oberstufenschule frutigen unterrichten nach lehrplan 21 · lehrplan 21 unterrichtet. die schülerin...
Post on 13-Aug-2020
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8 FOLIO 3/2019
Seit Sommer 2018 werden die 7. Klassen an der Oberstufenschule
Frutigen im Berner Oberland nach dem neuen Lehrplan unterrichtet.
Was hat sich seitdem geändert? Ein Augenschein vor Ort.
OBERSTUFENSCHULE FRUTIGEN
Unterrichten nach Lehrplan 21
Frutigen im Berner Oberland. Das
verwinkelte Gebäude der Oberstu-
fenschule liegt noch wie zu meiner
Schulzeit vor 25 Jahren eingebettet
zwischen grünen Wiesen, auf denen
Kühe friedlich grasen. Die Glocke
dröhnt schrill über den Schulplatz.
Die grosse Pause ist vorbei. Die
Schülerinnen und Schüler strömen
die Treppen hinauf in ihre Klassen-
zimmer. Die Wandtafel und der Blick
aus dem Fenster lassen meine Ge-
danken zurück in die Vergangenheit
schweifen. An das leise Tuscheln mit
Schulfreundinnen, während der Leh-
rer vorne referierte. An das Abschrei-
ben von der Wandtafel, fein säuber-
lich von Hand. An die unbequemen
Holzstühle, die zum Schaukeln einlu-
den. Diese – und die Pulte – wurden
in der Zwischenzeit durch ergonomi-
schere Modelle ersetzt. Doch sonst
scheint sich auf den ersten Blick
nicht viel verändert zu haben.
Dieser Blick täuscht. Es sind einige
Reformen durch das Zimmer geweht.
Doch keine hat wohl im Vorfeld für so
viel Wirbel gesorgt wie diejenige vom
letzten Sommer. Seitdem werden hier
FOLIO 3/2019 9
THEMA
Text: Sarah Forrer
Bild: Michael Würtenberg
«Mehr Lektionen,
dafür weniger
Hausaufgaben»
die drei 7. Klassen nach dem neuen
Lehrplan 21 unterrichtet. Die Schülerin-
nen und Schüler aus dem Oberland
gehören damit zu den rund 100 000
Kindern, die im Kanton Bern auf das
Schuljahr 2018/2019 umgestellt haben.
Mittendrin: Eugen Klein. Der 46-jährige
Lehrer unterrichtet seit vier Jahren an
der Oberstufenschule Frutigen. Er ist
der Klassenlehrer der Realklasse.
FOLIO: Eugen Klein, wie sehr hat sich
Ihr Berufsleben seit vergangenem
Sommer verändert?
Eugen Klein: Ich bin ein Quereinstei-
ger und habe mich erst vor acht Jah-
ren vom Pflegefachmann zum Lehrer
umschulen lassen. Somit wurde ich
bereits in der Lehrerausbildung auf
den Lehrplan 21 vorbereitet und lern-
te die neuesten Didaktik-Methoden.
Das war für mich sicher ein Vorteil.
Ich musste meine Unterrichtsgestal-
tung nicht grundsätzlich überdenken.
Mir war immer wichtig, die Stunden
abwechslungsreich mit Einbezug der
Schülerinnen und Schüler zu gestal-
ten. Was sich verändert hat, sind si-
cher formale Punkte wie die Anzahl
Lektionen und Beurteilungsformen.
Was heisst das konkret?
Das lässt sich kurz zusammenfassen:
mehr Lektionen, dafür weniger Haus-
aufgaben. Um die Fachbereiche
Deutsch, Mathematik sowie Informa-
tik und Medien zu stärken, wurden
zusätzliche Lektionen eingeführt. Um
dies auszugleichen, dürfen wir weni-
ger Hausaufgaben geben. Auch die
Fächerbezeichnungen wurden ange-
passt. Die grösste Herausforderung
ist für uns das neue Beurteilungssys-
tem. Es werden nicht nur Tests, son-
dern auch Lernprozesse beurteilt.
Das lässt viel Platz für die subjektive
Wahrnehmung und ist daher sicher
eine Knacknuss.
Wie werden Sie von der Schul leitung
und dem Kanton unterstützt?
Der Lehrplan 21 ist das zentrale The-
ma im Lehrerzimmer! Mit den Kollegen
diskutieren wir oft über mögliche Un-
terrichtsformen, aber auch über Beur-
teilung und neue Lehrmittel. Die Um-
stellung ist eine Chance, sich wieder
intensiv mit dem Unterricht auseinan-
derzusetzen. Wir haben intern päda-
gogische Weiterbildungen, und auch
auf kantonaler Ebene werden wir ge-
schult.
An diesem Freitagmorgen steht RGZ –
Räume, Zeiten, Gesellschaften – auf
dem Stundenplan. Eugen Klein proji-
ziert ein Bild an die Wandtafel, das
eine alte Kreidetafel von 1906 neben
einem Tablet von 2013 zeigt. «Was hat
dieses Bild mit Geschichte zu tun?»,
fragt Eugen Klein. Mit dem Pultnach-
barn tauschen sich die Schülerinnen
und Schüler aus. Dann folgt eine kur-
ze Inputrunde. Als Nächstes teilt der
Lehrer Blätter aus. Jeweils zu zweit
lesen sie den kurzen Text über Epo-
chen der Menschheit. Jeder Abschnitt
wird von einem der Schüler zusam-
mengefasst. Der andere stellt Fragen.
Das kooperative Lesen, das die Klasse
im Deutschunterricht behandelt hat,
fliesst fliessend in die Geschichts-
stunde ein.
Eugen Klein geht herum, horcht und
hilft. Nach zehn Minuten teilt er die
Klasse in fünf Gruppen ein. Diese sol-
len selbstständig mithilfe des Com-
puters Informationen über wichtige
Ereignisse der Weltgeschichte zu-
sammentragen und am Schluss der
Klasse vortragen. Während meine
Schulzeit einem ruhigen Fluss glich –
der Lehrer dozierte, wir hörten zu oder
schrieben von der Wandtafel ab –,
kommt der Unterricht heute wie ein
lebendiges Bergbächlein daher. Der
Verlauf ist nicht kanalisiert, die Schü-
lerinnen und Schüler können – und
müssen – sich ihren Weg, ihr Wissen
selbst aneignen.
Eugen Klein: Ist diese Lektion typisch
für den Lehrplan 21?
Eugen Klein: Ja, das entspricht sicher
dem Geist des neuen Lehrplans. Ich
übernehme die Rolle des Regisseurs,
des Coaches. Die Schülerinnen und
Schüler selbst spielen die Hauptrollen.
Sie sollen selber denken und Zusam-
menhänge verstehen. Dabei geht es
nicht nur um das jeweilige Fach, son-
dern um die Verknüpfung mit Deutsch,
Geografie und so weiter. In Zweier-
und Gruppenarbeiten lernen die Schü-
lerinnen und Schüler überfachliche
Kompetenzen wie Teamfähigkeit, ge-
genseitiges Zuhören und Respekt.
Was der Lehrplan 21 auch unterstützt,
ist das Rausgehen, das Verlassen des
Schulzimmers, um Zusammenhänge
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THEMA
zu sehen. Dabei können sehr spannen-
de Geschichten entstehen!»
Haben Sie ein Beispiel?
Anfang des Schuljahres habe ich die
Klasse aufgefordert, durch Frutigen
zu gehen und eine historische oder
geografische Frage zu entwickeln
und diese zu beantworten. Dafür
mussten sie die Umgebung wahrneh-
men, auf Personen zugehen, Inter-
views führen. Eine Gruppe stellte die
Frage: Wer ist die älteste Person auf
dem Friedhof? Sie sprachen dann mit
dem Pfarrer und der Kirchgemeinde.
Für solche Projekte lassen sich die
Schülerinnen und Schüler nach an-
fänglichen Startschwierigkeiten oft
sehr gut motivieren. Und auch für
mich als Lehrperson sind sie berei-
chernd und bringen überraschende
Resultate zutage. Solche Konzepte
wünsche ich mir mehr – auch fächer-
übergreifend mit anderen Lehrperso-
nen. Es braucht aber etwas Zeit, bis
sich das in der Institution Schule ver-
ankert hat.
Wo sehen Sie Herausforderungen des
neuen Lehrplans?
Das neue Beurteilungssystem sorgt
für eine gewisse Unsicherheit – es ist
aber wohl einfach eine Frage der Zeit,
bis sich das eingespielt hat. Ein grös-
seres Hindernis ist für mich der Zeit-
faktor. Wer den Unterricht abwechs-
lungsreich mit Inputs der Schülerinnen
und Schüler gestaltet, braucht länger
für die Bearbeitung des Stoffes als
beim Frontalunterricht. Gerade im
Geschichtsunterricht hinke ich etwas
hinterher. Da stellt sich für mich die
Frage nach Qualität oder Quantität.
Die Klingel schrillt durchs Schulhaus.
Die Zeit ist – für mich jedenfalls – ver-
flogen. Die Mädchen und Jungs verab-
schieden sich und springen aus dem
Schulhaus rauf auf ihre Mofas. Eugen
Klein schaut ihnen nach. Er wird nach-
denklich. Die meisten seiner Schüle-
rinnen und Schüler stecken mitten in
der Pubertät. Sie sind mehr mit sich
selbst und mit ihrem Umfeld als mit
dem Lehrstoff beschäftigt. Aus eige-
Eine Mammutübung mit Knacknüssen
Bern ist nicht der einzige Kanton, der
auf das Schuljahr 2018/2019 mit
der Einführung des neuen Lehrplans
angefangen hat. Sechs weitere Kantone
haben ebenfalls auf diesen Zeit-
punkt umgestellt (siehe Artikel «Was
erwartet die Berufsbildung?»). Die
Art der Einführung, die Weiterbil-
dungen und die Lehrmittelwahl hat
jeder Kanton individuell festgelegt.
Eine Umschau zeigt: Die ersten
Rückmeldungen aus den Kantonen sind
durchaus positiv. Die Begleitung der
Kantone und die Weiterbildungsan-
gebote werden von den Lehrpersonen
als wichtig erachtet. Auch die ge-
staffelte Einführung begrüssen die
Schulleitungen. Die Schulen und Lehr-
personen schätzen, dass sie sich
während des Einführungsprozesses auf
ihr Kerngeschäft – den Unterricht –
konzentrieren können.
Dennoch ist klar, dass eine solche
Mammutübung nicht ohne Reibung
geschieht. Ein Thema sind beispiels-
weise die neuen Fachbereiche (Räume,
Zeiten, Gesellschaften oder Natur
und Technik), wo verschiedene Ein-
zelfächer zusammengezogen werden. Da
brauche es genaue Absprachen zwi-
schen den Lehrpersonen. Auch die
Beurteilung nach Kompetenzen sorgt
für Unsicherheit. Diese Ansprüche
alle gut unter einen Hut zu bringen,
sei sicher eine Herausforderung.
Kritik wird bezüglich der neuen
Lehrmittel im Fremdsprachenunter-
richt laut. In einem sind sich die
Kantone einig: Es braucht vor allem:
Zeit, bis der neue Lehrplan auch
wirklich in den Schulstuben angekom-
men ist. Für ein Fazit sei es des-
halb noch zu früh.
ner Erfahrung weiss Eugen Klein: Bei
vielen öffnet sich der Knopf erst nach
der Schule.
Und da sieht er beim LP21 denn auch
die grösste Chance: Dass er die Schu-
le als Institution verändert. Weg vom
«Bulimie-Lernen», wo die Jugendli-
chen innert kürzester Zeit das Wissen
in ihren Kopf reinpauken, um es einzig
und allein für den Test zu verwerten
und danach wieder zu vergessen, hin
zu einer Schule als Ort, wo man nicht
lernen muss, sondern darf und möch-
te. Wo Selbstständigkeit, Lernreflexi-
on und soziale Kompetenzen geför-
dert werden. Davon würden am Ende
alle profitieren: die Schülerinnen und
Schüler, die Gesellschaft, aber auch
die Lehrbetriebe. Eugen Klein: «Nicht
nur das Fachwissen ist entscheidend.
Sondern das, was wir den jungen Men-
schen darüber hinaus mit auf den
Weg geben.
Die elementaren Spielregeln
im Klassenzimmer gelten
auch mit dem LP21.
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