaftlicher Anerkennung - a11 dies korrumpierte die deutsche Psychiatrie so
sehr, daß sie dem Faschismus keinen Widerstand entgegensetzen konnte.,,23
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Chronologische Darstellung der Lebensvernichtung auf Reichsebene und Auswir
kungen auf die Situation der Landesheilanstalten Haina und Merxhausen
'Gesetzliche' Grundlagen
Mit der von Reichspräsident von Hindenburg am 28. Februar 1933 verkündeten
'Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat' begann in Deutschland die vollstän
dige Aushöhlung der Weimarer Demokratie. Neben der Aufhebung der Grundrechte
war damit der Reichsregierung die Möglichkeit gegeben, sämtliche Parlamente zu
kontrollieren, gleichzuschalten oder aufzulösen. Gesetze wurden unter Ausschaltung
bzw. Umgehung der Parlamente verkündet. Daher erscheint es sinnvoll, das Wort
'gesetzliche' in der Überschrift in Anführungszeichen zu setzen.
In der 1933 vom preußischen Justizminister Hans Kerrl veröffentlichten
Denkschrift 'Nationalsozialistisches Strafrecht' fanden die von Binding und Hoche
gemachten Vorschläge zur Vernichtung 'unwerten Lebens' ihren Niederschlag: "SoUte
der Staat etwa bei unheilbar Geisteskranken ihre Ausschaltung aus dem Leben durch
amtliche Organe gesetzmäßig anordnen, so liegt in der Ausführung solcher
Maßnahmen nur die Durchführung einer staatlichen Anordnung ••• Wohl bleibt zu be
tonen, daß die Vernichtung lebensunwerten Lebens durch eine nichtamtliche Person
stets eine strafbare Handlung darstellt.,,24
Mit dem 'Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' vom 14. Juli 1933, das
am 1. Januar 1934 in Kraft trat, begannen im gesamten Reichsgebiet Zwangssterili
sierungen in großer Anzahl, die Aufnahmebücher in Haina und Merxhausen bezeugen
die vorgenommenen Sterilisierungen von angeblich unheilbaren Kranken.
Am 15. September 1935 folgten die 'Nürnberger Rassengesetze' , das 'Reichs
bürgergesetz' und das 'Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen
Ehre'. Betroffen waren vor allem Juden; das 'Gesetz zur Erbgesundheit des deut
schen Volkes' vom 18. Oktober 1935 erweiterte den Kreis der Diskriminierten auf
chronisch Erkrankte. Kurt Nowak bemerkt mit Recht: "Die Nürnberger Rassenge
setze, die auf der dem nordischen Rassenkult eigenen, wissenschaftlich absurden,
These basierten, daß Rassenmischungen das Grundübel der Weltgeschichte seien,
zeigen am deutlichsten, wie es um die wissenschaftliche Fundierung der NS-Rassen
lehre bestellt war. Nicht die Biologie, sondern die Ideologie, im Falle der Nürnber
ger Rassengesetze der wahnhafte Haß der Hochrasse gegen die 'Nieder '- bzw.
'Gegen'-Rasse der Juden ist Fundament und Movens dieser Gesetze gewesen.,,25 Ge
rade an dieser Stelle wird die Verbindung Lebensvernichtung zur 'Endlösung der
Judenfrage' besonders deutlich. In Haina und Merxhausen waren es zuerst die jü
dischen Patienten, die abtransportiert und getötet wurden.
- 16 -
Ein formloser geheimer Erlaß Hitlers vom Oktober 1939 blieb die einzige
'gesetzliche' Grundlage der Lebensvernichtung: "Reichsleiter Bouhler und Dr. rned.
Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu be
stimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar
Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod
gewährt werden kann. gez. Adolf Hitler .,,26
Verlegungsaktionen aus kirchlichen Anstalten in die Landesheilanstalten Haina und
Merxhausen in den Jahren 1937 - 1938
Im Bereich der preußischen Provinz Hessen-Nassau gab es seit 1867 zwei Bezirks
kommunalverbände: Kassel und Wiesbaden. Im Zuge der nationalsozialistischen
Gleichschaltung wurden im Dezember 1933 der Kommunallandtag und der Landes
ausschuß der Bezirksverbände aufgelöst und ihre Funktionen gemäß dem nun herr
schenden 'Führerprinzip' und unter Aufgabe der kommunalen Selbstverwaltung dem
Oberpräsidenten übertragen. Der Landeshauptmann in Kassel, bislang der Chef der
selbständigen Verwaltung des dortigen Bezirksverbandes, war nun nur noch Stellver
treter des Oberpräsidenten in Angelegenheiten des Bezirksverbandes, der formell
allerdings weiter bestehen blieb. Seit 1936 bekleidete der SS-Standartenführer
Wilhelm Traupel dieses Amt. Ihm unterstanden die bezirksverbandseigenen Landes
heilanstalten Haina, Merxhausen und Marburg.27
Unter dessen Leitung begann 1937
eine groß angelegte Verlegungsaktion von Patienten aus kirchlichen in bezirkseigene
Anstalten. Folgende Verlegungen können nachgewiesen werden:
1. Am 22. Juli 1937 kamen aus dem katholischen St, Antoniusheim in Fulda 23
Frauen nach Merxhausen und 26 Männer nach Haina. 28
2. Am 30. Apr il 1938 wurden 31 Frauen aus der evangelischen Anstalt Bethel bei
Bielefeld nach Merxhausen verlegt, 42 Männer und 20 Frauen aus Bethel wurden
nach Haina verlegt.29
3. Am 25. Mai 1938 wurden 30 Frauen aus der evangelischen Anstalt Hephata in
'rreysa nach Merxhausen verlegt.30
4. Am 30. September 1938 kamen weiterhin 30 Frauen aus Hephata nach Merxhau
sen, Kinder bis zum 14. Lebensjahr aus der Anstalt Hephata wurden in die Landes
heilanstalt Marburg gebracht.
5. Am 30. November 1938 wurde der vermutlich letzte Transport mit 36 Frauen
aus Hephata nach Merxhausen durchgeführt. 31
In einer Mitteilung des Oberpräsidenten vom 17. November 1938 an die
Landesheilanstalt Merxhausen heißt es: "Am 30.11.1938 vormittags 10.00 Uhr
werden sämtliche noch dort (gemeint ist Hephata, d. Verf.) befindliche weibliche
-17 -
Kranke nach Merxhausen, ein kleiner Teil auch nach Haina überführt.32
Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß diese Auflistung nicht den Anspruch
der Vollständigkeit erhebt, da die Akten nicht vollständig erhalten sind und in den
Aufnahmebüchern nicht immer die Spalte 'letzter Aufenthaltsort' der einzelnen
Kranken ausgefüllt ist.
Auf Grund einer Mitteilung des Bezirksverbandes Hessen vom 20. März 1938 an
die drei bezirkseigenen Landesheilanstalten Haina, Marburg und Merxhausen läßt
sich auf eine Gesamtzahl von 385 Patienten schließen: "Nähere Anweisungen über
den Transport folgen. Im ganzen handelt es sich ungefähr um 220 männliche und 165
weibliche Kranke. Welche Zahl davon auf die einzelnen Anstalten entfällt, wird
.. h rni '1 ,,33spater noc mitgetei t,
Um den Hintergrund der Verlegungsaktionen zu erhellen, sei darauf hingewiesen,
daß im Juni 1937 eine Kommission der 'Wirtschaftsberatung Deutscher Gemeinden
Aktiengesellschaft' in Berlin im Auftrag des Oberpräsidenten eine Wirtschaftlich
keits- und Organisationsprüfung der Landesheilanstalt Merxhausen durchführte. Im
abschließenden Bericht der Kommission heißt es: "Ferner liegt in staatspolitischen
und finanzwirtschaftlichen Überlegungen die Notwendigkeit begründet, die Kran
ken aus den privaten Heilanstalten in die öffentliche Fürsorge zu überführen.,,34 Im
gleichen Bericht wird eine Erhöhung der Bettenkapazität um 200 Betten vorgeschla
gen und der Anstalt empfohlen " ••• eine Jahresdurchschnittsbelegung mit rund 1100
Kranken anzustreben.,,35 Nach Auskünften von ehemaligen Pflegerinnen waren zu
dieser Zeit Haina und Merxhausen mit ca. 900 Patienten pro Anstalt bereits hoff
nungslos überfüllt. Ein weiteres Dokument vom 29. November 1937 belegt die men
schenverachtende Haltung, die den psychisch Kranken entgegenschlug:
"Die dem deutschen Reich durch die Betreuung der Asozialen und Erbuntüchtigen
entstehenden Kosten belaufen sich jährlich noch auf viele 100 Millionen. Wenn auch
der nationalsozialistische Staat alles tut, um das deutsche Volk erbreiner zu gestal
ten, so bleibt immerhin jetzt und für die Zukunft noch ein Heer von Menschen zu
betreuen, das selbst nichts Aktives für die deutsche Volksgemeinschaft zu leisten
vermag, diese vielmehr durch die entstehenden Pflege- und Betreuungskosten ganz
empfindlich belastet. Andererseits erwachsen dem Staat heute durch die Pflege der
Jugend und des gesunden Menschen soviel neue Aufgaben und Verpflichtungen, daß
hierfür gar nicht genug Mittel freigemacht werden können. Was auf diesem Gebiet
noch zu tun bleibt, wird einem klar, wenn man den Etat des Bezirksverbandes auf
schlägt und dabei gewahr wird, welche Summen für die Anstaltsfürsorge ausgegeben
werden und welche geringen Mittel zur Förderung der Jugend, auf deren Schultern
die Zukunft des deutschen Volkes ruht, zur Verfügung stehen. Wenn deshalb die Ver
waltung des Bezirksverbandes darauf bedacht ist, die Anstaltskosten nach Möglich-
- 18 -
keit zu senken, so ist das verständlich. Es fragt sich nun, wo der Hebel zu einer
Senkung der Anstaltspflegekosten mit Erfolg zuerst anzusetzen ist. Durch die Her
ausnahme der Geisteskranken, Schwachsinnigen usw. aus fremden Anstalten und
durch die Überführung dieser Personen in unsere eigenen Anstalten, durch die
Schließung einiger kleinerer, teurer wirtschaftenden Fürsorgeerziehungsanstalten, ist
der Weg zu einer wirtschaftlicheren Ausnutzung unserer eigenen Anstalten bereits
beschritten. Bei dieser Maßnahme allein darf es aber nicht bleiben. Wir müssen auch
noch zu einer fühlbaren Senkung der Lebenshaltungskosten in den Anstalten kom
men. Gerade auf diesem Gebiet eröffnen sich für unsere Anstalten noch aussichts
reiche Möglichkeiten.,,36
Ein Vergleich der Verpflegungsgebühren im Zeitraum Oktober 1933 bis April 1937
verdeutlicht die ständige Herabsetzung der Pflegekosten in allen Verpflegungsklas37
sen:
Tabelle Verpflegungsgebühren pro Tag in Haina und
Merxhausen 1933 - 1937
bis Oktober 1933 Selbstzahler
I. Klasse: 5,50 RM
hilfsbedürftige Personen
Normalklasse: 2,90 RM
II. Klasse: 1,85 RM
II. Klasse: 3,10 RM
xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
1. November 1933 Selbstzahler
I. Klasse: 5,20 RM
hilfsbedürftige Personen
Normalklasse: 2,80 RM
11. Klasse: 1,75 RM
II. Klasse: 3,10 RM
xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
1. April 1935 Selbstzahler
I. Klasse: 5,20 RM
hilfsbedürftige Personen
Normalklasse: 2,70 RM
11. Klasse: 1,75 RM
11. Klasse: 3,-- RM
xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
1. April 1936
- 19 -
Selbstzahler
I. Klasse: 5,20 RM
hilfsbedürftige Personen
Normalklasse: 2,20 RM
H. Klasse: 1,65 R M
11. Klasse: 3,-- RM
xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
1. April 1937 Selbstzahler
I. Klasse: 5,20 RM
hilfsbedürftige Personen
Normalklasse: 2,50 RM
11. Klasse: 1,65 RM
11. Klasse: 3,-- RM
xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
Die katholische Kirche setzte sich gegen die geplanten Verlegungen aus dem St.
Antoniusheim in Fulda zur Wehr. Im Sommer 1937 entbrannte ein Streit über den
Sinn von Erziehung zwischen dem bischöflichen Sozialbeauftragten und Vorsitzenden
des Diözesankaritasverbandes des Bistums Fulda einerseits und dem Landeshaupt
mann in Kassel andererseits. Dieser Streit hatte seine Wurzeln in den angekündigten
Verlegungen von Patienten aus katholischen Anstalten in bezirkseigene Anstalten.
Die 55-Zeitung 'Das schwarze Korps' nutzte diesen Streit propagandistisch aus, um
die Ver-legungen zu rechtfertigen:
"Der 'bischöfliche Sozialbeauftragte und Vorsitzende des Diözesankaritasverbandes
des Bistums Fulda', Prof. Dr. Thielemann, schrieb vor einiger Zeit an den Landes
hauptmann der Provinz Hessen-Nassau, Traupel, einen Brief über Erziehungsfragen,
worin es unter anderem hieß: 'Die Erziehung zum deutschen Menschen ist uns nicht
das Höchste; die Erziehung des Menschen zum Gotteskinde in natürlicher und über
natürlicher Beziehung, um dieses Gotteskind letztlich zur ewigen Vereinigung mit
Gott durch seine Gnade zu führen, ist für uns das letzte und höchste Ziel der Er
ziehung. Darin ist die Erziehung zum deutschen Menschen eingeschlossen ••.'
Von diesem aufschlußreichen Schwulst leitete der bischöfliche 'Sozialbeauftragte'
die Forderung an den Staat her, daß Jugendliche, die der öffentlichen Fürsorge an
heimfallen, grundsätzlich konfessionellen Anstalten zu überlassen seien - in diesem
Fall der katholischen Karitas ••• Deshalb wird man überall im Reich den Erlaß des
S5-5tandartenführers und Landeshauptmanns von Hessen-Nassau als vorbildlich und
nachahmenswürdig empfinden, der die einzig mögliche Antwort auf die kirchliche
- 20 -
Erklärung darstellt, wonach die Erziehung zum deutschen Menschen der Kirche nicht
das Höchste sei: 'Aus sämtlichen katholischen Heimen und Anstalten sind alle Kran
ken und Zöglinge schnellstens zurückzuziehen und in bezirkseigene Anstalten oder
solche, für die meine Verwaltung restlose Anweisungsbefugnisse haben, unterzubr in
gen. Um die Betreuung und Erziehung allgemein nach den Grundsätzen des national
sozialistischen Staates sicherzustellen, sind mit allen übrigen privaten Vereinen und
Institutionen sofort Vereinbarungen zu treffen, um diese Vereine auf das Führerprin
zip umzustellen, wobei der Vorsitz an meine Verwaltungen, an die NSV oder sonst
eine Organisation des Staates oder der nationalsozialistischen Bewegung abzutreten
ist ..•",38
Auch die evangelische Anstalt Hephata in Treysa wehrte sich gegen die Verle
gungen, als sie unmittelbar in ihrer Existenz gefährdet war. Anläßlich einer Sitzung
am 9. Juni 1937 im Verwaltungsgebäude des Landeshauptmanns in Kassel beklagte
sich der Leiter von Hephata, Pfarrer Happich, über die angekündigten Verlegungen,
im Sitzungsprotokoll wird erwähnt:
"Eins sei ihm bitter schmerzlich, und das müsse er offen aussprechen. Die Anstal
ten Hephata mit dem Brüderhaus hätten in den Zeiten vor dem Umschwung als ein
Hort des Kampfes und Widerstands gegen den Marxismus gegolten. Er hätte mit den
Ärzten der Anstalt seit längeren u. a. für ein Sterilisierungsgesetz gekämpft und sei
deshalb oft angefochten worden. Und ausgerechnet diese Anstalt werde als erste
größere Anstalt der Inneren Mission Deutschlands herausgegriffen, und es würden
Forderungen an sie gestellt, die an den Lebensnerv gingen.,,39
Am 25. März 1938 machte der Leiter von Hephata einen weiteren Vorstoß, er
schrieb an den Gauleiter der NSDAP und Staatsrat Weinrich in Kassel:
"Der Landeshauptmann will am 11. April die ersten 100 Pfleglinge von Hephata
wegnehmen, am 30. April die nächsten 100 und so weiter, bis in monatlichen Ao
ständen alle fortgenommen sind. Dann behalten wir noch 93 Pfleglinge, von denen
44 kostenlos oder gegen eine geringe Anerkenntnisgebühr bei uns untergebracht sind.
Das bedeutet den Zusammenbruch des Werkes .•. Darum bitte ich ganz dringend,
den Herrn Landeshauptmann vorläufig von seinen geplanten Maßnahmen abzusehen,
damit ich nicht gezwungen bin, der Gefolgschaft am 1. April vorsorglich zu kündi
gen ••• Mir liegt unendlich viel daran, daß der Gau Kur-Hessen-Waldeck, getreu
seiner Tradition, weiterhin mit an der Spitze aller Gaue steht. Es gibt aber nicht
vieles, was ihn so erschüttern könnte, als ein Eingriff in das von ihm durch kleine
und kleinste Opfer erbaute Hephata. Diese Erschütterung muß dem Gau erspart
bleiben. Das ist mein wichtigstes Anliegen. Darum erbitte ich von Ihnen, sehr ver
ehrter Herr Gauleiter, ein sofortiges Eingreifen, ehe es zu spät ist.,,40
- 21 -
Auch durch diesen geschickt formulierten Brief an den Gauleiter wurden die
Transporte offensichtlich nicht verhindert. Durch die Verlegungen von Patienten aus
kirchlichen Anstalten in staatliche Anstalten wurde zumindest der Zugriff für die
na tionalsozialistische Tötungsmaschinerie er leichtert.
Die 'Kinder-Aktion'
Mit der Organisation und Durchführung der Lebensvernichtung wurde die 'Kanzlei
des Führers' (KdF) betraut - neben der 'Reichskanzlei' , der 'Präsidialkanzlei' und
der 'Parteikanzlei' eine Art Privatkanzlei Hitlers. Die 'Kanz-lei des Führers' unter
der Leitung von Reichsleiter Philipp Bouhler, trat offiziell bei den 'Aktionen' der
Lebensvernichtung nie in Erscheinung, es wurden Tarnorganisationen gegründet: im
Frühjahr 1939 der 'Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und
anlagebedingten schweren Leiden', Mitglieder waren Reichsleiter Bouhler, der Ober
dienstleiter des Hauptamts 11 der 'KdF', Viktor Brack, der Leiter der Unterabteilung
IIb der 'KdF', Dr, Hans Hefelmann, der Leibarzt Hitlers, Dr, Karl Brandt, und als
'Gutachter' Prof. Dr, Werner Catel, Prof. Dr. Hans Heinze, der Kinderarzt Dr,
Ernst Wentzler und der Augenarzt Dr, Hellmuth Unger. Weiterhin war der Ministe
rialdirektor Dr, Herbert Linden vom Reichsinnenministerium (Abteilung IV, Sachge
biet 'Heil- und Ptlegeanstalten') Mitglied des Ausschusses.41
Ein von diesem Gremium veranlaßter geheimer Ministerialerlaß vom 18. August
1939 verpflichtete alle Hebammen und ärztliche Geburtshelfer, idiotische und miß
gebildete Neugeborene den Gesundheitsämtern zu melden. Auf Grund dieser Melde
bogen urteilten drei 'Gutachter' über Leben und Tod der Kinder, ohne sie jemals42
gesehen zu haben.
Die Kinder wurden in eine der 21 sogenannten 'Kinderfachabteilungen' gebracht,
wo sie auf unterschiedliche Weise z, B. durch Spritzen oder Nahrungsmittelentzug
getötet wurden. Die Landesheilanstalt Eichberg im Rheingau verfügte u. a. über
eine solche Abteilung. Im 'Eichberg-Prozeß' aus dem Jahre 1946 vor dem LG in
Frankfurt a. M. wurde über den angeklagten ehemaligen Oberarzt Dr. WaJter
Schmidt berichtet: "Dieser setzte nun unter Mitwirkung der Angeschuldigten ..• die
bereits auf der Kinderfachabteilung begonnenen Tötungen vermittels Injektionen auf
allen Stationen der Anstalt in großem Umfang fort.,,43
An diesem Punkt sei ein Vorausgriff auf die im weiteren Verlauf der Arbeit dar
gestellten Erwachsenentätungen gestattet: Eichberg war nachweislich Tötungsanstalt
für Erwachsene und gleichzeitig 'Zwischenstation' für die Tötungsanstalt Hadamar
bei Limburg.
- 22 -
Mit einem Transport erwachsener Merxhäuser Patienten am 12. Juni 1941 kam die
13jährige E. S. in die 'Kinderfachabteilung' der Landesheilanstalt Eichberg. In einer
Nachricht des Oberpräsidenten in Kassel an Merxhausen vom 27. Mai 1941 wurde
die Verlegung des Kindes angekündigt: "Im Benehmen mit dem Reichsausschuß zur
wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden bitte
ich, das Kind E. S.... alsbald in die Kinderfachabteilung der Landesheilanstalt Eich
berg zu verlegen.,,44 Am 12. Juni 1941 teilte Merxhausen dem Eichberger Direktor
mit, daß die "Vorgenannte Kranke ... mit dem heutigen Transport nach dort über
führt,,45 wird. Weitere Dokumente zu diesem Fall, die Aufschluß über das Schicksal
dieses Kindes geben könnten, sind nicht vorhanden.
Zu den Tötungen auf der 'Kinderfachabteilung' der Lh Eichberg liegt die Aussage
einer ehemaligen Oberschwester vor: "Im übrigen wurden die vom Reichsausschuß
bezeichneten Kinder getötet. Dies geschah in aller Regel dadurch, daß ihnen Dr.
Schmidt eine Injektion von 5 oder 10 ccm Morphium gab. In einigen Fällen habe ich
auch selbst die Einspritzungen auf Weisung von Dr. Schmidt vorgenommen. In
anderen Fällen wieder wurden den Kindern in Wasser aufgelöste Luminaltabletten
eingegeben ... Wenn ich nach Zahlen gefragt werde, so möchte ich schätzen, daß die
Abteilung von April (1941, d. Verf.) bis Kriegsende insgesamt wohl 500 Kinder
beherbergt hat. Hiervon mögen rund 200 getötet worden sein, ohne daß ich mich
jedoch auf diese Zahl festlegen will. Ich selbst habe wohl in etwa 30 - 50 Fällen
die erwähnten Einspritzungen vorgenommen.,,46 Die Gesamtzahl der Opfer der
'Kinder-Aktion' auf Reichsebene wird von K. Dörner und anderen Autoren auf etwa
5000 geschätzt.47
Es sei hinzugefügt, daß die 'Kinder-Aktion' bis zum Kriegsende durchgeführt
wurde und nach dem plötzlichen Einstellungsbefehl der Erwachsenentötung (vgl. S.
57 u. 58) durch Hitler auch Jugendliche einbezog: "Das Programm in der ursprüng
lichen Form wurde nicht wieder aufgenommen. Es sind aber die Funktionen des
Reichsausschußes erweitert worden. Der Reichsausschuß hatte ursprünglich nur mit
kindlichen Patienten bis 3 Jahren zu tun. Die Zeitgrenze wurde später erhöht auf 8
Jahre, 12 Jahre und ich meine sogar auf 16 bis 17 Jahre. Darin liegt schon eine Er
weiterung, die dem ausgefallenen Programm einen gewissen Ersatz bieten sollte.,,48
- 23 -
Die 'Aktion T 4'
Im Sommer 1939 wurde unter der Führung der 'KdF'-Vertreter Bouhler und Brack in
Berlin in der Tiergartenstr. 4 die 'Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Ptlegeanstal
ten' gegründet, eine Tarnorganisation, die die systematische Vernichtung von er
wachsenen psychisch Kranken plante. Die 'Aktion' erhielt den Namen 'T 4' nach der
Adresse der ersten Zusammenkünfte. Neben Bouhler und Brack wirkten der Jurist
Dr, Gerhard Bohne, die Professoren Werner Heyde und Carl Schneider mit, um nur
einige Namen der damaligen 'Elite' der deutschen Psychiatrie zu nennen.49
Vertre
ter des Reichsinnenministeriums waren Dr , Conti (Gesundheitsabteilung des RMdI)
und Dr. Linden (Reichskornrnissar für das Anstaltswesen im RMdI).50
Die 'Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten' war zuständig für die
Verschickung von Meldebogen, mit denen alle Patienten in den Heilanstalten des
Reiches erfaßt wurden und für die 'Begutachtung' der Patienten; die 'allgemeine
Stiftung für Anstaltswesen' war Arbeitgeber für das Personal in den Tötungsan
stalten, die 'Gemeinnützige Krankentransport GmbH' (Gekrat) übernahm die
Patiententransporte mit Bussen in die Tötungsanstalten und die 'Zentralverrech
nungsstelle Heil- und Pflegeanstalten' führte den Schriftwechsel mit den Kostenträ
gern. 51 Im Oktober 1939 wurden die ersten Meldebogen verschickt. Die Anstalten
mußten unter Zeitdruck die Bogen ausfüllen und schickten sie nach Berlin, von dort
aus wurden sie drei 'Gutachtern' und schließlich einem 'Obergutachter' vorgelegt. In
einem schwarz umrandeten Kästchen auf dem Meldebogen wurde entweder ein (+)
für Tod oder ein (-) für Leben eingetragen; Mord am Schreibtisch - ohne den Pa
tienten jemals gesehen zu haben. Auf Grund dieser 'Gutachten' schickte die 'Ge
meinnützige Krankentransport GmbH' (Gekratl Verlegungslisten in die betreffenden
Heilanstalten.
Haina und Merxhausen erhielten die Meldebogen zusammen mit einem Begleit
schreiben des RMdI am 28. Juni 1940 mit der Aufforderung, alle Meldebogen
spätestens am 1. August 1940 nach Berlin zurückzuschicken. Das Begleitschreiben
und einer dieser Meldebogen ist auf den nächsten beiden Seiten abgedruckt. 52
- 24 -
Dokument 1
- 25 -
Dokument 2
- 26 -
Die Patienten wurden von der 'Gekrat' in eine der sechs Tötungsanstalten ge
bracht, die ersten nahmen ihren 'Betrieb' im Januar 1940 auf, die Patienten wurden
dort in als Duschräume getarnten Gaskammern ermordet. Tötungsanstalten waren:
Grafeneck in Württemberg,
Hadamar bei Limburg,
das Zuchthaus Brandenburg an der Havel,
Bernburg in Sachsen-Anhalt,
Sonnenstein bei Pirna in Sachsen und
Hartheim bei Linz in Österreich.
"Im übrigen besaßen die Anstalten der 'Stiftung' ein eigenes Standesamt, so daß
die ordentlichen Behörden ausgeschaltet waren. Die Anstalten wurden sogar im in
ternen Schriftverkehr nicht nach den Ortsnamen, sondern mit Buchstaben bezeich
net. Auch scheinen zumindest die Ärzte falsche Namen geführt zu haben. Der
Nachlaß der Toten wurde vielfach geplündert. In zahlreichen Fällen wurden den Ge
töteten nicht nur die Ringe und andere Wertsachen abgenommen, sondern den Lei
chen auch die Goldzähne herausgebrochen. In den letzten Monaten des Jahres 1940
wurde die Anstalt Hadamar für die Zwecke der 'Stiftung' umgebaut und zwar fast
ausschließlich durch eigene Handwerker der 'Stiftung'. Insbesondere wurde in dem
Keller eine äußerlich als Duschraum getarnte Gaszelle eingebaut und ein großer
doppelter Krematoriumsofen errichtet. Während der Ausführung dieser Arbeiten traf
das Personal der 'Stiftung' ein, zu dem eine Reihe von Angehörigen des alten
Anstaltspersonals trat, so daß Anfang Januar 1941 mit der Vergasung der Kranken
und der Verbrennung ihrer Leichen begonnen werden konnte. Ein großer Teil des
Personals der 'Stiftung' war aus der Anstalt Grafeneck gekommen, wo bereits
mehrere tausend Kranke umgebracht waren, deren Nachlaß von Hadamar aus abge
wickelt wurde. Die Überführung der zur Tötung bestimmten Kranken nach Hadamar
erfolgte in drei großen Omnibussen, die im Besitz der 'Stiftung' waren und von ei
genen Fahrern der 'Stiftung' geführt wurden.
In der Hauptsache dienten die Heilanstalten in Weilmünster und Eichberg als
Sammelstellen für die zur Tötung in Hadamar ausgewählten Kranken. In diese
Sammelanstalten kamen nicht nur Insassen der anderen nassauischen Anstalten,
sondern auch von Anstalten fremder Provinzialverbände, nach Eichberg insbesondere
aus westfälischen, rheinländischen, hessischen und süddeutschen Anstalten. Daneben
wurden jedoch auch Kranke einer Reihe weiterer, selbst erheblich entfernter An
stalten nach Hadamar unmittelbar überführt. Gewöhnlich fuhren die drei Omnibusse
gemeinsam, so daß jeweils gegen 100 Patienten eintrafen. Da die Fenster der Kraft
wagen verhängt waren, blieben die Insassen den Blicken der Öffentlichkeit entzogen.
Zudem bewahrten die Fahrer und Begleiter strengstes Stillschweigen.
- 27 -
Nach dem Eintreffen in Hadamar wurden die Kranken entkleidet, nochmals kurz
ärztlich und personell überprüft, photographiert und sodann unter dem Vorwand, sie
sollten gebadet werden, in den Gasraum geführt. Nach dem Schließen der Türen der
Gaszelle wurde die normale Luft abgesaugt und durch einen von mehreren Pflegern
unterstützten Arzt Gas in den Raum gelassen, worauf in etwa drei Minuten die Ein
geschlossenen getötet waren. Der ganze Vorgang konnte durch ein kleines in der
Wand eingelassenes Fenster vom Nebenraum überwacht werden. Sodann wurde durch
einen Ventilator frische Luft zugeführt und der Gasraum freigemacht. Soweit ein
zelne Leichen für die Sektion bestimmt waren, wurden sie in zwei in der Nähe der
Gaszelle liegende Sektionsräume verbracht; die Mehrzahl der Leichen aber wurde in
die beiden Verbrennungsöfen befördert und verbrannt. Die Bedienung dieser Öfen er
folgte durch besonders geschultes Personal, die sogenannten 'Brenner'. Die Zahl der
durch Vergasung in Hadamar getöteten Kranken hat sich nicht feststellen Jassen, da
standesamtliche Urkunden nicht beschafft werden konnten. Bei dem Abrücken des
Personals der 'Stiftung' wurden außer den gesamten Krankenakten auch die Urkun
den des Standesamtes Mönchberg mitgenommen, das seitens der 'Stiftung' für die
Anstalt eingerichtet und mit eigenem Personal besetzt war und bei dem die Getöte
ten registriert wurden. Die Schätzungen hinsichtlich der Zahl der Getöteten schwan
ken ... In jedem Fall dürften es mindestens 10.000 gewesen sein, da die Verbrennung
der zehntausendsten Leiche Anlaß einer pietätlosen Kundgebung bildete, an der das
ganze Personal teilzunehmen gezwungen wurde. Nach dem Aufhören der Tötungen
im Spätsommer 1941 wurden nur Bürogeschäfte erledigt und die Nachlaßsachen ab
gewickelt. Etwa um Ostern 1942 wurden sodann die zur Tötung und Leichenver
brennung bestimmten Einrichtungen abgebrochen und bis auf geringe Reste besei
tigt. Am 31. Juli 1942 endete die Tätigkeit der 'Stiftung' ganz, die Anstalt wurde
dem Bezirksverband zurückgegeben und wieder ihren ursprünglichen Zwecken zuge
fÜhrt.,,53 Dieser erschreckende Bericht ist leider immer noch nicht die ganze
Wahrheit über Hadamar. Auf die nach August 1941 dort erfolgten Tötungen wird
noch an anderer Stelle eingegangen.
Zum Abbau der Tötungsanlagen stellt K. Dörner fest: "Den folgenschwersten
'Nutzen' zog die 55 aus der Institution der Lebensvernichtung aber nach dem plötz
lichen Ende der T 4-Aktivität im August 1941: Von Herbst 1941 an wurden in meh
reren Schüben sowohl die Vergasungsanlagen wie das von ihnen 'eingearbeitete' Per
sonal an den Leiter der Judenvernichtung im Osten, 55-Brigadeführer Globocnik,
überstellt und an verschiedenen Stellen des Ostraums wieder in Betrieb gesetzt. Die
Vervielfältigung der Erfahrung der T 4-0rganisationen, die Fortsetzung der Reini
gung des deutschen Volkskörpers von minderwertigem Erbgut in der Reinigung Euro
pas von minderwertigen Rassen bildet zugleich den Auftakt zur 'Endlösung der Ju
denfrage' .,,54
- 28 -
Exkurs: Die Tötung der jüdischen Patienten
Um den zeitlichen Ablauf einzuhalten, soll an dieser Stelle über das Schicksal der
jüdischen Patienten in Haina und Merxhausen berichtet werden, welches mit der ei
gentlichen 'Aktion T 4' in keinem inhaltlichen Zusammenhang steht, da "die Wohltat
der Euthanasie nur Deutschen zugute kommen,,55 sollte. Für die Vernichtung der
jüdischen Anstaltsinsassen wurde ein 'Sonderprogramm' durchgeführt.
Am 3. September 1940 erhielt die Landesheilanstalt Merxhausen ein Abschrift des
RMdI-Erlasses IV g 6662/40 vom 30. Aug. 1940,5106
in dem die 'Aussortierung' und Zusammenziehung der jüdischen Patienten angekün
digt wurde. 56 Die Landesheilanstalt Gießen war für die jüdischen Patienten aus
Haina, Marburg und Merxhausen 'Zwischenstation' für den Abtransport durch die57
'Gekrat' in eine 'Sarnrnelanstalt des Generalgouvernements'.
Am 25. September 1940 wurden alle 'VoHjuden' dieser drei Heilanstalten durch
Anstaltspersonal in die hessische Sammelanstalt Gießen gebracht;58 aus Haina 30
Patienten, aus Merxhausen 13 Patienten, aus Marburg wahrscheinlich 18 Patien
ten.59
In Merxhausen befindet sich noch heute eine Akte, die einen jahrelangen Streit
(bis zum 4. Februar 19430 über die Zahlung von Verpflegungskosten einer 'verleg
ten' jüdischen Merxhäuser Patientin dokumentiert: der Bürgermeister der Stadt
Gelnhausen schrieb in dieser Angelegenheit am 8.12.1942 an Merxhausen folgende
Mitteilung: "ßetr, Begleichung von Verpflegungskosten für die in der Irrenanstalt
Cholm verstorbene Jüdin E. R. aus Gelnhausen .•. ,,60
Der genaue Tötungsort der jüdischen Patienten ist bis heute nicht bekannt, denn
hinter der Adresse 'Irrenanstalt Cholm, Post Lublin' verbarg sich eine Sonderab
teilung der 'T 4' im Berliner Columbushaus, von der die Angehörigen benachrichtigt
wurden.61
Keiner der jüdischen Patienten ist jemals nach Haina oder Merxhausen
zurückgekehrt, wie sich zweifelsfrei aus den Aufnahmebüchern der Anstalten ergibt.
Die Angelegenheit hatte noch ein makaberes Nachspiel: nach den Unterlagen
wurde der Pflegesatz für die jüdischen Patienten für die Zeit vom 1. Okt. 1939 bis
zum 1. Okt. 1940, dem Tag des Abtransportes in eine Tötungsanstalt, durch Verfü
gung des Oberpräsidenten willkürlich und rückwirkend von 2,50 RM auf 5 RM pro
Tag erhöht, die erhöhten Pflegesätze für die zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr
in Haina und Merxhausen befindlichen Patienten wurden von der Bezirksstelle
Hessen-Nassau der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland bezahlt.62
Einige Dokumente aus der Merxhäuser Akte 'Abrechnung mit der Reichsvereini
gung der Juden in Deutschland' sind auf den folgenden Seiten abgedruckt.
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