perspektive21 - heft 19
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SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam
PVSt, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550
perspektive 21Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik
www.perspektive21.de Heft 19 • Juli 2003
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Seit 1997 erscheint
„Perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.
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Heft 11 Wirtschaft und Umwelt
Heft 13 Kräfteverhältnisse – brandenburgisches Parteiensystem
Heft 14 Brandenburgische Identitäten
Heft 15 Der Islam und der Westen
Heft 16 Bilanz vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt
Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?
Heft 18 Der Osten und die Berliner Republik
Fotos: Andreas Altwein/ddp, Steffen Leiprecht/ddp, Montage: Weber Medien
ArbeitshandbuchBundestag
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248 Seiten, Paperback, ISBN 3-936130-07-8, 12,80 €
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Das neue Deutschland
Die Zukunft als ChanceHerausgegeben von Tanja Busse und Tobias DürrCa. 300 Seiten. Broschur. s 15,90 (D)ISBN 3-351-02553-X
Kr ise im Westen, Umbruch im Osten – wie wir gemeinsamChancen beg rei fen und Reformen durchsetzen. Mit Bei trägenvon: Frank Decker, Wolfgang Engler, Matthias Platzeck, UweRana, Landol f Scherzer, Alexander Thumfar t und vie len anderen
W W W. A U F B A U -V E R L A G . D E
aufbauV E R L A G
Das neueDeutschland
Vorwort 3
Thema
Richard Stöss 5SPD und soziale Gerechtigkeit
Günter Baaske 21Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern
Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring 35Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa
Franz Walter 57Plädoyer für eine Große Koalition zur Sanierung des deutschen Sozialstaats
Magazin
Klaus Ness 65Eine Idee haben und Probleme lösen
Martin Gorholt 77Der Weg aus dem PISA-Loch
Klaus Faber 85Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen
Inhalt
Trampolin oder Hängematte?Die Modernisierung des Sozialstaates
Impressum
2
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HerausgeberSPD-Landesverband Brandenburg
RedaktionKlaus Ness (ViSdP)
Benjamin Ehlers
Klaus Faber
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Lars Krumrey
Christian Maaß
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Manja Orlowski
Silke Pamme
AnschriftFriedrich-Ebert-Straße 61
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Fordern und Fördern. Der Sozialstaatals Trampolin oder als Hängematte? Im140. Jahr ihres Bestehens macht diedeutsche Sozialdemokratie Ernst mitder Modernisierung unserer Sozialsy-steme. In einer Regierungserklärung am 14. März 2003 kündigte Gerhard Schrö-der seine Agenda 2010 an – und stürztedamit die SPD in den nächsten Mona-ten in heftige Turbulenzen. Erst aufeinem Sonderparteitag am 1. Juni 2003in Berlin machte die Basis den Weg fürdie ersten Schritte des Umbaus des Sozi-alstaates frei. Doch die Debatte wirdweitergehen, weil weitere Schritte fol-gen müssen und werden.
Für die SPD ist die Kontroverse überdie Zukunft des Sozialstaates eine Frageihrer eigenen Identität. Richard Stösszeigt in seinem Beitrag auf, welchenlangen Entwicklungsweg die Sozialde-mokratie dabei beschritten hat. Inihrem Eisenacher Programm von 1869hieß es zum Thema sozialer Gerechtig-keit: „Die heutigen politischen undsozialen Zustände sind im höchstenGrade ungerecht und daher mit dergrößten Energie zu bekämpfen. DerKampf der Befreiung der arbeitendenKlassen ist nicht ein Kampf für Klassen-privilegien und Vorrechte, sondern fürgleiche Rechte und Pflichten und für dieAbschaffung aller Klassenherrschaft.“
Daran erinnert inhaltlich und vomsprachlichen Duktus in einem Papier derSPD-Grundsatzkommission aus demJahr 2001 rein gar nichts mehr:„Eine dif-ferenzierte Gerechtigkeitsnorm wäreeine solche, die gerechte Gleichheitenund ungerechte Ungleichheiten unter-scheidet. Gerechte Ungleichheiten sindanzuerkennen, wenn sie aus dem ver-schiedenartigen gebrauch der Freiheitder Einzelnen und aus ihren unter-schiedlichen Beiträgen zur Wohlfahrtder ganzen Gesellschaft folgen.“
Doch die Debatte über soziale Gerech-tigkeit ist beileibe kein rein akademisch-philosophisches Problem. Darauf machtBrandenburgs Arbeits- und Sozialmini-ster Günter Baaske in seinem Beitragaufmerksam. Armut ist immer noch einreales, ja sogar zunehmendes Problem,von dem in Ostdeutschland auch er-schreckend viele Kinder betroffen sind.Die bedrückenden Zahlen und Fakten ausBrandenburg unterstreichen die Not-wendigkeit der Reform des Sozialstaatesaus einer ganz anderen Perspektive.
Die notwendige Modernisierung desSozialstaates ist jedoch kein typischdeutsches Problem. Alle westeuropäi-schen Länder standen oder stehen seitBeginn der 90er Jahre vor der schwieri-gen Aufgabe, eine Umgestaltung ihrersozialstaatlichen Sicherung vorzuneh-
Vorwort
3
Liebe Leserinnen und Leser der „Perspektive 21“!
men. Die Heidelberger Politikwissen-schaftler Christoph Egle, Christian Hen-kes, Alexander Petring und Tobias Ost-heim geben in ihrem Beitrag eineninformativen Überblick über die Debat-ten und eingeleiteten Maßnahmensozialdemokratischer Regierungen un-serer westeuropäischen Nachbarn.
Besonders viel Widerspruch wirdFranz Walter mit seinem flammendenPlädoyer für eine Große Koalition zurModernisierung des Sozialstaates aus-lösen. Doch seine Argumente sind nichteinfach von der Hand zu weisen: „Sobleibt allein die Große Koalition. Sie istgewissermaßen die zumindest zeitwei-se erforderliche innere Konsequenz ausdem kooperationsdemokratisch ange-legten Institutionengefüge der bundes-deutschen Republik. So wie Deutsch-land verfasst ist, gelingt Politik nurdurch Kooperation, nur dadurch, dass
beide Parteien gleichermaßen am gou-vernementalen Erfolg interessiert sind.“
Im Magazin finden Sie dieses Mal u.a.unter der Überschrift „Eine Idee habenund Probleme lösen“ einen Vorabdruckzur Zukunft der Parteiendemokratie ausdem von Tobias Dürr und Tanja Busseherausgegebenen Buch „Das neueDeutschland. Die Zukunft als Chance“,das Ende September 2003 im Aufbau-Verlag erscheinen wird. Der Band ver-sammelt eine große Anzahl von Beiträ-gen zur aktuellen politischen Lage inDeutschland von zahlreichen Autorenaus Ost und West, darunter viele, die sichin den vergangenen Jahren auch in derPerspektive 21 zu Wort gemeldet haben.
Ich wünsche auch dieses Mal eineanregende und spannende Lektüre.
IhrKlaus Ness
4
perspektive 21 im InternetDie Hefte 1-18 sind im Internet unter www.perspektive21.deals pdf-Datei zum Download verfügbar.
Das Leitmotiv der Agenda 2010 ist
richtig und wird wohl auch von nie-
mandem ernsthaft in Frage gestellt:
Um den Sozialstaat zu erhalten, muss
er reformiert werden. Der Streit dreht
sich um das „Wie“: Welche Maßnah-
men sind notwendig und geeignet, um
den Sozialstaat – wie Franz Walter es
nennt (ab S. 57) – zu sanieren? Um eine
Maßnahme zu beurteilen, bedarf es der
Bewertungskriterien. Ein Wertmaßstab
für die SPD sollte der Grundwert soziale
Gerechtigkeit sein. Soziale Gerechtig-
keit ist gewiss nicht die einzige – die
Kasse muss schließlich auch stimmen –,
aber doch eine für die Sozialdemokratie
besonders bedeutsame Messlatte. Die
vorgeschlagenen Reformschritte müs-
sen sich also daran messen lassen, ob
sie dem Kriterium der sozialen Gerech-
tigkeit entsprechen. Auch dies dürfte
Konsens sein und bedarf keiner weite-
ren Erörterung.
Was aber bedeutet soziale Gerech-
tigkeit? Der Begriff hat zunächst ein-
mal einen guten Klang. Er verheißt
hehre Absichten und streichelt die
geplagte Seele der Partei: Wir sind
immer noch eine große sozialdemo-
kratischen Wertegemeinschaft! Er stif-
tet also Identität. Außerdem besteht
Einigkeit darüber, dass der Gerechtig-
keitsbegriff der Gründerväter der SPD
aus dem frühkapitalistischen 19. Jahr-
hundert nicht der Gerechtigkeitsbe-
griff der SPD im wohlfahrtsstaatlichen
Kapitalismus des 21. Jahrhunderts sein
kann. Warum also noch tiefer bohren?
5
SPD und soziale Gerechtigkeitvon Richard Stöss
Gründer ohne Grundwerte
Tiefer bohren würde übrigens auch
nichts nutzen und schon gar nicht zu
hilfreichen Einsichten führen. Die
Gründergeneration der SPD kannte
den Grundwert soziale Gerechtigkeit
nicht, sie hatte überhaupt keine
Grundwerte. Ihr ging es um fun-
damentale Menschenrechte wie Frei-
heit und Gleichheit, um Demokratie,
um die Überwindung der Klassen-
gesellschaft und der Klassenherr-
schaft. In den frühen Dokumenten der
Arbeiterbewegung ist allenfalls davon
die Rede, dass die bestehenden Ver-
hältnisse ungerecht seien und daher
beseitigt werden müssten. Im Ei-
senacher Programm von 1869 hieß es
zum Beispiel:
„Die heutigen politischen und sozia-len Zustände sind im höchsten Gradeungerecht und daher mit der größtenEnergie zu bekämpfen. Der Kampf derBefreiung der arbeitenden Klassen istnicht ein Kampf für Klassenprivilegienund Vorrechte, sondern für gleicheRechte und Pflichten und für die Ab-schaffung aller Klassenherrschaft … Diepolitische Freiheit ist die unentbehrlicheVorbedingung zur ökonomischen Be-freiung der arbeitenden Klasse.“
Das Endziel war – für orthodoxe wie
für Revisionisten – die sozialistische
Gesellschaft, und das bedeutete vor
allem die Vergesellschaftung der Pro-
duktionsmittel. Strittig war lediglich,
ob sich der Sozialismus Schritt für
Schritt durch Reformen der besteh-
enden Gesellschaft oder nur durch
einen revolutionären Akt verwirklichen
lässt. Obwohl sich die SPD stets nach-
haltig für soziale Reformen zur Verbes-
serung der Lage der arbeitenden
Klasse einsetzte, sah sie die Lösung der
sozialen Frage nicht in derartigen
Reformen sondern in einer grundle-
genden Veränderung der Wirtschafts-
und Gesellschaftsordnung.
Dies änderte sich auch nach dem
Ersten Weltkrieg nicht. Weder im Gör-
litzer Programm von 1921 noch im Hei-
delberger Programm von 1925 war von
sozialer Gerechtigkeit die Rede. „Das
Ziel der Arbeiterklasse kann nur
erreicht werden durch die Verwand-
lung des kapitalistischen Privateigen-
tums an den Produktionsmitteln in
gesellschaftliches Eigentum“, hieß es
im Heidelberger Programm. Auch dort
fand sich ein umfassender Katalog von
konkreten wirtschafts- und sozialpoli-
tischen Forderungen („Wirtschaftsde-
mokratie“), von denen sich die prakti-
sche Politik leiten lassen sollte. Wie die
Herbeiführung einer sozialistischen
Gesellschaft bewerkstelligt werden
und – vor allem – welche konkrete
Gestalt sie annehmen sollte, blieb
auch in diesem, wie in allen früheren
Programmen offen. Unter den Bedin-
gungen der demokratischen Republik
entfernten sich Ziel und Weg, Pro-
gramm und Praxis der SPD zusehends.
Erst mit dem Godesberger Programm
von 1959 wurde diesbezüglich Klarheit
geschaffen.
Richard Stöss
6
Von der Verelendungstheorie zum demokratischen Sozialismus
Hatte sich die SPD im der Weimarer
Republik endgültig von der Verelen-
dungstheorie, von dem Ziel der revolu-
tionären Umgestaltung der Gesell-
schaft und von der Hoffnung losgesagt,
dass der Kapitalismus an seinen inne-
ren Widersprüchen zugrunde geht, so
verabschiedete sie sich nach dem Zwei-
ten Weltkrieg offiziell auch von der For-
derung nach Vergesellschaftung der
Produktionsmittel. Das sozialistische
Endziel war damit aufgegeben, die
Marktwirtschaft anerkannt. Der frei-
heitliche bzw. demokratische Sozialis-
mus wurde nun zur Leitidee nicht nur
der deutschen Sozialdemokratie, son-
dern aller Parteien der Sozialistischen
Internationale. Diese erblickte 1951 in
Frankfurt am Main das Licht der Welt
und erklärte nun soziale Gerechtigkeit
zu einem zentralen Anliegen des demo-
kratischen Sozialismus:
„Gleichviel, ob Sozialisten ihre Über-zeugung aus den Ergebnissen marxisti-scher oder anders begründeter sozialerAnalysen oder aus religiösen oderhumanitären Grundsätzen ableiten, alleerstreben ein gemeinsames Ziel: eineGesellschaftsordnung der sozialen Ge-rechtigkeit, der höheren Wohlfahrt, derFreiheit und des Weltfriedens.“ 1
Zu diesem gemeinsamen Ziel be-
kannte sich die SPD explizit in ihrem auf
dem Dortmunder Parteitag 1952
beschlossenen und auf dem Berliner
Parteitag 1954 konkretisierten Aktions-
programm. Und im Godesberger Pro-
gramm hieß es: „Freiheit, Gerechtigkeit
und Solidarität … sind die Grundwerte
des sozialistischen Wollens.“ Bedeutete
Sozialismus früher eine Weltanschau-
ung, die die grundlegende Umge-
staltung der wirtschaftlichen und sozia-
len Verhältnisse anstrebte, so bildete er
nun den Wertekanon für die Gestaltung
einer „menschenwürdigen Gesell-
schaft“ (Godesberger Programm).
Was verstanden die Nachkriegs-Sozi-
aldemokraten unter sozialer Gerech-
tigkeit? Der Begriff wurde nicht kon-
kret gefasst. Er blieb genauso vieldeu-
tig wie der Begriff Sozialismus. Im
Godesberger Programm fand sich nur
folgender Hinweis:
„Die Marktwirtschaft gewährleistetvon sich aus keine gerechte Einkom-
SPD und soziale Gerechtigkeit
7
1 Ziele und Aufgaben des demokratischen Sozialismus. Erklärung der Sozialistischen Internationale, beschlossen 1951 inFrankfurt a. M., abgedr. in: Programme der deutschen Sozialdemokratie, Hannover: J.H.W. Dietz Nachf. 1963, S. 103-113.
Gerechtigkeitsversprechen statt Kapitalismuskritik
mens- und Vermögensverteilung. Dazubedarf es einer zielbewussten Einkom-mens- und Vermögenspolitik.
Einkommen und Vermögen sind un-gerecht verteilt …
Die Sozialdemokratische Partei willLebensbedingungen schaffen, unterdenen alle Menschen in freier Entsch-ließung aus steigendem Einkommeneigenes Vermögen bilden können. Dassetzt eine stetige Erhöhung des Sozial-produkts bei gerechter Verteilung voraus.
Die Lohn- und Gehaltspolitik ist eingeeignetes und notwendiges Mittel, umEinkommen und Vermögen gerechterzu verteilen.“
Soziale Gerechtigkeit bezog sich also
nicht auf die Primärverteilung. Nicht
das vorhandene Vermögen sollte ge-
recht (um)verteilt werden, sondern der
Zuwachs. (Karl Schiller prägte dafür
später den Begriff „soziale Sym-
metrie“.) Die gerechte Verteilung des
Zuwachses setzt allerdings Wachstum
voraus. Die Frage, wie soziale Ge-
rechtigkeit ohne Wachstum realisier-
bar ist, stellte sich damals nicht. Das
galt entsprechend für die Vermögens-
bildung und die Gewährleistung von
sozialer Gerechtigkeit durch Lohn- und
Gehaltspolitik.
Weiterhin forderte das Godesberger
Programm, dass „ein angemessener Teil
des ständigen Zuwachses am Betriebs-
vermögen der Großwirtschaft“ für
„gemeinschaftliche Zwecke“ herangezo-
gen wird. Als derartige Gemeinschafts-
aufgaben nannte das Programm Wis-
senschaft, Forschung und Erziehung.
Soziale Gerechtigkeit bedeutete also
nicht nur eine (maßvolle) Korrektur der
Einkommens- und Vermögensvertei-
lung, sondern erstreckte sich auch auf
die gerechte Verteilung von Lebens-
chancen. Die Kommentare zum Dort-
munder bzw. Berliner Aktionsprogramm
und zum Godesberger Programm ließen
ein Spannungsverhältnis zwischen so-
zialer Gerechtigkeit und sozialer Gleich-
heit erkennen. Soziale Gerechtigkeit
sollte oft nur mehr, aber nicht absolute
Gleichheit bewirken. Ein gewisses Aus-
maß an Ungleichheit war unter Um-
ständen durchaus erwünscht. Denn
„Verteilungsvorteile“ wurden als not-
wendig angesehen, um zu wirtschaftli-
cher Leistung anzuspornen. „Höhere Lei-
stung soll durch höheres Einkommen
anerkannt werden.“2
Richard Stöss
82 Dieter Link, Vom Antikapitalismus zur sozialistischen Marktwirtschaft, Hannover: J.H.W. Dietz Nachf. 1965, S. 125.
SPD und soziale Gerechtigkeit
9
Dass der Grundwert soziale Gerech-
tigkeit nicht eindeutig definiert war,
wirkte sich zunächst nicht nachteilig
aus. Die ersten Nachkriegsjahrzehnte
der demokratischen Industriegesell-
schaften bildeten schließlich das „Gol-
dene Zeitalter“ des Kapitalismus. Hohe
Wachstumsraten und Vollbeschäfti-
gung ermöglichten eine enorme Stei-
gerung der Einkommen und des
Lebensstandards von Arbeitnehmern,
der Wohlfahrtsstaat stand in voller
Blüte, und die scheinbar anhaltende
Prosperität versprach zunehmende
Verteilungsgerechtigkeit. Es herrschte
ein breiter gesellschaftlicher Konsens
in sozialpolitischen Fragen. Dieser Kon-
sens ist überhaupt erst deshalb mög-
lich geworden, weil sich die SPD vom
antikapitalistischen Sozialismus losge-
sagt und der sozialen Gerechtigkeit
verschrieben hat. Der Begriff stammt
ursprünglich aus der Katholischen
Soziallehre. Als spiritus rector gilt der
sizilianische Priester Taparelli d'Azeg-
lio, der ihn 1840 erstmalig verwandt
haben soll3. In der Enzyklika „Rerum
novarum“ erklärte Papst Leo XIII. 1891,
dass die soziale Frage nicht allein
durch caritative Bemühungen bewäl-
tigt werden könne. Vielmehr sei der
Staat nicht nur berechtigt sondern
auch verpflichtet, zu Gunsten der
Armen und Schwachen zu intervenie-
ren. In der Enzyklika „Quadragesimo
anno“ (Pius XI. verkündete sie zum 40.
Jahrestag von Rerum novarum) wurde
die Reichweite des Sozialstaats durch
das Subsidiaritätsprinzip begrenzt und
schroff zwischen sozialer Gerechtigkeit
und Sozialismus unterschieden. Mit
dem Bekenntnis der SPD zum demo-
kratischen Sozialismus im Godesber-
ger Programm waren dann die Grund-
lagen für einen gemeinsamen Diskurs
von Sozialdemokratie und Politischem
Katholizismus gelegt. In Folge seiner
Vieldeutigkeit eignete sich der Begriff
soziale Gerechtigkeit also nicht nur
innerparteilich dazu, Flügel übergrei-
fenden Konsens zu stiften. Er taugte
auch als Zielvorstellung im politischen
Wettbewerb, weil er in seiner Unbe-
stimmtheit kaum polarisierte. Kein
Wechselwähler wurde durch seine Ver-
wendung abgeschreckt.
3 Ursula Nothelle-Wildfeuer, Zur Idee der sozialen Gerechtigkeit, in: Eichholz-Brief, 34. Jg. (1997), H. 4, S. 39-51, hier S. 40.
Gerechtigkeitsstreben als gesellschaftlicher Konsens
Mitte der siebziger Jahre löste ein
Grundsatzkonflikt den bis dahin be-
stehenden breiten gesellschaftlichen
Konsens in sozialpolitischen Fragen ab.
Damals setzte eine massive, anti-
etatistische und monetaristische Kritik
am sozialdemokratischen Reform-
ismus ein, der angesichts der damali-
gen Tendenzen zu Stagnation und
Inflation und angesichts der wachsen-
den Massenarbeitslosigkeit in heftige
Bedrängnis geraten war. Eine über-
triebene wohlfahrtsstaatliche Politik –
so die radikalen Kritiker – habe die
öffentlichen Haushalte überlastet, die
Selbststeuerungskräfte des Marktes
geschwächt, unternehmerische Initi-
ative behindert und damit der Wettbe-
werbsfähigkeit der Wirtschaft insge-
samt schwer geschadet. Um ihr zu
neuer Blüte zu verhelfen, müsse sie
von ihren bürokratischen Fesseln
befreit, staatliche Intervention auf das
unbedingt notwendige Mindestmaß
zurückgeschraubt und die Staats-
verschuldung konsequent abgebaut
werden. Für die Lösung der sozialen
Probleme seien in erster Linie die Bür-
ger selbst verantwortlich, staatliche
Leistungen sollten nur bei Härtefällen
gewährt werden. Mit der Bildung der
neoliberalen und neokonservativen
Regierungen unter Margaret Thatcher
in Großbritannien (1979) und Ronald
Reagan in den USA (1980), deren Pro-
gramm auf die Kurzformel „freie Wirt-
schaft plus starker Staat“ gebracht
wurde, gerieten die sozialdemo-
kratischen Parteien Europas unter star-
ken politischen Druck, zumal sich die
Wirtschafts- und Finanzkrisen in den
westlichen Industriegesellschaften
weiter vertieften. Die Sozialdemo-
kraten neigten zunächst zu zöger-
lichem Abwarten, dann zu partieller
Anpassung.
Auch die bundesdeutsche SPD
akzeptierte ab Mitte der achtziger
Jahre Grundzüge der neoliberalen Vor-
stellungen als unausweichlich. Vor der
Bundestagswahl 1987 versprach sie,
das soziale Netz durch den „Umbau
des Sozialstaats“ neu zu knüpfen. In
der „Ära Kohl“ schwankte die Partei
zwischen neoliberalen, sozialen und
ökologischen Zielsetzungen hin und
her. Dies schlug sich auch im Grund-
satzprogramm (Berliner Programm)
von 1989 nieder, welches das Godes-
berger Programm von 1959 ablöste.
Zwar wurde an den Grundwerten des
demokratischen Sozialismus – Freiheit,
Gerechtigkeit und Solidarität – fest-
gehalten, ihre politische Bedeutung als
maßgebliche gesellschaftsgestaltende
Zielvorgaben war in der Praxis freilich
Richard Stöss
10
Wirtschaftskrise und Sozialstaatskritik
gering. Die Begriffe demokratischer
Sozialismus und soziale Gerechtigkeit
schienen eher der Identitätsbildung
und Traditionspflege zu dienen als der
konkreten politischen Richtungs-
bestimmung.
Die Grundwerteexperten der SPD
hatten jedoch schon früh erkannt, dass
die gesellschaftlichen Veränderungen
seit der Verabschiedung des Godesber-
ger Programms eine Präzisierung des
Grundwerteverständnisses der Partei
erforderlich machen. Soziale Gerech-
tigkeit ließ sich nun nicht mehr durch
die gerechte Verteilung des Zuwachses
herstellen. Erste Ergebnisse der Arbeit
der Grundwertekommission fanden
ihren Niederschlag im „Orientierungs-
rahmen '85“ von 1975. Darauf basierten
die Formulierungen im Berliner Pro-
gramm, die wesentlich konkreter und
realistischer ausfielen als im Godes-
berger Programm:
„Gerechtigkeit gründet in der glei-chen Würde aller Menschen. Sie ver-langt gleiche Freiheit, Gleichheit vordem Gesetz, gleiche Chancen der poli-tischen und sozialen Teilhabe und dersozialen Sicherung. Sie verlangt diegesellschaftliche Gleichheit von Mannund Frau.
Gerechtigkeit erfordert mehr Gleichheitin der Verteilung von Einkommen, Eigen-
tum und Macht, aber auch im Zugang zuBildung, Ausbildung und Kultur.
Gleiche Lebenschancen bedeutennicht Gleichförmigkeit, sondern Entfal-tungsraum für individuelle Neigungenund Fähigkeiten aller.
Gerechtigkeit, das Recht auf gleicheLebenschancen, muss mit den Mittelnstaatlicher Macht angestrebt werden.“
Deutlicher als im Godesberger Pro-
gramm wurde nun dargelegt, dass sich
Gerechtigkeit nicht nur auf die Vertei-
lung von Einkommen und Vermögen
und auf soziale Sicherung bezieht, son-
dern auch auf den Zugang zu Bildung,
Ausbildung und Kultur und auf die Teil-
habe an politischen Prozessen. Und es
wurde deutlicher formuliert, wo Ge-
rechtigkeit auf Ergebnisgleichheit, wo
auf Chancengleichheit zielt.
Das im Dezember 1989, also kurz
nach dem Fall der Mauer verabschie-
dete Berliner Programm enthielt keine
Orientierung für die Gestaltung der
inneren Einheit Deutschlands, insbe-
sondere nicht für die ökonomische
Transformation der neuen Bundeslän-
SPD und soziale Gerechtigkeit
11
Gerechtigkeit ohne Wachstum
der. Das von Kohl vertretene Ziel einer
raschen Integration der DDR in die wirt-
schaftliche, politische und rechtliche
Ordnung BRD erfreute sich zunächst
massenhafter Zustimmung. Die über-
wältigende Einheitseuphorie der Bevöl-
kerung deckte sich mit dem naiven
Glauben der Bundesregierung, dass die
Wende gelingt, wenn konsequent pri-
vatisiert und die Infrastrukturvoraus-
setzungen sowie zusätzliche Anreize
für private Investitionen geschaffen
werden. Als der selbsttragende Auf-
schwung nach anfänglichen Hoff-
nungszeichen auf sich warten ließ,
schlugen die (überzogenen) Erwartun-
gen in tiefe Enttäuschung um.
Aber nicht nur in Ostdeutschland
wurde die Regierung Kohl Opfer ihres
blinden Vertrauens in die Marktwirt-
schaft und ihrer optimistischen Ver-
sprechungen. Die Modernisierung
schuf generell weniger Arbeitsplätze
als sie vernichtete, begünstigte mithin
nur einen Teil der Gesellschaft. Die
Schere zwischen Gewinnern und Verlie-
rern, zwischen Reich und Arm, öffnete
sich im Bundesgebiet weiter. Trotz ins
Millionenfache wachsender befristeter
oder geringfügiger Arbeit und Schein-
selbständigkeit erreichte die Zahl der
Arbeitslosen zwischenzeitlich fast die
Rekordmarke von fünf Millionen. Und
trotz massiver Leistungskürzungen im
Sozialbereich stieg die Staatsverschul-
dung ins Unermessliche. Anlässlich der
Bundestagswahl 1998 startete der DGB
daher die Kampagne „Deine Stimme
für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“,
und die SPD ging mit dem cleveren Slo-
gan „Innovation und Gerechtigkeit“ in
den Wahlkampf.
Das Versprechen, die Modernisie-
rung der Volkswirtschaft mit sozialer
Gerechtigkeit zu verbinden, richtete
sich – durchaus erfolgreich – zugleich
an Stammwähler und Wechselwähler,
erzeugte allerdings einen hohen
Erwartungsdruck, ohne dass es auf
eine konkrete politische Planung
gegründet war. Die rot-grüne Bundes-
regierung startete Ende 1998 hastig
mit einigen sozialpolitischen Refor-
men, besann sich jedoch bald darauf,
dass nur ein ausgeglichener Haushalt
ein sozial gerechter Haushalt sei.
Staatsschulden führten – so lautet die
Begründung – zu einer Umverteilung
von unten nach oben und verletzten
das Gebot der Generationengerechtig-
keit. Sparpolitik wurde zu einem Mittel
Richard Stöss
12
Generationengerechtigkeit als Sparkonzept
4 Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair, abgedr. auchin: Perspektive 21, 1999, H. 8, S. 12-26.
der „nachhaltigen“ Gewährleistung
von sozialer Gerechtigkeit erklärt und
bildete nun den Kern rot-grüner Inno-
vationspolitik. Auch die europäische
Wirtschafts- und Währungspolitik ist
im Zeichen der Einführung des Euro
auf radikale Liberalisierung und Priva-
tisierung ausgerichtet und schützt
daher vor allem die Besitzer von Geld-
vermögen. Die Wahlen des Jahres 1999
bedeuteten für Rot-Grün jedenfalls ein
Desaster, bei der Europawahl erreichte
die Union sogar fast die absolute
Mehrheit der Stimmen.
Angesichts dieser Talfahrt in der
öffentlichen Meinung brach in der SPD
die Diskussion über soziale Gerechtig-
keit offen aus. Im Juni des Jahres
wurde das so genannte „Schröder-
Blair-Papier“4
veröffentlicht, womit die
Debatte über den „Dritten Weg“ wie-
der aufflammte. Zur Erinnerung eine
kurze Inhaltsangabe:
Globalisierung wurde nicht als
Bedrohung sondern als Chance ange-
sehen, weil sie Modernisierung und
Wettbewerb fördere. Folglich wurden
staatliche Eingriffe in das Marktge-
schehen abgelehnt und die rigide Kon-
solidierung der Haushalte gefordert.
Eine Ausweitung der Sozialausgaben
komme nicht in Betracht,
– weil dadurch die soziale Ungleich-
heit nicht vermindert werde,
– weil die wohlfahrtsstaatlichen Lei-
stungen den tatsächlichen Risiken
und Bedürfnissen oft nicht gerecht
würden und nicht selten Gruppen
zugute kämen, die nicht schutzbe-
dürftig sind und
– weil durch umfassende Versorgung
keine Anreize für Flexibilität, Selbst-
hilfe und Qualifikation, für „eigene
Anstrengung und Verantwortung“,
bestünden.
Im Gegensatz zum Neoliberalismus
sei der „Dritte Weg“ auf soziale Gerech-
tigkeit verpflichtet. Allerdings wurden
das klassische Verständnis von sozialer
Gerechtigkeit als nachsorgender Ge-
rechtigkeit kritisiert und die Gerechtig-
keitsdefizite des Egalitätsprinzips mit
den Gerechtigkeitsgewinnen von sozia-
ler Differenzierung konfrontiert. Der
Primat liegt in dem Papier auf vorsor-
gender Gerechtigkeit: Der Entstehung
von Armut und sozialer Exklusion soll
durch die Gewährleistung von Chan-
SPD und soziale Gerechtigkeit
13
Der Dritte Weg
cengleichheit beim Zugang zu Bildung
und vor allem zu Erwerbsarbeit vorge-
beugt werden. Letzteres werde nicht
durch staatliche Beschäftigungspro-
gramme ermöglicht sondern durch die
Konditionierung der Menschen für den
Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt
(bedarfsgerechte Qualifikation, Fort-
und Weiterbildung etc.). In dem Aus-
maß, wie die Inklusion gelänge, könn-
ten Sozialleistungen auf die tatsächlich
Bedürftigen konzentriert und damit
insgesamt reduziert werden.
Der „Dritte Weg“ lege großen Wert auf
„persönliche Leistung und Erfolg, Unter-
nehmergeist, Eigenverantwortung und
Gemeinsinn“, auf „Initiative und Kreati-
vität“. „Der Staat soll nicht rudern son-
dern steuern“, er soll (beispielsweise
durch Deregulierung, Senkung von Steu-
ern und Lohnnebenkosten) angemes-
sene Rahmenbedingungen schaffen, „in
denen bestehende Unternehmen pros-
perieren und sich entwickeln und neue
Unternehmen entstehen und wachsen
können“. Die Notwendigkeit eines Nied-
riglohnsektors wurde explizit anerkannt:
„Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit
sind besser als gar keine Arbeit, denn sie
erleichtern den Übergang von Arbeitslo-
sigkeit in Beschäftigung“. (Alle Zitate:
Schröder-Blair-Papier.)
In dem Papier „Dritte Wege – Neue
Mitte“ der Grundwertekommission der
SPD wurden Stärken und Schwächen
dieses Konzepts herausgearbeitet.
Begrüßt wurden die Absage an Protek-
tionismus, an die Deregulierung der
Arbeitsmärkte, an die „Umorientierung
des strukturell dem Industriezeitalter
verpflichteten Wohlfahrtsstaates mit
seiner sozial ungerechten Bevorzugung
der Mittelschichten auf die wirklich
Bedürftigen“ und an die individuelle Ver-
antwortlichkeit für „Bildung, Ausbildung
und Lernen“. Kritisch wurden vor allem
folgende Punkte angemerkt:
• Ein politischer Gestaltungswille
gegenüber den „zyklisch instabilen
und demokratisch nicht legitimier-
ten Marktkräften“ sei nicht er-
kennbar.
• Es werde darauf verzichtet, das Steu-
ersystem auch zur Umverteilung zu
nutzen.
• Die Flexibilisierung des Arbeits-
markts benachteilige ältere Arbeit-
nehmer und schwäche die Verhand-
lungsposition der Gewerkschaften.
• Die Reduktion sozialstaatlicher Lei-
stungen auf wirklich Bedürftige lei-
ste Forderungen nach weiterem
Richard Stöss
14
Gerechtigkeit für die Bedürftigen
Sozialabbau Vorschub. Wenn näm-
lich die Mittelschichten nicht mehr
vom Sozialstaat profitierten, wür-
den sie auf weiten Abbau drängen,
weil dieser vor allem von ihren
Steuergeldern finanziert wird.
Dann fehle den politisch machtlo-
sen Armen ein wichtiger Bünd-
nispartner im Kampf um soziale
Gerechtigkeit.
Die Grundwertekommission be-
nannte vor allem folgende „erste
Schlussfolgerungen“ in Bezug auf
soziale Gerechtigkeit:
• „Sozial gerecht sind politische Maß-
nahmen, die gesellschaftliche In-
klusion fördern und soziale Exklu-
sion verhindern.“
• Soziale Ungleichheit sei nur hin-
nehmbar, wenn davon tendenziell
auch die unteren gesellschaftlichen
Schichten profitierten.
• Gerechtigkeit und Freiheit bilde-ten
keinen Gegensatz. Nur wer sozial
hinreichend abgesichert sei, könne
seine Freiheitschancen auch wirk-
lich nutzen.
• Soziale Gerechtigkeit bedeute glei-
che Freiheitschancen auch hinsicht-
lich der Mitwirkung an politischen
Entscheidungen und der Nutzung
kultureller Angebote. „Gerechtigkeit
verlangt die gleiche Würde aller
Menschen, unabhängig von ihren
Leistungen für die Gesellschaft.“
• Bestandteil der sozialen Gerech-
tigkeit sei auch eine gerechte Vertei-
lung der gesellschaftlich verfügba-
ren Arbeit.
• Soziale Ungleichheit sei gerecht-fer-
tigt, wenn dadurch Leistungen
gefördert würden, die allen zugute
kämen und daher auch „der freien
Zustimmung aller fähig sind“.
• Über die Verteilung der Lebens-
chancen dürften nicht in erster Linie
Märkte entscheiden, dies obliege
der Gesellschaft insgesamt.
• Der Sozialstaat sei nur dann legiti-
miert, wenn er prinzipiell von allen
Bürgern finanziert werde und seine
Leistungen potenziell allen Bürgern
zur Verfügung stünden.
• Die Reform des Sozialstaats ziele-
darauf ab, ihn „durch die stärkere
Betonung der Vorbeugung und die
Orientierung an echter Hilfe zur
Selbsthilfe effizienter zu machen
und damit seine Legitimations-
grundlagen neu zu festigen“.
Vergegenwärtigt man sich heute
noch einmal die Diskussionen von 1999,
dann herrscht der Eindruck vor, dass sie
zumeist auf hohem Niveau stattfanden.
Es gelang allerdings nicht, die Kontro-
verse als notwendigen, zukunftsorien-
tierten Selbstverständigungsprozess
der SPD in einer existenziellen Frage
deutscher Wirtschafts- und Sozialpolitik
zu kommunizieren. Das mag auch
SPD und soziale Gerechtigkeit
15
daran gelegen haben, dass einige
Akteure die Diskussion zur eigenen Pro-
filierung missbrauchten. Jedenfalls
skandalierten die Medien den Vorgang
als innerparteilichen Streit zwischen
„Traditionalisten“ und „Reformern“, die
SPD wurde als tief zerstritten, die Bun-
desregierung als handlungsunfähig
dargestellt. Der Berliner Parteitag
Anfang Dezember 1999 beendete das
„Sommertheater“ und damit gleichzei-
tig die (öffentliche) Diskussion über die
Grundwerte der Partei. Er erteilte den
Auftrag, das Grundsatzprogramm zu
überarbeiten und dabei die Grundwerte
Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität
als „Maßstab und leitende Prinzipien
unserer Politik“ herauszustellen.
Inzwischen ist soziale Gerechtigkeit
fast schon ein Allerweltsbegriff gewor-
den, auf den sich alle politischen Rich-
tungen (auch der Rechtsextremismus)
beziehen. Wer sich auf soziale Gerech-
tigkeit beruft, wird feststellen, dass die
politische Konkurrenz es auch tut. Die
PDS bastelt an einem neuen sozialisti-
schen Grundsatzprogramm, in der CDU
kämpft die Christlich-Demokratische
Arbeitnehmerschaft gegen die Neo-
konservativen bzw. Neoliberalen für
mehr soziale Gerechtigkeit, und selbst
die FDP sorgt sich um die soziale Frage
in der Bundesrepublik. Welche Zielvor-
stellungen die Parteien mit sozialer
Gerechtigkeit verbinden – wenn sie
denn überhaupt welche damit verbin-
den –, erschließt sich der Öffentlichkeit
kaum. Die inflationäre Verwendung des
Begriffs trägt eher zu seiner Entwer-
tung bei. Der Eindruck verstärkt sich,
dass dies durchaus erwünscht ist.
Die Arbeit am neuen Grundsatzpro-
gramm der SPD zeitigte bislang kaum
sichtbare Erfolge. Die Grundwertekom-
mission leistete jedoch wichtige Vorar-
beiten. In ihrem Zwischenbericht an die
Grundsatzprogrammkommission vom
13. Juli 2001 vertrat sie die Auffassung,
dass der Grundwerteteil des Berliner
Programms „in seinen wesentlichen
Aussagen nicht revisionsbedürftig ist“.
Unter der Überschrift „Die neue
Gerechtigkeitsfrage“ setzte sie gleich-
wohl neue Akzente und knüpfte damit
an ihre Stellungnahme zum Schröder-
Blair-Papier an. Das Stichwort lautet
„begrenzte Ungleichheit“ oder auch
„gerechte Ungleichheit“:
„Eine differenzierte Gerechtigkeits-norm wäre eine solche, die gerechteGleichheiten und ungerechte Ungleich-
Richard Stöss
16
Gerechte Gleichheiten und ungerechte Ungleichheiten
5 Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, April 2001, Bundes-tagsdrucksache 14/5990, S. XV.
heiten unterscheidet. Gerechte Un-gleichheiten sind anzuerkennen, wennsie aus dem verschiedenartigen ge-brauch der Freiheit der Einzelnen undaus ihren unterschiedlichen Beiträgenzur Wohlfahrt der ganzen Gesellschaftfolgen. Die Gerechtigkeitsnorm musszugleich harte Grenzen für zulässigeUngleichheiten, beispielsweise für lei-stungslose Einkommen, Monopolge-winne oder Shareholder-value-Selbstbe-dienungsstrategien setzen.“ (Hv. i. O.)
Obwohl es an anderer Stelle in die-
sem Bericht heißt, „auch ein künftiger
Gerechtigkeitsbegriff darf Gerechtig-
keit nicht im Sinne einer Vergrößerung
der existierenden Ungleichheit von
Einkommen, Vermögen und Leben-
schancen interpretieren“, dürfte die
These von der gerechten Ungleichheit
so lange strittig sein, wie die „harten
Grenzen für zulässige Ungleichheiten“
nicht definiert sind. Denn die These
könnte dazu geeignet sein (und auch
dazu benutzt werden), eine weitere
Verschärfung der existierenden Un-
gleichheit zu rechtfertigen.
Und genau darin besteht das Pro-
blem. So richtig es ist, dass die SPD seit
ihrer Hinwendung zum demokratischen
bzw. freiheitlichen Sozialismus „Unter-
schiede in der Verteilung von Gütern
und Ressourcen … als legitim betrachtet,
so lange sie in einem spezifischen
Bedürfnis, Verdienst oder in Leistungs-
differenzen begründet und öffentlicher
Rechtfertigung fähig sind“, so trifft es
doch auch zu, dass „soziale Ausgren-
zung zugenommen und Verteilungsge-
rechtigkeit abgenommen hat“5, und
zwar auch in der Regierungszeit von
Rot-Grün. Soziale Ungleichheit wächst
kontinuierlich, und nichts spricht dafür,
dass es sich dabei um einen Vorgang
handelt, der „öffentlicher Rechtferti-
gung fähig“ ist, jedenfalls nicht bei den
Anhängern der SPD.
Die SPD befindet sich hier als linke
Volkspartei in einer schwierigen Lage.
Der Zwischenbericht der Grundwerte-
kommission charakterisiert das Di-
lemma so:
„Zu den politischen Voraussetzungenfür die Gewährleistung sozialer Sicher-heit gehört, dass der Sozialstaat auch derZustimmung großer Teile der Mittel-schichten bedarf. Weil die Vermeidungsozialer Exklusion die soziale und diepolitische Inklusion der Mittelklassen ver-langt, muss diese ein überzeugendesInteresse am Sozialstaat behalten.Bestimmte Milieus der sozialen Mitte –„Neues Bürgertum“ und das „NeueArbeitnehmer-Milieu“ – betonen aber
SPD und soziale Gerechtigkeit
17
eine differenzierende Leistungsorientie-rung als Forderung der Gerechtigkeit. Daspolitische Bündnis zur Sicherung desSozialstaats zwischen alten und neuenArbeitnehmern und den sozial orientier-ten Selbständigen sollte daher die Teil-perspektive einer bloß marktkritischenPolitik durch eine politisch gestaltendeGesamtperspektive ersetzen, in der sich
auch die neuen Mittelschichten mit ihrenökonomischen Interessen und Erfahrun-gen wieder erkennen können.“ (Hv. i. O.)
Zugespitzt formuliert: Bei der Defini-
tion von Gerechtigkeit, insbesondere bei
der Konkretisierung der zulässigen Un-
gleichheiten, sind auch die Bedürfnisse
der „neuen Mitte“ zu berücksichtigen.
Da – wie die Grundwertekommission
einräumt – die Gerechtigkeitsvorstel-
lungen der „neuen Mitte“ nicht iden-
tisch sind mit denen der „alten Arbeit-
nehmer“ (und auch nicht mit denen der
Armen!), bedarf es eines „Kontrakts“
zwischen den beteiligten Schichten, der
Interessen und Bedürfnisse gegenein-
ander abwägt. Ein derartiger Konsens
kann nur durch eine breite öffentliche
Diskussion über notwendige und
gerechte Zumutungen, Vergünstigun-
gen und Sicherheiten in langfristiger
Perspektive herbei geführt werden.
Damit sind wir wieder bei der
Agenda 2010 angelangt: Die Reform
des Sozialstaats krankt daran, dass
kein öffentlicher Diskurs über soziale
Gerechtigkeit stattgefunden hat und
folglich nicht einmal Umrisse eines
entsprechenden gesellschaftlichen
Konsenses erkennbar sind. Daher löst
die Agenda – mehr oder weniger
berechtigt – Unzufriedenheit und Pro-
test bei allen Beteiligten und Betroffe-
nen aus. Bislang lebte die politische
Klasse recht gut mit der Vieldeutigkeit
des Begriffs soziale Gerechtigkeit. Mit
der dramatischen Verschärfung der
Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise
und der Finanzierungskrise der öffent-
lichen Haushalte drängen die Bürger
auf Klarheit und Berechenbarkeit. Die
sozialdemokratische Wertegemein-
schaft befindet sich im Zustand der
Erosion und wird vor allem durch die
Autorität des Vorsitzenden und der
Angst vor einem Machtverlust zusam-
mengehalten. Inhaltlich fundierte
Identität ist Mangelware. Nicht nur die
Anhänger der SPD sondern alle Men-
schen wollen wissen, nach welchen
Kriterien die Politik entscheidet, wer in
welchem Umfang zur Sanierung des
Richard Stöss
18
Ein Gerechtigkeitsdiskurs ist notwendig
Sozialstaats herangezogen wird. Die
Politik muss ihre Entscheidungsgrund-
lagen darlegen, damit sich die Bürger
ein Urteil bilden, Vertrauen und Zuver-
sicht entwickeln und zustimmen kön-
nen. Die SPD kann ihre Kompetenz für
soziale Gerechtigkeit nur bewahren
(und erst recht nur verstärken), wenn
sie sich diesem Dialog stellt. Anderen-
falls brechen ihr die „alten Arbeitneh-
mer“ weg, und die „neue Mitte“ läuft
zur Union oder zu den Liberalen über.
SPD und soziale Gerechtigkeit
19
Richard Stöss,Dr. phil., Jahrgang 1944,
ist Privatdozent am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften
der Freien Universität Berlin.
Arbeitsschwerpunkte: Parteien-,Wahl- und Rechtsextremismusforschung.
Er ist Mitglied der Grundwertekommission des SPD-Landesverbands Brandenburg.
Es ist in der Bundesrepublik Deutsch-
land erst wenige Jahrzehnte her, da
konnte man hoffen, dass sich das
Thema „Armut“ im Rahmen der allge-
meinen Prosperitätsentwicklung quasi
von selbst erledigen würde: auch wenn
die Einkommens- und Vermögensver-
teilung schief war, so blieb für Wenig-
verdiener dennoch soviel übrig, dass
auch ihr Lebensstandard auf nie
gekannte Höhen stieg. Eine Gerechtig-
keitsdebatte fand daher allenfalls in
akademischen Zirkeln statt, für einen
breiten gesellschaftlichen Diskurs
fehlte das Problembewusstsein.
Das hat sich völlig verändert, auch
wenn diese Diskussion durch die Öf-
fentlichkeit einschließlich der Politik nur
zögernd aufgenommen wurde. Für den,
der sehen wollte, waren Warnsignale
bereits in den 80er Jahren erkennbar.
Das verspätete Handeln jetzt findet
daher unter mehrfach ungünstigen
Voraussetzungen statt. Die sich gegen-
seitig beeinflussenden Determinanten
lauten andauernde Konjunkturkrise –
hohe Arbeitslosigkeit – hoch defizitäre
öffentliche Haushalte – Globalisierung
– Zunahme der technologischen Ar-
beitslosigkeit – demographische Ent-
wicklung. Unter dem Druck dieser
Bedingungen müssen nun gleichzeitig
kurzfristige Reparaturen zum Zwecke
der Liquiditätssicherung in den sozia-
len Sicherungssystemen vorgenom-
men werden und langfristige Struk-
turreformen.
Dieses ehrgeizige Vorhaben krankt
zudem an der Tatsache, dass ein Koordi-
natenkreuz der Werte fehlt. Eine werte-
geleitete Diskussion ist mit einem auf
dem Sonderparteitag vom 1. Juni be-
schlossenen Leitantrag keineswegs er-
ledigt, sie wird von Sozialdemokraten
noch zu führen sein. Die Sozialdemo-
kratie ist in Gefahr, Wertebezug durch
technokratische Entscheidungen und
gekonnte PR zu ersetzen. Sie setzt
damit nicht nur Wählerstimmen, son-
dern auch politische Glaubwürdigkeit
auf´s Spiel. Eine Schwierigkeit wird
darin liegen, dass es nicht um eine phi-
losophische Begriffsdefinition gehen
kann – auf die man sich wohl relativ
einfach verständigen könnte, sondern
um einen alltagstauglichen Wertmaß-
stab. Wir müssen diese Debatte auch
deswegen führen, weil „soziale Gerech-
21
Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländernvon Günter Baaske
tigkeit“ am ehesten den Sozialdemo-
kraten zugeordnet wird, wir ihn also
inhaltlich füllen müssen, damit er nicht
entwendet und verfremdet wird. Se-
mantik ist ja in der politischen Debatte
durchaus von Bedeutung. Und letztlich
müssen wir zeigen, dass sozialdemo-
kratische – d.h. an Verteilungsgerech-
tigkeit orientierte – Politik zukunfts-
fähig ist. Wenn Millionen gemäß den
Grundsätzen des Förderns und For-
derns von uns eine Integration in den
Arbeitsmarkt erwarten, dann ist dies
kein Thema, das durch bürgerschaftli-
ches Engagement und Charity beiseite
geschoben werden kann.
Evident ist jedenfalls der enge Zu-
sammenhang zwischen sozialer Ge-
rechtigkeit und Armut und evident ist
ebenfalls, dass „der Markt“ aus sich
heraus keine soziale Gerechtigkeit ver-
wirklicht. Dies kann, zumindest annä-
herungsweise, nur durch eine strikt am
Gemeinwohl orientierte sozialstaatli-
che Umverteilung geleistet werden.
Umverteilung ist jede staatliche Kor-
rektur der Primärverteilung, seien es
ausgleichende Unterstützungsleistun-
gen des Staates (Transfers), Subventio-
nen, Steuervergünstigungen, oder die
Gestaltung des Steuertarifs. Umver-
teilt worden ist in der Geschichte der
Bundesrepublik zweifellos viel, jedoch
nicht jede Umverteilung war und ist
am Gemeinwohl orientiert und nicht
immer sind die wirklich Bedürftigen
die Zielgruppe von Umverteilungen.
Vor allem aber ist zunehmend aus dem
Blick geraten, dass alles, was umver-
teilt wird, zuerst erwirtschaftet wer-
den muss und hohe sozialstaatliche
Leistungen ohne ausreichendes Wirt-
schaftswachstum an ihre Grenzen
stoßen.
Es stimmt immer noch: Nur mit viel
Energie ist der Aufholprozess der ost-
deutschen Länder gegenüber dem
durchschnittlichen Entwicklungsniveau
der westdeutschen Länder zu bewälti-
gen. Dabei muss uns klar sein: Politik
und Landesregierung können nur Rah-
menbedingungen herstellen und Hilfe
zur Selbsthilfe geben. Das Gelingen des
Prozesses hängt in hohem Maße davon
ab, ob es uns gelingt, den Menschen klar
zu machen, dass niemand ihnen eine
autonome Lebensplanung und die Ent-
scheidung über die Verwendung ihrer
knappen Lebenszeit abnehmen kann.
Materielle Armut, – verstärkt durch
soziale Ausgrenzung –, der Abstand zu
den Chancen derer, die sich alles leisten
können, ist in unserem reichen Land mit
seiner Tradition von Sozialstaat (West)
und Solidarität (Ost) schon schlimm
genug. Die schlimmste Form von Armut
jedoch, die mir allzu häufig begegnet,
ist die Armut an Mut, Kraft und Perspek-
tive. Als Sozial- und Arbeitsminister die-
ses Bundeslandes betrachte ich es als
Günter Baaske
22
eine meiner wichtigsten Aufgaben,
dagegen etwas zu tun.
Von innen betrachtet, relativiert sich
so manche Klage meiner Kabinettkol-
legen über den unerträglichen Konsoli-
dierungsdruck auf den Landeshaus-
halt. Ja, das Land Brandenburg ist arm.
Und deshalb gehöre ich zu denen, die
es für wichtig halten, jeden Landes-
euro dreimal umzudrehen und ihn
dann dort einzusetzen, wo er mutmaß-
lich für die Entwicklung dieses Ge-
meinwesens die größte Wirkung hat.
Den Konsens darüber müssen wir
innerhalb der Landesregierung stär-
ken. Viele unken, das könne doch nicht
funktionieren. Ich sage: Es muss; denn
sonst leidet die Landesregierung auf
Dauer und zunehmend an Armut hin-
sichtlich ihrer politischen Handlungs-
optionen.
Ich habe meine politische Lehre in
der Nachwendezeit in der Kommunal-
politik absolviert. Die Armut der Kom-
munalhaushalte – auch wenn sie nicht
alle Brandenburgischen Kommunen
gleichermaßen betrifft – bedrückt
mich. Enge Spielräume der Kommunen
bei der Ausgestaltung der Daseinsvor-
sorge: Das ist m.E. die relevante und
bedrückende Schnittstelle zwischen
öffentlicher und privater Armut. Wenn
Kommunen ihren Aufgaben wegen
Finanzknappheit nicht gerecht werden
können, dann können sie Prozesse
sozialer Ausgrenzung nicht aufhalten.
Lebens- und Standortqualität sinken,
weil die kommunalen Investitionen in
Erhalt und Ausbau der wirtschaftsna-
hen und sozialen Infrastruktur zurück-
gehen. Wer kann, zieht weg, dahin wo
es mehr und bessere Arbeitsplätze und
mehr Lebensqualität gibt. Pro Einwoh-
ner hatten Ostkommunen 2002 nur 43
% der Steuereinnahmen einer durch-
schnittlichen Westkommune. Die wirt-
schaftliche Lage in Brandenburg ist
unbefriedigend. Gefordert ist daher
nicht nur die Marktwirtschaft, sondern
auch eine aktive Wirtschaftspolitik.
Wie stellt sich die Situation der Men-
schen im Land Brandenburg dar, welche
Rolle spielt Armut? In einer reichen
Gesellschaft – und das ist Deutschland
nach wie vor – ist das Gesicht der Armut
natürlich ein völlig anderes, als in Län-
dern der 3. Welt. Gleichwohl würde
jeder Arme in Deutschland mit Recht
einen solchen Vergleich für nicht akzep-
tabel halten. Nach der Definition des
Rates der Europäischen Gemeinschaft
von 1984 gelten Personen, Familien und
Was heißt es, arm zu sein
Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern
23
Gruppen als arm, die über so geringe
materielle, kulturelle und soziale Mittel
verfügen, dass sie von der Lebensweise
ausgeschlossen sind, die in dem Staat,
in dem sie leben, als Minimum an-
nehmbar ist. Nach dieser Definition ist
die Verfügbarkeit von materiellen Res-
sourcen zwar ein zentraler Aspekt,
jedoch wird Armut zu Recht als Aus-
druck einer komplexen Lebenslage an-
gesehen. Armut ist ebenso wie Reich-
tum eine relative Größe, die an einem
Durchschnittswert des verfügbaren Ein-
kommens gemessen wird. Von relativer
Armut spricht man, wenn das Einkom-
men 60 % bzw. 50 % des Durchschnitts-
einkommens unterschreitet. Bei einem
verfügbaren Einkommen von weniger
als 40 % des Durchschnittseinkommens
beginnt die strenge Armut. Legt man
das durchschnittliche Nettoeinkommen
in den neuen Bundesländern als Maß-
stab an, dann gelten – je nach Berech-
nungsart – auf dem 60 % Niveau 7,9 %-
11,9 % als relativ arm, auf dem 50 %
Niveau 2,8 %-4,8 % (Daten 1998 –
1. Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung 2001). In den alten
Bundesländern, gemessen am durch-
schnittlichen westdeutschen Nettoein-
kommen liegen die Armutsquoten
deutlich höher.
Das mittlere Nettoeinkommen in
Ostdeutschland betrug 1998 ca. 75 %
des westdeutschen – mit einer Tendenz
zur Vergrößerung des Abstands. Es soll
an dieser Stelle aber darauf hingewie-
sen werden, dass das Bruttoinlandspro-
dukt pro Einwohner im Land Branden-
burg im Jahr 2001 lediglich 65 % des
gesamtdeutschen Wertes betrug. Allein
daran wird deutlich, in welch starkem
Maße die Einkommen von Transfers von
West nach Ost abhängen. Hinsichtlich
des Nettovermögens ist der Abstand
der neuen Bundesländer noch unver-
gleichlich größer – das durchschnittli-
che Vermögen der Haushalte in den
neuen Bundesländern belief sich 1998
lediglich auf 35 % des Betrages in den
alten Bundesländern, und damit haben
viele Menschen deutlich weniger oder
keine Möglichkeiten, Einkommensaus-
fälle aus Vermögen zu kompensieren.
Aufgrund der anhaltend hohen
Arbeitslosigkeit in den neuen Bundes-
ländern und eines wachsenden Nied-
riglohnsektors sind die Unterschiede
beim Bruttoeinkommen von Arbeit-
nehmern und Selbständigen („Mark-
teinkommen)“ zwar deutlich größer
als in Westdeutschland, durch die ein-
fließenden Transferleistungen ist aber
das, was der Einzelne schließlich in der
Tasche hat, gleichmäßiger verteilt als
in den alten Bundesländern. Nach den
Brandenburgischen Sozialindikatoren
verfügten im Jahr 2000 3,9 % der
Haushalte über ein Nettoeinkommen
von unter 511 Euro, wobei der Anteil mit
Günter Baaske
24
4,2 % im äußeren Entwicklungsraum
deutlich höher lag als im engeren Ver-
flechtungsraum mit 3,4 %. Festzuhal-
ten ist, dass das Niveau relativer
Armut in den neuen Bundesländern
gegenüber dem Bundesdurchschnitt
seit 1993 gesunken ist, d.h. es hat ein
Aufholen stattgefunden. Allerdings ist
auch festzustellen, dass der ausglei-
chende Effekt des Umverteilungssy-
stems zugunsten des unteren Randes
der Gesellschaft schwächer wird – die
anhaltende Arbeitslosigkeit bei gleich-
zeitig sinkenden Maßnahmen der akti-
ven Arbeitsmarktförderung ist hierfür
sicher eine Ursache. Die Chancen von
ArbeitnehmerInnen und Selbständi-
gen, aus der untersten Primäreinkom-
mensklasse in die nächst höhere auf-
zusteigen, sind gut, wenn auch mit sin-
kender Tendenz – die Mobilität lag
1998 bei 88,3 % , 4 % niedriger als 1993.
Wenn man relative Armut am Bezug
von Hilfe zum Lebensunterhalt nach
BSHG festmacht, so ist die Zahl der
Empfänger von 1994 bis 2001 gestiegen
– mit Sprüngen jeweils 1996/1997 (wirt-
schaftlicher Einbruch in den neuen Bun-
desländern) und 2000/2001 (Herunter-
fahren der öffentlich geförderten
Beschäftigung). Im Jahr 2001 bezogen
2,5 % der BrandenburgerInnen Hilfe
zum Lebensunterhalt, Damit lag die
Quote in Brandenburg unter der der
neuen Bundesländer insgesamt (2,8 %)
als auch unter der Quote der alten Bun-
desländer (3,4 %). Die Entwicklungs-
trends laufen jedoch in die entgegen
gesetzte Richtung – während in den
alten Bundesländern die Sozialhilfe-
quote sinkt, steigt sie in den neuen
Bundesländern an, mit entsprechenden
Konsequenzen für die kommunalen
Haushalte und letztlich die Handlungs-
fähigkeit der Kommunen. Die Ausgaben
der örtlichen Träger der Sozialhilfe für
Hilfe zum Lebensunterhalt insgesamt
sind von 117,4 Mio. Euro in 1994 auf
456,9 Mio. Euro in 2001 angestiegen,
d.h. von 46 auf 176 Euro pro Kopf der
Bevölkerung. Allerdings weisen auch die
Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt
eine vergleichsweise hohe Mobilität auf
– ca. 50 % der Arbeitslosen, die ergän-
zend Sozialhilfe bezogen, benötigten
diese weniger als ein Jahr, weitere 35 %
bezogen Sozialhilfe zwischen einem
und drei Jahren. Die letztlich problema-
tische Gruppe sind die 15 %, die 3 Jahre
und länger in der Sozialhilfe verbleiben
und deren Chancen, wieder auf eigenen
Füßen zu stehen, damit drastisch sin-
ken. Das eigentlich alarmierende ist
jedoch, dass im Land Brandenburg in-
zwischen 5,2 % aller Kinder und Ju-
gendlichen unter 15 Jahren von Sozial-
hilfe abhängig sind. Ein Drittel aller
Sozialhilfeempfänger sind Kinder. 2001
betraf dies 21.120 Kinder und Jugendli-
che, knapp 6.000 mehr als 1994. in
Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern
25
besonders hohem Maße sind Alleiner-
ziehende Mütter von Sozialhilfe abhän-
gig. Ihre Zahl wuchs in Brandenburg im
gleichen Zeitraum von 5.553 auf 8.562
an. Demgegenüber beträgt die Sozial-
hilfequote bei den 15-65-Jährigen 2,0 %
und bei den über 65-Jährigen lediglich
0,46 % (zum Vergleich: 1,36 % in den
alten Bundesländern). Der eigentliche
gesellschaftliche Skandal der Sozialhilfe
sind somit die Kinder. Über einen länge-
ren Zeitraum oder dauerhaft von Sozial-
hilfe leben zu müssen, schafft einerseits
ein Gefühl des Ausgeschlossenseins
vom Leben der Allgemeinheit, bringt
andererseits auch den Zwang (und die
Versuchung) mit sich, sich darin einzu-
richten. Insbesondere in den größeren
Städten entstehen entsprechende „So-
zialhilfemilieus“. Im Hinblick auf er-
wachsene arbeitsfähige Sozialhilfeemp-
fänger und Langzeitarbeitslose hat sich
inzwischen die Erkenntnis durchge-
setzt, dass Sozialhilfeleistungen allein
zur Verbesserung ihrer Chancen, auf
eigenen Füßen zu stehen, wenig beitra-
gen – eben wegen der materielle Armut
oft begleitenden kulturellen und sozia-
len Armut. Fördern und rechtzeitig For-
dern ist unerlässlich, damit keine dauer-
hafte Abhängigkeit von Sozialleistun-
gen entsteht. Für Kinder und Jugendli-
che verhält sich dies ähnlich. Eine der
wichtigsten Aufgaben sozialdemokrati-
scher Politik sollte es sein, für diese Kin-
der mehr Chancengleichheit und damit
auch mehr Gerechtigkeit zu schaffen.
Nach der PISA-Studie ist von allen 32
Teilnehmerstaaten das deutsche Bil-
dungssystem am wenigsten geeignet,
für sozialen Ausgleich zu sorgen. Das ist
nicht nur ungerecht, sondern auch eine
Verschleuderung von potenziellem Hu-
mankapital, das wir uns angesichts un-
serer demographischen Entwicklung
weniger denn je leisten können. Wirt-
schaftliches Wachstum hängt ganz ent-
scheidend von der Qualifikation, der
Bereitschaft zur Fortbildung und dem
Leistungswillen der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer ab. Dies muss recht-
zeitig gelernt werden. Insofern muss
bereits die Vorschulerziehung gerade
für die Kinder, bei denen im Elternhaus
nicht die Voraussetzungen dafür beste-
hen, den Grundstein für mehr Chancen-
gleichheit legen. Die materiellen Vor-
aussetzungen sind in den neuen Bun-
desländern, wo für faktisch jedes Kind
ein Kita-Platz bereitsteht, deutlich bes-
ser als in den alten. Wir müssen sie
jedoch dafür qualifizieren, sich zu akti-
ven Einrichtungen des sozialen Aus-
gleichs für Kinder zu entwickeln.
Eine gute Nachricht gibt es: Keine
Altersgruppe in den neuen Bundeslän-
dern hat eine so geringe Sozialhilfe-
dichte wie die der Seniorinnen und
Senioren (s.o.) In Brandenburg bezogen
Ende 2000 lediglich 1.846 über 65-
Günter Baaske
26
Jährige Hilfe zum Lebensunterhalt.
Diese geringe Zahl ist auf die vergleichs-
weise hohen Renteneinkommen auf
Grund durchgängiger Erwerbs-
biografien der Seniorinnen und Senio-
ren zurückzuführen. In den neuen Län-
dern verfügten im Jahr 1995 bei den
über 65-Jährigen die Ehepaare über ein
monatliches Nettoeinkommen von
durchschnittlich 3.097,– DM. Das der
allein stehenden Männer belief sich auf
1.992,– DM und der allein stehenden
Frauen auf 1.779,– DM. Die durchschnitt-
lich verfügbaren Versichertenrenten,
d.h. die tatsächlich ausbezahlten Ren-
ten, in den neuen Ländern lagen zum
1.Juli 2002 sowohl bei den Männern mit
rund 1.028 Euro als auch bei den Frauen
mit rund 642 Euro über den in den alten
Ländern mit rund 986 Euro für Männer
und rund 476 Euro für Frauen. Die Ein-
kommenssituation älterer Menschen in
den neuen Ländern wird wesentlich von
der Rentenzahlung aus der gesetzlichen
Rentenversicherung bestimmt, da diese
nahezu die einzige Einkommensquelle
ist, während in den alten Ländern
betriebliche Altersversorgung, längerfri-
stige Zusatzversorgung im öffentlichen
Dienst und Beamtenversorgung sowie
private Lebensversicherungen die Ren-
teneinkünfte noch ergänzen oder gar
ersetzen. Für die Menschen in den
neuen Ländern wird die Rente aus der
gesetzlichen Rentenversicherung auch
in den nächsten 25 Jahren nahezu die
einzige Einkommensquelle bleiben.
Für die Zukunft wird insbesondere in
den neuen Ländern durch Brüche in
den Erwerbsbiografien oder langfri-
stige Folgen der Arbeitslosigkeit mit
zunehmender Altersarmut gerechnet.
Allerdings zeigt eine vom Verband
Deutscher Rentenversicherungsträger
und dem damaligen Bundesministe-
rium für Arbeit und Sozialordnung in
Auftrag gegebene Untersuchung
„Altersvorsorge in Deutschland 1998 –
AVID ‘98“, dass es auch bei den heute
40-60-Jährigen nicht zu einer überpro-
portionalen Armut kommen wird.
Dies muss auch nicht geschehen,
wenn die Politik den Spielraum – den
sie noch hat – vernünftig nutzt und die
Alterssicherungssysteme auf die – vor
allem demografischen – Herausforde-
rungen der Zukunft ausrichtet. Der
Altersquotient – das Verhältnis der
Gruppe der über 60-Jährigen zur
Gruppe der 20 bis unter 60-Jährigen
und damit in etwa das Verhältnis von
Personen im Rentenalter zu Personen
im erwerbsfähigen Alter – wird in
Brandenburg im Jahr 2050 bei 97,5 lie-
gen und damit im Bundesvergleich am
ungünstigsten sein. Auf eine Person im
erwerbsfähigen Alter wird dann unge-
fähr eine Person ab 60 Jahren kommen
(prognostizierter Bundesdurchschnitt
des Altersquotienten: 68,0).
Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern
27
Ohne eine grundlegende Reform der
Alterssicherung könnte hier eine Zeit-
bombe ticken. Für die neuen Länder
sind bei den Überlegungen zur Neuju-
stierung der Altersvorsorge wegen die-
ser (bevölkerungs-)strukturellen Unter-
schiede folgende Aspekte wichtig:
Es ist richtig, an der umlagefinan-
zierten Rentenversicherung als we-
sentlicher Säule der Altersvorsorge
festzuhalten, da sie sich im Grundsatz
– und bei ihrer Überleitung auf die
neuen Länder gerade auch dort –
bewährt hat. Sie muss jedoch den
demografischen Veränderungen ange-
passt werden. Dazu muss gehören, das
tatsächliche Renteneintrittsalter her-
aufzusetzen. Es müssen dann jedoch
auf dem Arbeitsmarkt die Vorausset-
zungen geschaffen werden, ältere
Arbeitnehmer auch zu beschäftigen.
Das bedeutet eine Umkehr des derzei-
tigen Trends. Dazu wird weiter gehö-
ren, das Versicherungsprinzip den ge-
brochenen Erwerbsbiografien anzu-
passen. Erste Schritte wurden bereits
getan, geringfügige Beschäftigung
und arbeitnehmerähnliche Selbstän-
digkeit sind versicherungspflichtig ge-
worden. Im Zusammenhang mit den
aktuellen Überlegungen zur Zusam-
menlegung von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe wird diskutiert, inwieweit
aus den künftigen Leistungen auch
Beiträge zur Altersvorsorge entrichtet
werden, um Lücken in den Erwerbsbio-
grafien zu vermeiden. Gerade für die
neuen Länder ist dies ein wichtiger
Aspekt.
Die in den alten Bundesländern
neben der umlagefinanzierten gesetz-
lichen Rentenversicherung schon wei-
ter verbreiteten zusätzlichen Formen
der Altersvorsorge, wie betriebliche Al-
tersvorsorgesysteme und die private
Altersvorsorge, müssen in Umfang und
Bedeutung ausgebaut werden. Mit der
„Riesterrente“ wurde bereits ein erster
wichtiger Schritt in diese Richtung
getan. Die Kommission für die Nach-
haltigkeit in der Finanzierung der So-
zialen Sicherungssysteme hat zur Wei-
terentwicklung dieser Instrumente
diskussionswürdige Anstöße gegeben.
Aber auch hier es die wichtigste Auf-
gabe der Politik, die Rahmenbedingun-
gen für wirtschaftliches Wachstum zu
verbessern, für mehr Beschäftigung zu
sorgen und damit den Menschen zu
ermöglichen, ein Einkommen zu erzie-
len, aus dem sie ihren Vorsorgebeitrag
leisten können. Je mehr Menschen
erwerbstätig sind und daraus ein aus-
kömmliches Einkommen beziehen,
desto mehr Menschen werden auch
mit ihren Beiträgen – in umlagefinan-
zierten wie in kapitalbildenden Syste-
men – zur Altersvorsorge beitragen.
Hier liegt in den neuen Ländern mit
ihrer hohen Erwerbslosenquote ein
Günter Baaske
28
großes Stück Arbeit vor uns. Nur wenn
es gelingt, die Weichen richtig zu stel-
len und die Altersvorsorgesysteme so
umzustrukturieren, dass sie den Her-
ausforderungen der Zukunft gewach-
sen sind, dann wird den Menschen
auch künftig eine auskömmliche
Altersversorgung gewährleistet sein.
Altersarmut wird – wie heute – eine
Ausnahmeerscheinung bleiben und
die zusammen mit der Riesterrente
eingeführte soziale Grundsicherung
wird nicht zum Regelfall, sondern nur
in Ausnahmefällen zur wirtschaftli-
chen Sicherung des Lebensabends in
Anspruch genommen werden müssen.
Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern
29
Wesentliche Auswirkungen auf die
soziale Lage in den neuen Bundeslän-
dern hat neben der Massenarbeitslosig-
keit der wachsende Niedriglohnsektor.
Niedrige Löhne, das zeigt das in Bran-
denburg mit geringem Erfolg durch-
geführte soziale Experiment „Mainzer
Modell“, schaffen weder hier noch in
anderen Regionen der Republik zusätz-
liche Arbeitsplätze; zudem ist die Lohn-
spreizung nach unten ja bereits erheb-
lich. Hier fehlt nicht nur ar-
beitsmarktpolitische und ökonomische
Logik. Wenn man denn für mehr Akzep-
tanz von niedrigen Einstiegslöhnen sor-
gen wollte, dann müsste man den
Menschen auch aufzeigen können, wie
sie sich durch Kompetenz und Engage-
ment Stück für Stück hocharbeiten
können. Dafür fehlen uns – gerade den
auf Solidarität getrimmten Ossis – die
Tellerwäscher-Gene und der Politik die
Konzepte. Dass ein nicht unerheblicher
Teil der Gesellschaft zu geringen Ver-
diensten arbeitet, ist dann erträglich,
wenn die Chance des Durch- und Auf-
stiegs besteht. (Die Debatte um die
working poor in USA zeigt übrigens
deutlich, dass in der Heimat der Teller-
wäscher die Aufstiegschancen längst
ein Gründerväter-Mythos geworden
sind.) Die durchaus vorhandene, aber
noch nicht ausreichende Förderung
individueller Berufskarrieren stößt auf
ihre Grenzen da, wo statusbewusste
Chancenreiche ihre Position gegenüber
Newcomern verteidigen.
Der Niedriglohnsektor
Mit unserer qualifizierten Berufsaus-
bildung im dualen System vermitteln
wir nicht nur Kenntnisse und Fertigkei-
ten. Wir vermitteln auch die Identifika-
tion junger Menschen mit qualifizier-
ten Berufsbildern, ein berufsbezogenes
Selbstbewusstsein und Ansprüche an
den zukünftigen ausbildungsadäqua-
ten Arbeitseinsatz, die wir hier im Land
allzu oft enttäuschen müssen. Alterna-
tiven zur Abwanderung müssen wir
bieten. Wir erproben gegenwärtig in
Modellen, auf welche Weise dies mög-
lich ist.
Mit unserer wirtschaftsnah ausge-
richteten Arbeitsmarktpolitik sind wir
in Brandenburg nach wie vor auf dem
richtigen Weg. Wir investieren damit in
Köpfe, nicht Maschinen. Und es gelingt
zunehmend, Unternehmer davon zu
überzeugen, dass nicht eine Minimie-
rung des Personaleinsatzes und/oder
der Lohnsumme die längerfristige Exi-
stenz der Unternehmen sichert, son-
dern ein umsichtiges, flexibel auf
Markterfordernisse reagierendes und
strategisch planendes Management
und gut qualifizierte Belegschaften.
Das ist ein wichtiger und – wie ich von
Rückmeldungen von Unternehmern
weiß – funktionierender Beitrag zum
Wirtschaftswachstum in Brandenburg.
Klar, es tut weh, wenn nicht nur das
scheue Reh des Kapitals anderswo wei-
den geht, sondern auch unsere Fach-
kräfte ihre Chancen woanders realisie-
ren, gleichwohl ist eine leistungsfähige
Bildungs- und Ausbildungslandschaft
ein wirtschaftliches Pfund, mit dem
wir wuchern können, wenn denn der
Dialog zwischen den für Bildung und
Ausbildung zuständigen Institutionen
und Trägern mit den Qualifikationen
nachfragenden Unternehmen klappt.
Dies ist eins meiner wichtigen politi-
schen Handlungsfelder.
Für mehr Beschäftigung in Branden-
burg brauchen wir nicht nur eine erfolg-
reiche(re) Wirtschaftspolitik, sondern
auch funktionierende Arbeitsmärkte.
Dank „Hartz“ steht die Bundesanstalt
für Arbeit in dieser Hinsicht unter
einem erheblichen Erfolgsdruck. Schnel-
ler und passgenauer vermitteln, latente
Personalbedarfe aufspüren, durch redu-
zierte Einstellungsrisiken und im Regel-
fall möglichst ohne Lohnkostenzu-
schüsse die Einstellungsbereitschaft der
Arbeitgeber erhöhen: dass auf diesem
Gebiet zentrale Dienstleistungsaufga-
ben der Bundesanstalt für Arbeit liegen,
wurde zu lange ignoriert. Für die Neu-
ausrichtung der BA muss auch die Lan-
despolitik Akzeptanz schaffen. Gleich-
zeitig ist die Landesarbeitsmarktpolitik
– in Kooperation mit anderen Ressorts –
Günter Baaske
30
Qualifizierung und Arbeit
weiterhin Partner der Arbeitsämter in
der Ausrichtung aktiver Arbeitsförde-
rung und Qualifizierungspolitik auf Ziel-
gruppen, auf die Entwicklung und den
Erhalt sozialer und wirtschaftsnaher
Infrastruktur.
Es nicht zu übersehen: Der Arbeits-
markt hier im Osten – und nicht nur hier
– ist in Unordnung geraten. Viele Men-
schen erzielen Einkommen, indem sie
ihre Arbeitskraft schwarz vermarkten.
Sie handeln wie Unternehmer und
Unternehmerinnen, trauen sich aber
eine richtige Existenzgründung offenbar
nicht zu. Der vermutliche Umfang der
Schwarzarbeit birgt enormen wirt-
schaftlichen und sozialen Sprengstoff
und berührt natürlich auch die Lei-
stungsfähigkeit der sozialen Sicherungs-
systeme. Das Risiko erwischt zu werden
als Anbieter und als Kunde muss steigen
und wir müssen nicht nur die Hürden für
Gründerinnen und Gründer, die den
Marktzugang erschweren, absenken,
sondern Existenzgründungen aktiv för-
dern. Die „Ich-AG“ ist ein guter Ansatz.
Den grundsätzlich richtigen Prozess
der Zusammenlegung von Arbeitslosen-
hilfe und Sozialhilfe begleite ich nicht
ohne Sorge. Richtig ist, das System in
Richtung auf mehr Gerechtigkeit und
Effizienz zu reformieren. Problematisch
ist auch hier wieder, dass wir die Reform
unter hohem Einspardruck durchführen.
Wir reduzieren die – in der Summe
erheblichen, aber im Einzelfall geringen -
Transfereinkommen von erklärter-
maßen „Bedürftigen“ und realisieren
Kaufkraftverluste überproportional in
den wirtschaftlich schwachen ostdeut-
schen Ländern. Da muss die Frage zuläs-
sig sein, wie die Einsparung verwendet
wird. Damit mehr Beschäftigungsange-
bote für Langzeitarbeitslose entstehen,
brauchen wir Wirtschaftswachstum und
erweiterte finanzielle Handlungsspiel-
räume unserer Kommunen. Wenn die
Einsparungen an Sozialhilfe bei den
Kommunen verbleiben und hier eine
zusätzliche investive Nachfrage auslö-
sen, scheint es mir vertretbar.
Richtig an der Reform von Arbeitslo-
senhilfe und Sozialhilfe ist, dass wir
Ansprüche an die Allgemeinheit – an
die Solidargemeinschaft der Arbeitslo-
senversicherung ebenso wie an die Ge-
meinschaft der Steuerzahlenden – neu
orientieren. Bislang reichte für arbeits-
fähige Erwerbslose die abstrakte Ver-
fügbarkeit für den Arbeitsmarkt. Zu-
künftig gibt es keine Leistung mehr
ohne eine angemessene Gegenleis-
tung. Es wird vielerlei Gelegenheiten
geben, dass Erwerbsfähige ihre Arbeits-
bereitschaft unter Beweis stellen. Wir
müssen ihnen – insbesondere durch
eine vernünftige kommunale Beschäf-
tigungsförderung – die Möglichkeit
geben, sinnvolle Beiträge zum Gemein-
wohl zu leisten.
Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern
31
Ich lehne es grundsätzlich ab, ökono-
mische Effizienz und soziale Gerechtig-
keit als zwei sich ausschließende Prin-
zipien zu betrachten. Allerdings fallen
sie auch nicht automatisch zusam-
men, es bedarf der Ausgestaltung. Die
laufende Steuerreform bietet ein an-
schauliches Beispiel dafür.
Da unsere Steuertarife progressiv
gestaltet sind, korrigieren sie natürlich
teilweise die primäre Einkommensver-
teilung: 54 % der gesamten Lohn- und
Einkommenssteuer werden von den
obersten 10 % der Einkommensemp-
fänger aufgebracht.
Die bisherigen Schritte der Steuerre-
form haben über 70 Ausnahmerege-
lungen und Vergünstigungen gestri-
chen oder eingeschränkt, die überwie-
gend Spitzeneinkommen begünstigt
hatten. Die unmittelbaren Entla-
stungseffekte für die Privaten wurden
allerdings teilweise kompensiert durch
Erhöhungen der Sozialabgaben. Auch
von daher sind Reformen der Sozialsy-
steme notwendig, damit weitere
Steuerentlastungen möglichst unein-
geschränkt durchschlagen.
Die nächsten Stufen der Steuerre-
form werden in erster Linie unter kon-
junkturpolitischen Aspekten disku-
tiert, nämlich als Ankurbelung der lah-
menden Binnennachfrage, die durch
das Gesamtvolumen von etwa 25 Milli-
arden € wohl in der Tat einen kräftigen
Schub bekommen wird. Erfreulicher
Weise fallen hier auch noch ökonomi-
sche Wirkung und soziale Gerechtig-
keit zusammen: sowohl die Senkung
des Eingangssteuersatzes von heute
19,9 % auf das historische Tief von 15 %,
als auch die Anhebung des Grundfrei-
betrages von 7235 auf 7664 € betreffen
niedrige Einkommen, die ihr gesamtes
Einkommen konsumieren müssen. Die
prozentuale Entlastung ist bei gerin-
gen Einkommen am größten.
Die ebenfalls vorgesehene Senkung
des Spitzensteuersatzes ist auch kon-
junkturpolitisch suboptimal, da hohe
Einkommen nicht nur für Konsum,
sondern auch für Ersparnis verwendet
werden, eine zusätzliche Steuerentla-
stung hier also wohl eher zu einer
Erhöhung der Sparquote führt.
Überdies ist eine zu starke Umvertei-
lung vom Staat zu den privaten Haus-
halten problematisch. Nur der Reiche
kann sich einen armen Staat leisten!
Günter Baaske
32
Steuerreform – Erhöhung der wirksamen Nachfrage
Armut ist kein gottgewolltes Schick-
sal, wir können und wollen etwas
dagegen tun. Aus meiner Sicht geht es
dabei hauptsächlich um 3 Punkte:
� Der beste Schutz vor Armut ist
Erwerbsarbeit. Dem brandenburgi-
schen Arbeitsminister muss nie-
mand erzählen, wie mühsam das ist.
Ich bleibe trotzdem dran.
� Wir müssen unsere sozialen Siche-
rungssysteme zukunfts- und
armutsfest machen. Da haben wir
m.E. die ersten Schritte auf einem
richtigen Weg getan, aber der
schwierigere Teil der Strecke liegt
noch vor uns.
� Wir werden unser Handeln auch künf-
tig unter den Leitstern „soziale
Gerechtigkeit“ stellen und wissen da-
bei, dass soziale Gerechtigkeit heute
vielfach differenziert ist: zwischen Rei-
chen und Armen, zwischen Arbeits-
platzbesitzern und Arbeitslosen, zwi-
schen Frauen und Männern, zwischen
Alten und Jungen; und das betrachtet
nur die nationale Dimension.
Die Frage, ob und wie wir diese Polezusammenbringen, entscheidet we-sentlich über unsere Zukunftsfähig-keit. Damit meine ich zwar zunächstdie neuen Bundesländer, aber daswirkt natürlich auch in Richtung alteBundesländer.
Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern
33
Zusammenfassung
Günter Baaske,Minister für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen in Brandenburg.
Der vorliegende Beitrag geht der
Frage nach, ob und inwieweit die
sozialdemokratischen Parteien in
Dänemark, Deutschland, Frankreich,
Großbritannien, den Niederlanden
und Schweden ihre Programmatik
und Regierungspolitik in den 90er
Jahren neu zu bestimmen gesucht
haben. Im Fokus der Untersuchung
stehen die Politikfelder Fiskal-, Sozial-
und Arbeitsmarktpolitik, in denen
aufgrund der Herausforderungen der
Globalisierung und der Europäischen
Integration die traditionellen Ziele
der Sozialdemokratie wie Umvertei-
lung, kollektiv organisierter Sozial-
schutz und Vollbeschäftigung unter
Druck geraten. Findet länderübergrei-
fend ein Kurswechsel sozialdemokra-
tischer Politik statt, der darauf gerich-
tet ist, durch einen Abbau staatlicher
Leistungen und den Rückgang staat-
licher Interventionen die Marktkräfte
zu stärken? Haben die Sozialdemo-
kratien trotz unterschiedlicher Bedin-
gungen vergleichbare Antworten
gegeben? Lässt sich eine gemein-
same Politik der Markorientierung
mit ähnlichen Politikinstrumenten
erkennen? Untersucht werden zum
einen die Inhalte der jeweils umge-
setzten Politik, zum anderen die Stra-
tegie, mit der sozialdemokratische
Regierungen diese Politik durchzu-
setzen versuchten. Am Ende des Bei-
trages werden Konvergenz und Diver-
genz sozialdemokratischer Reform-
politik aufgezeigt und erklärt, warum
die sechs Länder auf dem Weg von
wirtschafts- und sozialpolitischen Re-
formen so unterschiedlich weit vor-
angekommen sind.
35
SozialdemokratischeReformpolitik in Europa1
von Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring
1. Einleitung
1 Der Beitrag basiert auf bisherigen Ergebnissen des an der Universität Heidelberg durchgeführten DFG-Forschungs-projektes „Sozialdemokratische Antworten auf integrierte Märkte – Dritte Wege im westeuropäischen Vergleich“unter der Leitung von Prof. Wolfgang Merkel (http://www.dritte-wege.uni-hd.de).
2.1 Großbritannien (ab 1997)Vor der Regierungsübernahme hatte
Labour einen weiten programmati-
schen Reformweg zurückgelegt. Dieser
radikale Reformprozess hin zu einem
ideologiefreien Pragmatismus unter
den Parteiführern Kinnock, Smith und
schließlich Tony Blair fand 1995 seinen
symbolischen Endpunkt mit der Neu-
formulierung der Clause IV.2
Eines der Kernthemen im Wahlkampf
1997 war die Steuer- und Haushalts-politik. Die Haushaltskonsolidierung
spielte eine dominierende Rolle, ver-
bunden mit dem Versprechen, zu die-
sem Zweck nicht auf Steuererhö-
hungen zurückzugreifen. New Labour
hatte sich für die ersten beiden Jahre
an die Haushaltspläne der konservati-
ven Vorgängerregierung gebunden und
setzte die Konsolidierung konsequent
um.3
Steuerliche Entlastungen4
wur-
den durch die Abschaffung von Steuer-
vergünstigungen sowie die Erhöhung
indirekter Steuern gegenfinanziert
(u.a. durch die Erhöhung der Mineralöl-
steuer und die Einführung einer Ener-
giesteuer für Unternehmen). Für die
zweite Legislaturperiode wurde die
Fortführung dieser Haushaltspolitik
angekündigt. Darüber hinaus sollten
neue Steuergutschriften für Familien
mit Kindern eingeführt und die untere
Bemessungsgrenze der Einkommen-
steuer ausgeweitet werden, ohne den
mittleren und oberen Einkommensteu-
ertarif anzuheben.
In der Sozialpolitik von New Labour
wurde die Bedeutung „sozialer Gerech-
tigkeit“ mit der Inklusion in den
Arbeitsmarkt inhaltlich neu bestimmt.
Äußerungen zum Gesundheits- und
Rentensystem blieben im Wahlpro-
gramm 1997 hingegen relativ vage. Erst
1999 wurden aufgrund des Medien-
echos auf eine Grippeepidemie Teile
eines im Dezember 1997 veröffentlich-
ten Gesetzesentwurfes zum National
Health Service (NHS) umgesetzt. Von
den Tories eingeführte Wettbewerbs-
elemente wurden durch kooperative
Gremien ersetzt, privatwirtschaftliche
Managementstrukturen ausgebaut
und zusätzliche Mittel bereitgestellt,
die an die Erfüllung neuer nationaler
Qualitäts- und Effizienzstandards ge-
Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring
36
2. Programmatik und Politiksozialdemokratischer Parteien in sechs Ländern
2 In diesem Artikel des Parteiprogramms wurde bis dahin die Verstaatlichung der Produktionsmittel zum Ziel erklärt.3 Die Staatsverschuldung sank von 58,9% des BIP im Jahr 1997 um über 10 Prozentpunkte auf geschätzte 46,9% im
Jahr 2001 (OECD 2000).4 Entlastet wurden Geringverdiener, vor allem Familien mit niedrigen Einkommen und kleine und mittelständische
Unternehmen. U.a. wurde der Einstiegssatz der Einkommensteuer gesenkt und Einkommensbeihilfen in negativeSteuern umgewandelt.
bunden wurden.5
Finanziert wurde das
Maßnahmenpaket durch eine Er-
höhung der Sozialabgaben und durch
das Einfrieren geplanter Steuersenk-
ungen. Die staatliche Rentenversiche-
rung sollte als Grundversicherung bei-
behalten und die Bezieher niedriger
Renten besser gestellt werden. Ins-
gesamt wurden die Anreize, eine pri-
vate oder betriebliche Rentenversiche-
rung abzuschließen („Contracting out“)
weiter gestärkt. Die Entwicklungslinien
des britischen Rentenmarktes sind in
ihren Grundzügen von New Labour
fortgeführt worden, allerdings mit eini-
gen Verbesserungen für die Bezieher
der Niedrigstrente (Disney et al. 2001;
Ward 2002).
Die arbeitsmarktpolitischen Ankün-
digungen im Wahlprogramm 1997
waren umfangreich und detailliert.
Den Kern bildete das Welfare to Work-
Programm, das sich vor allem an
arbeitslose Jugendliche und Alleiner-
ziehende sowie an Langzeitarbeitslose
richtete.6
Weiterhin sprach sich die
Partei für die Einführung eines Min-
destlohnes aus und setzte eine Kom-
mission (LPC, Low Pay Commission)
ein, die den 1999 in Kraft getretenen
Vorschlag dazu erarbeitete. Die Ankün-
digung des Ausbaus der Arbeitneh-
merrechte erschöpfte sich im Employ-
ment Relations Act 19997, der auf die
EU-Sozialcharta zurückzuführen ist.
Die New Deals und weitere Pro-
gramme der aktiven Arbeitsmarktpoli-
tik wurden wie angekündigt in der
zweiten Legislaturperiode weiterge-
führt, ebenso wir die mittlerweile
durchgeführte Zusammenlegung der
Arbeits- und Sozialämter in soge-
nannte JobCenter Plus.Die britische Mehrheitsdemokratie
kennt neben der Regierung keine rele-
vanten institutionellen Vetospieler. Die
Regierung Blair hat keine Versuche
unternommen, den Einfluss bi- oder tri-
partistischer Gremien zu stärken. Die
rechtlichen Rahmenbedingungen der
Gewerkschaften wurden wie angekün-
digt im Wesentlichen beibehalten
(„fairness, not favours“). Die sensible
Frage der Anerkennung der Gewerk-
schaft als Verhandlungspartner in
Unternehmen wurde durch einen Kom-
Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa
37
5 Im Wahlprogramm 2001 findet sich ein 10-Jahres-Plan: Bis 2005 sollen 10.000 neue Ärzte und 20.000 zusätzlicheKrankenschwestern eingestellt werden, 7.000 zusätzliche Krankenhausplätze entstehen, dezentrale Entschei-dungsstrukturen gestärkt, nationale Qualitätsstandards und weitere Public Private Partnerships geschaffen sowiezusätzliche staatliche Investitionen in Höhe von sieben Milliarden Pfund bereitgestellt werden.
6 Die New Deals bestehen aus unterschiedlichen Angeboten der Aus- oder Weiterbildung, subventionierter Beschäf-tigung oder Arbeit bei einer kommunalen gemeinnützigen Einrichtung oder einer Umweltorganisation. Begleitetwerden die Programme von einer intensiven Beratung. Arbeitslosen, die keine der Optionen wahrnehmen, wird dieArbeitslosenunterstützung gekürzt. Finanziert wurden die New Deals durch die sogenannte Windfall Tax, eineSteuer auf Gewinne privatisierter Energieversorgungsunternehmen.
7 Beschränkung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden, Ausweitung des bezahlten Mutter-schaftsurlaubs, Rechtsanspruch auf den vorhergehenden Arbeitsplatz nach Erziehungsurlaub sowie höhere Ober-grenzen für Entschädigungszahlungen im Falle einer Kündigung.
promiss gelöst.8
In diesem Zusammen-
hang ist die Ausgangssituation im Ver-
gleich zu den anderen untersuchten
Ländern besonders wichtig. Auch wenn
viele Maßnahmen der Labour-Regie-
rung dekommodifizierenden Charakter
besitzen, hat sich der grundlegende
Charakter des britischen Systems unter
Tony Blair nicht verändert: Die Finanz-,
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik von
New Labour besitzt die im europäi-
schen Vergleich liberalste Ausrichtung.
2.2 Niederlande (1994-2002)Die Koalition mit Rechts- und Linksli-
beralen unter Wim Kok konnte ab 1994
auf dem eingeschlagenen Reformpfad
der christdemokratisch geführten Ko-
alitionsregierungen der 80er Jahre und
der Großen Koalition von CDA und
PvdA von 1989 bis 1994 aufbauen (Vis-
ser und Hemerijck 1998). Programma-
tisch hat sich die PvdA aufgrund des
Widerstandes des gewerkschaftlichen
Flügels bis heute nicht neu positio-
niert, auch wenn die Programmde-
batte durch die Wahlniederlage 2002
erneut an Brisanz gewann.
Ausgehend von hohen Defiziten und
hoher Staatsverschuldung wurde in
der Haushaltspolitik seit 1994 ein kon-
sequenter Konsolidierungskurs über
die gesamten zwei Legislaturperioden
verfolgt.9
Durch die Einführung der
Ökosteuer konnten 1996 Senkungen
direkter Steuern durchgeführt werden,
vor allem der Niedriglohnbereich
wurde steuerlich entlastet. Von 1995
bis 1998 sank der Anteil der Steuern
am BIP um 2,7 Prozentpunkte, der
Anteil der Staatsausgaben am BIP sank
im gleichen Zeitraum um 5 Prozent-
punkte (OECD 1998: 49). Diese Politik
wurde auch in der Legislaturperiode
1998-2002 fortgesetzt. Die Steuerre-
form 2001 brachte eine Gesamtentla-
stung in Höhe von 2,3 Milliarden Euro
mit sich. Gesenkt wurden hauptsäch-
lich die Einkommensteuertarife und
die Lohnnebenkosten, im Gegenzug
wurden die Ökosteuer und die Mehr-
wertsteuer erhöht.10
In der Sozialpolitik hat es in den 90er
Jahren eine Reihe von Reformen gege-
ben. Zwischen 1994 und 1996 wurde die
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall pri-
vatisiert. Das Krankengeld wird seither
von den Arbeitgebern getragen, die
Lohnfortzahlung wurde von 75% auf
70% reduziert. Ähnliche Regelungen
Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring
38
8 Eine Gewerkschaft muss in den Fällen anerkannt werden, wenn im Unternehmen 50% Gewerkschaftsmitgliedersind oder 40% der Arbeitnehmer für die Anerkennung stimmen.
9 Betrug das durchschnittliche Haushaltsdefizit von 1990-1994 noch 4,2% des BIP, so sank es von 1995-2000 aufdurchschnittlich 1,5% des BIP.
10 Die Mehrwertsteuer wurde von 17,5% auf 19% erhöht. Die Einkommensteuerreform 2001 sieht eine Differenzierunghinsichtlich unterschiedlicher Einkommensarten vor (Arbeitseinkommen und Mieten werden progressiv besteuert,Einkommen aus Unternehmensbeteiligungen pauschal mit 25%, Zinseinkünfte mit 30%). Die Vermögenssteuerwurde abgeschafft. Neben Steuererleichterungen wurde vor allem eine Vereinfachung des alten Systems angestrebt.
traten 1997 und 1998 für die Erwerbsun-
fähigkeitsversicherung in Kraft. Die
angestrebte Internalisierung der Kosten
sollte den Missbrauch der Erwerbs-
unfähigkeitsrente eindämmen. 1995
wurden die Anspruchs- und Zumutbar-
keitskriterien im Arbeitslosenversiche-
rungsgesetz deutlich verschärft (Cox
1998; OECD 1998, 2000a). Ab 1996 sind
nur noch Alleinerziehende mit Kindern
unter fünf Jahren von der Pflicht zur
aktiven Beschäftigungssuche ausge-
nommen, für Sozialhilfeempfänger
werden Reintegrationspläne erstellt
und bei Ablehnung der Aus- oder Wei-
terbildungsmaßnahmen erfolgt die
Kürzung von Transferleistungen.
Diese Maßnahmen wurden von
wichtigen Strukturreformen begleitet.
Zwischen 1994 und 2000 wurden die
bipartistischen Aufsichtsgremien der
Sozialversicherungen durch unabhän-
gige Kontrollgremien ersetzt. Durch
die institutionellen Neuordnungen
wurde der Einfluss der Sozialpartner zu
Gunsten des direkten Regierungsein-
flusses zurückgedrängt.
Die Grundlage für die Arbeitsmarkt-politik der 90er Jahre bildeten hingegen
weiterhin Abkommen zwischen Ge-
werkschaften und Arbeitgebern
(„Nieuwe Koers“ 1993; „Flexibiliteit en
Zekerheid“ 1996). Im Rahmen von Tarif-
abschlüssen wurde durch Öffnungs-
klauseln die Lücke zum gesetzlichen
Mindestlohn verringert. Zusätzlich wur-
den gesetzliche Bestimmungen für Zeit-
arbeitsfirmen vereinfacht, Kriterien für
die Arbeitsinvalidität verschärft und
Modellversuche zur Verbesserung der
Effizienz von Arbeits- und Sozialämtern
gestartet. Die Arbeitsämter konzen-
trieren sich fast ausschließlich auf Pro-
blemgruppen, private (Zeitarbeits)
Agenturen vermitteln den größten Teil
der Arbeitslosen. Das neue Arbeitszeit-
gesetz von 1996 legte neue Höchstgren-
zen von Wochenarbeitszeit, Überstun-
den, Nacht- und Sonntagsarbeit fest,
ermöglichte gleichzeitig jedoch eine
kurzfristig sehr flexible Anwendung.
1995 und 1996 wurden mehrere Lohn-
subventionsprogramme aufgelegt, die
v.a. im öffentlichen Sektor Arbeitsplätze
für Langzeitarbeitslose bereitstellten
(„Melkert-Jobs“). 1999 trat das „Flexicu-
rity“-Gesetz zu Arbeitszeit und Kündi-
gungsschutz in Kraft. Die Neuregelung
des Kündigungsschutzes stellte eine
leichte Flexibilisierung für reguläre
Beschäftigungsverhältnisse dar, ande-
rerseits sind die Rechte von Beschäftig-
ten mit Zeitarbeitsverträgen und „sub-
angestellten“ Selbstständigen gestärkt
worden (Green-Pedersen et al. 2001c).
Das Arbeitszeitanpassungsgesetz von
2000 verpflichtete die Arbeitgeber
sogar, einem Wunsch auf Verlängerung
oder Verkürzung der Arbeitszeit des
Arbeitnehmers nachzukommen, sofern
Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa
39
nicht besondere betriebliche Gründe
dem entgegenstehen.
Die Sozialpartner spielten bei diesen
Reformen eine wichtige Rolle. Auf dem
Gebiet der Arbeitsmarktpolitik bestand
ein großer Teil der Gesetzgebung in der
Kodifizierung von bipartistischen Arran-
gements.11
Durch institutionelle Neu-
ordnungen hat sich in der Sozialpolitik
hingegen der „Schatten der Hierarchie“
deutlich verstärkt. Den zahlreichen
Reformen lag kein umfassender Plan
zugrunde, wie es die Rede vom „Polder-
modell“ vermuten lässt. Der Wandel
vollzog sich in vielen kleinen Schritten,
aber mit erstaunlicher Beständigkeit.
2.3 Schweden (ab 1994)Maßgeblichen Einfluss auf die pro-
grammatische Neuausrichtung der
schwedischen SAP hatte die Wirtschafts-
krise zu Beginn der 90er Jahre. Die Her-
stellung ausgeglichener Budgets ist seit-
dem auch programmatisch zu einem
wichtigen Zwischenziel zur Verwirk-
lichung des überragenden Zieles der
Vollbeschäftigung geworden (SAP 2001).
Die SAP hält weiter am universalisti-
schen Wohlfahrtstaat fest und sieht
seinen Kern in der Bereitstellung staat-
licher Dienstleistungen für Gesund-
heit, Pflege und Bildung; nur begrenzt
sollen in diesen Bereichen private
Angebote zugelassen werden. Sie sol-
len Anreize zur Effizienzsteigerung des
öffentlichen Dienstes setzen. Diese
staatlichen Dienstleistungen werden
als Ausdruck sozialer Gerechtigkeit als
Gleichheit der Lebenschancen verstan-
den.12
Das Ziel ist auch unter neuen
Herausforderungen die „faire Umver-
teilung von Wohlstand“ (Persson
2001). Nach 7 Jahren Regierung bün-
delte das neue Grundsatzprogramm
2001 die Erfahrungen.
Bei Übernahme der Regierungsverant-
wortung 1994 sah die SAP keine Alterna-
tive zur Haushaltskonsolidierung, die
mit Kürzungen von Transfer- und Dienst-
leistungen und Steuererhöhungen und
Ausgabenbegrenzungen einherging
(Lachman u.a. 1995: 21ff.), betonte aber
immer wieder den temporären Charak-
ter der Maßnahmen. 1994 wurde die
Körperschaftssteuer von 30 auf 28%
gesenkt, die Einkommenssteuer für
obere Einkommensgruppen 1995 von 20
auf 25% angehoben. Weiterhin wurden
ökologische Steuern eingeführt, haupt-
sächlich als Reaktion auf Mehrwertsteu-
ersenkungen im Zuge von EU-Anglei-
chungen. Der Arbeitnehmeranteil zur
Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring
40
11 Voraussetzung war die seit dem Wassenaar-Abkommen festzustellende Prioritätenverschiebung innerhalb der Gewerk-schaften von Lohnsteigerungen zu Beschäftigungswachstum (Visser/Hemerijck 1998; van der Veen/Trommel 1999).
12 In Abgrenzung zum Begriff der faktischen Chancengleichheit beinhaltet eine Gleichheit der Lebenschancen einenandauernden gleichen Zugang der Bürger zu sozialen Grundgütern, deren Bereitstellung durch den Staat zugewährleisten ist (Meyer 2002: 72ff.).
Sozialversicherung wurde um ca. 5 Pro-
zentpunkte erhöht. Insgesamt führten
diese und weitere kleinere Änderungen
zu einer Steigerung des Steuer- und
Abgabenaufkommens (OECD 1999: 168).
Gleichzeitig wurden Ausgabenober-
grenzen für alle Haushaltsposten einge-
führt und die Abgaben der Zentralregie-
rung an die unteren Körperschaften
begrenzt oder gekürzt, so dass es auf
dieser Ebene zu Friktionen bei den sozia-
len Dienstleistungen kam. Insgesamt
kann man auf diesem Feld einen kurzfri-
stigen Rückzug, jedoch keine Abkehr des
Staates von seinen Allokations- und Re-
distributionsmöglichkeiten feststellen.
In der Sozialpolitik wurden nach 1994
die Verschärfungen der konservativen
Regierung zuerst zurückgenommen,
dann wurden in den Jahren 1995-97
Transferleistungen auf breiter Front
gekürzt.13
Der temporäre Charakter
dieser Maßnahmen zur Haushaltkon-
solidierung wurde 1998 deutlich, als
die Transferleistungen bei Arbeitslosig-
keit und Krankheit wieder auf 80%
angehoben wurden, verbunden mit
der Ankündigung weiterer Erhöhun-
gen. Begründet wurde dies mit der
erfolgreichen Haushaltskonsolidie-
rung, zudem sollte die Kaufkraft der
Haushalte gestärkt werden (SAP 2002).
Auch die durch Konsolidierungs-
maßnahmen unter Druck geratenen
sozialen Dienstleistungen sollen mitt-
lerweile wieder verstärkt gefördert wer-
den. Die Unterstützung der Bevölkerung
der SAP hängt wesentlich von der Effizi-
enz und Güte der öffentlichen Dienstlei-
stungen ab. Zu diesem Zweck sollen
Marktinstrumente (z.B. interne Preis-
mechanismen) eingeführt werden,
ohne den Dienst völlig zu privatisieren.
Eine (vorsichtige) Marktöffnung wurde
auch mit der Einführung einer verpflich-
tenden fondsgestützten Altersversor-
gung vorgenommen.14
In der Arbeitsmarktpolitik wurde mit
dem 1996 verabschiedeten Beschäfti-
gungsgesetz das Prinzip des „Förderns
und Forderns“ gestärkt (OECD 1997:
113f.). Dadurch sollten die Ressourcen
auf Aus- und Weiterbildungsmaß-
nahmen konzentriert werden. Ein zu-
sätzlicher Marktanreiz wurde mit der
zeitlichen Begrenzung der Arbeitslosen-
unterstützung auf 3 Jahre geschaffen,
nur in Ausnahmefällen ist die Verlänge-
rung auf vier Jahre möglich. Seit 2000
müssen alle Personen, die Arbeitslosen-
Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa
41
13 Revidiert wurden die Senkung des Mutterschaftsgelds von 90% auf 80%; die Steigerung der Altersgrenze der Teil-zeitrente von 60 auf 61 Jahre, die Senkung der Teilzeitrente von 65% auf 55% der Bemessungsgrundlage, und derWegfall des Anspruchs auf Arbeitslosengeld bei Teilnahme an aktiven Arbeitsmarktprogrammen. 1995/97 wurdenu.a. die Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit und Krankheit von 80% auf 75% des Lohnes gekürzt.
14 Das bisherige Rentensystem mit steuerfinanzierter Grundrente und beitragsfinanzierte Zusatzrenten wurde aufeine rein beitragsfinanzierte Sozialversicherung umgestellt, allerdings beinhaltet diese immer noch eine Garantie-rente. Der Beitragssatz liegt bei 18,5% der Bemessungsgrundlage, davon fließen 2,5% in frei wählbare, aber staatlichlizensierte Fonds.
unterstützung beziehen und weniger
als 27 Monate regulär in Beschäftigung
waren, an einem Arbeitsmarktpro-
gramm teilnehmen. Aufgrund des Par-
teienwettbewerbs mit der Linkspartei
und des Widerstands der Gewerkschaf-
ten wurde die Rigidität der Arbeits-
schutzgesetzgebung nur marginal
gelockert. Die Beschäftigungspolitik
wurde unter das Leitwort ‚Aktivierung’
gestellt, ohne an der zentralen Bedeu-
tung staatlicher Interventionen in den
Arbeitsmarkt zu rütteln.
Zusammengefasst hat eine Ver-
marktlichung nur an den Rändern des
Wohlfahrtsstaates stattgefunden. Eine
einheitliche Richtung war nicht zu
erkennen, nach vorübergehenden Kür-
zungen ist die Ausgangssituation wie-
der hergestellt. Dies liegt nicht zuletzt
am Machtpotenzial der Gewerkschaf-
ten. Auch wenn deren Einfluss auf die
SAP zurückgegangen ist (Arter 1994),
so muss sie doch das Konfliktpotential
dieser Gruppe berücksichtigen.15
Auch
wenn die SAP bestimmte Anpassun-
gen als Minderheitsregierung mit bür-
gerlichen Partnern durchsetzte, konnte
sie die Gewerkschaften soweit einbin-
den, dass die temporären Kürzungen
und die Aktivierung akzeptiert wur-
den. Diese Zustimmung erreichte sie
durch das Bekenntnis zum hohen
Niveau der Sicherungssysteme und der
öffentlichen Dienstleistungen.
2.4 Dänemark (1993-2001)In ihrem Grundsatzprogramm und
den Wahlprogrammen der 90er Jahre
hält die dänische Sozialdemokratie (SD)
an den Zielen der sozialen Inklusion und
Vollbeschäftigung fest. Erkennbar ist
jedoch eine Veränderung der Instru-
mente, die verstärkt auf den Einzelnen
gerichtet wurden. Der Staat soll nach
dem Prinzip der ‚Rechte und Pflichten’ in
die Lebensgestaltung seiner Bürger zur
Verbesserung der Beschäftigungsfähig-
keit eingreifen dürfen, sofern Leistun-
gen in Anspruch genommen werden.
Dieses Eingehen auf Funktionserforder-
nisse des Marktes soll kompensiert wer-
den durch die Bereitstellung großzügi-
ger Sozial- und Dienstleistungen. Der
weitgehend deregulierte Arbeitsmarkt
wird von der SD nicht in Frage gestellt.
Eckpunkte der kurzfristig expansiven
Haushaltspolitik (PLS Consult/ Jensen
1996) ab 1993 waren eine Senkung aller
Einkommenssteuersätze und eine kurz-
fristige Erhöhung der staatlichen Inve-
stitionen in Bildung und Infrastruktur.
Erst zeitlich verzögert wurde dies durch
eine Verbreiterung der Steuerbasis und
eine Einführung von Umweltsteuern
gegenfinanziert (OECD 2000: 109-143).
Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring
42
15 Die Gewerkschaften können aufgrund der Parteienkonkurrenz der SAP mit der Linkspartei glaubhaft damit drohen,sich mittelfristig andere Bündnispartner zu suchen.
Die dänische Sozialdemokratie stellte
die sofortige Haushaltskonsolidierung
zugunsten eines Wachstumsimpulses
zurück. Allerdings hatte man sich auf
die Konsolidierung des Haushaltes
über den Konjunkturzyklus hinweg pro-
grammatisch festgelegt. Begünstigt
durch das stabile Wirtschaftswachs-
tum war es der SD möglich, nach der
Einkommenssteuersenkung 1994 auch
in den folgenden Jahren die Steuer-
sätze zu senken (OECD 1999: 144).
Dadurch, verbunden mit der Steige-
rung der ökologischen Verbrauchssteu-
ern, stieg der Anteil der indirekten Steu-
ern (in % des BIP), während der Anteil
der direkten Steuern leicht sank.
In der Sozialpolitik blieb die Transfer-
höhe von Ersatzleistungen unverän-
dert und der öffentliche Dienst wurde
in seinem Umfang erhalten. Ein Teil der
Sozialpolitik wurde in den Dienst der
Beschäftigungspolitik gestellt: Zum
einem wurden 1993 die drei Pro-
gramme zum zeitweiligen Ausstieg
aus dem Erwerbsleben (Elternurlaub,
Bildungsurlaub, Sabbaturlaub) ausge-
baut, um subventionierte Beschäfti-
gung im Rahmen der aktivierenden
Arbeitsmarktpolitik zu fördern. Zum
anderen wurde das umfassende
System der Frühverrentung beibehal-
ten und blieb ein staatliches Instru-
ment zur künstlichen Verknappung
des Arbeitskräfteangebots. Bei den
Verhandlungen zur Arbeitsmarkt-reform III (1998) kam es zu einem Kom-
promiss mit den bürgerlichen Op-
positionsparteien über eine moderate
Kürzung des Frühverrentungspro-
gramms.16
Während bei den vorange-
gangenen Reformen die Rentenhöhe
unangetastet blieb, wagten sich die
Sozialdemokraten diesmal an diese
heikle Frage. Das führte zu massiven
Einbrüchen der Sozialdemokraten bei
Umfragen.
Die Reformen in der Arbeitsmarkt-politik wurden durch die begleitende
wissenschaftliche Diskussion dieses
Themas begünstigt.17
Schon die konser-
vative Vorgängerregierung hatte aktivie-
rende Maßnahmen einführen wollen
(Jobtraining, Ausbildung, Ausrichtung
auf Employability), verknüpft mit deut-
lichen Leistungskürzungen. Entspre-
chende Verhandlungen zwischen den
Parteien verliefen allerdings im Sande.
1993 griffen die Sozialdemokraten die
Vorschläge zur Aktivierung auf. Zwar
wurde die Leistungsdauer reduziert, die
Höhe blieb aber unangetastet. Zentrale
Elemente der dreistufigen Reform (1994,
1995, 1998) waren: (1) Die sukzessive Kür-
Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa
43
16 Einführung einer Abgabe als Leistungsvoraussetzung, Verlängerung der Teilnahmedauer zum Leistungserhalt,Reduzierung der Leistung, Senkung des allgemeinen Pensionsalters von 67 auf 65 Jahre.
17 Zuletzt in einer Serie von Papieren der Arbeitsmarktkommission (eingesetzt von der bürgerlichen Regierung, beste-hend aus den Sozialpartnern), das letzte Mal in einem Papier von 1992 (Zeuthen-Report).
zung der Leistungsdauer von 9 auf 4
Jahre und eine längere und früher
einsetzende Aktivierungsphase, (2) die
Ausdehnung der Personengruppe mit
verpflichtender Teilnahme, (3) eine Kon-
zentrierung der Aktivierungsmaßnah-
men auf Bildung und „Training on the
Job“ und (4) individuell abgestimmte
Aktionspläne. Dieser Aktivierungsplan
wird als Vertrag zwischen Arbeitslosen
und Arbeitsamt geschlossen, der die
Rechte und Pflichten des Arbeitslosen
festlegt. Daneben wurde das zentralis-
tische System der Arbeitsmarktverwal-
tung in 14 Regionen dezentralisiert.
Während die nationale Verwaltung fast
ausschließlich für die Evaluierung zu-
ständig ist, wurde die Implementierung
den regionalen Arbeitsverwaltungen
übergeben. Diese sind tripartistisch
besetzt (Gemeinden, regionale Arbeits-
geber und Gewerkschaften) und legen
konkrete lokale Maßnahmen fest.
Besonders die Gewerkschaften konnten
dadurch Einfluss zurückgewinnen, den
sie durch die Dezentralisierung der Tarif-
verhandlungen verloren hatten.
Die SD-Regierung nutze zur Umset-
zung ihres Programms geschickt die
Ressourcen aus, die durch die informelle
Konsenskultur in Dänemark bereit-
stehen. Die relevanten Interessenver-
bände wurden über Kommissionen
schon im Vorfeld des Gesetzgebungs-
prozesses eingebunden.18
Vor allem in
der Beschäftigungspolitik wurde die
Implementation weitgehend in die
Hände der Tarifpartner gelegt. Die SD
nutzte den direkten Zugriff (den „Schat-
ten der Hierarchie“) auf die sozialen
Sicherungssysteme dazu, die Tarifpar-
teien zur Mitarbeit zu bewegen.
2.5 Deutschland (ab 1998)Über ein eindeutiges programmati-
sches Profil verfügten die deutschen
Sozialdemokraten beim Regierungs-
wechsel 1998 nicht, dementsprechend
brach der im Wahlkampf stillgelegte
Konflikt zwischen den „Traditionalisten“
und „Modernisierern“ bereits ein halbes
Jahr nach Regierungsbeginn wieder auf
– angeheizt vor allem durch das wirt-
schaftsliberale Schröder-Blair-Papier.
Die Partei folgte diesem „von oben“ ver-
ordneten Modernisierungskurs nur sehr
zögerlich, und auch die daraufhin
begonnene Grundsatzprogrammde-
batte konnte bisher kaum etwas zur
Klärung des innerparteilichen Konflik-
tes zwischen den Verteidigern des so-
zialstaatlichen Status quo und den
Befürwortern von Deregulierungen und
Liberalisierungen beitragen. Die erste
Legislaturperiode der Regierung Schrö-
der kann jedoch als ein „Etappensieg“
Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring
44
18 1993 hatte die SD-geführte Koalition allerdings eine parlamentarische Mehrheit, um die erste Arbeitsmarktreformdurchzusetzen – im von Minderheitsregierungen und Konsenssuche geprägten politischen System Dänemarks einseltenes ‚Window of Opportunity’.
der Modernisierer interpretiert werden
(Egle/Henkes 2003). Die programmati-
sche Debatte kreist v.a. um den Grund-
wert der sozialen Gerechtigkeit und den
Bedeutungsinhalt der „Gleichheit“
(Ergebnis- vs. Chancengleichheit).
In der Steuer- und Haushaltspolitikfand innerhalb der Legislaturperiode
ein deutlicher Politikwechsel statt
(Zohlnhöfer 2003): Während die erste,
von Lafontaine verantwortete Steuer-
reform vor allem Arbeitnehmerhaus-
halten zugute kam und die Wirtschaft
belastete, wurden mit der zweiten
Steuerreform unter seinem Nachfolger
Eichel deutliche Steuerentlastungen
für Unternehmen durchgeführt. Zuvor
schwenkte man auf einen Konsolidie-
rungskurs ein. Die Steuersenkungen
gingen deutlich über die im Wahlpro-
gramm angekündigten Maßnahmen
hinaus.19
Mit der Ökosteuer wurden
indirekte Steuern erhöht, um den Ren-
tenversicherungsbeitrag zu senken.
Die angekündigte Blockade der opposi-
tionellen CDU im Bundesrat wurde
durch selektive Anreize für bestimmte
Länderregierungen umspielt (Merkel
2003). Nach der Wiederwahl im Herbst
2002 beschloss die rot-grüne Regie-
rung aufgrund der prekären Finanz-
lage des Staatshaushaltes und der
Sozialversicherungssysteme diverse
Maßnahmen zur Einnahmenerhö-
hung, außerdem sind inzwischen auch
Kürzungen im Sozialsystem geplant
(„Agenda 2010“).
Dagegen beschritt die Regierung in
der Sozialpolitik zunächst einen staatso-
rientierten Weg, da sie mit der Einbezie-
hung sog. „Scheinselbstständiger“ und
geringfügig Beschäftigter in die Sozial-
versicherung eine Politik der Mehrein-
nahmen (anstelle von Leistungskürzun-
gen) verfolgte, und mit der Reform der
sog. 630-DM-Jobs den Arbeitsmarkt
weiter regulierte. In der Gesundheitspo-
litik wurde einer zunehmenden Eigen-
vorsorge der Patienten eine klare Absage
erteilt und die wenigen Elemente der
Eigenbeteiligung sogar zurückgenom-
men. Statt dessen sollten die Kosten
durch staatliche Regulierungen ge-
dämpft werden. Nach heftigen Prote-
sten der Ärzte- und Pharmaverbände
wurden diese Maßnahmen zurückge-
nommen. Im Zuge der Rentenreform
2000 wurde das Leistungsniveau der
gesetzlichen Rente abgesenkt und mit
der Einführung einer freiwilligen kapital-
gedeckten Zusatzrente eine Teilprivati-
sierung vorgenommen, bei der der Staat
Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa
45
19 So wurde der Einkommensteuereingangssatz 25,9% auf 15 % gesenkt (wie im Wahlprogramm versprochen), derSpitzensteuersatz jedoch von 53% auf 42 %, obwohl nur 49 % angekündigt wurden. Während im Wahlprogrammeine Senkung des Körperschaftsteuersatzes nur vage „auf ein international vergleichbares Niveau“ angekündigtwurde, wurde er von 40% (für einbehaltene Gewinne) bzw. 30% (für ausgeschüttete) auf einheitliche 25 % gesenkt.Außerdem wurden Veräußerungsgewinne aus Beteiligungsverkäufen von inländischen Kapitalgesellschaften fürKapitalgesellschaften steuerfrei gestellt.
mit der Zertifizierung und Förderung
weiterhin tätig ist.
In der Arbeitsmarktpolitik fanden
keine Liberalisierungen statt, Lockerun-
gen der Vorgängerregierung beim Kün-
digungsschutz und der Lohnfortzahlung
im Krankheitsfall wurden zurückgenom-
men. Für arbeitslose Jugendliche wurde
ein staatlich finanziertes Qualifizie-
rungs- und Beschäftigungsprogramm
aufgelegt. Mit dem Job-AQTIV-Gesetz
wurden erste Maßnahmen einer aktivie-
renden Arbeitsmarktpolitik durchge-
setzt (Blancke/Schmid 2003). Das strate-
gische „Schlüsselprojekt“ der Regierung,
das Bündnis für Arbeit, war der Versuch,
das hohe Blockadepotenzial der Gewerk-
schaften für marktöffnende Reformen in
der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu
verringern und eine beschäftigungsför-
dernde Lohnpolitik zu erreichen. Das
Bündnis scheiterte,da die Regierung den
dafür nötigen „Schatten der Hierarchie“
nicht spenden konnte (Hassel 2000)20
und sie ihre potenziellen Tauschgüter
bereits eingelöst hatte.21
Die Hartz-Kom-
mission kann als eine Fortsetzung des
Bündnis für Arbeit mit anderen Mitteln
interpretiert werden, da auch hier ver-
sucht wurde, die Gewerkschaften einzu-
binden.Während die drohende Blockade
des Bundesrates22
bei der Verabschie-
dung der Steuer- und Rentenreform
durch entsprechendes Bargaining zwei-
mal umgangen werden konnte, gelang
es der Regierung nicht, eine marktöff-
nende Politik im Bereich des Arbeits-
marktes gegen den linken Parteiflügel
der SPD und vor allem gegen die
Gewerkschaften durchzusetzen.
2.6 Frankreich (1997-2002)Programmatisch betrieb der 1997 mit
einem Linksbündnis an die Macht ge-
kommene Parti Socialiste eine Revitali-
sierung „republikanischer“ Werte (Bei-
lecke 1999), die einen Gegenentwurf
zum (neo-)liberalen Globalisierungsdis-
kurs darstellen. Mit dem Begriff des
„Voluntarismus“ wurde die Rehabilitie-
rung der Politik gegenüber ökonomi-
schen Sachzwängen gefordert. In der
europaweit geführten Debatte um den
„Dritten Weg“ vertrat der PS mit der Pro-
grammschrift „Vers un monde plus
juste“ eine eigenständige und kritische
Position. Eine Revision klassischer sozi-
aldemokratischer Ziele war nicht zu
beobachten – selbst das Instrument
keynesianischer Fiskal- und Geldpolitik
wurde vom PS weiterhin als erfolgver-
sprechend angesehen.
Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring
46
20 Die Gewerkschaften weigerten sich mit Verweis auf die institutionell verankerte Tarifautonomie, über Lohnpolitikzu verhandeln.
21 So z.B. die Korrekturen der Regierung Kohl (Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung), Scheinselbstständigkeit und gering-fügige Beschäftigung; das erst später verabschiedete Betriebsverfassungsgesetz kann eventuell als eine Kompensa-tion für die Rentenreform interpretiert werden, der die Gewerkschaften erst nach langem Zögern zustimmten.
22 Die angekündigten Blockaden der Opposition waren allerdings in erster Linie dem Parteienwettbewerb geschuldetund weniger mit programmatischen Differenzen zu erklären (Merkel 2003).
In der Steuer- und Haushaltspolitikkonnte die Regierung durch selektive
Steuererhöhungen und -senkungen und
durch entsprechende Erhöhungen sozia-
ler Leistungen (s.u.) eine umverteilende
Wirkung und eine Kaufkraftsteigerung
hervorrufen. Neben der Entlastung der
Privathaushalte (vor allem mit geringen
Einkommen) wurden Unternehmen
durch eine temporäre Erhöhung der Kör-
perschaftssteuer zunächst belastet23
und Kapitaleinkommen höher besteu-
ert. Gesenkt wurden hingegen die Woh-
nungssteuer und die Mehrwertsteuer.
Durch die Erhöhung der Sozialsteuer
CSG bei gleichzeitiger Senkung der Kran-
kenversicherungsbeiträge der Arbeit-
nehmer sollte einerseits die Kaufkraft
gesteigert, andererseits die Finanzie-
rungsgrundlage der Krankenversorgung
verbreitert werden.24
Erst das Haus-
haltsjahr 2001 brachte überraschende,
im Wahlprogramm nicht angekündigte
Steuererleichterungen für Besserver-
dienende und Unternehmen, die
umfangreichsten in der Geschichte der
V. Republik.25
Im Widerspruch zum Wahl-
programm 1997 wurde die Privatisie-
rungspolitik der Vorgängerregierung
weitergeführt. Das Konzept der öffentli-
chen Daseinsvorsorge durch den „service
public“ blieb jedoch bestehen: Es gab
zwar eine zögerliche Marktöffnung,
allerdings bestand keine Absicht, hier die
Kontrolle des Staates abzugeben.
In der Sozialpolitik wurde mit der Ein-
führung der universellen Krankenversi-
cherung CMU eine Versorgungslücke im
Sozialsystem geschlossen, die vor allem
bei Geringverdienern auftrat. Die
Kosten für die obligatorische Zusatzver-
sicherung für Geringverdiener werden
vom Staat übernommen, die Versicher-
ten können ihre Zusatzversicherung
allerdings frei wählen. Bei der Rentenfi-
nanzierung hielten die Sozialisten am
reinen Umlageverfahren fest, da sie die
Einführung von Pensionsfonds (nach
dem gescheiterten Versuch der Vorgän-
gerregierung) ablehnte. Die konflikt-
fähigen Gewerkschaften des öffentli-
chen Dienstes standen einer solchen
Reform ebenfalls skeptisch gegenüber.
Die Regierung beschränkte sich darauf,
in Expertenkommissionen unter Einbin-
dung der Sozialpartner Vorschläge für
eine Rentenreform erarbeiten zu lassen.
Weitere Maßnahmen in der Sozialpoli-
tik waren Anhebungen von Soziallei-
stungen (u.a. Mindestlohn, Arbeitslo-
Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa
47
23 Die Körperschaftssteuer stieg für 1998 von 36,7% auf 41,6 % für Unternehmen mit über 50 Millionen FF Umsatz.Diese temporäre Erhöhung wurde bis 2000 sukzessiv zurückgenommen.
24 Die CSG wird im Gegensatz zu den Sozialversicherungsbeiträgen nicht nur auf die Lohneinkommen, sondern aufalle Einkommensarten (auch auf Kapitaleinkommen) erhoben.
25 Die wichtigsten Maßnahmen waren bei der persönlichen Einkommenssteuer die Senkung des Eingangssatzes von10,5% auf 7 % und des Spitzensteuersatzes von 54% auf 52,5 %, und bei der Unternehmensbesteuerung die Absen-kung der Körperschaftssteuer für KMU von 36,7% auf 15 % , für Großunternehmen von 36,7% auf 33,3% bis jeweils2003 (OECD 2001: 57 f).
senunterstützung und Sozialhilfe). Für
Besserverdienende wurden die Famili-
enbeihilfen aufgrund eingeführter Be-
dürftigkeitsprüfungen gekürzt.
In der Arbeitsmarktpolitik wurden
durch ein Beschäftigungsprogramm für
Jugendliche ca. 300.000 Arbeitsplätze
vorwiegend im öffentlichen Sektor
geschaffen.26
Um Substitutionseffekte
zu vermeiden, wurden für die neu
geschaffenen Stellen in Zusammenar-
beit von Regierung, Gebietskörperschaf-
ten und gemeinnützigen Vereinen
eigene Beschäftigungsprofile erstellt
(Uterwedde 2000). Bei der Einführung
der 35-Stunden-Woche versuchte die
Regierung mit der „Konferenz über
Beschäftigung, Löhne und Arbeitszeit“
vergeblich die Sozialpartner einzu-
binden. Gegen den hinhaltenden
Widerstand der Arbeitgeber legte sie
die Rahmenbedingungen der Arbeits-
zeitverkürzung fest, die konkrete Ausge-
staltung der Arbeitszeiten wurde
jedoch den Sozialpartnern überlassen.27
Dabei profitierten die Arbeitgeber von
der Einführung von Jahresarbeitszeit-
konten (d.h. Flexibilisierung der Arbeits-
zeiten), den großzügigen staatlichen
Lohnkostenzuschüssen (bzw. Senkung
ihrer Sozialversicherungsbeiträge) und
Anreizen bei Einstellungen im Nied-
riglohnbereich. Eine von den Sozial-
partnern übernommene Reform der
Arbeitslosenunterstützung brachte
zwar keine neuen Pflichten für Arbeits-
lose mit sich, aber durch die Einführung
von persönlichen Eingliederungsplänen
sollte der Druck auf Arbeitslose zur Auf-
nahme einer Beschäftigung erhöht
werden. Da im Zuge dieser Reform aber
auch die bisherige Degressivität des
Arbeitslosengeldes abgeschafft wurde,
wird der Aktivierungserfolg dieser Maß-
nahme unterschiedlich beurteilt (OECD
2001: 91; Tuchszirer 2001).
Aufgrund der in Frankreich schwach
ausgeprägten Sozialbeziehungen fiel
es der Regierung schwer, die So-
zialpartner erfolgreich einzubinden.
Dies wird an der gescheiterten tri-
partistischen Konferenz zur Ein-
führung der Arbeitszeitverkürzung
und der attentistischen Rentenpolitik
deutlich. Allerdings konnte im Zuge
der Implementierung der Arbeitszeit-
verkürzung und des Programms gegen
die Jugendarbeitslosigkeit eine leichte
Verbesserung der Beziehungen er-
reicht werden.
Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring
48
26 Stand Ende 2000, nach einer Studie des Arbeitsministeriums (<http://www.nsej.travail.gouv.fr>). Im Rahmen diesesProgramms neu geschaffene Arbeitsplätze gibt es zwar auch in privaten Unternehmen, hauptsächlich aber inöffentlichen Einrichtungen, Gebietskörperschaften, Vereinen und Stiftungen. Da die jeweiligen Beschäftigungsver-hältnisse vom (Zentral-)Staat darüber hinaus mit 80 % des Mindestlohnes (SMIC) bezuschusst werden, kann mandiese Maßnahmen als öffentliches Beschäftigungsprogramm charakterisieren. Qualifizierungsmaßnahmen imRahmen des Programms sind zwar möglich und erwünscht, allerdings nicht institutionalisiert.
27 Von 1997 bis Ende 2000 wurden durch die Arbeitszeitverkürzung nur ca. 240.000 Arbeitsplätze geschaffen, währendder gesamte Beschäftigungszuwachs in diesem Zeitraum 1,7 Mio. betrug.
Die Untersuchung der sechs sozialde-
mokratisch geführten Länder zeigt zwar
bedeutende Unterschiede in der Pro-
grammatik und Politik der jeweiligen
Parteien auf, trotzdem lässt sich fol-
gende gemeinsame „Richtung“ einer
sozialdemokratischen Reformpolitik
feststellen: In allen Ländern außer
Frankreich ist eine – wenn auch unter-
schiedlich stark ausgeprägte – Priorität
der Haushaltskonsolidierung zu erken-
nen. Daneben können, abgesehen von
temporären Steuererhöhungen in
Frankreich (Unternehmenssteuern) und
Schweden (Einkommens- und Ver-
mögenssteuern) in allen Ländern Steu-
ersenkungen beobachtet werden.
Zusätzliche Einnahmen generieren alle
Regierungen über eingeführte oder
erhöhte Ökosteuern. In der Arbeits-
marktpolitik ist der Trend zu einer ak-
tivierenden Arbeitsmarktpolitik zu nen-
nen – in allen Ländern wurde das Prinzip
des Forderns und Förderns institutiona-
lisiert. Diese Maßnahmen zur Steige-
rung der Beschäftigungsfähigkeit sind
jedoch mit unterschiedlich starken
Sanktionen (Leistungskürzungen) be-
gleitet, wenn Arbeitslose ihren Ver-
pflichtungen nicht nachkommen. Auch
verfolgen die meisten sozialdemokrati-
schen Parteien – wenigstens verbal –
eine Politik der Flexibilisierung des
Arbeitsmarktes, allerdings variieren die
nationalen Gesetzgebungen noch deut-
lich. In der Sozialpolitik ist jedoch keine
klare Tendenz festzustellen: Frankreich
und Großbritannien erhöhten Soziallei-
stungen, die Niederlande nahmen Kür-
zungen vor, in Dänemark und Schweden
wurde die Bezugsdauer reduziert,
während Deutschland weitgehend
beim Status quo verharrte. In der Ren-
tenpolitik führten immerhin vier Länder
(GB, D, NL, S) eine Teilprivatisierung ein
oder bauten sie aus – jedoch ausgehend
von sehr unterschiedlichen Niveaus.
Am weitesten fortgeschritten auf
dem Pfad der Marktanpassung ist die
Labour Party, die das wirtschaftspoli-
tisch liberalste Untersuchungsland
regiert und diesen Pfad kaum verließ.
Einen Ab- und Umbau des Wohlfahrts-
staates führte die PvdA durch, die aber
ebenfalls auf den Reformen der Vor-
gängerregierung (z.T. mit eigener Be-
teiligung) aufbauen konnte. Die SPD
und der PS, deren Regierungspolitik
viele Gemeinsamkeiten besitzen,
unterscheiden sich jedoch in program-
matischer Hinsicht: Während die SPD
vom ungelösten Konflikt zwischen
Modernisierern und Traditionalisten
geprägt ist, hat sich der PS bisher
bewusst gegen eine programmatische
Neuausrichtung entschieden. Die däni-
Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa
49
3. Konvergenz und Divergenz sozialdemokratischer Reformpolitik
schen und schwedischen Sozial-
demokraten haben sowohl program-
matisch wie auch hinsichtlich der ver-
folgten Politik einen weniger radikalen
Wandel als New Labour und die PvdA
vollzogen: Sie führten nur einen mode-
raten und zeitlich befristeten Umbau
des Wohlfahrtstaates durch.
Lässt sich jenseits dieser Divergenzen
eine gemeinsame Neuorientierung
sozialdemokratischer Ziele beobach-
ten? In der Sozial- und Arbeitsmarktpo-
litik werden die Ziele des kollektiven
Sozialschutzes und der Vollbe-
schäftigung weiterhin vertreten, wobei
auf der Ebene der Politikinstrumente
eine Revision festzustellen ist. Neu
justiert wurde das Verhältnis von staat-
licher Leistung und individueller Eigen-
verantwortlichkeit. In der Steuer- und
Haushaltspolitik bleibt der Politikwech-
sel nicht auf die Instrumente be-
schränkt, sondern wird durch einen
Wechsel bei den Politikzielen (vgl. zum
Konzept: Hall 1993) begleitet. In Konkur-
renz zum Ziel der Umverteilung tritt
das der Haushaltskonsolidierung, wel-
ches sogar Priorität genießt. Dieser
Revisionismus ist in den sozialdemo-
kratischen Parteien unterschiedlich
stark ausgeprägt, aber doch ein Zeichen
eines gemeinsamen Weges sozialde-
mokratischer Reformpolitik.
Allerdings sind die untersuchten
Länder auf diesem Weg unterschied-
lich weit fortgeschritten. Die Divergenz
kann mit den Opportunitätsstrukturen
des nationalen Handlungskontextes
erklärt werden. Als besonders er-
klärungskräftig dafür, ob sozialdemo-
kratischen Parteien nennenswerte
Anpassungsmaßnahmen durchführen
konnten oder nicht, haben sich fol-
gende Faktoren erwiesen:
a) Das vorgefundene Politikerbe:Die Bereitschaft zu unpopulären
Reformen des Sozialstaates steigt
(sowohl in der Bevölkerung als auch
bei den handelnden Akteuren der Sozi-
aldemokratie), je schlechter die ökono-
mischen outcome-Indikatoren sind
(Arbeitslosenquote, Haushaltsdefizit,
usw.). Erst wenn alle relevanten
Akteure glauben, dass eine Beibehal-
tung des sozialstaatlichen Status quo
weiter krisenverschärfend wirkt, ist der
Handlungsdruck für Reformen des
Sozialstaates groß genug. Wurden ent-
sprechende Reformen schon von der
Vorgängerregierung (GB) oder gemein-
sam mit der wichtigsten Konkurrenz-
partei (NL) durchgeführt, so kann die
Sozialdemokratie diesen Weg pro-
blemlos weiter beschreiten. Muss
jedoch die Sozialdemokratie mit sozia-
len Einschnitten beginnen, wird die
Reformreichweite begrenzt – dies gilt
insbesondere dann, wenn sie vor ihrer
Regierungsübernahme erfolgreich ge-
Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring
50
gen marktorientierte Maßnahmen der
Vorgängerregierung mobilisiert hatte
(F und D). Vergleichbare Reformen kön-
nen dann erst nach einer gewissen Zeit
von der Sozialdemokratie selbst in
Angriff genommen werden (wie ab
2003 in Deutschland).
b) Die Struktur des Sozialstaates:Ein hochregulierter Arbeitsmarkt
institutionalisiert eine konfliktfähige
Gruppe von Insidern, die (als Stamm-
klientel der Sozialdemokratie) über die
Wahlarena eine Flexibilisierung des
Arbeitsmarktes verhindern bzw. verzö-
gern kann. Ein beitragsfinanzierter und
segmentierter Wohlfahrtstaat hemmt
Reformen, da autonome Sozialversi-
cherungen mit ihren Selbstverwal-
tungsorganen zusätzliche Akteure her-
vorbringen, die ein Interesse an
Bestandswahrung haben. Leistungen
autonomer Sozialversicherungen sind
aufgrund des Äquivalenzprinzips und
der Tatsache, dass Versicherte durch
ihre Beiträge Rechtsansprüche auf Lei-
stungen erworben haben, nur er-
schwert in das Konzept der „Aktivie-
rung“ einzubinden.
c) Die Struktur und Organisation derGewerkschaften:Sektorale Gewerkschaften mit mäßi-
gem Organisationsgrad und schwa-
chen Spitzenverbänden vertreten
primär die Interessen ihrer entspre-
chenden Klientel (Insider-Orientie-
rung) und lassen sich kaum in umfas-
sende Tauschstrategien einbinden (D,
F). Dieser Effekt wird durch das Institut
der Tarifautonomie verstärkt (D).
Starke, umfassende Gewerkschaften
können jedoch in unpopuläre Refor-
men mit längerem Zeithorizont einge-
bunden werden, was den Handlungs-
spielraum einer sozialdemokratischen
Partei vergrößert (S, DK). Ähnliches
gelingt, wenn die Gewerkschaften
noch in korporatistische Institutionen
eingebunden sind (NL). Den größten
Reformspielraum hat eine Regierung
bei schwachen Gewerkschaften, die
kaum Konflikt- und kein Vetopotential
besitzen (GB).
d) Die Konfiguration desParteienwettbewerbes:Linkssozialistische und christdemo-
kratische Parteien können sich als
„Bewahrer des Sozialstaates“ profilie-
ren und marktorientierte Reformen
einer sozialdemokratischen Regierung
hemmen – besonders innerhalb einer
Regierungskoalition (F). In Systemen
mit relevanten linken Parteien bei sozi-
aldemokratischer Dominanz können
Wahlverluste aber kompensiert wer-
den, wenn das linke Lager in der
Summe stärker als das rechte Lager
bleibt und die Sozialdemokratie als
Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa
51
Minderheitsregierung weiterregieren
kann (DK, S). Der Handlungsspielraum
kann auch durch eine Große Koalition
vergrößert werden (NL), der die christ-
demokratische Konkurrenz absorbiert.
Die hohen Wahlniederlagen der sozial-
demokratischen Parteien in Schweden
(1998) und den Niederlanden (1994)
illustrieren das Risiko der Abwahl der
Sozialdemokratie bei den ersten natio-
nalen Parlamentswahlen nach Beginn
umgangreicher Sozialstaatsreformen,
das aus den genannten Gründen in
diesen Ländern aber vermindert wer-
den konnte und somit den Handlungs-
spielraum vergrößerte.
Somit war der Handlungsspielraum
für umfassende Reformen in Frankreich
und Deutschland deutlich enger als in
Großbritannien, aber auch geringer als
in den skandinavischen Ländern. In den
Niederlanden konnten zwei potentiell
hemmende Faktoren einer marktorien-
tierten Reformpolitik umgangen wer-
den: Die Christdemokraten waren
während der ersten Reformmaßnah-
men in eine Große Koalition eingebun-
den, und das Blockadepotential der
Gewerkschaften konnte innerhalb
bewährter korporatistischer Institutio-
nen in eine Ressource umgewandelt
werden. In den reformaversen Ländern
Frankreich und Deutschland wurde
bzw. wird eine Reformpolitik aufgrund
des schwierigen nationalen Kontextes
verzögert, nicht aber verhindert. Die im
Frühjahr 2003 in Angriff genommenen
Sozialstaatsreformen der SPD-Regie-
rung (Agenda 2010) illustrieren, dass
sowohl die ökonomischen als auch die
elektoralen Kosten umso höher ausfal-
len, je länger entsprechende Reformen
hinausgezögert werden – was die deut-
schen Sozialdemokraten augenblick-
lich leidvoll erfahren müssen.
Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring
52
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Egle, Christoph/Ostheim, Tobias/
Zohlnhöfer, Reimut (Hrsg.), a.a.O.,193-
214.
Alle vier Autoren sind wissenschaftli-
che Angestellte im DFG-Projekt „Sozi-
aldemokratische Antworten auf inte-
grierte Märkte – Dritte Wege im inter-
nationalen Vergleich“ unter der Lei-
tung von Prof. Dr. Wolfgang Merkel am
Institut für Politische Wissenschaft der
Universität Heidelberg.
Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa
55
Biografische Notiz
Egle, Christoph/Ostheim, Tobias/Zohlnhöfer, Reimut (Hg.), 2003, Das
rot-grüne Projekt. Bilanz der Regierung
Schröder 1998 – 2002, Wiesbaden:
Westdeutscher Verlag.
Egle, Christoph/Henkes, Christian2003: Is the SPD social-democratic?
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ning (Hg.): New Labour and the SPD:
Contemporary Social Democracy in
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Ostheim,Tobias/Zohlnhöfer, Reimut,2003: Europäisierung der Arbeits-
markt- und Beschäftigungspolitik?
Der Einfluss des Luxemburg-Prozesses
auf die deutsche Arbeitsmarktpolitik.
In: Roland Czada/Susanne Lütz (Hrsg.):
Transformation und Perspektiven des
Wohlfahrtsstaates, Opladen: Leske +
Budrich, 2003 (i.E.).
Veröffentlichungen zum Thema:
Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring
56
Christoph Egle M.A.,geboren 1.02.1974,
Studium der Politischen Wissenschaft, Philosophie und Soziologie
an der Universität Heidelberg und am Institut d'Etudes Politiques d'Aix-en-Provence,
Arbeitsschwerpunkte: Parteien- und Policy-Forschung
(insbesondere Sozialdemokratie und grüne Parteien);
Politische Theorie (insbesondere Demokratietheorie und politischer Liberalismus);
Christian Henkes M.A.,geboren 29.01.1972,
Studium der Politischen Wissenschaft, Pädagogik und Volkswirtschaftslehre
an der Universität Mainz,
Arbeitsschwerpunkte: vergleichende Politikwissenschaft (insbesondere
sozialdemokratische Parteien und Policy, und skandinavische politische Systeme);
Politische Theorie (insbesondere Theorie der Minderheitenrechte);
Tobias Ostheim M.A.,geboren 30.01.1970,
Studium der Politischen Wissenschaft
an der Universität Heidelberg,
seit 1999 Wiss. Ang. am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg;
Arbeitsschwerpunkte: Vergleichende Policy-Forschung
(insbes. Europäische Policies, Sozialdemokratische Regierungspolitik);
Methoden empirischer Sozialforschung; webbasierte Lernsysteme.
Alexander Petring M.A.,geboren 31.05.1976,
Studium der Politischen Wissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Philosophie
an der Universität Heidelberg,
Arbeitsschwerpunkte:Wirtschaftspolitik
(insbesondere Deutschland und Großbritannien);
Politische Theorie (insbesondere Staatstheorie, Liberalismus, Rational Choice);
Vielleicht war es wirklich nur ein Pyr-
rhussieg, damals am 22. September
2002. Viel Sinn jedenfalls machte eine
zweite Legislaturperiode „Rot-Grün“
nicht. Schon den rot-grünen Wahl-
kämpfern fiel auf den Marktplätzen in
den langen und oft deprimierenden
Frühjahrs- und Sommermonaten 2002
nicht sonderlich viel ein, wenn die rat-
suchenden Bürger sie nach den weite-
ren sozialökologischen Projekten frag-
ten. Im Grunde war ja das spezifisch
Rot-Grüne – von der Homoehe bis zur
Ökosteuer – abgearbeitet, erledigt,
erreicht. Und im Köcher befanden sich
keine weiteren Pfeile mehr. Auch in
den Regionalparlamenten war die Zahl
rot-grüner Allianzen in den vier Jahren
zuvor kräftig zusammengeschmolzen.
Allein zwei Regierungen dieses Typs
gab und gibt es noch in den 16 Bundes-
ländern der deutschen Republik. Rot-
Grün regiert somit gewissermaßen
ohne Fundament. Die Regierung kann
kühne Konzepte entwickeln und
schöne Agenden aufstellen, wie sie
mag und möchte. Ohne die Zu-
stimmung des Bundesrates, ohne die
bürgerliche Mehrheit dort, kann sie
nichts bewegen, nichts wirklich kraft-
voll durchsetzen. Machtpolitisch sind
die Grünen für die Sozialdemokraten
ohne Wert. Schröder braucht Merkel
und Koch, nicht Fischer und Trittin. Und
dadurch kommt eine neue Regie-
rungsvariante zyklisch in die Debatte
und in den medialen Verdacht: die
Große Koalition.
Man kann sich ganz sicher sein: auch
in den nächsten Monaten wird in schö-
ner Regelmäßigkeit über sie geredet,
geschrieben, gestritten. Und die Kri-
tiker eines solchen Regierungs-
bündnisse werden zweifelsohne be-
sonders schrill protestieren. Sie wer-
den uns in zahlreichen Kommentaren
mahnend darüber belehren, dass sich
im Falle einer Großen Koalition erst
recht der Mehltau der Stagnation über
die bundesdeutsche Gesellschaft legt.
Dass die Volksparteien sich in diesem
Fall noch weiter angleichen und
anpassen. Dass das Parlament noch
stärker entmachtet wird. Dass das
Land dann vollends in Lethargie und
Bräsigkeit versinkt. Natürlich auch:
Dass die politischen Extreme an Zulauf
gewinnen. So reden die 55 bis 60 Jahre
57
Plädoyer für eine Große Koalitionzur Sanierung des deutschen Sozialstaatsvon Franz Walter
alten Meinungseliten in den Lehrer-
zimmern, Universitäten und Chefre-
daktionen schließlich schon seit nun-
mehr gut 35 Jahren, seit sie sich als
junge Menschen in den Zeiten von
Jimmy Hendrix und Janis Joplin über
das Kabinett Kiesinger/Brandt außer-
parlamentarisch empörten.
Doch stimmten all die sinistren
Unheilserwartungen schon damals
nicht, bei der ersten und bislang einzi-
gen Große Koalition der Republik. Und
sie werden auch dann nicht Realität,
wenn im Herbst Wolfgang Clement
oder wer auch immer mit Angela Mer-
kel oder wen auch immer koalieren
sollte. Wenn, wie gesagt. Im Gegenteil:
Große Koalition haben in institutionell
hochfragmentierten Systemen wie der
Bundesrepublik als einzige politische
Formationen die Chance, wirklich weit-
reichende Weichenstellungen vorzu-
nehmen und harte Zumutungen auch
an die Mitte der Gesellschaft zu rich-
ten. Sie erhöhen außerdem – und ganz
entgegen eines verbreiteten Vorurteils
– die Souveränität und den Spielraum
der Parlamentsfraktionen. Und wenn
sie ihre Aufgabe erfüllt haben, nötigen
sie die Großparteien wieder zur schär-
feren Abgrenzung voneinander, för-
dern dadurch die Politisierung, schär-
fen die Differenz. Da sich überdies die
Geister an einer solchen Koalition
besonders leidenschaftlich und erregt
scheiden, geben sie den kritischen Köp-
fen Auftrieb, erhöhen die öffentliche
Wachsamkeit und steigern infolgedes-
sen das politische Gesamtinteresse. So
erlebten wir denn auch schon am Ende
der Großen Koalition von Kiesiger nicht
der Durchmarsch der politischen
Extreme, auch nicht die viel befürch-
tete autoritäre Deformation und erst
recht nicht die häufig beschworene
gesamtgesellschaftliche Apathie, son-
dern den Beginn des sozialliberalen
Aufbruchs und der neuen Ostpolitik,
die Entstehung allerlei partizipations-
freudiger Bürgerinitiativen und kun-
terbunter sozialer Bewegungen. Eine
Große Koalition, kurzum, hat die Funk-
tion, durch eine Allianz von Bürgertum
und Arbeitnehmern – statt der sonst
üblichen Binnenintegration nur des
einen Lagers – die großen und fälligen
Reformen wenn nötig auch mit verfas-
sungsändernden Mehrheiten zu reali-
sieren und im Anschluss daran die Vor-
aussetzungen für eine neue Politik und
Kultur diesseits ihrer selbst zu schaf-
fen. So alle dreißig bis fünfunddreißig
Jahre könnte das die deutsche Repu-
blik gut gebrauchen. Insofern wäre
eine solche Koalition auch jetzt wieder
mit guten Gründen fällig.
Denn viel geht, wie jedermann weiß,
seit Monaten nicht mehr zusammen in
der deutschen Innenpolitik. Und das
wird auch erst einmal so bleiben.
Franz Walter
58
Dabei sind die Probleme, die dieser
Republik zu schaffen machen, Legion.
Wir alle können sie inzwischen im
Schlaf herunterbeten: Deutschland lei-
det an einer beispiellosen Wachstums-
schwäche; die Investitionsquote ist
bedrückend gering und nähert sich
rezessiven Werten; die Kommunen ste-
hen vor der Pleite; die öffentlichen Ein-
richtungen sind abschreckend marode;
Schulen und Hochschulen schleppen
sich mühsam durch die Maläse einer
dramatischen Unterfinanzierung; die
Bundeswehr ist nur bedingt einsatz-
fähig; das Schienennetz der Bundes-
bahn braucht eine flächendeckende
Remedur; das Gesundheitswesen
droht zu kollabieren; und über den
gesellschaftlichen Zukunftszusam-
menhang tickt weiterhin die demogra-
phische Bombe. Von der dauerhaften
Massenarbeitslosigkeit gar nicht zu
reden. Keines der Probleme ist neu;
nichts davon hat primär die Regierung
Schröder zu verantworten; das alles
hat sich in den letzten dreißig Jahren
Zug um Zug aufgeschichtet. Weder
Brandt noch Schmidt noch Kohl noch
Schröder ist der große Befreiungs-
schlag gelungen, auf den die Wähler
gleichwohl irgendwie hoffen. Aber da
können sie wohl noch lange warten,
zunehmend verdrossen, zynisch oder
einfach nur – demoskopisch hinrei-
chend belegt – gleichgültig gegenüber
Politik und Parteien. Denn keine kleine
Koalition wird in Deutschland den gor-
dischen Knoten zerhauen können,
selbst wenn sie die tüchtigsten Prag-
matiker und klügsten Visionäre in
ihren Reihen hätte.
Denn es gibt kaum ein anderes demo-
kratisches Land der Welt, in dem der
politische Gestaltungsraum macht-
instrumentell so begrenzt ist wie in
Deutschland. Nirgendwo jedenfalls ist
das Vetodepot der Opposition so auf-
gefüllt wie hierzulande. In England
etwa ist die Opposition durch und durch
ohnmächtig; sie kann lärmen, polemi-
sieren und resolutionieren, es interes-
siert niemanden. In Deutschland aber
ist die Opposition machtpolitisch stets
mit von der Partie, über ihre Minister-
präsidenten, im Bundesrat, in den öf-
fentlich-rechtlichen Gremien, über ihre
Repräsentanten und Parteimitglieder in
den Tarifauseinandersetzungen, in den
üblichen korporatistischen Bündnissen.
Das hat natürlich viel mit den föderalen
Strukturen und Kompetenzen zu tun,
die ebenfalls ein Unikum in dieser Welt
sind. Eine Regierung in Deutschland
kann nicht einfach regieren, wie sie es
für gut und richtig hält und wofür sie
eigentlich auch gewählt wurde. Eine
Regierung in Deutschland braucht zum
Erfolg fast durchweg die große Opposi-
tionspartei. Aber diese Opposition ist
ihrerseits natürlich keineswegs am
Plädoyer für eine Große Koalition zur Sanierung des deutschen Sozialstaats
59
Erfolg der Regierung interessiert. Und
so ereignet sich immerfort das, was
zunehmend mehr Menschen in dieser
Republik auf die Nerven geht: die zähen
Stellungskriege zwischen Regierung
und Opposition, das monatelange Ge-
feilsche und Gezerre um einen dann
denkbar unzureichenden Kompromiss,
oft genug auch einfach nur Blockade
und Paralyse. Wir werden all dies in den
nächsten Monaten ermüdend oft ein
weiteres Mal erleben. Nur wenn die
Opposition kopflos durch die Land-
schaft irrt, wie die CDU nach Abgang
von Kohl und Schäuble 1999/2000 oder
die SPD unter Klose und Scharping in
der ersten Hälfte der 1990er Jahre, ver-
mag ein taktisch gewiefter und kalt-
blütiger Regierungschef den Spielraum
vorübergehend zu erweitern. Aber
damit kann auch der große Spieler
Schröder nicht mehr ernsthaft rechnen,
da die Merkels, Kochs und Stoibers
dazugelernt haben, mittlerweile zu
lafontainistischen Obstruktionen und
schröderschen Raffinessen reif und
fähig sind.
So bleibt allein die Große Koalition.
Sie ist gewissermaßen die zumindest
zeitweise erforderliche innere Konse-
quenz aus dem kooperationsdemokra-
tisch angelegten Institutionengefüge
der bundesdeutschen Republik. So wie
Deutschland verfasst ist, gelingt Politik
nur durch Kooperation, nur dadurch,
dass beide Parteien gleichermaßen am
gouvernementalen Erfolg interessiert
sind. Entweder man verändert im Kern
die Verfassungsordnung – aber wer
will das schon diesseits einiger rhetori-
scher Provokationen – oder man lässt
sich von Fall zu Fall auf großkoali-
tionäre Zweckbündnisse ein, sonst, ja
sonst geht es mit der kumulativen Kri-
senentwicklung in Deutschland dra-
matisch weiter, gleichviel übrigens ob
die heißersehnte weltwirtschaftliche
Trendwende nun irgendwann kommt
oder auch nicht.
Einiges spricht im übrigen dafür, dass
die große Koalition noch zwei weitere
Fehlentwicklungen korrigiert, über die
wir uns in den letzten Jahren häufig
beklagen: den Souveränitätsverlust des
Parlaments und die Entpolitisierung
der Parteien. In der Tat haben die Parla-
mentsfraktionen der Regierungspar-
teien in den letzen Jahren an Einfluss
enorm eingebüßt. Viele der großen
gesellschaftlichen Debatten sind be-
kanntermaßen in Kommissionen, Räten
und Gremien verlagert worden. Und
sobald sich in den Bundestagsfrakti-
onen von SPD und Grünen Minderhei-
tenauffassungen auch nur vorsichtig
herauszukristallisieren beginnen, greift
sofort und rüde der Disziplinierungs-
druck der „eigenen Regierungsmehr-
heit“ zu. In der Tat: knappe Majoritäten
erzwingen Einordnung und Subalter-
Franz Walter
60
nität. Große Mehrheiten aber verschaf-
fen Raum, ermöglichen auch quere
Diskussionslinien, lassen gar inner-
koalitionäre Opposition zu. Exakt so sah
es aus in den Jahren 1966-1969. Man
kann das im übrigen sehr schön in den
Erinnerungen des damaligen sozialde-
mokratischen Fraktionschefs Helmut
Schmidt nachlesen, in denen er über-
aus einleuchtend resümiert, „dass in
der Geschichte der Bundesrepublik das
Parlament niemals eine derart eigen-
ständige Rolle und ein so entscheiden-
des Gewicht gegenüber der Regierung
gehabt hat wie in den drei Jahren“ der
Großen Koalition; „weder vorher noch
nachher hat es eine klarere Gegenüber-
stellung von Exekutive und Legislative
gegeben, niemals eine wirksamere
Kontrolle durch das Parlament.“ Von
der Einflussmehrung der Abgeordne-
ten hat die gesamte Innenpolitik und
Debattenkultur im Parlament noch in
den 70er Jahren erheblich profitiert.
Seither ist viel davon wieder verloren
gegangen. Die Politik ist in der Folge
langweiliger geworden, die Qualität
der politischen Eliten gesunken. Gerade
bei den Jungparlamentariern der bei-
den Regierungsparteien vermisst man
Kontur und Substanz, argumentative
Schärfe und konzeptionellen Weitblick,
Originalität und Eigensinn, Verwegen-
heit und Mut. Auch in dieser Hinsicht
also wäre eine großkoalitionär be-
dingte Aufwertung von Parlament und
Fraktionen, von Debatte und Diskurs
nur wünschenswert.
Schließlich wird die Große Koalition,
sobald sie einigermaßen die Großauf-
gaben gelöst hat und der zweiten
Legislaturhälfte zusteuert, wieder die
beiden Parteien politisieren. Auch das
hat man in den 1960er Jahren gut ver-
folgen können. Bis zum Eintritt in die
Große Koalition betrieben die Sozial-
demokraten als Oppositionspartei le-
diglich eifrig die Anpassung an die
regierende Union, wollten nur die
„beste CDU aller Zeiten“ sein, wie es
selbstironisch in der SPD hieß. Doch ab
1968 suchten die Sozialdemokraten in
der Koalition mit der CDU die Unter-
scheidbarkeit, das scharfe Eigenprofil.
Und sie fanden beides in der Außen-
und Wirtschaftspolitik. Deutlicher
waren die Unterschiede zwischen
Union und Sozialdemokraten in den
gesamten sechziger Jahren nicht als
damals, zum Ausgang der Großen
Koalition. Und das hat die Republik im
weiteren ungemein beflügelt, hat
neue Debatten und Bewegungen ent-
facht, neue Werte und Kulturen an-
gestoßen. Eine Wiederauflage der
Großen Koalition im Sommer oder
Herbst 2003 könnte durchaus ähnliche
Folgen haben. In den ersten beiden
Jahren haben die beiden Großparteien
gewiss zuvörderst die Krisenagenda
Plädoyer für eine Große Koalition zur Sanierung des deutschen Sozialstaats
61
abzuarbeiten – gemeinsam, unideolo-
gisch, kompromissfähig, pragmatisch
eben. Dann aber werden sie – schon
aus Gründen des Wahlkampfes und
um die Oppositionsparteien nicht zu
stark wachsen zu lassen – Differenz
und Distinktion herausstellen, werden
die unterschiedliche Substanz ihrer
Werte und Leitideen hervorheben,
werden erstmals nach Jahren wieder
über Programmatisches nachdenken.
Beides braucht die deutsche Gesell-
schaft: eine mittlere Frist wirklich
handlungsfähigen und problemlösen-
den Pragmatismus, dazu aber und
danach auch langfristig ausgerichtete
Großdebatten über Leitplanken, Ziel-
perspektiven und normativen Grund-
lagen der Politik. Die Große Koalition
könnte für das eine und das andere
Impuls und Voraussetzung sein.
Natürlich: Mag schon sein, dass nicht
alles so schön kommen muss, wie es
hier gewiss recht optimistisch aus-
gemalt wurde. Aber die Gefahren für
Demokratie und Liberalität sollte man
erst recht nicht übertreiben. So furcht-
bar groß ist ein Große Koalition im Vier-
parteiensystem nun auch nicht mehr.
Im Parlament würden diesmal, im Un-
terschied zu 1966, zwei selbstbewusste
Oppositionsparteien lauern, die mäch-
tig Druck machen können und werden.
Und da sind überdies noch alle die vie-
len jungen und ehrgeizigen Haupt-
stadtredakteure des deutschen Jour-
nalismus, die oft bedauerlicherweise
nicht sonderlich viel von Politik verste-
hen, aber als Experten des hämischen
Kommentars den Großkoalitionären
tagtäglich tüchtig einheizen werden.
Uninteressanter – oder wie sagt man
gerne: bleierner – wird es daher in Ber-
lin nicht zugehen, sollte es tatsächlich
zu einer Großen Koalition kommen.
Aber man muss eine solche Koalition
natürlich wollen, muss sie zielstrebig
anstreben, frühzeitig lagerübergrei-
fend Kontakte herstellen, durchaus
ganz im Stillen Vertrauen aufbauen,
personelle Brücken schlagen. Herbert
Wehner hatte dies in der ersten Hälfte
der 1960er Jahren zäh, kalt und virtuos
betrieben. Nächtelang trank der Dia-
betiker mit den Granden der Union
Wein, schickte ihnen zu Weihnachten
selbstgebackene Christstollen – und
gewann sie auf solche Weise für sich.
So holte der sächsische Machtstratege
die Union in das Bündnis mit den
lange stigmatisierten Sozialdemokra-
ten (Und als ab 1969 alles vorbei war,
interessierte sich Wehner keine
Sekunde mehr für die über Jahre
gehätschelten und mit allerlei Liebens-
würdigkeiten umworbenen Christ-
demokraten). Wehner übrigens wäre
ganz gewiss nie ein Dogmatiker eines
„rot-grünen Regierungsprojekts“ ge-
wesen. Wehner hätte längst subkutan
Franz Walter
62
schon mit aller ihm eigenen Energie
und Skrupellosigkeit an neuen Optio-
nen und Allianzen gebastelt. Nun steht
Wehner der Sozialdemokratie und der
bundesdeutschen Politik seit über 20
Jahren bekanntermaßen nicht mehr
zur Verfügung. Und ein neuer, zeit-
gemäßer Herbert Wehner? So recht
mag man ihn nicht erkennen. Vielleicht
hocken die politischen Lager auch des-
halb so starr, unbeweglich und steril in
ihren Schützengräben.
Plädoyer für eine Große Koalition zur Sanierung des deutschen Sozialstaats
63
Prof. Dr. Franz Walter,Professor für Parteienforschung an der Universität Göttingen,
jüngste Buchveröffentlichung: Die SPD. Vom Proletariat zur neuen Mitte,
Berlin 2002.
Die Parteiendemokratie steckt in der
Krise. Immer weniger Menschen wer-
den Mitglieder der Parteien. Die Ursa-
chen wurden schon vielfach analysiert:
Die Auflösung sozialmoralischer
Milieus, die zunehmende Individuali-
sierung in Zeiten der globalisierten
Ökonomie, die Aversion gegen ver-
machtete und korrupte Parteienstruk-
turen. Dennoch wird die Parteiende-
mokratie immer noch als alternativlos
wahrgenommen. Und das mit Recht:
Die Transformation der untergehen-
den DDR in eine parlamentarische
Demokratie ist auch deshalb gelun-
gen, weil es die neu entstandenen oder
demokratisch gewendeten Parteien
gab. Doch die ostdeutsche Parteien-
landschaft, ihre Struktur, ihr Binnenle-
ben und ihre Repräsentanten – das
alles ist etwas anders als in West-
deutschland. Vielleicht auch moderner
und zukunftsfähiger?
I.Die SPD zum Beispiel. Peter Glotz
1981, Karl-Heinz Blessing 1991, Franz
Müntefering und Matthias Machnig
2001: Alle zehn Jahre versuchen sich
die Organisationschefs der Partei an
der Reform und Erneuerung der Sozial-
demokratie. Der wichtigste Beweg-
grund der kampagnenhaften Be-
mühungen der obersten Parteiarbeiter
war und blieb dabei stets die Bewah-
rung der SPD als Mitgliederpartei.
Peter Glotz mühte sich 1981 um die
Zukunft einer westdeutschen Partei,
die seinerzeit noch stolze 956.490 Mit-
glieder zählte. Karl-Heinz Blessing,
erster Bundesgeschäftsführer der SPD
nach der deutschen Vereinigung,
konnte sich 1991 immerhin über die
Mitgliedsbeiträge von 919.871 gesamt-
deutschen Genossen freuen, Franz
Müntefering und Matthias Machnig
fanden 2001 jedoch nur noch 717.513 re-
gistrierte Sozialdemokraten in der
unterdessen modernisierten Mit-
gliederdatenbank. Als die deutsche
Sozialdemokratie im Mai 2003 ihren
140. Geburtstag feierte, konnten sich
nur noch weniger als 700.000 Genos-
sinnen und Genossen selbst gratulie-
Magazin
65
Eine Idee haben und Probleme lösenIst die Parteiendemokratie in Ostdeutschland nur eine tapfere Illusion –oder hat sie vielleicht doch noch eine Chance?
von Klaus Ness
ren. Die SPD hat also in den vergange-
nen 20 Jahren mehr als eine Viertelmil-
lion Mitglieder verloren – trotz der
inzwischen stattgefundenen Vereini-
gung Deutschlands, trotz allen bisheri-
gen Reformbemühungen. Und der
Trend ist nicht gestoppt.
Haben die Parteimanager versagt?
Haben all die vielen Kommissionssit-
zungen, die dicken Diskussionspapiere,
die wissenschaftlichen Expertisen pro-
fessoraler Politologen und die schön
gebundenen Bücher zur Zukunft der
Volksparteien gar nichts gebracht?
Kann sich die SPD damit trösten, dass
sich auch der CDU-Mitgliederbestand
zwischen 1991 und 2001 von über
750.000 auf weniger als 600.000 Par-
teigänger reduzierte? Müssen sich
letztlich alle Volksparteien eingeste-
hen, dass das in ihren Reformkommis-
sionen mantrahaft vorgetragene
Bekenntnis, sie seien klassische Mit-
gliederpartei und wollten das – selbst-
verständlich – auch dauerhaft bleiben,
nicht mehr ist als hilfloses Pfeifen im
dunkelsten Wald?
Man hört sie schon „Ketzer“ und
„Weltuntergangsprophet“ schreien, all
die modernistischen Apologeten der
„internetbasierten Netzwerkpartei“,
die meinen, das neueste Ei des Kolum-
bus zur Rettung der Volksparteien ent-
deckt zu haben. Aber auch diese Art
der Abwehr von Selbstzweifeln gehört
seit langem zum Ritual. Denn die Hin-
weise darauf, dass die Zukunft der als
Massenorganisationen aus den sozial-
moralischen Milieus des Industriezeit-
alters stammenden Parteien endlich
sein könnte, sind ja beileibe nicht
besonders neu. Bereits 1993 nannte
Steffen Reiche, einer der Gründer der
ostdeutschen SPD, die von Karl-Heinz
Blessing betriebene Debatte „SPD
2000“ eine „tapfere Illusion“. Aus sei-
ner Erfahrung beim Aufbau des bei
Wahlen in Ostdeutschland erfolgreich-
sten Brandenburger Landesverbandes
kam Reiche zu dem Schluss, dass die
westdeutsche SPD „das Bild ihrer
Zukunft in der SPD-Ost vor sich“ hat.
Mit dieser Prophezeiung löste der
junge Landesvorsitzende in der SPD-
West bestenfalls mitleidiges Kopf-
schütteln aus. So gönnerhaft wie bes-
serwisserisch gab man ihm den Rat-
schlag, doch bitteschön aktivere Orts-
vereinsarbeit zu betreiben und sich auf
diese Weise einfach um mehr Mitglie-
der zu bemühen. Als Reiche seinen Kri-
tikern berichtete, dass sein damals
knapp 7.000 Mitglieder zählender
Brandenburger Landesverband 2.300
kommunale Mandate besetze und gar
nicht genügend Kandidaten für alle zu
besetzenden Mandate finden könne,
erntete er als Reaktion nur ungläu-
biges Schweigen. Tempi passati. Mitt-
lerweile häufen sich die Berichte, dass
Klaus Ness
66
die SPD in weiten Gebieten Bayerns
nicht mehr mit Ortsvereinen präsent
ist und auch in anderen ländlichen
Regionen Westdeutschlands kaum
genügend Kandidaten für Kommunal-
wahlen findet.
Heute machen sich die Reformer an
der Parteispitze keine Illusionen mehr
darüber, dass die SPD in Ostdeutsch-
land in absehbarer Zeit über ihre knapp
30.000 Mitglieder kaum hinaus kom-
men kann. Aber natürlich wird für den
Westen unbeirrt am alten Idealbild
festgehalten. Bei Matthias Machnig, bis
Anfang 2003 Bundesgeschäftsführer
der Partei, liest sich das so: „Hinzu
kommt, dass die Mitgliederdichte aller
Parteien… in den ostdeutschen Bundes-
ländern so dünn ist, dass der Begriff
Mitgliederpartei als eher westdeut-
sches Konzept betrachtet werden
muss.“ Es ist schon verblüffend: Die
Wirklichkeit hat sich auch im Westen
der Republik längst verändert. Genau
deshalb müsste man sich in den Partei-
zentralen dafür interessieren, wie die
Erfahrungen im Osten, wo auch mit
wenigen Mitgliedern die Aufgaben
einer Partei erfolgreich wahrgenom-
men werden, für den Westen nutzbar
gemacht werden könnten. Stattdessen
hält man stur am alten Mantra fest.
Auch heute noch gilt Christian Morgen-
sterns geflügeltes Wort, dass nicht sein
kann, was nicht sein darf.
II.Das gesellschaftliche Milieu, aus dem
sich die SPD in der Ära der Industriali-
sierung rekrutierte, benötigte die Partei
als Schutzraum und als Vehikel für den
eigenen sozialen Aufstieg. Die Partei
war eine Ruhezone im harten Alltag, sie
verschaffte Bildungserlebnisse,
erlaubte Zugänge zum Leben, die das
Bürgertum der aufstrebenden Indu-
striearbeiterschaft versagte. Die Sozial-
demokratie war das institutionalisierte
Versprechen, das „Noch-nicht-Sein“
(Ernst Bloch) zu verwirklichen. Ihr histo-
rischer Erfolg, dieses Versprechen in
vielen Bereichen Wirklichkeit werden
zu lassen, macht der SPD als Or-
ganisation heute das Leben schwer. Die
Partei als Schutzraum wird nicht mehr
gebraucht, Bildungszugänge sind dank
sozialdemokratischer Reformpolitik
heute deutlich weniger blockiert. Und
neue Informationstechnologien lassen
das Referat des Bundestagsabgeordne-
ten im Ortsverein über die aktuelle
Regierungspolitik älter erscheinen als
die Schlagzeile der Tageszeitung von
gestern.
Eine Partei ist zwar auch heute noch
ein Raum der Gesellung und Verge-
meinschaftung. Aber eben nur einer
von vielen, die inzwischen auch Fach-
arbeitern und Angestellten offen ste-
hen: Schützenvereine, Bürgerinitia-
tiven – aber auch der Tennisclub und
Eine Idee haben und Probleme lösen
67
das Fitnessstudio. Wie alle anderen
Parteien ist die SPD also zunehmend
darauf angewiesen, ihre unmittelba-
ren Aufgaben im demokratischen
Staat zu erfüllen und ihre Existenzbe-
rechtigung auf diese Weise nachzu-
weisen. Sie muss an der politischen
Meinungsbildung der Bevölkerung
mitwirken, Personal für politische
Ämter rekrutieren und qualifizieren.
Und vor allem muss sie alltagstaugli-
che Lösungen für politische Probleme
entwickeln, mehrheitsfähig machen
und durchsetzen. Tobias Dürr hat
Recht: „Wo keine Kollektivgesinnung
und kein Liedgut, kein Milieu und kein
Vorfeld die Menschen noch an die Par-
teien binden, da wird diesen auf die
Dauer alleine die Arbeit an der besse-
ren Lösung, der besseren Politik hel-
fen.“ Statt vergangenen großen Zeiten
hinterher zu trauern, wird die SPD sich
die Frage stellen müssen, ob sie dieser
Aufgabe wirklich hinreichend gerecht
wird.
Vielleicht ist die SPD in Ostdeutsch-
land wegen ihrer anderen Geschichte
und Bedingungen gezwungener-
maßen in der Lage gewesen, einige
Fähigkeiten und Kenntnisse zu ent-
wickeln, die dem angeschlagenen
westdeutschen Tanker SPD helfen kön-
nen, seine Lage zu erkennen und wie-
der mehr Wasser unter den Kiel zu
bekommen.
Die heutige Sozialdemokratie in Ost-
deutschland ist nicht von Arbeitern
gegründet worden. Ihre Keimzelle war
eine Gruppe von Intellektuellen im
Umfeld der Evangelischen Kirche. Die
noch illegale Gründung als SDP am 40.
Jahrestag der DDR in einem Gemeinde-
haus im brandenburgischen Schwante
war eine mutige Tat – aber sie war eben
auch die Kopfgeburt einiger weniger
Menschen, die Zeit sei reif, um mit die-
ser Parteigründung die herrschenden
Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.
Die Gründer wollten einen Beitrag dazu
leisten, den Alleinvertretungsanspruch
der SED zu brechen. Diese wichtigste
Aufgabe, die ihren Gründung legiti-
mierte, löste die SDP gemeinsam mit
anderen neu gegründeten Parteien,
Initiativen und Millionen Menschen auf
den Straßen der DDR. Und zwar schnel-
ler als sie selbst zu hoffen gewagt
hatte. Ihre Analyse hatte also
gestimmt, die Zeit war gekommen.
Ihre eigentliche „Gründung“ als dau-
erhafte Partei und damit die Be-
währungsprobe, ob sie auch die Zu-
kunft gestalten wolle und könne, stand
der ostdeutschen Sozialdemokratie
aber erst noch bevor.
Es ist unüblich, aber plausibel, den 6.
Mai 1990 als das entscheidende Grün-
dungsdatum der ostdeutschen SPD
anzusehen. Das war der Tag, an dem in
der vergehenden DDR die ersten freien
Klaus Ness
68
Kommunalwahlen stattfanden. Auf
einen Schlag gelangten mit dieser
Kommunalwahl Tausende von ost-
deutschen Sozialdemokraten, die zu
DDR-Zeiten nicht in politischer Verant-
wortung gewesen waren, in Kreistage,
Stadtverordnetenversammlungen und
Gemeindeparlamente. Hunderte wur-
den gleichsam aus dem Stand zu Land-
räten und Bürgermeistern, Beigeord-
neten, Jugendamtsleitern oder Käm-
merern.
In einer Zeit dramatischen Um-
bruchs, großer Ungewissheit und
rechtlicher Unsicherheit mussten sie
überall an den Graswurzeln einer auf-
gewühlten Gesellschaft zwischen Rü-
gen und dem Fichtelberg buchstäblich
das Ausbrechen des Chaos verhindern.
Sie mussten gleichzeitig Neues lernen
und Entscheidungen von großer Trag-
weite treffen, außerdem noch eine Par-
tei aufbauen und mit all ihrem Han-
deln das Vertrauen der Menschen in
die Sozialdemokratie rechtfertigen. Es
war eine ungeheuere Aufgabe, die
viele der 1990 verantwortlichen Sozial-
demokraten mit Bravour gemeistert
haben. Die harte Arbeit der Kommu-
nalpolitiker in der ersten Stunde des
demokratischen Neubeginns war das
wichtigste Unterpfand der Etablierung
nicht nur der Sozialdemokratie, son-
dern auch der Parteiendemokratie in
Ostdeutschland überhaupt.
Dabei stützte sich die ostdeutsche
SPD besonders auf eine soziologische
Gruppe unter ihren Neumitgliedern,
um die sich Peter Glotz als Bundesge-
schäftsführer der westdeutschen Sozi-
aldemokratie schon in der ersten
Hälfte der achtziger Jahre ohne nen-
nenswerten Erfolg bemüht hatte: Das
waren die Angehörigen der techni-
schen Intelligenz. Viele sozialdemokra-
tische Landräte und Bürgermeister der
Nachwendezeit waren hoch qualifi-
zierte, pragmatische, in der Lösung
praktischer Alltagsprobleme geübte
Diplomingenieure. Es waren Men-
schen, die das System der DDR ab-
lehnten, weil sie dessen ökonomische
Ineffizienz aus der Erfahrung ihres
Arbeitsalltags sehr genau kannten –
und weil sie sich zugleich daran
stießen, wie im Staat der SED vernünf-
tige und praktikable Lösungen aus
ideologischen Gründen verhindert
wurden. Die Angehörigen dieser
Gruppe begrüßten den Neuanfang, der
auch einen Bruch in ihrer Biografie
bedeutete, weil sie die alten Eliten
ablösen und schnell lebenspraktische
Veränderungen herbeiführen wollten.
Ihre Neugier, ihr Ehrgeiz, besonders
aber ihre praktische Vernunft waren
wichtige Voraussetzungen dafür, dass
der Transformationsprozess auf kom-
munaler Ebene gelingen konnte. Diese
tatkräftige Generation der 35 bis 45
Eine Idee haben und Probleme lösen
69
Jahre alten Ingenieure war nicht nur
für die SPD ein Glücksfall, sondern
auch für die Demokratie in Ost-
deutschland insgesamt. Sie waren und
sind unideologisch, verwurzelt in ihrer
Region, sozial verantwortlich und prag-
matisch ins Gelingen verliebt.
In der Kommunalpolitik sind Partei-
en über ihre Repräsentanten unmittel-
bar erlebbar. Hier wird ihre Kompetenz,
geeignetes Personal zu rekrutieren
und zu qualifizieren, von den Bürgern
ganz direkt wahrgenommen. Hier ent-
stehen Vertrauen und Bindung – und
hier werden Vertrauen und Bindung
zuweilen auch wieder verspielt. Die
SPD hat diese Erkenntnis in den ver-
gangenen Jahrzehnten vernachlässigt.
Dem Niedergang der SPD in Bundes-
ländern ging in der Regel ihr Nieder-
gang in den größeren Städten dieser
Länder voraus. Das klassische Beispiel
für diesen Mechanismus ist Frankfurt
am Main, aber auch die Stadtstaaten
Berlin und Hamburg haben ihn seit
den siebziger Jahren erlebt. Franz
Müntefering und Matthias Machnig
haben in ihren Vorschlägen zur Partei-
reform dieses Problem erkannt und
mit der Gründung einer „Kommunal-
akademie“ für kommunale Leitungs-
funktionen den Versuch gestartet, eine
Antwort zu entwickeln. Diese Initiative
ist beispielsweise in Brandenburg
durch eine Landes-Kommunalakade-
mie ergänzt worden, in der bereits im
ersten Jahr 120 jüngere Parteimitglie-
der in Rhetorik, kommunalem Haus-
halts- und Baurecht qualifiziert wur-
den, die sich bei den Kommunalwahlen
2003 erstmals um ein Mandat in kom-
munalen Vertretungen bewerben. Auf-
schlussreich ist in diesem Kontext,
dass die Brandenburger SPD-Kommu-
nalakademie zwar gegründet wurde,
um die örtlichen Parteigliederungen
zu motivieren, frühzeitig geeignete
Kandidaten für die Kommunalwahlen
zu gewinnen. Der unerwartet große
Ansturm auf das Angebot zeigt aber
auch, wie Parteien neue Aktivisten und
Mitglieder gewinnen können: Sie müs-
sen neue und vor allem exklusive
Angebote schaffen, die so nur bei
ihnen zu erhalten sind. Und diese
Angebote müssen so gut sein, dass sie
auch außerhalb der Partei verwertbar
sind. In Brandenburg ist das Angebot
aus der Not heraus entstanden. In der
Not wächst aber das Rettende auch –
vielleicht für die Parteien im Osten und
im Westen?
III.Im Jahr 1988 erschreckte Wolfgang
Michal, ein damals 32 Jahre alter ehe-
maliger Redakteur der sozialdemokra-
tischen Parteizeitung „Vorwärts“, seine
Parteispitze mit seinem Buch Die SPD –
staatstreu und jugendfrei. Akribisch
Klaus Ness
70
und kenntnisreich beschrieb er, wie es
seiner Partei gelungen war, innerhalb
eines guten Jahrzehnts von der
blühenden Hoffnungsträgerin der
Nach-Apo-Jugend zur fast jugend-
freien Zone zu verkümmern. In den
frühen siebziger Jahren war eine ganze
Generation von reformbegeisterten
jugendlichen „Willy-Wählern“ in die
SPD geströmt. Sie machte sich mit vie-
len Illusionen und noch mehr Enthusi-
asmus auf den Weg, mit der SPD eine
neue Welt zu schaffen. Innerhalb weni-
ger Jahre überschritt die SPD die
Schwelle von einer Million Mitgliedern,
von denen nun fast 350.000 jünger
waren als 35 Jahre. Aber schon wenige
Jahre später, am Ende der Ära Schmidt
war davon kaum noch etwas übrig. Die
SPD hatte es nicht verstanden, eine
Mehrheit der ihr hoffnungsvoll zuge-
strömten Menschen zu integrieren.
Noch schlimmer, sie hatte es weitge-
hend nicht einmal versucht. Das
zunächst aggressiv-feindliche Auf-
treten eines Teils der Partei gegen die
entstehenden neuen sozialen Bewe-
gungen der Frauen-, Friedens-, Ökolo-
gie- und Dritte-Welt-Gruppen beför-
derte letztlich sogar die Entstehung
der neuen Konkurrenz „Die Grünen“,
die sich zur Jugendpartei schlechthin
der achtziger Jahre entwickelten. In
diesem Prozess wurde ein Teil der jün-
geren SPD-Mitglieder, der mit den
neuen sozialen Bewegungen sym-
pathisierte, aus der Partei heraus
gedrängt. Dieser Aderlass endete erst
mit dem Wechsel auf die Oppositions-
bänke in den Jahren 1982/83.
Schlimmer und verhängnisvoller für
die weitere Entwicklung der Sozialde-
mokratie waren aber die Selbstüber-
schätzung und die Selbstgefälligkeit in
ihrer Jugendarbeit. In weiten Teilen der
Partei gilt selbst heute noch der Satz,
dass für die Jugendarbeit die Jusos
zuständig sind. Das war eine Situation,
mit der sich beide Seiten gut einrich-
ten konnten: Hier die Partei, die der
aufmüpfigen, schon bald aber nicht
mehr nennenswert störenden Jugend
einen Spielplatz eingerichtet hatte,
dort die Jusos, die sich in einer Parallel-
welt jenseits des wirklichen Lebens
tüchtig austoben konnten.
Anfang der achtziger Jahre kümmer-
ten sich Helmut Kohl und die anderen
Granden der Christdemokratie sorgfäl-
tig darum, dass Roland Koch, Christian
Wulff, Christoph Böhr und die anderen
Funktionäre der Jungen Union jener
Zeit fleißig Rhetorikseminare besuch-
ten und Stipendien der Konrad-Aden-
auer-Stiftung für ihre Jura- oder BWL-
Studien erhielten. Zur gleichen Zeit
registrierte die Presse sehr genau, dass
die sozialdemokratische Parteispitze
Juso-Bundeskongresse fast vollständig
ignorierte, ja sich dort nicht einmal
Eine Idee haben und Probleme lösen
71
mehr der Diskussion stellte. Im Ergeb-
nis sind Roland Koch und Christian
Wulff heute Ministerpräsidenten. Und
die Juso-Bundesvorsitzenden der acht-
ziger Jahre kennt kein Mensch mehr.
Das fast schon sträfliche Versagen der
SPD in ihrer Jugendarbeit in den siebzi-
ger und achtziger Jahren ist eine der
wesentlichen Ursachen ihrer heutigen
Krise. Das quantitative und qualitative
Loch, welches das Unvermögen der
Partei geschlagen hat, eine gezielte
Nachwuchsförderung zu betreiben,
gefährdet heute in den Ländern und in
den kommenden Jahren im Bund ihre
Regierungsfähigkeit.
Die ostdeutschen Landesverbände
sind seit 1989/90 in einer völlig ande-
ren Situation. Sie schleppen nicht die
Altlasten der westdeutschen Sozial-
demokratie mit sich herum. Die SPD in
Ostdeutschland wurde fast ausschließ-
lich von Angehörigen der jüngeren und
mittleren Generation gegründet. Fast
alle ihre Mitglieder gingen mit ver-
gleichbaren Startvoraussetzungen in
die Verantwortung von Ämtern, Man-
daten und Funktionen. Keiner hatte die
Zeit oder die Chance, eine anstren-
gende, vielleicht auch lehrreiche „Och-
sentour“ durch die Partei anzutreten.
Die engagierten Mitglieder waren zu
wenige, die Aufgaben groß – für man-
che zu groß. Voraussetzung für die
Übernahme von Verantwortung war
und ist die Bereitschaft zum Enga-
gement und zur Qualifikation: eine
große Chance für junge Menschen, die
gefordert und gefördert werden wol-
len. Ein gezieltes Fordern und Fördern
junger Parteimitglieder wird zwar über
die Zukunft aller Parteien nicht nur in
Ostdeutschland entscheiden. Für die
SPD wird es aber geradezu überlebens-
notwendig. Die Generation der 20- bis
30-Jährigen in der ostdeutschen SPD,
beispielsweise der junge Bundestags-
abgeordnete Carsten Schneider aus
Erfurt, die stellvertretende SPD-Lan-
desvorsitzende Katrin Molkentin in
Brandenburg und der Landtagsab-
geordnete Matthias Brodkorb in Meck-
lenburg-Vorpommern müssen genauso
das Bild ihrer Partei prägen wie Mat-
thias Platzeck, Harald Ringstorff und
Christoph Matschie.
IV.Seit Bill Clinton wissen wir in
Deutschland was ein spin doctor ist.
Auch wenn der SPD-Generalsekretär im
Frühsommer 2002 auf Parteikon-
ferenzen den sozialdemokratischen
„Mundfunk gegen den Rundfunk“
beschwor – bei der Vorbereitung der
heißen Wahlkampfphase setzte er doch
mehr auf die Beratung durch
Meinungsforschungsinstitute, auf die
mediengerechte Inszenierung der
Wahlkampfevents und die Bildsprache
Klaus Ness
72
von Werbetextern, die ihr Können sonst
an die großen Marken der Konsum-
industrie verkaufen. Koordiniert wurde
das alles von gut qualifizierten Par-
teimanagern, die sich ihren letzten
Schliff bei der Beobachtung der Wahl-
kämpfe der amerikanischen Demo-
kraten geholt hatten und es gerne
geschehen ließen, dass Medien sie zu
den neuen spin doctors stilisierten.
Nach dem Motto „Alle Macht den
Profis“ wurde die Parteimitgliedschaft
mit ihren roten Sonnenschirmen und
ihrem selbst gebackenen Kuchen zur
bloßen Staffage und Zuschauerkulisse
einer ausgefeilten Kampagne. Und als
diese endlich gut lief, waren es auch
alle zufrieden.
Der Trend, der mit der Wahlkampa-
gne 1998 in Deutschland erstmals rich-
tig wirkungsmächtig wurde, scheint
unaufhaltsam. Die Parteien richten
ihre „Kampa“ oder ihre „Arena“ ein, in
den war rooms der Zentralen werden
von wenigen hoch qualifizierten, moti-
vierten und gut gestylten Menschen
ständig Meinungsumfragen studiert,
Begriffe auf ihre Massenwirksamkeit
getestet sowie Anzeigen und Werbe-
spots entwickelt. Der Ortsvereins- und
Kreisvorsitzende, ja selbst der örtliche
Bundestagskandidat nimmt das Fer-
tigprodukt zur Kenntnis, darf sich über
Erfolge freuen oder über Misserfolge
ärgern. Am Ende der Kampagne hebt
das Raumschiff mit den Profis wieder
ab; womöglich wird es vier Jahre später
wieder an der gleichen Stelle landen. In
der Zwischenzeit aber dilettieren die
Parteiamateure weiter – an der Konso-
lidierung ihres Kommunalhaushaltes,
an einer neuen Rentenreform. Oder an
der Zukunft des Sozialstaates.
Dieser etwas zynisch anmutende
Blick verweist auf den blinden Fleck der
laufenden Debatte über die vermeint-
lich notwendige Professionalisierung
der Parteien: Wahlkampf ist die Aus-
nahme, die Lösung praktischer Pro-
bleme und die Entwicklung langfristi-
ger Lösungsstrategien sind der Alltag
politischer Parteien. Langfristig kann
keine noch so gut gemachte Kampagne
konzeptionelle Defizite und mangelnde
praktische Lösungskompetenz der han-
delnden Akteure überdecken – eine
Erfahrung, die gerade die rot-grüne
Koalition nach der Bundestagswahl
2002 atemberaubend schnell und hef-
tig machen musste.
Die Sozialdemokratie merkt derzeit,
dass eine Partei sich ihres Sinns entleert,
die sich zwar ihr Image virtuell ent-
wickeln lässt, den Meinungsstreit über
ihre politischen Inhalte aber nicht mehr
ernsthaft führt. Eine Partei, die sich
durch veränderte Realitäten ihres Sinns
und ihrer Ziele nicht mehr sicher ist,
kann zwar kurzfristig und ersatzweise
von Profis eine modisch-attraktive Sinn-
Eine Idee haben und Probleme lösen
73
wolke generieren lassen, dauerhaft aber
wird sie nicht lebensfähig sein. Und eine
Partei, die sich von spin doctors abhän-
gig gemacht hat, muss erst wieder ler-
nen, alleine zu gehen. Sie muss lernen,
vor allem sich selbst zu professionalisie-
ren – also ihre eigenen Mitglieder durch
ihre eigenen Mitglieder. Bildungsarbeit,
Qualifizierung, Meinungsstreit, ja auch
die ideenpolitische Kontroverse sind in
den Parteien aus der Mode geraten.
Aber gerade in Zeiten tiefgehenden
Wandels und großer Verunsicherung
sind sie bitter notwendig.
In Ostdeutschland ist heute mit Hän-
den zu greifen, dass die Menschen aus
der Starre der Transformationsphase
erwachen. Das Ende der Nachwende-
zeit weckt bei vielen das Bedürfnis, sich
ihrer selbst und der Verhältnisse zu ver-
gewissern, eine neue Haltung zu ent-
wickeln, an den Umbauprozessen im
neuen, sich insgesamt verändernden
Deutschland aktiv teilzunehmen. Das
kann zur großen Chance für Parteien
werden, die dafür offen stehen und das
Mitmachen zulassen. Um diese Men-
schen zu erreichen, sie für ein Engage-
ment zu gewinnen, müssen Parteien
intellektuell attraktiver werden. Sie
müssen aber auch handfeste Angebote
machen, die das Mitmachen lohnen,
weil sie individuelle Qualifikationen
verbessern und ein konkretes Abrech-
nen des eingebrachten Engagements
ermöglichen. Nicht nur im Osten gibt
es dafür das Bedürfnis. Die Frage ist, ob
Parteien diese Nachfrage befriedigen
können – und wollen.
V.In einer Dienstleistungsgesellschaft
sind auch Parteien Dienstleister. Mit
ihrem spezifischen Angebot bedienen
sie aber nicht nur Haltungen, sie über-
mitteln umgekehrt auch Haltungen
und Erwartungen an eine Gesellschaft
und geben ihnen eine Richtung. Ihr
Erfolg hängt nicht nur davon ab, ob sie
in der Lage sind, Konflikte in einer kom-
plexen Gesellschaft zu moderieren und
mehrheitsfähige Lösungsansätze quali-
fiziert in die Tat umzusetzen. Sie müs-
sen auch eine Idee davon haben,
warum und – vor allem – wie eine
Gesellschaft funktionieren soll. Die
Unterscheidbarkeit von Parteien macht
sich also nicht nur an ihrer Kompetenz
zur Lösung von Problemen fest, son-
dern auch an ihren damit je verbun-
denen Vorstellungen vom künftigen
Zusammenleben der Gesellschaft.
Erfolgreich werden also in Zukunft
diejenigen Parteien sein, denen es
gelingt, diese Einheit aus Idee und prak-
tischer Kompetenz zu verdeutlichen.
Und die geeignetes Personal haben, um
genau dies glaubwürdig zu kommuni-
zieren. Alle Befragungen zeigen, dass
die Menschen sich Politiker wünschen,
Klaus Ness
74
die Authentizität mit Kompetenz und
Engagement verbinden. Die große Ver-
ehrung, die etwa Regine Hildebrandt in
Ost und West auch noch nach ihrem
Tod entgegengebracht wird, belegt das
Bedürfnis, das danach bei den Men-
schen besteht. Womöglich ist gerade
dies die Chance einer neuen Genera-
tion von Politikern aus dem Osten, die
ihre politische Sozialisation nach der
Wendezeit erlebten. Sie sind die erste
Generation, die nicht verfangen ist in
die politischen Ränke- und Sandkasten-
spiele der alten Bonner Republik. Die
erste Generation, die Authentizität aus
der Lösung der Transformationspro-
bleme gewonnen und dabei einen kla-
ren Blick für den Reformbedarf des
neuen Deutschland entwickelt hat.
Sollte diese Generation der Platzecks
und Tiefensees einen gesamtdeut-
schen Anspruch entwickeln, könnte sie
vielleicht nicht nur die Parteiendemo-
kratie wiederbeleben. Sie könnte auch
den nötigen Reformschub für ganz
Deutschland auslösen.
Eine Idee haben und Probleme lösen
75
Klaus Ness,Landesgeschäftsführer der SPD Brandenburg.
Der Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem von Tanja Busse und Tobias Dürr
herausgegebenen Buch „Das neue Deutschland. Die Zukunft als Chance“,
das Ende September 2003 im Aufbau-Verlag erscheint.
1.Das Wissen um die Ergebnisse von
Bildungsprozessen vergrößert sich von
Jahr zu Jahr. Alle 3 Jahre findet der inter-
nationale PISA-Test (15-jährige) statt, im
Frühjahr diesen Jahres haben wir die
Ergebnisse des internationalen IGLU-
Tests (Grundschule Klasse 4) erhalten,
Ende des Jahres wird der nationale
IGLU-Vergleich veröffentlicht. Dem ent-
spricht nicht das gesicherte Wissen um
die Gründe der Ergebnisse und das Wis-
sen um die Möglichkeiten, die Ergeb-
nisse zu verbessern. Wissenschaftliche
Wirkungsanalysen über bestimmte
Maßnahmen oder auch von konkretem
Lehrerhandeln liegen kaum vor. Des-
halb sind wir bei der Fehleranalyse als
auch bei vorgeschlagenen Maßnah-
men auf Plausibilitätsannahmen ange-
wiesen, die sich auf Vergleiche mit
anderen Bundesländern oder interna-
tionale Vergleiche beziehen.
Bei diesen Vergleichen sollten wir uns
eher auf die internationale Spitze bezie-
hen als auf die deutsche Spitze, da die
deutsche Spitze international wie-
derum nur Durchschnitt ist. Dabei ist zu
beachten, ob bei Übernahme von ein-
zelnen Instrumenten die Passfähigkeit
zum Gesamtsystem gegeben ist, ob
bestimmte Maßnahmen in das andere
kulturelle und mentale Umfeld passen
und an das vorhandene Qualifikations-
niveau der Bildungsakteure anknüpfen.
Auch für die nach den IGLU-Ergebnis-
sen wieder neu aufgeflammte Struk-
turdiskussion gilt es, dies zu beachten.
Beim IGLU-Test ist der Abstand
Deutschlands zur Weltspitze deutlich
geringer als bei PISA, wenn auch der
deutsche Rangplatz im vorderen Mit-
telfeld zu relativieren ist, da viele Län-
der, die beim PISA-Test vor Deutschland
lagen, sich an IGLU nicht beteiligten.
Richtig ist, dass das dreigliedrige, mit
den allgemeinen Förderschulen sogar
viergliedrige deutsche Schulsystem vor
allem an den Schnittstellen Selektion
vor Förderung stellt, Schulzeit durch zu
häufiges Sitzenbleiben und Schulform-
wechsel verplempert und Bildungs-
lagen durch ein entsprechendes Ler-
numfeld zementiert. Es gibt jedoch in
Deutschland für grundlegende Struk-
turreformen in Richtung auf ein ein-
77
Der Weg aus dem PISA-LochErfolgreiche Schritte für die Brandenburger Schulen
von Martin Gorholt
heitliches Schulsystem auch nach der
Grundschule keinen politischen Kon-
sens, so dass eine solche Reform nicht
kontinuierlich und stabil machbar
wäre. Zum anderen gilt das oben
gesagte, die Lehrkräfte müssten zum
Beispiel lernen mit heterogenen Lern-
gruppen umzugehen und einen auf die
einzelnen Schüler und ihren Förderbe-
darf zugeschnittenen Unterricht zu
organisieren. In Deutschland realisti-
scher durchsetzbar ist ein zweigliedri-
ges Schulsystem, das nach der Wende
von der CDU in drei neuen Ländern ein-
geführt wurde. In Brandenburg wäre
eine solche Schulstruktur schon wegen
der zurückgehenden Schülerzahlen im
ländlichen Raum eine Notwendigkeit,
auf die sich die große Koalition leider
nicht verständigen konnte.
Neben vielen Einzelpunkten können
als plausible Hauptgründe für das
schlechte Brandenburger PISA-Ergebnis
das nichtvorhandene gemeinsame
Qualitätsverständnis von Schule und
Unterricht und die fehlende Evaluati-
onskultur in den 90er Jahren genannt
werden. Bei allen neu zu ergreifenden
Maßnahmen ist zu bedenken, dass
diese nur dann Schule wirklich verän-
dern, wenn die Implementation profes-
sionell erfolgt. Deshalb ist weniger oft
mehr, da nicht viele oberflächliche Ver-
änderungen sondern wenige durch-
greifende Veränderungen mehr be-
wirken. Dabei ist die Konzentration auf
die Veränderung jeder Einzelschule und
deren Ergebnisorientierung der einzig
mögliche und richtige Weg.
2.Es gibt keinen direkten Zusammen-
hang zwischen der eingesetzten
Menge an Geld und den erzielten Bil-
dungsergebnissen. Bremen und Bran-
denburg waren neben Sachsen-Anhalt
die Schlusslichter bei PISA, Branden-
burg allerdings mit einem Drittel
geringerer Stückkosten als Bremen
(Bernhard Muszynski). Ein leistungs-
fähiges Bildungssystem setzt jedoch
kontinuierlich angemessen hohe Aus-
gaben voraus. Für Brandenburg wird es
besondere Anstrengungen verlangen,
trotz der deutlich über den anderen
neuen Bundesländern liegenden jährli-
chen Haushaltsbelastungen durch
Zinszahlungen für die Anfang der 90er
Jahren höhere Neuverschuldung und
das aufgebaute Wohnungsbauvermö-
gen eine klare Prioritätensetzung auf
Bildung durchzusetzen und durchzu-
halten. Die Agenda 2010 könnte in der
Bundesrepublik eine neue grundle-
gende Prioritätensetzung einleiten. Im
Mittelpunkt des staatlichen Handelns
steht nicht mehr die Umverteilung von
Geld, sondern die Verteilung von Chan-
cen durch Bildung. Vorbild könnte das
„skandinavische Hochbildungs-Mo-
Martin Gorholt
78
dell“ (Matthias Horx) sein, das Bil-
dungsprozesse dem Strukturwandel
voraus organisiert, die Qualifikation
der Frauen durch Kinderbetreuung voll
nutzt und Bildung und Weiterbildung
als Kernelemente der Sozialpolitik
sieht. Eine solche Hochbildungsgesell-
schaft könnte als realistische Zu-
kunftsvision mobilisierungsfähig sein.
3.In der aktuelle Bildungsdebatte
besteht weitgehende Einigkeit über
das zu entwickelnde Steuerungsmo-
dell. Die Selbständigkeit der Schulen
ist zu erweitern bei gleichzeitig klarer
externer Standardsetzung und Kon-
trolle des Outputs, Kontrolle an Hand
der Ergebnisse, also der Leistungen der
Schülerinnen und Schüler. Selbständig-
keit von Schule bezieht sich auf die
schrittweise Erweiterung von Hand-
lungsspielräumen auf den Feldern
Budgetrecht, Personalhoheit, Fortbil-
dung und Unterrichtsorganisation. Die
selbständige Schule setzt sich ein
Schulprogramm, das insbesondere zur
Qualitätsentwicklung dient. Die ex-
terne Standardsetzung erfolgt über
die Rahmenlehrpläne und Qualitäts-
standards. Die externe Standardüber-
prüfung erfolgt durch zentrale Tests
und Prüfungen (in Brandenburg:
Klasse 2, Klasse 10, Zentralabitur, Ver-
gleichsarbeiten mit Beispielaufgaben
in 5 und 8) und die deutschlandweiten
bzw. internationalen Tests. Wichtig
dabei ist, dass die externen Informat-
ionen in internes Handeln umgesetzt
werden. Ab 2004 sollen bundesweit
über die Kultusministerkonferenz ver-
einbarte Standards vorliegen. Ob diese
Standards den Kriterien des vom Bun-
desbildungsministerium in Auftrag
gegebenen Gutachtens von Eckhard
Klieme u.a. entsprechen und Kom-
petenzen beschreiben, deren Erreichen
mithilfe eines nationalen Testverfah-
rens überprüft werden kann, ist aller-
dings noch offen bzw. eher zu bezwei-
feln. Die interne Evaluation erfolgt
durch regelmäßige Kontrolle über das
Erreichen der Ziele des Schul-
programms und durch ein regelmäßi-
ges Feedback von Lehrern, Schülern
und Eltern bezüglich der Unterrichts-
und Schulqualität.
4.Im Mittelpunkt der Veränderungen
steht die Veränderung von Unterricht.
Dabei geht es um stärkere Beachtung
des Literacy-Ansatzes, also um das
Umgehen mit Wissen, das Lösen von
Problemen und das Anwenden von Wis-
sen. Es geht um Leseförderung und Ent-
wicklung einer Lesekultur. Es geht um
regelmäßige Diagnose des Lernstandes
der Schülerinnen und Schüler und die
Entwicklung von individuellen Lernplä-
Der Weg aus dem PISA-Loch
79
nen für jeden einzelnen Schüler. Nicht
Selektion, sondern Förderung steht im
Mittelpunkt. Es geht um einen flexiblen
Unterricht, der nicht nur die Lernziele
fragend entwickelt, sondern sich
abwechselt mit Selbstlernen und von
einander Lernen der Schüler, selbstän-
digem Umgang mit Medien, so dass
Lehrkräfte auch entlastet werden und
stärker die Schülerinnen und Schüler
beobachten können. Es geht darum,
schulmüde Jugendliche zu erreichen,
durch stärkeren Praxisbezug und ex-
terne Praxisphasen. Da es zentral um die
Verbesserung von Unterricht geht, sind
die Verbreitung der Ergebnisse des
Sinus-Projekts (Veränderung des mathe-
matisch-naturwissenschaftlichen Un-
terrichts) oder Projekte wie Leseförde-
rung und Lernstandsdiagnostik oder
Phasen von jahrgangsübergreifendem
Unterricht mindestens ebenso wichtig
wie die „spektakuläreren Maßnahmen“
Prüfungen Ende der Klasse 10 oder das
Zentralabitur.
5.Ein Konsens in der Bildungsdebatte
ist die stärkere Betonung der Frühför-
derung. Auch in den Kindertagesstät-
ten geht es um Standardsetzungen,
aber auch um konkrete Praxishilfen bei
der Lernstandsdiagnostik, beim Inter-
esse wecken an Büchern, an der Natur
und an den Naturwissenschaften oder
bei der Entwicklung von sozialen Kom-
petenzen. Sprachstandsmessungen
sollten nicht wie in den meisten Bun-
desländern kurz vor der Einschulung
stattfinden, sondern kontinuierlich die
Kita-Zeit begleiten. In Brandenburg
kann eine solche Messung an die
„Grenzsteine der Entwicklung“ an-
knüpfen. Die Bedeutung der Frühför-
derung ergibt sich aus dem Vergleich
mit anderen Ländern wie Frankreich
oder den skandinavischen und aus den
neueren Erkenntnissen der Gehirnfor-
schung. Durch die deutsche Zuord-
nung der Kitas zur Jugendhilfe fehlt
zur Umsetzung von Bildungsstandards
fast vollständig ein System zur Imple-
mentation, Unterstützung und Evalua-
tion. Der Aufbau eines solchen
Systems mit Hilfe der Verbände der
freien Träger, der Ansätze von For-
schung und Praxisunterstützung und
der Schulsysteme müsste Priorität
besitzen. Das „Vorschuljahr“ könnte
beispielsweise gemeinsam gestaltet
werden durch ein Netzwerk von Kitas
und Grundschulen, die Standards de-
finieren und kooperativ Lernentwick-
lungen fördern.
6.Angesichts der Bedeutung dieser
Berufe müssten eigentlich die Besten
Lehrer und Erzieher werden wollen.
Dies ist der entscheidende Unterschied
Martin Gorholt
80
zu Ländern wie Finnland, wo das Leh-
rerstudium hoch begehrt und auf
jeden Studienplatz mehrere Bewerber
kommen. Die Professionalität von Leh-
rern ist eine Frage der Qualifikation
und der Motivation. Eine Reform der
Erzieher/innen- und Lehrer/innen-Aus-
bildung muss deshalb immer gleich-
zeitig die Erhöhung der Qualität der
Ausbildung und die Stärkung ihrer
Attraktivität im Blick haben. Denn
auch in Brandenburg ist im Lehrer- und
im Erzieherbereich absehbar, wann es
einen akuten Mangel an Bewerbern
geben wird.
Erzieherausbildung und Lehrerbil-
dung ist ein kontinuierlicher Prozess.
Die dritte Phase, also die berufsbeglei-
tende, laufende Fortbildung ist des-
halb deutlicher in den Blick zu nehmen
und auf Anreizsysteme hin zu überprü-
fen. In der ersten und zweiten Phase
der Ausbildung sind die Strukturen
weniger entscheidend (wobei Straf-
fung der ersten Phase immer richtig
ist) als die gesetzten und umgesetzten
Standards, in Bezug auf die zu erwer-
benden Kompetenzen in den Unter-
richtsfächern, in den Erziehungswis-
senschaften, in den Fachdidaktiken
und in den schulpraktischen Studien.
Weder das Qualifikationsspektrum
noch der Bedarf an Fachkräften spre-
chen dafür, für den Erzieherberuf das
Abitur vorauszusetzen. Vielmehr sollte
auch hier Flexibilität gelten und als
Aufbaustudium insbesondere für Lei-
tungsfunktionen ein Studium ent-
wickelt werden, wie es an der FH Pots-
dam mit dem bachelor of education
geplant ist.
Wichtig ist, dass die gesellschaftliche
Wertschätzung für den Erzieher- und
Lehrerberuf sich deutlich erhöht und
sich dies auch niederschlägt auf die
Institutionen, die für diese Ausbildung
zuständig sind, die Hochschulen und
Universitäten. Das gilt insbesondere
für die Bildung des Zentrums für die
Lehrerbildung an der Universität Pots-
dam, was zentral die Interessen der
Lehrerbildung an der Hochschule
wahrnimmt und in allen Instanzen die
Wertigkeit der Ausbildung erhöht.
7.Bildung ist nicht nur Pädagogik und
Didaktik, sondern fast in gleicher Weise
Management, Ökonomie und Organi-
sation. Das Gesamtsystem Bildung
muss professioneller, effizienter und
effektiver werden. Wir brauchen mehr
Professionalität auf allen Ebenen. Dies
beginnt bei einem Ministerium, dass
sich auf seine Kerngeschäfte konzen-
triert und deutlich Prioritäten setzt.
Dies endet bei der Unterrichtsorganisa-
tion eines jeden Lehrers bei der Vorbe-
reitung, der Durchführung und der
Auswertung. Wir brauchen eine neue
Der Weg aus dem PISA-Loch
81
Kultur der Zusammenarbeit in den Kol-
legien durch eine Rückmeldekultur, die
Arbeit der Fachkonferenzen und gegen-
seitige Unterrichtsbesuche. Wir brau-
chen auch eine neue Arbeitszeitrege-
lung für Lehrkräfte. Die Schulleitung
übernimmt Verantwortung für die
Ergebnisse und damit für die Schul-
und Unterrichtsentwicklung, aber auch
für Personalführung und -Entwicklung,
Weiterbildung, Rekrutierung und Qua-
lifizierung der Lehrkräfte. Zwischen
Ministerium und Schule liegen die
Schulaufsicht, das Unterstützungs- und
Beratungssystem, die Qualitätskon-
trolle, die Fortbildungseinrichtungen
und das sich in Brandenburg im Aufbau
befindliche Visitationssystem. Inwie-
weit dieses Gesamtsystem optimal
funktioniert, hat viel mit Organisation
und Effizienz, aber auch mit professio-
neller Personalentwicklung auf jeder
Ebene zu tun.
8.Der demographische Wandel wird
gravierende Auswirkungen auf das Bil-
dungssystem in Brandenburg und in
den anderen neuen Ländern haben. Auf
der einen Seite könnte die Ausnahme-
situation Marktwirtschaft im Bildungs-
bereich, dass sich nämlich nur die
besten Schulen durchsetzen und die
schlechten Schulen schließen, auch zu
mehr Qualität führen. Das setzt voraus,
dass sich die Schulwahl der Eltern
tatsächlich nach ihrer Qualität richtet,
was wiederum Markttransparenz und
freien Marktzugang (zumutbare Wege)
voraussetzt. Auf der anderen Seite ist
das System „Schulen und auch Lehrer
auf Abruf“ (Baumert) wenig qualitäts-
fördernd. Insbesondere das Manage-
ment der Lehrerzuweisung nach
Lehrerbedarf und Lehrernachfrage
führt zu Diskontinuitäten, Instabilitä-
ten und auch zu der Situation, dass
Schulleitungen sich nur begrenzt für
ihre Lehrer und ihr Lehrerkollegium ver-
antwortlich fühlen können.
Inwieweit sich die vielfältigen An-
strengungen zur Steigerung der Qua-
lität in Brandenburg positiv auswirken
oder die negativen Auswirkungen
durch die Konsequenzen des demogra-
phischen Wandels durchschlagen, wer-
den die nächsten Jahre zeigen. Auch die
Auswirkungen des demographischen
Wandels auf die Funktion der Einzelsy-
steme ist zu beachten. So wird sich z.B.
das Gymnasium auf einen größeren
Anteil der Schülerschaft und damit
auch auf eine größere Heterogenität
einstellen müssen, da politisch eine
höhere Abiturquote beim Blick auf den
internationalen Vergleich gewünscht
ist. Dabei wäre es gleichzeitig wün-
schenswert, dass die Flexibilität für die
einzelnen Schulformen größer würde.
Das beinhaltet z.B. die KMK-Festlegun-
Martin Gorholt
82
gen für Differenzierungsunterricht in
der Gesamtschule. Letztlich gilt, je frik-
tionsloser und im Bezug auf die Aus-
wirkungen planmäßiger der demogra-
phische Wandel bewältigt wird, desto
weniger wird die Qualität von Schule
darunter leiden bzw. werden die er-
griffenen Maßnahmen zur Qualitäts-
steigerung konterkariert. Der Beschluss
und die planmäßige Umsetzung des
Schulressourcenkonzepts sind für die
Qualität von Schulunterricht genau so
wichtig, wie die Maßnahmen zur Qua-
litätssteigerung.
9.Die Grundlage für eine neue Kultur
des Lernens und der Leistung bilden
neue Kooperationsformen zwischen
den Akteuren von Bildung, Betreuung
und Erziehung im Interesse der Kinder
und Jugendlichen. Im Mittelpunkt
steht das Dreiecksverhältnis von Leh-
rern, Schülern und Eltern, wobei zu
beachten ist, dass dort die staatliche
und die private Sphäre aufeinander
treffen. Eine neue Kultur von Respekt
und Vertrauen kann durch Verhaltens-
vereinbarungen, Erziehungsbündnisse
und Elternseminare erreicht werden.
Multiplikatorwirkungen von Fortbil-
dung und Erfahrung können sich nur
in einem Netzwerk entfalten. Zu den
Kooperationsfeldern gehören Kita und
Schule, Hort und Schule, Jugendhilfe
und Schule, Kulturarbeit und Schule.
Eine neue Kooperationskultur und
neue Netzwerke entstehen durch neue
Arbeitszeiten der Lehrkräfte und neue
Unterrichts- und Lernzeiten in der
Schule. Eine solche Kultur entsteht in
neuen kreativen Ganztagsangeboten,
die sich rund um die Schule ent-
wickeln, die Unterricht ergänzen und
ein anregungsreiches Klima und Um-
feld schaffen.
Der Weg aus dem PISA-Loch
83
Martin Gorholt,Leiter Ministerbüro und Pressesprecher im Bildungsministerium Brandenburg
Wir stehen am Anfang einer neuenverfassungspolitischen Debatte. Insbe-
sondere süddeutsche Verteidiger der
Landeszuständigkeiten, seit Ende März
dieses Jahres unter starkem Einfluß
ihrer Finanzminister ebenso die Regie-
rungschefs der Länder, fordern, die Kom-
petenzen des Bundes zurückzuschnei-
den sowie Grau- und Mischzonen im
Bund-Länder-Verhältnis abzuschaffen.
Auf diese Vorschläge hat die Bundes-
regierung inzwischen mit eigenen Vor-
stellungen zur Modernisierung der bun-
desstaatlichen Ordnung reagiert.
Anregungen zur „Föderalismusre-form“, so das von manchen Länderver-
tretern verwandte Debattenetikett, gibt
die gleichzeitig stattfindende Diskussion
über die Ergebnisse des EU-Konvents. In
der EU geht es, bei allen Unterschieden,
wie in Deutschland um die Abgrenzung
zwischen zwei Ebenen der Willensbil-
dung, nämlich zwischen den Verantwor-
tungsgebieten der EU-Staaten und der
EU-Instanzen. Die EU-Organe trifft seit
langem der Vorwurf, unaufhaltsam die
eigenen Befugnisse auszudehnen.
Weder Bildungs- noch Wissenschafts-
oder Kulturfragen sind frei von nicht
unerheblichen EU-Einwirkungen. Mit
Zustimmung der EU-Mitgliedsländer,
genauer: auf ihr Betreiben, wird auch die
klassische Außenpolitik von der EU-
Ebene in Anspruch genommen, in
wesentlichen Fragen allerdings manch-
mal mehr durch Formelkompromisse als
durch tragfähig abgestimmte Positio-
nen, wie zuletzt der Irak-Krieg gezeigt
hat. Das hindert aber viele EU-Länder,
darunter Deutschland, nicht daran, die
Einsetzung eines europäischen Außen-
ministers zu fordern. Vor allem wegen
der Unterschiede im Bündnisstatus der
EU-Mitgliedsländer und der Existenz der
NATO blieb der militärische Sektor – die
Spitze der traditionell definierten Staats-
macht – im EU-Aktionsspektrum bislang
weitgehend ausgenommen. Das soll
sich nach der Vorstellung Frankreichs,
Deutschlands, Belgiens und Luxemburgs
allerdings ändern.
Eine Verbesserung der EU-Koordina-
tion sowie der demokratischen Legiti-
mation der EU-Exekutive, aber ebenso
85
Verfassungsreformund ostdeutsche Interessenvon Klaus Faber
Entflechtung im deutschen Föderalismus und auf EU-Ebene
die Eindämmung und klare Abgrenzung
der EU-Kompetenzen schreiben vor
diesem Hintergrund viele Länder als
Reformziel auf ihr Panier. Zu ihnen
gehört Deutschland, trotz der erwähn-
ten Positionen, die in ihrer Wirkung viel-
leicht in die entgegengesetzte Richtung
führen könnten; Deutschland bemüht
für die eigene Aufassung als Argumen-
tationsansatz u.a. sein Subsidaritätsver-
ständnis,das von den EU-Behörden aller-
dings überwiegend nicht geteilt wird.
„Entflechtung“ ist, wie die jüngsten
Länderinitiativen und die darauf fol-
gende Bundesreaktion zeigen, in
Deutschland auch ein Stichwort der in-
nerstaatlichen Verfassungsdiskussion.
Einige verbinden die Föderalismus-
reform mit der Idee, den Territorial-
bestand der sechzehn Länder zu durch-
forsten. Weniger Bundesländer mit, so
die Hoffnung, größerer Finanzkraft sol-
len danach Träger der Landesstaatlich-
keit sein. Auf der anderen Seite des
Debattenspektrums hat Bundeskanzler
Gerhard Schröder im Wahlkampf 2002
Rahmenkompetenzen des Bundes für
die Bildung sowie eine stärkere Bundes-
beteiligung bei der Bildungsfinanzie-
rung vorgeschlagen. Die Bundesregie-
rung hat in ihrer Stellungnahme zu den
Länderpositionen einen derartigen
Gedanken nicht explizit aufgegriffen,
allerdings für die gemeinsame Bildungs-
planung von Bund und Ländern einen
„verpflichtenden Verfassungsauftrag“
gefordert, der insbesondere zu „bundes-
weit verbindlichen Standards“ in der Bil-
dung führen soll. Außerdem schlägt der
Bund als Ersatz für die auch nach seiner
Auffassung künftig wegfallende Bund-
Länder-Gemeinschaftsaufgabe Hoch-
schulbau eine modifizierte, flexible
Bundeshochschulförderung mit „inhalt-
lichen Gestaltungsrechten“ vor. Für
andere Gebiete sieht die Bundesposition
ausdrücklich die Stärkung von Bundes-
zuständigkeiten vor, etwa für den
Umwelt- und Verbraucherschutz oder
für den Schutz deutschen Kulturgutes
vor Abwanderung in das Ausland.
Gleichzeitig werden Verzichtsangebote
gemacht, z.B. für Regelungskompe-
tenzen des Bundes im Bereich der all-
gemeinen Rechtsverhältnisse der Presse
oder des Jagdwesens.
Verfassungsänderungen setzen in
Deutschland Zwei-Drittel-Mehrheitenim Bundestag und im Bundesrat voraus.
Verfassungsreformen mit durchgrei-
fenden Auswirkungen auf das Bund-
Länder-Verhältnis sind infolgedessen
Klaus Faber
86
Verfassungsreform und kooperativer Föderalismus
erst ein Mal, während der Großen
Koalition von 1966 bis 1969, auf den
Weg gebracht und umgesetzt worden.
Eine Neuauflage der Großen Koalition
ist in der nächsten Zeit nicht sehr
wahrscheinlich. Ähnliches gilt – mit
oder ohne Große Koalition – für wich-
tige Verfassungsänderungen. Selbst
wenn 2003 eine Große Koalition gebil-
det werden sollte, wäre der Zeitraum
für die – erforderliche – vorbereitende
Diskussion über derartige Änderungen
und für die danach bis 2006 zu tref-
fende Entscheidung wohl zu kurz. Ein
Konsens über die Grundzüge einer an
und für sich notwendigen Ver-
fassungsreform ist in Deutschland
nämlich noch nicht abzusehen. In-
soweit unterscheidet sich die Aus-
gangsposition 2003 von derjenigen vor
der Finanzverfassungsreform von
1969. Damals gab es eine weitgehende
Übereinstimmung über die Ziel-
setzung und die Instrumente. „Koope-rativer Föderalismus“ war in den sech-
ziger Jahren eine politische Beschrei-
bung der angestrebten Neuordnung,
wie sie vor allem in den 1969 ein-
geführten neuen Bund-Länder-Ge-meinschaftsaufgaben, etwa für den
Hochschulbau, die Forschungsförde-
rung, die Bildungsplanung, die regio-
nale Wirtschaftsförderung oder die
Agrarstruktur Ausdruck fand. Der Bund
hatte sich bereits längere Zeit vor der
69er Verfassungsreform, einem Be-
dürfnis der Staatspraxis folgend, u.a.
an der Förderung des Hochschulbaus,
der Forschung oder von Stipendien
beteiligt. Die Verfassungsreform von
1969 legalisierte in diesen und in ande-
ren Bereichen die damals von allen
Beteiligten anerkannte Bund-Länder-
Mischfinanzierung.
Die verfassungspolitische Debatte ist
inzwischen von dem früheren Konsens
zum kooperativen Föderalismus abge-
kommen. Politikverflechtung ist nach
Auffassung vieler Kommentatoren die
Folge des neuen Systems von Bund-
Länder-Gemeinschaftsaufgaben und
sonstiger, bereits vor 1969 vorhandener
und nicht im Verfassungsrecht fixierter
Formen der Länderzusammenarbeit,
etwa in der Kultusministerkonferenz,
oder der Bund-Länder-Kooperation. Die
Ausschaltung des Parteienwettbewerbsum Wählermehrheiten und die Nei-gung zu Allparteienkoalitionen in den
einstimmig beschließenden Koordi-
nationsgremien gehörten zu den prä-
genden Merkmalen der Politikverflech-
tung in Deutschland, so bereits 1978 ein
Bericht der Bundesregierung über die
strukturellen Probleme des föderativen
Bildungssystems (Bericht der Bundes-
regierung vom 22. 2. 1978, BT-Drs. 8/1551,
s. dazu auch Glotz/Faber: Grundgesetz
und Bildungswesen, in: Benda/Mai-
hofer/Vogel, Handbuch des Ver-
Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen
87
fassungsrechts der Bundesrepublik
Deutschland. Berlin, New York, 2. Aufl.
1994, S. 1415 ff.). Verstärkt werden die
Verflechtungstendenzen durch das im
deutschen Wahlbalancesystem im
Laufe einer Legislaturperiode fast
schon regelmäßig zu beobachtende
Phänomen, dass Bundestagsmehr-heiten durch Bundesratsmehrheitenkonterkariert werden – was nicht nur
auf die zustimmungsbedürftigen
Bundesgesetze Auswirkungen hat,
deren Bedeutung in der Gesetzge-
bungspraxis eher zu – als abnimmt.
Einen Lösungsansatz sehen daher die
meisten in der Entflechtung der
„grauen Zone“ in der Bund-Länder-Zusammenarbeit, in der Länder-Selbst-koordination oder im Bundestag/Bun-desrat-Verhältnis. Die Vorstellungen zur
Entflechtungsrichtung stimmen aller-
dings oft nicht überein. Die Finanz-
minister vor allem der finanzstarken
Länder und, ihnen folgend, jetzt ebenso
die Länderregierungschefs denken z.B.
daran, bei gleichzeitiger Übertragung
höherer Steueranteile auf die Länder
die Bundesfinanzierungsbeteiligung
im Rahmen der Bund-Länder-Gemein-
schaftsaufgaben einzuschränken. An-
dere, darunter, wie erwähnt, auch die
Bundesregierung, treten auf bestimm-
ten Gebieten für neue Bundesauf-
gaben ein; in Teilbereichen, z.B. bei der
bundesweiten Festlegung von Bil-
dungsstandards, soll damit die Länder-
Selbstkoordinierung (u.a. in der KMK)
ersetzt werden.
Bei der Überprüfung der Zustim-mungsbedürftigkeit von Bundesge-setzen lassen die Landesregierungen
Gesprächsbereitschaft mit ihrer Posi-
tion erkennen, zunächst auf Bundes-
vorschläge zu warten. Die Bundesre-
gierung regt auf diesem Gebiet u.a. an,
die Zustimmungspflicht des Bundes-
rats auf Bundesgesetze zu begrenzen,
die „Länderbelange unzweifelhaft tan-
gieren“. Ob diese Auffassung zu einer
Einigung führen kann, bleibt offen.
Weitere in der Öffentlichkeit disku-
tierte Punkte einer möglichen Verfas-
sungsreform, z.B. die Direktwahl des
Bundespräsidenten oder Volksbefragun-
gen auf der Bundesebene, spielen in der
Länderkonzeption und der Bundes-
antwort keine Rolle. Die Länderneu-
gliederung erwähnt der Bund in seiner
Stellungnahme mit einem Appell zur
Nutzung der vorhandenen Instrumente
in Art. 29 des Grundgesetzes. Die Länder
hatten diese Frage in ihrem vorausge-
Klaus Faber
88
Änderungsvorschläge der Länder und des Bundes
henden Positionspapier nicht ange-
sprochen. Vielleicht abgesehen vom
Sonderfall Berlin-Brandenburg besteht
zur Zeit wenig Bereitschaft für eine wei-
tergehende Länderneugliederung.
Stellt man auf die bislang zu erken-
nenden Tendenzen von Länderregie-
rungschefs und Bundesregierung ab, ist
zur Zeit eine Einigung nur auf einigenbegrenzten Gebieten vorstellbar. Das gilt
etwa für die Auffassung der Regierun-
gen, die Gemeinschaftsaufgabe Hoch-
schulbau in der bislang geltenden Form
aufzugeben (wozu allerdings Mecklen-
burg-Vorpommern einen Vorbehalt er-
klärt hat), für die im Grundsatz erklärte
Bereitschaft, die Regelungen für Bundes-
finanzhilfen zu reformieren und zu prä-
zisieren, oder für die Absicht, den Bereich
der Bundesrahmenkompetenzen neu zu
ordnen, ihn überwiegend oder ganz
zwischen Bund und Ländern aufzuteilen
und dabei auch flexible Neuregelungen
einzuführen. Derartige Neuregelungen
sollen Öffnungsklauseln zugunsten der
Länder nach dem Muster des „opting
out“ zulassen, wie es etwa das kana-
dische Föderalismussystem kennt.
Im Detail bestehen jedoch auch auf
diesen Gebieten regelmäßig Differen-zen, z.B. in der Frage, ob die Gemein-
schaftsaufgabe Hochschulbau einfach
gestrichen oder, so der bereits er-
wähnte Bundesvorschlag, durch eine
neue Förderzuständigkeit des Bundes
ersetzt werden soll. Ähnliches gilt für
die anderen Beispiele. Die konkreten
Änderungsvorhaben der Bundes- und
Landesseite zielen dort häufig in die
jeweils entgegengesetzte Richtung; die
Landesregierungen fordern nicht sel-
ten mehr Kompetenzen für die Länder,
der Bund mehr Bundeseinfluß – was
letztlich den Erwartungen entspricht
und die bekannten Interessenbindun-
gen der Gesprächspartner zeigt.
Im Bundestag ist Anfang Mai ein
Antrag der Fraktionen der SPD, vonBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDPeingebracht worden; er fordert, gegen
die insoweit ohne Ländervorbehalt
erklärte Position der Länderregie-
rungschefs, die gemeinsame Bildungs-planung beizubehalten und die Arbeit
der Bund-Länder-Kommission für
Bildungsplanung und Forschungs-
förderung (BLK) fortzusetzen. Der
Antrag macht auch im Verfahren auf
ein Problem aufmerksam. Ob und auf
welchem Weg die Debatte auch außer-
halb von Verhandlungsrunden der Re-
gierungen des Bundes und der Länder
Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen
89
Öffentliche Debatte, nicht nur Regierungsabstimmung
vor dem abschließenden Gesetzge-
bungsverfahren geführt werden soll,
ist noch nicht geklärt.
Man kann gegen eine Öffnung der
Diskussion über den Kreis der Regierun-
gen von Bund und Ländern hinaus nicht
einwenden, bei der Föderalismusreform
gehe es im wesentlichen um Bund-Län-
der – und im übrigen häufig um tech-
nisch komplizierte Fragen. Wer die Ent-
flechtung von Zuständigkeiten, eine
Stärkung des Wettbewerbs und die Ver-
besserung der Transparenz in der poli-
tischen Verantwortung des Bundes und
der Länder als Zielsetzung der Reform
deklariert, kann die Willensbildung für
eine derartige Verfassungsänderung
nicht so organisieren, das sie alle diese
Grundsätze zunächst einmal außer acht
läßt. Es darf deshalb nicht dazu kom-
men, das sich die Regierungen des Bun-
des und der Länder unter Ausschluß derÖffentlichkeit in einer Art Allparteienko-alition auf eine Reihe von Vorschlägen
für eine Verfassungsänderung einigen
und anschließend die an der Gesetzge-
bung beteiligten Körperschaften – Bun-
destag und Bundesrat – in eine Ratifizie-
rungslage geraten, wie wir sie als Folge
von Bund-Länder-Abkommen oder von
KMK-Beschlüssen kennen. Für Verfas-
sungsänderungen von einigem Ge-
wicht ist ein Vorbereitungsverfahren
notwendig, das von Anfang an die
Öffentlichkeit und die Parlamente stär-
ker einbezieht, als dies bei einem auf die
Exekutiven konzentrierten Abstim-
mungsprozeß möglich ist. Ob der EU-Konvent auf diesem Gebiet Anregungen
geben kann, bleibt zu prüfen.
Zur Zielsetzung der Änderungsansätzesind ebenso kritische Anmerkungenerforderlich. Dabei geht es nicht nur um
die – nur schwer zu begründende –
Begrenzung der Reform auf das Bund-
Länder-Verhältnis. Auch die Initiativen
zur Modernisierung der bundesstaat-
lichen Ordnung lassen nicht immer
überzeugende Schwerpunktsetzungen
erkennen. In den Ländervorschlägen
zeichnen sich gut bekannte Positionen
der Finanzseite ab. Viele Finanzminister
sahen und sehen z.B. in der Bindung von
Landesmitteln im Rahmen der vom
Bund und den Ländern gemeinsam fi-
nanzierten Gemeinschaftsaufgaben,
etwa für den Hochschulbau, die For-
schungsförderung oder die regionale
Wirtschaftsförderung, eine vor allem in
Zeiten knapper Kassen unerwünschte
Einschränkung ihrer finanzpolitischen
Operationsmöglichkeiten. Eine verfas-
Klaus Faber
90
Problematische Tendenzen in den Länder- und Bundespositionen
sungspolitische Neuordnung sollte sich
jedoch auch in diesem Zusammenhang
der Prüfung stellen, ob die mit einer der-
artigen Privilegierung verbundene Prio-
ritätensetzung für bestimmte Gemein-
schaftsaufgaben ohne ausreichende
Kompensation aufgegeben werden
kann. Durchschlagende Gründe etwa für
eine ersatzlose Streichung des gemein-
sam finanzierten Hochschulbaus sind,
um ein konkretes Beispiel zu nennen, vor
dem Hintergrund des deutschen Hoch-
schulrückstands wohl kaum geltend zu
machen. Das führt in diesem Fall zu der
nicht ohne weiteres positiv zu beant-
wortenden Folgefrage, ob der Bundes-
vorschlag für eine flexible Hochschul-
förderung nach seinem Volumen und
taktischem Wert in der Verfassungsde-
batte als adäquate Ersatzlösung für die
umfassende Mitfinanzierung des Hoch-
schulbaus angesehen werden kann.
Bei den Bundesvorschlägen fällt
zudem auf, das die Auffassungen der
einzelnen Fachressorts in der Bundesre-gierung offenbar eine entscheidende
Rolle bei der Formulierung bestimmter
Passagen gespielt haben. Das kann zu
problematischen Ergebnissen führen.
das ein gesamtstaatliches, eine Verfas-
sungsänderung tragendes Interesse
eine deutliche Verstärkung der Bun-
deskompetenzen für den Umwelt-
schutz und den Verbraucherschutz
rechtfertigen soll, nicht dagegen eine
entsprechende, mindestens gleich-
gewichtige Zuständigkeitserweiterung
auf den Gebieten Wissenschaft und Bil-
dung, ist eine These, die in der Prioritä-
tenabwägung kaum überzeugen kann.
Deutschlands Defizite in der Wissen-schaft und in der Bildung sind nicht erst
seit den PISA-Publikationen, die sich mit
Teilausschnitten des Schulbereichs be-
fassen, bekannt. Anerkannte und in der
Sache unumstrittene OECD-Vergleiche
belegen Deutschlands Rückstand bei
den Hochschulausgaben pro Kopf der
Bevölkerung. Die USA geben z.B. auf die-
sem Gebiet – pro Kopf der Bevölkerung
– mehr als doppelt so viel wie Deutsch-
land aus; in ungefähr gleicher Höhe
bewegen sich die Pro-Kopf-Leistungen
Finnlands oder Schwedens. Deutsch-
land hat bei den Hochschulzugangsbe-
rechtigten, den Studierenden oder den
Hochschulabsolventen deutlich kleinere
Anteile am jeweiligen Altersjahrgang
als andere wichtige Länder, mit denen
wir international im Wettbewerb ste-
Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen
91
Modernisierungsrückstand inWissenschaft/Bildung und Verfassungsreform
hen. Auf allen diesen Gebieten liegenostdeutsche Regionen gegenüber dem
westdeutschen Schnitt darüber hinaus
zurück – was u.a. Auswirkungen auf den
innerdeutschen Standortwettbewerb
hat. In Ostdeutschland ist noch über
einen langen Zeitraum eine besondereWissenschaftsförderung des Bundes er-
forderlich, um den vorhandenen Rück-
stand auszugleichen.
In anderen Sektoren des deutschen
Bildungssystems gibt es gleichfalls be-
achtliche Defizite. Sie sind aber zumeist
einem Kernbereich der Landeszustän-
digkeiten – dem Schulwesen – zuzuord-
nen oder liegen in dessen Nähe, etwa im
Vorschulbereich. Auf diesem Gebiet den
Bundeseinfluß durch Verfassungsände-
rungen oder auf anderem Wege wesent-
lich erweitern zu wollen, wäre kein
erfolgversprechendes Unternehmen –
und, mit Blick auf die Machtbalance in
der Zuständigkeitsverteilung, wohl nicht
zweckmäßig. Sinnvoll ist demgegen-
über, was eine mögliche Aufgabener-weiterung für den Bund anbelangt, eine
Schwerpunktsetzung im Wissenschafts-bereich (vor allem im Hochschulwesen),
in der beruflichen Bildung und bei
bestimmten Querschnittsaspekten (u.a.
Abschlüsse; auch die Sicherung von Bil-
dungsstandards könnte in diesem
Zusammenhang eine Rolle spielen).
Eine dabei angestrebte stärkereFinanzierungsbeteiligung des Bundes in
der Wissenschaft könnte, wiederum im
Sinne des Entflechtungsziels, die Län-
der entlasten und sie zu höheren
Anstrengungen in ihrem eigenen zen-
tralen Zuständigkeitsgebiet, der Schul-
politik, motivieren. Eine ausreichende
Bundesmitfinanzierung kann die zwi-
schen den Ländern, vor allem im Ost-West-Verhältnis, bestehenden Struktur-
unterschiede in gewissem Umfang
ausgleichen und das deutsche Hoch-
schulwesen insgesamt voranbringen.
Durch Verfassungsänderung einge-
führte neue Finanzierungsinstrumente
sollten flexibel sein, aber auch eine
Verstetigung der Finanzleistungen
sichern; starre Länderschlüssel ent-
sprechen nicht diesen Erfordernissen.
Diese Kriterien könnte z.B. eine Bundes-
gesetzgebungskompetenz erfüllen, die
zum Ziel hat, die Hochschulstruktur zu
fördern und zu verbessern. Eine derar-
tige neue Bundesgesetzgebung sollte
allgemein an die Zustimmung des Bun-
desrates gebunden werden – u.a. als
Kompensation für den Verlust von
Zustimmungsvorbehalten bei Bund-
Länder-Vereinbarungen oder im Rah-
men von Gemeinschaftsaufgaben.
Eine Entlastung der Länder durch den
Bund ist übrigens bereits vor einer Ver-fassungsänderung möglich, wie die
Hochschulsonderprogramme seit dem
Ende der 80er Jahre gezeigt haben.
Auch für andere Wege, wie für die
Klaus Faber
92
Errichtung einer nationalen Stiftung fürBildung und Wissenschaft nach dem Vor-
bild der Kulturstiftung oder für eine
Erhöhung des Bundesfinanzierungsan-
teils bei der Ausbildungsförderung, ist
keine Verfassungsänderung notwendig.
Für die Beibehaltung eines hohen
Finanzierungsengagements des Bun-
des im Wissenschaftsbereich und derGemeinschaftsaufgabe Hochschulbauhaben sich inzwischen – gegen die
deutliche Mehrheitsposition der Län-
derregierungschefs – auch Wissen-schaftsminister der Länder ausge-
sprochen. Dem Bundesvorschlag für
eine neue, flexible Bundesförderung
im Hochschulbereich wird dabei zum
Teil von Landesvertretern unterstellt,
der Bund wolle auf diese Weise „Rosi-
nenpickerei“ betreiben und sein Enga-
gement auf wenige Hochschulen be-
schränken. Die Gemeinschaftsaufgabe
Hochschulbau sei, so die Gegenargu-
mentation von Landesministern, wei-
terhin notwendig, vor allem um gleich-
wertige Lebensverhältnisse und die
internationale Wettbewerbsfähigkeit
zu sichern.
Aus vergleichbaren Gründen votieren
Landeswissenschaftsminister gegen
die Änderungsvorschläge des Bundes
zur Forschungsförderung, nach denen
bestimmte Forschungseinrichtungen,
z.B. die Max-Planck-Institute, ganz vom
Bund, andere, wie die Institute der Leib-
niz-Gemeinschaft (früher: Blaue-Liste-
Institute), allein von den Ländern
finanziert werden sollen. Viele sind
allerdings für die Auflösung der BLK,
aber gleichzeitig für eine Stärkung der
Länderselbstkoordination in der KMK.
„Entflechtung“ ist also im eigenen Zu-
ständigkeitsbereich nicht immer ein
überzeugendes Argument.
Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen
93
Debatte in den Ländern
Zukunftsperspektiven, soziale Gerechtigkeit und ostdeutsche Interessen
Die innerhalb der Länder – vielleicht
etwas spät – kontrovers geführte
Debatte macht deutlich, das die
Föderalismusreform nicht im Schnell-
verfahren einer Regierungsabstim-
mung durchgezogen werden kann. Sie
zeigt zudem, das für eine Verfassungs-
revision dieser Größenordnung neben
dem Entflechtungs- und Modern-
isierungsziel auch eine Prioritäten-
entscheidung in der Sache erforderlich
ist. Der deutsche Investitionsrückstand
sowie die nach wie vor bestehenden
Ost-West-Unterschiede in Wissenschaftund Bildung sprechen, um es noch
eimal zu betonen, auch im Rahmen
einer Verfassungsreform für eine ge-
samtstaatliche Schwerpunktsetzung
vor allem in diesem Bereich. SozialeGerechtigkeit setzt mehr denn je den
chancengleichen Zugang zu allen
Bildungswegen voraus. Die Aus-
schöpfung der Begabungsreserven ist
für unsere Position im internationalen
Wettbewerb eine entscheidende
Größe, auch vor dem Hintergrund des
zunächst im Osten, dann in ganz
Deutschland zu erwartenden demo-
graphischen Rückgangs. Zukunfts-perspektiven durch Investitionen fürWissenschaft und Bildung zu eröffnen,
ist ein zentrales Anliegen sozialer
Gerechtigkeit im regionalen Ausgleichund im Generationenverhältnis – ein
Anliegen, das Verzichtleistungen und
Anstrengungen auf anderen Gebieten
rechtfertigt.
Trotz der anerkannten Änderungsbe-
dürfnisse, die sich, selbstverständlich,
nicht nur auf die Bereiche Bildung und
Wissenschaft beziehen, sind die Er-
folgsaussichten der eingeleiteten Ver-
fassungsrevision zurückhaltend zu
beurteilen. Die Debatte zur Födera-
lismusreform sollte aber in jedem Fall
im Verfahren und in der Argumentation
der Bedeutung des verfassungspoli-
tischen Vorhabens gerecht werden. Sie
muß die Chancen für eine Modern-
isierung der bundestaatlichen Ordnung
offen halten, für die es schon seit länge-
rer Zeit gute Gründe gibt. Die ostdeut-
schen Länder haben an einem Erfolg der
Reformansätze ein besonderes Inte-
resse. Für sie ist es entscheidend, das
eine Grundgesetzänderung die not-
wendigen Instrumente für gesamt-
staatliche Infrastrukturinvestitionen
nicht aufgibt, sondern verbessert. Auch
vor einer Verfassungsänderung sollten
die bereits jetzt vorhandenen Förder-
möglichkeiten vor allem dazu intensiver
genutzt werden, den Ausbaustand im
Hochschulbereich voranzubringen.
Klaus Faber
94
Klaus Faber,Rechtsanwalt in Potsdam und Geschäftsführender Vorsitzender des Wissenschaftsfo-
rums der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.
Der Artikel erschien zuerst in Frankfurter Hefte/Neue Gesellschaft 12/2002.
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www.perspektive21.de Heft 19 • Juli 2003
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