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(Sonder-) pädagogische Diagnostik aus wissenschaftlicher Perspektive: Grundlegendes und Aktuelles
IBB-SchuljahresabschlusstagungMünchen, 19.07.2013
Roland Stein
Universität Würzburg
Lehrstuhl für Sonderpädagogik V
Roland Stein, Würzburg 2
„Der Diagnostiker erstellt ein reales Person- und/oder in Ausschnitten Lebenssituationsbild für Personen, damit konstruiert er
für diese eine Realität, die mehr oder weniger treffend (wahr) sein
kann. In jedem Fall trifft sie“ (Kleber 1997, 57).
Kleber, E.W. (1997, 2. Aufl.): Diagnostik. In: Hansen, G. & Stein, R. (Hrsg.): Sonderpädagogik konkret. Bad Heilbrunn/Obb.
Themen:
Grundlegendes zu Diagnostik
Die ICF: ein kategoriales System für (sonder-) pädagogische Diagnostik?
Das RTI – nicht mehr „wait to fail“?
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Grundlegendes
Roland Stein, Würzburg
Person Situation
Interaktion
Beobachter
Verhaltens- und Lernstörungen interaktionistisch
Störungen im Person-Umwelt-Bezug (Seitz & Stein 2010; Stein 2012)Auffälligkeiten als Signal für eine Störung
Roland Stein, Würzburg 4
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Ontogenese Aktualgenese
Biographie
Persönlichkeitaktuelles Erle-ben + Verhalten
aktuelle Erlebnisse
aktuelle Situation
wahrgenomme-nes Erleben
und Verhalten
WahrnehmungenBewertungen
Zuschreibungen
Organ. Bedingungen
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B) Belastende Situationen:1. emotional belastende Situationen2. neuartige Situationen3. komplexe und mehrdeutige Situationen4. Situationen mit hohem Zeitdruck5. überfordernde Situationen6. unterfordernde Situationen7. Situationen, die ein Vorhaben vereiteln8. Situationen, die den Selbstwert beeinträchtigen
„Starke Situationen“ – Unterscheidung zweier Gruppen:
A) Situationen mit hohem Aufforderungscharakter –provozieren eine umschreibbare Gruppe von (auffälligen, abweichenden) Reaktionen
B) Belastende Situationen – führen zu verschiedenen, oft auffälligen Reaktionen
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Personbezogene Differenzierung am Beispiel von Verhaltensauffälligkeiten
Verhaltensstilez.B. emotionale Erregbarkeit, fehlende Willenskontrolle
Motivez.B. aggressives Bedürfnis nach Ich-Durchsetzung, Bereitschaft zu sozialem Engagement
Selbstbildz.B. Selbsterleben von allgemeiner (existentieller) Angst, Selbstüberzeugung, Tendenz zur Selbstaufwertung
Bild von der Um- und Mitweltz.B. Bedrohungserleben, Erleben von Indifferenz
Gefühle und StimmungenGefühlsqualitäten und Schwankungen
(Seitz & Rausche 2004)Roland Stein, Würzburg
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emotionale Kompetenzen soziale Kompetenzen
emotionale Regulationsfähigkeitemotionale Bewusstheit(adäquater) emotionaler Ausdruck
eigener Emotionenemotionale Eindrucksfähigkeit für
das Erleben anderer PersonenSelbstwertgefühl (bzgl. erlebtem
Status und empfundener Wärme gegenüber sich selbst)
Kontrollerleben (im Hinblick auf dessen emotionale „Färbung“)
KommunikationsfähigkeitKooperationsfähigkeitKonfliktbewältigungskompetenzVerhandlungsfähigkeitModerationsoziale SensibilitätSachlichkeitFairness / RücksichtToleranz(adäquate) Selbstdarstellung
zu unterscheiden: Kompetenz und Performanz
Eine perspektivische Alternative:
„Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung“
Roland Stein, Würzburg
Es geht nicht nur um Personen,
sondern auch um Situationen, Interaktionen und Wahrnehmungen,
… aber eben „auch“ !
… und die Ressourcen (vgl. Fingerle 2010)?
stärkende Faktoren, schwächende Faktoren
Kompetenz und Performanz
Stärken und Schwächen
Roland Stein, Würzburg9
Diagnostik muss,
je differenzierter sie sein soll und je folgenreicher sie ist,
desto stärker auf Basis spezifischer professioneller Kompetenz erfolgen.
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Bereich geeigneteVerfahren
relevante Perso-nen / Bereiche
Konkretisierung
Biographie • Sichtung vorl. Informationen
• psychodiag. Gespr.• Fragebögen
Kind / Jugendlicher Akten, Gespräche, biographische Inven-tarien, Erziehungsstil-fragebögen
Eltern / Erziehungsber.
prof. Erziehungspers.
genetische und organ. Ursachen
• Sichtung vorl. Info.• Gespräch
insbesondere Eltern (auch: Ärzte usw.)
Gespräche, Anamnese, Akteneinsicht
Persönlichkeits-struktur
• Gespräch• Fragebögen• projektive Tests• Verhaltensbeob.• Leistungsprüfungen
Verhaltensstile L-, Q- und T-Daten(persönlichkeitsbezo-gen, störungsspezi-fisch, projektiv)
Motive
Selbst- und Fremdbild
Gefühle + Stimmungen
aktuelle Situation • Gespräch• Situationsbeobacht.• Soziogramm
Daten zur Beschreibung der aktuellen Situation: Raumgestaltung, Sitzplatz, Klima, Interaktionen und Umgangsformen, Unterrichtsstile usw.
Lebenssituation • Gespräch• Fragebögen• Analyse der LS
Kind / Jugendlicher, Eltern, Freunde, Erzieher usw.
Gespräche, Hausbesu-che, Selbstbeurtei-lungsverfahren
aktuelle Erlebnis-se und Verhalten
• Gespräch• Fragebögen• VB
Kind / Jugendlicher Erleben von Sit. (Ge-spräch, FB), Verhalten in Sit. (FB)
wahrgen. und zugeschr. E + V
• Gespräch• VB
Beobachter / Beurteiler (Lehrer, Erzieher usw.)
nichtnormierte wie normierte Verfahren
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Defizite und Probleme
Ressourcen + Kompetenzen
Schwächende Faktoren
Stärkende Faktoren
Prinzip des „ansatzweise Vorhandenen“
Prinzip der konkretisier-ten Ziele
Prinzip der überschaubaren
Aufgaben
DIAGNOSTIKJustiziabilität
Differentialdiagnostik
AnsatzPerson
AnsatzUmfeld
Evaluation
weitere Planung, weiteres Vorgehen
Förd.-Pl.
Schule und Ausbildung
… gemeinsam, als Beratungsprozess?
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Aktuelles: die ICF
Roland Stein, Würzburg
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(Hollenweger 2009; Hollenweger & Kraus de Camargo sowie DIMDI 2011)
ein kategoriales System der WHO – als mögliche Basis von Diagnostik
Kritik: die ICF-CY ist „optimierbar“ (Stein 2013)Roland Stein, Würzburg
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Kapitel 1: Mentale Funktionen
Gobale mentale Funktionen (b110-b139)b110 Funktionen des Bewusstseins
b114 Funktionen der Orientierung
b117 Funktionen der Intelligenz
b122 Globale psychosoziale Funktionen
b126 Funktionen von Temperament und Persönlichkeit
b130 Funktionen der psychischen Energie und des Antriebs
b134 Funktionen des Schlafes
b139 Globale mentale Funktionen, anders oder nicht näher bezeichnet
Spezifische mentale Funktionen (b140-b189)b140 Funktionen der Aufmerksamkeit
b144 Funktionen des Gedächtnisses
b147 Psychomotorische Funktionen
b152 Emotionale Funktionen
b156 Funktionen der Wahrnehmung
b160 Funktionen des Denkens
b164 Höhere kognitive Funktionen
b167 Kognitiv-sprachliche Funktionen
b172 Das Rechnen betreffende Funktionen
b176 Mentale Funktionen, die die Durchführung komplexer Bewegungshandlungen betreffen
b180 Die Selbstwahrnehmung und die Zeitwahrnehmung betreffende Funktionen
b189 Spezielle mentale Funktionen, anders oder nicht näher bezeichnet
b198 Mentale Funktionen, anders bezeichnet
b199 Mentale Funktionen, nicht näher bezeichnet
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b126 Funktionen von Temperament und Persönlichkeit
Allgemeine mentale Funktionen, die das anlagebedingte Naturell einer Person betreffen,
individuell auf Situationen zu reagieren, einschließlich der psychischen Charakteristika, die eine
Person von einer anderen unterscheiden
Inkl.: Funktionen, die Extraversion, Introversion, Umgänglichkeit, Gewissenhaftigkeit, psychische
und emotionale Stabilität, Offenheit gegenüber Erfahrungen, Optimismus, Neugier, Vertrauen und
Zuverlässigkeit betreffen
Exkl.: Funktionen der Intelligenz (b117); Funktionen der psychischen Energie und des Antriebs
(b130);
Psychomotorische Funktionen (b147); Emotionale Funktionen (b152)
b1260 Extraversion
Mentale Funktionen, die sich in einer Persönlichkeit äußern, die durch Kontaktfreudigkeit,
Geselligkeit und (emotionale) Ausdrucksfähigkeit gekennzeichnet ist, im Gegensatz zu
Schüchternheit, Zurückgezogenheit oder Gehemmtheit
b1261 Umgänglichkeit
Mentale Funktionen, die sich in einer Persönlichkeit äußern, die durch Kooperationsbereitschaft,
Freundschaftlichkeit und Zuvorkommenheit gekennzeichnet ist, im Gegensatz zu
Unfreundlichkeit, Streitbarkeit und Aufsässigkeit
b1262 Gewissenhaftigkeit
Mentale Funktionen, die sich in einer Persönlichkeit äußern, die durch Fleiß, Genauigkeit und
Sorgfalt gekennzeichnet ist, im Gegensatz zu Faulheit, Unzuverlässigkeit und
Verantwortungslosigkeit
Roland Stein, Würzburg
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b1263 Psychische Stabilität
Mentale Funktionen, die sich in einer Persönlichkeit äußern, die durch Ausgeglichenheit, Ruhe und
Gefasstheit gekennzeichnet ist, im Gegensatz zu Reizbarkeit, Besorgtheit, Unbeständigkeit und
Launenhaftigkeit
b1264 Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen
Mentale Funktionen, die sich in einer Persönlichkeit äußern, die durch Neugier,
Vorstellungsvermögen und Suche nach Erfahrungen gekennzeichnet ist, im Gegensatz zu
Abgestumpftheit, Unaufmerksamkeit und emotionaler Ausdruckslosigkeit
b1265 Optimismus
Mentale Funktionen, die sich in einer Persönlichkeit äußern, die durch Heiterkeit, Lebhaftigkeit
und Zuversichtlichkeit gekennzeichnet ist, im Gegensatz zu Niedergeschlagenheit, Trübsinn und
Verzweiflung
b1266 Selbstvertrauen
Mentale Funktionen, die sich in einer Persönlichkeit äußern, die durch Selbstsicherheit, Mut und
Durchsetzungsvermögen gekennzeichnet ist, im Gegensatz zu Zaghaftigkeit, Unsicherheit und
Zurückhaltung
b1267 Zuverlässigkeit
Mentale Funktionen, die sich in einer Persönlichkeit äußern, die durch Verlässlichkeit und
Prinzipientreue gekennzeichnet ist, im Gegensatz zu Hinterlistigkeit und unsozialem Verhalten
b1268 Funktionen von Temperament und Persönlichkeit, anders bezeichnet
b1269 Funktionen von Temperament und Persönlichkeit, nicht näher bezeichnet
Roland Stein, Würzburg
Beurteilung
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ICF: ausgewählte Kritikpunkte
(siehe auch: Stein 2013)
•tlw. erstaunlich medizinisch orientiert („Körperfunktionen“; „Temperament und Persönlichkeit“)
•größtenteils Erhebung der „Performanz von Kompetenzen“
•tlw. erstaunlich „problemzentriert“ („Aktivitäten und Partizipation“)
•beispielhaft für Verhaltensstörungen ergeben sich deutliche Lücken – etwa: Einstellungen, Werte und Motive des Untersuchten, Empathie als Kompetenz, Identität und Persönlichkeit, subjektives Empfinden (Gefühle und Stimmungen), Schul- und Klassenklima, Atmosphäre, Beziehungen, Erziehungsstile, situative Aspekte wie Belastungen, Druck, Provokationen
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Aktuelles: das RTI-Modell
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(Huber & Grosche 2012, 313)
wait-to-fail- versus
response-to-intervention-Modell
Roland Stein, Würzburg
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(Huber & Grosche 2012, 314)
die drei Stufen innerhalb des RTI-Paradigmas
Eigene Literatur
Stein, R. (2012, 3. Aufl.): Grundwissen Verhaltensstörungen. Baltmannsweiler: Schneider.
Stein, R. & Stein, A. (2006): Unterricht bei Verhaltensstörungen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Orthmann Bless, D. & Stein, R. (Hrsg.) (2009): Basiswissen Sonderpädagogik. Bd. 1-5. Baltmannsweiler.
Stein, R. (2002): Selbst- und Handlungsregulation: ein Metamodell für Störungen des Verhaltens und Lernens. In U. Schröder, M. Wittrock, S. Rolus-Borgward & U. Tänzer & (Hrsg.): Lernbeeinträchtigung und Verhaltensstörung. Konvergenzen in Theorie und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer. 80-95.
Stein , R. (2013): Kritik der ICF-CY – eine Analyse im Hinblick auf die Klassifikation von Verhaltensstörungen. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 64 (3), 106-115.
(Weitere Literatur siehe Lehrstuhlhomepage.)Roland Stein, Würzburg 23
Ausgewählte weiterführende Literatur
Ahrbeck, B. & Willmann, M. (Hrsg.) (2010): Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Ein Handbuch. Stuttgart.
Fingerle, M. (2010): Grundlagen einer ressourcen-orientierten Förderdiagnostik im Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung. In: Ahrbeck, B. & Willmann, M. (Hrsg.) (2010): Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Ein Handbuch. Stuttgart. 182-188.
Gasteiger-Klicpera, B., Julius, H. & Klicpera, C. (Hrsg.) (2008): Sonderpädagogik der sozialen und emotionalen Entwicklung. Göttingen.
Huber, C. & Grosche, M. (2012): Das response-to-intervention-Modell als Grundlage für einen inklusiven Paradigmenwechsel in der Sonderpädagogik. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 63 (8), 312-322.
Kleber, E.W. (1992): Diagnostik in pädagogischen Handlungsfeldern. Weinheim.
Myschker, N. (2009, 6. Aufl.): Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Stuttgart.
Seitz, W. (2003): Diagnostik bei Störungen des Erlebens und Verhaltens. In: Leonhardt, A. & Wember, F.B. (Hrsg.)I: Grundfragen der Sonderpädagogik. Weinheim. 218-243.
WHO (Hrsg.) (2011): ICF-CY. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. Bern: Huber.
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Literatur, Forschungsprojekte, Lehre:
http://www.sonderpaedagogik-v.uni-wuerzburg.de
Roland Stein, Würzburg 25
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Frage für die Gruppendiskussion
„Inwiefern sollte Diagnostik im Modellversuch IBB weiterentwickelt werden?
Über welche Basis verfügen wir bereits?
Was benötigen wir für eine Weiterentwicklung?“
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Thesen Gruppendiskussion
„Förderberufsschulen sollten aufgelöst werden!“
Ja – nein?
Unter welchen Bedingungen?
Warum?
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Thesen Gruppendiskussion
„Die Weiterentwicklung zu einer inklusiven Berufsbildung steht noch am Anfang .... Das Ziel inklusiver Bildung für Risikogruppen liegt noch in weiter Ferne und eine Annäherung in der Bildungspraxis ist z.Zt. noch mit vielen Fragezeichen versehen.“
Was sind wichtige Schritte?
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Thesen Gruppendiskussion
„Ausbildungsordnungen setzen verbindliche Standards für alle Schülerinnen und Schüler. Lernzielgleiches Unterrichten verhindert inklusive Bildung!“
Stimmt dies?
Wie wäre lernzieldifferentes Unterrichten erreichbar?
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