andreas kemper: „arbeiterkinder an hochschulen“ ringvorlesung „pädagogisches handeln ii“...
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Andreas Kemper:„Arbeiterkinder an Hochschulen“
Ringvorlesung„Pädagogisches Handeln II“
11.01.2012
Gliederung
Geschichte Felder der Diskriminierung von Arbeiterkindern Klassismus Selbstorganisation von Arbeiterkindern
Geschichte
Vor ca. 100 Jahren: Repräsentanz der Studierenden durch
Korporationen „Allgemeine“ Studierendenausschüsse „Arbeiterstudenten“ gab es kaum Deutsches Studentenwerk entstand
Geschichte
Vor ca. 100 Jahren Otto Rühle: „Psychologie des proletarischen
Arbeiterkindes“ Mehrfachunterdrückung Schläge zuhause und in der Schule „proletarische Protestmännlichkeit“ Selbstorganisierung von Arbeiterkindern
Geschichte
1930 – 1950 NS-Arbeiterideologie NAPOLA: 6000 Arbeiterkinder Aber: Zahl der Arbeiterkinder an Hochschulen sank
absolut und relativ auf 2%
Geschichte
1930 – 1950 1933 Erbgesundheitsgesetz
Über 100.000 Hilfsschüler_innen werden zwangssterilisiert
„angeborener Schwachsinn“ Eine Rehabilitation fand erst in den 1970er Jahren statt
1938 Reichsschulgesetz „Bildungsunfähigkeit“
Geschichte
1930 – 1950 Rassenhygieniker erhalten nach 45 wieder
Lehrstühle Beispiel: Dekane der Uni-Klinik Münster nach 45:
Jötten (Gutachten zu 4.300 Hilfsschülern) Verschuer (Doktorvater von Mengele) Mauz (Beteiligung T4) Replau (Gutachten zu 4.300 Hilfsschülern)
Gechichte
1930 – 1950 Bundesrepublik Kontroverse zum gegliederten Schulsystem Alliierte ZOOK-Kommission (Direktive 54):
Das hochselektive deutsche Schulmodell ist sozial ungerecht und fördert die Untertanenmentalität
Einheitsschule: sechsjährige Grundschule mit aufeinanderfolgenden Abschnitten
Geschichte
1930 – 1950 DDR
Neulehrer Abschaffung der Prügelstrafe Einheitsschule Arbeiter- und Bauernfakultäten Anzahl der studierenden Arbeiterkinder:
1958: 53%; 1967: 30%; 1988: 10%
Geschichte
1930 -1950 Kontroverse um das gegliederte Schulsystem
Beispiel Niedersachen: Bildungsgutachten durch den Rassenhygieniker Karl Valentin Müller (1946) Es gibt angeboren drei Begabungstypen, die Zahl der
Gymnasiasten sollte nicht mehr als 10% betragen Das selektive Bildungssystem muss bleiben.
Geschichte
Bildungskatastrophe „Bildungskatastrophe“ (Picht 1966) Bemühungen den Anteil studierender Arbeiterkinder
zu erhöhen BAFöG Gesamtschulen / Gesamthochschulen Steigerung von 5% auf 10% Arbeiterkinder Mitte der 1970er Jahre brechen
Reformbemühungen ab
Geschichte
1966 – 2000 Paradigma „Chancengleichheit“ Formale gleiche Bildungschancen für Arbeiterkinder Leistungsideologie
Ab 2000 Paradigma „Chancengerechtigkeit“ Ökonomisierung, Privatisierung Elite-, Exzellenz- und Hochbegabungsorientierung „Gerechte Chancen“ statt „gleiche Chancen“ Demografisierung der Sozialpolitik „Nachhaltige Familienpolitik“ als Bevölkerungspolitik
Felder der Diskriminierung
Elterngeld Kita Schulübergang Bildungsschwellen Stipendien
Felder der Diskriminierung
Elterngeld Erziehungsgeld (1986 - 2007)
sozialkompensatorisch für ärmere Familien 300 Euro monatlich zwei Jahre lang
Felder der Diskriminierung
Elterngeld Demografie-Debatte 2005 Falsch interpretierte Zahlen zur Akademikerinnen-
Kinderlosigkeit „In Deutschland kriegen die Falschen die Kinder“
(Daniel Bahr, FDP) Elterngeld-Vorschlag nach schwedischem Vorbild
von Renate Schmidt (SPD)
Felder der Diskriminierung
Elterngeld Elterngeld
einkommensabhängig zunächst Beträge zwischen mind. 300 Euro monatl. (bei
keinem Einkommen) und max. 1800 Euro monatlich (bei hohem Einkommen) für ein Jahr
Proteste gegen Mindestsockel: „Stoppt die Vermehrungsprämie für Sozialhilfemütter!“ (Prof. Heinsohn)
Quasi-Abschaffung des Mindestsockels: seit 1.1.2011 wird Elterngeld mit ALGII verrechnet.
Felder der Diskriminierung
KITA „Mit zunehmendem Einkommen und
Bildungsniveau der Eltern steigt auch die Kindergartenbesuchsrate. Untere Einkommensgruppen können sich die Kita oft schlicht nicht leisten. Manche Bundesländer haben zwar die Gebühren nach dem Einkommen gestaffelt, was bei ärmeren Familien zu einer Gebührenfreiheit führen kann; aber dieses Verfahren wird eben längst nicht bundesweit praktiziert.“ (IW Köln, Januar 2010)
Felder der Diskriminierung
KITA „Die Bildungsforschung zeigt, dass Grundschüler,
deren Mütter nur über geringe Bildungsqualifikationen verfügten, ihre Chancen auf einen Wechsel an eine Realschule oder ein Gymnasium deutlich erhöhten, wenn sie bereits als relativ kleines Kind im Alter von drei oder vier Jahren in einen Kindergarten gegangen waren.“ (IW Köln, Januar 2010)
Felder der Diskriminierung
Schulübergang LAU-Studien Hamburg (1996, 1998) IGLU-Studien (2001, 2006) „Hradil“-Studie zu Schulen in Wiesbaden (2008) WZB-Studie (2009) „Vodafone-Studie (2011)
Felder der Diskriminierung
Schulübergang Mindesttestpunkte für eine Gymnasialempfehlung
nach IGLU 2006 Kinder aus der oberen Dienstklasse: 537 Kinder von un- und angelernten Arbeitern und
Landarbeitern: 614 Eltern schicken ihre Kinder aufs Gymnasium ab der
Mindestpunktszahl von Kinder aus der oberen Dienstklasse: 498 Kinder von un- und angelernten Arbeitern und
Landarbeitern: 606
Felder der Diskriminierung
Schulübergang Bei einer Durchschnittsnote von 2,5 erhalten
Schüler_innen in Wiesbaden eine Gymnasialempfehlung mit der Wahrscheinlichkeit von 19,5%, wenn sie der „niedrigsten Schicht“ angehören von 70%, wenn sie der „höchsten Schicht“ angehören(Alexander Schulze, Rainer Unger, Stefan Hradil: Bildungschancen und
Lernbedingungen an Wiesbadener Grundschulen am Übergang zur Sekundarstufe I, Wiesbaden 2008)
Felder der Diskriminierung
Schulübergang Ungleiche Bildungschancen: Welche Rolle spielt
Underachievement (Unterforderung)? Das Underachievement-Risiko ist „für Jugendliche aus
nicht-akademischem Elternhaus 5-mal so hoch wie für Jugendliche aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil über ein abgeschlossenes (Fach-)Hochschulstudium verfügt.“
(Johannes Uhlig, Heike Solga, Jürgen Schupp: Ungleiche Bildungschancen: Welche Rolle spielen Underachievement und Persönlichkeitsstrukturen?, Berlin 2009, S. 19)
Felder der Diskriminierung
Schulübergang Ungleiche Bildungschancen: Welche Rolle spielen
Persönlichkeitesstrukturen? „Bei beiden Herkunftsgruppen hat Offenheit für
Erfahrungen einen positiven Effekt (und in der Tendenz einen höheren Einfluss bei Akademikerkindern). Zudem beeinflusst Gewissenhaftigkeit signifikant nur das Underachievement-Risiko bei Akademikerkindern. Dies bedeutet jedoch, dass sich unter Berücksichtigung von Persönlichkeitsmerkmalen der Herkunftsunterschied im Risiko eines Underachievement noch erhöht.“
(ebd. S. 24)
Felder der Diskriminierung
Schulübergang GratifikationskriseGratifikationskrise entstehen, wenn trotz
Anstrengungen keine Belohnungen folgen. Gratifikationskrisen führen als psychische Belastungen zu psychischen und psychosomatischen Erkrankungen.
Felder der Diskriminierung
Schulübergang Herkunftseffekte bei der Übergangsempfehlung
Primärer Effekt: 51% Ungleiche Noten bei gleicher Leistung: 25,5% Ungleiche Empfehlung bei gleichen Noten: 23,4%
Felder der Diskriminierung
Schulübergang Herkunftseffekte beim Übergang
Primärer Effekt: 41,6% Ungleiche Benotung und Empfehlung: 29,9% Elterliches Entscheidungsverhalten: 28,6%(Kai Maaz, Ulrich Trautwein, Franz Baeriswyl: „Herkunft zensiert?
Leistungsdiagnostik und soziale Ungleichheiten in der Schule“, 2011)
Felder der Diskriminieurng
Bildungsschwellen Von 100 Akademikerkindern erreichen
81 die Sekundarstufe II 71 den Hochschulzugang
Von 100 Nicht-Akademikerkindern erreichen 45 die Sekundarstufe II 24 den Hochschulzugang(DSW-Studie 2009)
Felder der Diskriminierung
Bildungsschwellen Soziale Herkunft nach Studienart
Erststudium: 35% hohe, 15% niedrige soziale Herkunft Postgraduales Studium:39% hohe, 12% niedrige soziale Herkunft Promotionsstudium:54% hohe, 9% niedrige soziale Herkunft
Felder der Diskriminierung
Stipendienvergabe Bewerbungen und davon (bisher!) ZusagenBerufskreis des Vaters:
Arbeiter: 25% Bewerbungen mit 28% Zusagen Angestellter: 29% Bewerbungen mit 31% Zusagen Beamter: 27% Bewerbungen mit 33% Zusagen Selbstständiger: 28% Bewerbungen mit 43% ZusagenStudierende aus Arbeiter- und Migrantenfamilien scheitern
häufiger in den Bewerbungsgesprächen.(Allensbach-Studie: Großer Bedarf – wenig Förderung, 2010, S. 55ff)
Felder der Diskriminierung
Stipendienvergabe Erhalt von Begabtenstipendien (Abinote: 1-1,4)
Arbeiterschicht: 7% Mittelstand: 12,6% Höhere Dienstklasse: 13% Akademikerschaft: 14%
Felder der Diskriminierung
Stipendien Nach sozialer Herkunft:
niedrig: 9% mittel: 19% gehoben: 21% Hoch: 51%(Hochschul-Informations-System: Das soziale Profil in der
Begabtenförderung, April 2009)
Felder der Diskriminierung
Stipendien Studienstiftung des deutschen Volkes:
niedrig: 5% mittel: 14% gehoben: 18% Hoch: 64%
Felder der Diskriminierung
Stipendien Studienstiftung des deutschen Volkes
Zitat des Präsidenten Gerhard Roth nach dem SPIEGEL 12.02.2010:
„Intelligenz sei nun einmal 'dasjenige Persönlichkeitsmerkmal, das am deutlichsten vererbt wird'. Deshalb gelte geradezu als Naturgesetz: 'Intelligente Eltern haben in der Regel intelligente Kinder.' Im Bewerbungsverfahren irgendwelche Bonuspunkte für Arme zu vergeben sei 'nur schwer vorstellbar'.“
Klassismus
Klassismus ist die Diskriminierung aufgrund der wirklichen oder zugeschriebenen sozialen Herkunft bzw. des sozialen Status.
Klassismus
Institutioneller Klassismus trifft sich mit den klassistischen Vorurteilsstrukturen von Menschen innerhalb der Institutionen: Gatekeeper benachteiligen Arbeiterkinder
Klassismus
Pierre Bourdieu Die gesellschaftliche Position und das Kapital einer
Person bestimmen einander Kapital setzt sich zusammen aus
Ökonomischen Kapital Sozialem Kapital Kulturellem Kapital
Klassismus
Pierre Bourdieu Kulturelles Kaptial:
Inkorporiertes Kulturkapital („Auftreten, Redeverhalten“) Objektiviertes Kulturkapital („Was an der Wand hängt“) Institutionalisiertes Kulturkapital („Bildungsabschlüsse“)
Klassismus
Pierre Bourdieu Habitus
Soziale Position führt zur verinnerlichten Disposition Disposition bestimmt Inkorporiertes Kapital Disposition bestimmt Habitus
Klassismus
Pierre Bourdieu Scholastik
Bourdieu versteht unter Scholastik eine bestimmte Einstellung von Akademikern. Geprägt ist die scholastische Einstellung durch das völlige Absehen von den materiellen Grundlagen, die Forschung und Lehre möglich machen.
Klassismus
Pierre Bourdieu Scholastik
Auf der Seite des "Outputs" findet sich die gleiche Ignoranz. Es wird nicht nach dem Nutzen der Wissenschaft für diejenigen gefragt, die die Wissenschaft materiell ermöglichen.
Klassismus
Pierre Bourdieu Habitus-Struktur-Konflikt der Arbeiterkinder an
Hochschulen Stichworte: „Harmonisierung von Feld und Habitus“,
„Bei sich sein“
Klassismus
Soziale Herkunft ist kein offizieller Diskriminierungsgrund Während des Amsterdammer Vertrages 1998
wurde „Soziale Herkunft“ aus dem Katalog geworfen, weil es keine Lobby gab
Untersuchung der ADS zur „Diskriminierungsfreien Hochschule“ hat trotzdem „Soziale Herkunft“ aufgenommen
Selbstorganisierung
Otto Rühle forderte diese bereits vor einhundert Jahren
Keine autonomen AStA-Referate entsprechend Frauenreferat Lesbenreferat Schwulenreferat Referat für behinderte Studierende Ausländische Studierendenvertretung
Selbstorganisierung
Unpolitische Selbstorganisierung / Defizit-Ansatz Arbeiterkind.de
Selbstorganisierung
Neue Gruppen: Fikus-Referat AStA-Uni Münster Dishwasher – Magazin für studierende
Arbeiterkinder Working Class/ Poverty Class Academics
Selbstorganisierung
Vollversammlung studierender Arbeiterkinder der Uni Münster am 18.01.2012 Infos: http://dishwasher.blogsport.de
Vielen Dank!
Andreas Kemper
http://andreaskemper.wordpress.com