arbeit und gesundheit: historische aspekte ihrer gegenseitigen beziehungen

7
BerWissGesch 3, 214-220 (1980) Arbeit und Gesundheit Historische Aspekte ihrer gegenseitigen Beziehungen Berichte zur WISSENSCHAFTS- GESCHICHTE < · Akademische Verlagsgesellschart 1980 Bericht über eine Tagung der "International School of History of Biological Sciences" in Ischia/Neapel vom 29. Juni bis 12. Juli 1980. Etwa 45 Wissenschaftler und fortgeschrittene Studierende biologischer, historischer und soziologischer Fachrichtungen aus Italien, Frankreich, Großbritannien, aus den Vereinig- ten Staaten von Amerika, aus Jugoslawien und je ein Teilnehmer aus Dänemark, Schweden, aus der Bundesrepublik Deutschland und aus Brasilien kamen in Ischia zusammen. Die Insel im Tyrrhenischen Meer mit ihrem ausgeglichenen Klima und der für den Nordländer außergewöhnlichen Natur bildet einen vorzüglichen Ausgangspunkt für Wanderungen in die Vergangenheit, die in mannigfaltiger Gestalt in den Gegenständen der Natur, Kunst und Wissenschaften in die Gegenwart hineinragt. Obgleich wie G. W. Leibniz 1689 die Reisenden noch im 17. Jahrhundert Norditalien und Rom bevorzugten, wandten sich doch die Naturforscher dem Süden zu. Unter ihnen ragte der Däne Thomas Bartholirr hervor, der mehrere Monate in Neapel das Medizinal- wesen studierte und 1644 nach Sizilien und Malta reiste, wo er die rätselhaften Glossopetrae sammelte und beschrieb 1 Deren zutreffende Identifizierung durch den Vergleich mit re- zenten Haifischgebissen gelang dem forschungseifrigen Nachfolger Niels Stensen, der sich während seines mehrjährigen Aufenthalts in Italien und auf seiner weiten Reise durch Europa 1668-70, die ihn von Florenz zuerst über Rom nach Neapel führte 2 , anatomischen und geologischen Studien widmete. Die Gegend von Neapel durchwanderte auch Goethe mit den Augen des Naturforschers und Geologen, der nach seiner Ankunft im März 1787 sogleich den Vesuv bestieg und plante: " Ich komme sobald zurück, als mir möglich ist, sobald ich mir nur eine gewisse Art von Kenntnissen von diesem Lande erworben, sobald ich das Merkwürdigste von Natur und Kunst gesehen habe" 3 . Die Einzelheiten der geologischen Erscheinungen, der südländischen Vegetation, die ihn das Idealbild der Urpflanze schauen ließ 4 , der "Früchte des Meeres", des täglichen Lebens der Bevölkerung und der Kunst- gegenstände beobachtete Goethe bis in die Umgebung von Neapel, wo er unter anderem den sogenannten "Tempel des Serapis", eigentlich den antiken Marktplatz in Pozzuoli, dessen Boden jetzt in einem Teich liegt, in einem Manuskript mit einer Aufrißzeichnung schilderte 5 Goethes Spuren folgten nicht nur unmittelbar die Herzogin von Sachsen- Weimar Anna Amalia 1788-90 und in ihrem Gefolge der weniger begeisterungsfahige Johann Gottfried Herder oder Friedrich Leopold Graf zu Stolberg 1791-92, der auch in Ischia weilte 6 , sondern auch zahlreiche weitere Literaten, bildende Künstler und Natur- forscher, unter denen das Dreigestirn Alexander von Humboldt, Joseph Louis Gay-Lussac und Leopold von Buch hervorragte 7 Sie wurden durch ein ungewöhnlich starkes Erdbeben und den Ausbruch des Vesuvs im Juli 1805 angezogen. Humboldt und Gay-Lussac unter- suchten in Neapel die Erscheinungen der "tierischen Elektrizität" an Fischen. Der Geologe L. von Buch bestieg mit Gay-Lussac den Vesuv, den Monte Nuovo bei Pozzuoli und am

Upload: brigitte

Post on 05-Dec-2016

213 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

BerWissGesch 3, 214-220 (1980)

Arbeit und Gesundheit

Historische Aspekte ihrer gegenseitigen Beziehungen

Berichte zur WISSENSCHAFTS­GESCHICHTE < · Akademische Verlagsgesellschart 1980

Bericht über eine Tagung der "International School of History of Biological Sciences" in Ischia/Neapel vom 29. Juni bis 12. Juli 1980.

Etwa 45 Wissenschaftler und fortgeschrittene Studierende biologischer, historischer und soziologischer Fachrichtungen aus Italien, Frankreich, Großbritannien, aus den Vereinig­ten Staaten von Amerika, aus Jugoslawien und je ein Teilnehmer aus Dänemark, Schweden, aus der Bundesrepublik Deutschland und aus Brasilien kamen in Ischia zusammen. Die Insel im Tyrrhenischen Meer mit ihrem ausgeglichenen Klima und der für den Nordländer außergewöhnlichen Natur bildet einen vorzüglichen Ausgangspunkt für Wanderungen in die Vergangenheit, die in mannigfaltiger Gestalt in den Gegenständen der Natur, Kunst und Wissenschaften in die Gegenwart hineinragt.

Obgleich wie G. W. Leibniz 1689 die Reisenden noch im 17. Jahrhundert Norditalien und Rom bevorzugten, wandten sich doch die Naturforscher dem Süden zu. Unter ihnen ragte der Däne Thomas Bartholirr hervor, der mehrere Monate in Neapel das Medizinal­wesen studierte und 1644 nach Sizilien und Malta reiste, wo er die rätselhaften Glossopetrae sammelte und beschrieb 1

• Deren zutreffende Identifizierung durch den Vergleich mit re­zenten Haifischgebissen gelang dem forschungseifrigen Nachfolger Niels Stensen, der sich während seines mehrjährigen Aufenthalts in Italien und auf seiner weiten Reise durch Europa 1668-70, die ihn von Florenz zuerst über Rom nach Neapel führte 2

, anatomischen und geologischen Studien widmete. Die Gegend von Neapel durchwanderte auch Goethe mit den Augen des Naturforschers und Geologen, der nach seiner Ankunft im März 1787 sogleich den Vesuv bestieg und plante: " Ich komme sobald zurück, als mir möglich ist, sobald ich mir nur eine gewisse Art von Kenntnissen von diesem Lande erworben, sobald ich das Merkwürdigste von Natur und Kunst gesehen habe"3

. Die Einzelheiten der geologischen Erscheinungen, der südländischen Vegetation, die ihn das Idealbild der Urpflanze schauen ließ4

, der "Früchte des Meeres", des täglichen Lebens der Bevölkerung und der Kunst­gegenstände beobachtete Goethe bis in die Umgebung von Neapel, wo er unter anderem den sogenannten "Tempel des Serapis", eigentlich den antiken Marktplatz in Pozzuoli, dessen Boden jetzt in einem Teich liegt, in einem Manuskript mit einer Aufrißzeichnung schilderte5

• Goethes Spuren folgten nicht nur unmittelbar die Herzogin von Sachsen­Weimar Anna Amalia 1788-90 und in ihrem Gefolge der weniger begeisterungsfahige Johann Gottfried Herder oder Friedrich Leopold Graf zu Stolberg 1791-92, der auch in Ischia weilte6

, sondern auch zahlreiche weitere Literaten, bildende Künstler und Natur­forscher, unter denen das Dreigestirn Alexander von Humboldt, Joseph Louis Gay-Lussac und Leopold von Buch hervorragte 7• Sie wurden durch ein ungewöhnlich starkes Erdbeben und den Ausbruch des Vesuvs im Juli 1805 angezogen. Humboldt und Gay-Lussac unter­suchten in Neapel die Erscheinungen der "tierischen Elektrizität" an Fischen. Der Geologe L. von Buch bestieg mit Gay-Lussac den Vesuv, den Monte Nuovo bei Pozzuoli und am

Dokumentation und Information 215

9. August 1805 den Monte Epomeo auf Ischia, um die vulkanischen Bildungen zu er­forschen8. Die damals noch kaum untersuchte Fauna der wirbellosen Meerestiere zog den jungen Ernst Haeckel 1859 an den Golf von Neapel, wo er bei einer nächtlichen Schiffs­fahrt nach Ischia den aus Friesland stammenden Poeten und Kunstkenner Hermann All­mers als Gefährten fand, der mit dem Naturforscher wanderte und dem Maler Haeckel neue Wege in die Gefilde der Kunst erschließen half'l.

Dieser Tradition folgte der Zoologe in Jena, Goetheverehrer und Kunstfreund, dessen Vater der langjährigen Freundschaft Alexander von Humboldts die maßgebliche Förderung verdankt hatte, Anton Dohrn, als er 1871/72 die Zoologische Station in Neapel gründete 10

Von da aus suchte er Erholung in Ischia, wobei er sich 1879 mit den Malerfreunden Hans von Marees und Arnold Böcklin traf11

. Dort konnte er dank einer Spende 1905/06 auf dem Hügel San Pietro über der Hafeneinfahrt von Ischia als Erholungsstätte die Villa "Aqua­rium" erstellen, die mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Stiftung Volkswagenwerk der Zoologischen Station in Neapel erhalten blieb und jetzt als Außen­stelle der meeresökologischen Forschung dient. Diese historische Stätte bot abseits des lärmenden Tourismus hoch unter dem gewölbten Dach einen über mehrere Stiegen durch den Garten und das Gebäude zu erklimmenden Raum, von dem aus mit den Blicken über die rauschenden Wipfel der Eukalyptusbäume und Pinien hinweg die Gedanken zu kultur­und wissenschaftshistorischen Betrachtungen in "gelöster Freiheit" wandern konnten.

Bei dem Treffen wurden in ausführlichen Vorträgen und Diskussionen mehrere Schwer­punkte der historischen Aspekte der Beziehungen zwischen Arbeit und Gesundheit in naturwissenschaftlicher, medizinischer, technischer, ökonomischer und soziologischer Hinsicht erörtert. Die ersten Arbeitstage waren der Entwicklung der naturwissenschaft­lichen Erkenntnis der physikalischen, chemischen und biologischen Phänomene von Arbeit, Leistung und Energie gewidmet. Die Geschichte der Entdeckung des Prinzips der Erhaltung der Energie durch J. R. Mayer und dessen Aufnahme in die zeitgenössische Physik und Physiologie, insbesondere durch die Arbeiten von Hermann von Helmholtz legte V. Cappelletti aus Rom dar 12

• Eine ausführliche Übersicht über die Lehrmeinungen und Forschungen zur Bewegung, Kontraktion und Funktion der Muskeln von der Antike bis zu den Anfängen der Experimentalphysiologie zur Zeit von Albrecht von Haller gab E. Bastholm aus Kopenhagen 13

. Über biologische Ursprünge der physikalischen Konzepte "Kraft", "Arbeit" und "Energie" bis zur Erstellung des Energieprinzips sprach B. Hoppe aus München. Sie wurden neben der Bearbeitung von Problemen der anorganischen Natur bei der Deutung biologischer Phänomene wie der Ortsbewegung von Tieren oder ihren Körperteilen und der technischen Anwendung der Muskelkräfte entwickelt oder aus den Vorstufen einer spekulativen Begrifflichkeit, die auch in der Naturwissenschaft nicht er­forschbare Annahmen und transzendentale Begriffe gelten ließ, in naturwissenschaftlich de­finierbare Konzepte überführt. In seinem Referat über "Retrospect on the energetics of metabolism" legte J. Fruton aus New Haven die Entwicklung zweier Gebiete der Bio­chemie des tierischen Stoffwechsels dar: l) die Entstehung der Kalorimetrie und der Er­kenntnis der physiologisch-chemischen Grundvorgänge seit Lavoisier/Laplace, A. Craw­ford, H. G. Magnus, Liebig über T. Andrews, M. Berthelot, die "Münchner Stoffwechsel­schule" mit Pettenkofer, Voit und Rubner bis zu C. Richet, W. 0. Atwater, F. G. Bene­dict und E. F. Du Bois, 2) die Ausbildung der intrazellulären Bioenergetik durch M. Traube, E. Pflüger, P. Ehrlich über W. Ostwald, A. N. Bakh bis zu den Arbeiten von 0. Warburg, D. Keilin, G. Embden, 0. Meyerhof, H. A. Krebs, S. Ochoa und H. M. Kalckar14

Die folgenden Sitzungen waren der Physiologie und Pathologie der Arbeit gewidmet. Einen Überblick über die Entfaltung der Arbeitsphysiologie gab M. Valentin aus Saint­Cloud/Frankreich. Hinweise auf Gefährdungen der Gesundheit bei Arbeitsverrichtungen und auf Schutzvorrichtungen finden sich seit den Frühkulturen in Ägypten, im griechischen

216 Dokumentation und Information

und römischen Kulturkreis, bei Lukrez, Vitruv, Dioskurides, Celsus, Plinius und dem Rhetor Julius Pollux, wiederholt bei Galenos, Paulos von Aegina und den mittelalterlichen Fach­schriftstellern. Erst seit dem 13. Jahrhundert setzten planmäßige Studien der Arbeitsbe­dingungen und -krankheiten ein, bei Arnald von Villanova, Leonardo da Vinci und G. Agri­cola. Im 17. Jahrhundert begannen die Naturforscher der Akademien, die Wirkungsfähig­keiten der hauptsächlichen Energiequelle, der animalischen Muskelkräfte, quantitativ zu erforschen. Im 18. Jahrhundert, in dessen zweiter Hälfte sich auch in Frankreich der Ein­fluß des Werks von Ramazzini (1700, 1777 durchA. F. Fourcroy übersetzt) geltend machte, wurden Probleme der "Ergonomie" (Fachwort geprägt 1857 durch Adalbert Jastrzebowski, den polnischen Naturwissenschaftler und Agronomen) durch Ingenieure und Naturwissen­schaftler bearbeitet. Unter den sich seit 1800 häufenden Arbeiten zur Ergonomie wurden die neue Forschungsrichtungen und Methoden einführenden Studien von Lavoisier zum respiratorischen Stoffwechsel, die statistische Erfassung der Arbeitsbedingungen von Handwerkern und von Maschinen bedienenden Arbeitern durch L. R. Villerme (1840, 1850), die arbeitsphysiologischen Forschungen an Tier und Mensch von A. Chauveau und von E. J. Marey, die graphische Methoden und die Chronophotographie entwickelten, bis zu der Gesamtdarstellung "Le Moteur Humain" 1914 von Jules Amar unter bevorzugter Berücksichtigung der Entwicklung in Frankreich hervorgehoben 15

. Das Aufkommen der "Pathologie du travail" während der industriellen Revolution in Frankreich (1775-1850) legte V-P. Comiti aus Paris dar, indem er das Erkennen und Bekämpfen von durch die Arbeitsverhältnisse entstehenden Krankheiten untersuchte. Außer den direkt durch indu­strielle Arbeiten hervorgerufenen Krankheiten erwiesen sich Erkrankungen, die durch un­genügende Ernährung, überanstrengung und üble Umweltbedingungen hervorgebracht, und schließlich die durch die Umweltbeeinträchtigung durch bestimmte Industriebetriebe verursachten Gesundheitsschäden als typisch.

über die Beziehungen zwischen Arbeit und Medizin in der Antike und im Mittelalter sprach M. D. Grmek aus Paris. Aufgrund von materiellen überresten wie Skelettfunden mit pathologischen Veränderungen lassen sich Berufskrankheiten wie Silikose, Bilharziose, durch Arbeiten im Landbau verursachte Verletzungen seit dem Neolithikum nachweisen. Seit der Antike geben schriftliche Quellen, auch Ostraka, unterschiedlicher Fachrichtungen wie naturkundliche, historische, geographische und technologische Beschreibungen, Werke der Dichtkunst, aber wenige medizinische Fachschriften Auskunft über die Kenntnisse von Berufskrankheiten, über Maßnahmen zu ihrer Verhütung und Heilung und über die Beachtung der Lebensbedingungen des arbeitenden Menschen. Vor allem die Arbeits­situation in Bergwerken und beim Landbau, aber auch von Geistlichen erregte die Auf­merksamkeit von Schriftstellern wie Xenophon im Oikonomikos, Plautus in den Komödien, Iuvenal in seinen Satiren, von Lukrez, dem Geschichtsschreiber Diodoros Siculus aus dem 1. Jahrhundert vor Christus, der die Arbeitssituation in Bergwerken in Ägypten, Griechen­land und Spanien beschrieb, von Dioskurides, Plinius, Vitruv, Celsus und anderen. Während im Corpus Hippocraticum unter anderem die Bleivergiftung und eine bei der Herstellung von Waffen entstandene Verletzung erwähnt werden, läßt sich bei Galenos keine Ausein­andersetzung mit den Fragen der Arbeitsmedizin nachweisen. Nachdem auch im Mittel­alter nur einzelne entsprechend in der Literatur verstreute Erwähnungen von berufs­medizinischen und arbeitshygienischen Problemen zu finden sind, läßt sich nach Grmek ihre Anerkennung als eine Aufgabe der medizinischen Fachwissenschaft erst seit dem An­fang der Neuzeit feststellen.

Das WerkDemorbis artificium von 1700 des Mediziners Bernardino Ramazzini, der in Modena wirkte, analysierte P. di Pietro aus Modena, der die erhaltenen Korrespondenzen und die Verbreitung und Erhaltung der Schriften von Ramazzini untersucht hat 16• Die durch Ramazzini selbst genannten Vorläufer, die sich noch nicht sämtliche nachweisen

Dokumentation und Information 217

ließen, reichen mit einem Augsburger namens Ellenbogen (1473), M. Ficino, Paracelsus, G. Agricola, G. Grataroli, J. R. Glauberund anderen bis ins 15. Jahrhundert zurück, frühere Manuskripte über Berufskrankheiten lassen sich vermuten. Das Werk von Ramazzini, der als der hauptsächliche Begründer der Arbeitsmedizin gilt, stellt vielmehr eine Sammlung der früheren und zeitgenössischen Kenntnisse über Berufskrankheiten dar. Indem Ramaz­zini selbständig und zum Teil über die Lehren der Schulmedizin hinausgehend nach Ur­sachen in der Konstitution einzelner Personen und in den sozialen Umweltbedingungen suchte, wurde nach Di Pietro seine Arbeit ein Beitrag sowohl zur Pathologie der Gewerbe­krankheiten als auch zur Psychologie und Psychosomatik. Eine auf Originaldokumente der ökonomischen und der Medizinalverwaltung von Paris und Umgebung gestützte Darstel­lung der Entstehung der Gewerbe- und Stadthygiene in Frankreich vom 18. zum 19. Jahr­hundert gab J.-P. Goubert aus Paris. Dabei kamen unter anderem die Probleme der Was­serversorgung, der Ansiedlung und Erweiterung von Gewerben, Manufakturen und Indu­striezweigen und der Ausbau der Stadtsiedlung zur Sprache.

Über die sich ebenfalls in außereuropäischen Kulturen seit dem 1 7. Jahrhundert an­bahnenden Wandlungen im Verhältnis des Menschen zur Arbeit und die daraus für die Medizin erwachsenden Konsequenzen sprach P. Huard aus Paris in einem übersichtsre­ferat zu "M&iecine et travail dans l'Ancienne Chine" 17

• Aufgrund von medizinischen und technologischen Schriften als Quellen gab er einen Einblick in die traditionellen Formen der chinesischen Landwirtschaft und Gewerbe wie die Seidenraupenzucht und die Herstel­lung und Verarbeitung von Seide mit ihren Arbeisbedingungen, die sich durch Mechani­sierung und Automatisierung der Hilfsmittel und Geräte und die Umbildungen der Arbeits­organisation änderten. In den frühneuzeitlichen Veränderungen der Arbeitswelt in Hand­werken und Manufakturen lassen sich den westlichen Kulturen vergleichbare Entwicklungen feststellen, an die sich aber im Gegensatz zu den westlichen Ländern kein Aufschwung der Industrialisierung im 19. Jahrhundert anschloß. Eine Arbeitsmedizin kam gleichfalls erst in neuer Zeit auf.

Die Bedeutung der frühen industriellen Revolution in Großbritannien für weitreichende Wandlungen der Arbeitswelt, der Lebensbedingungen (Entstehung großer Städte) und der Gesellschaft in England und anschließend in Deutschland, Italien, Frankreich und weiteren Ländern des Kontinents schilderte Rupert Hall aus London. Er unterschied zwei Phasen, deren erste von 1760 bis 1 790 er durch die Erfindung der Dampfmaschine von Newcomen, die Einführung des Verfahrens der Eisenerzverhüttung mittels Steinkohle und des Ausbaus der Textilindustrie geprägt sah, und deren zweite von 1790 bis 1830 er durch die Erfindung der Dampfmaschine von Watt, den Aufschwung der Eisen- und Stahlindu­strie, die Verbesserung und Verbreitung von Werkzeugmaschinen und die Einftihrung der Eisenbahn charakterisierte. R. Hall zeigte die Rückwirkungen der Industrialisierung auf die Umwelt bis zum Arbeitsethos und dem Selbstverständnis des Arbeitenden auf. Die Entwicklung der chemischen Industrie in Großbritannien im 19. Jahrhundert legte Marie Boas-Hall aus London dar. Mit der Gründung einer ersten Sodafabrik 1820 in Liverpool durch J. Muspratt, die das Leblanc-Verfahren erfolgreich auswertete, und dem Ausbau chemischer Werke an den Hauptorten Widnes und Tyne seit etwa 1830 nahm die che­mische Industrie ihren Aufschwung. Gegen Ausgang des 19. Jahrhunderts wurden Probleme des Umweltschutzes aufgeworfen, aber nur mangelhaft gelöst.

Weiteren Fragen der Arbeitsmedizin und der sozialen und psychologischen Aspekte der Arbeitswelt waren die folgenden Sitzungen gewidmet. Auf ihren Inhalt sei nur noch hin­gewiesen, da mich meine Lehrpflichten vorzeitig abriefen. Zur Geschichte der Arbeits­medizin seit der Zeit der industriellen Revolution waren die folgenden Vorträge angekün­digt:

218 Dokumentation und Information

J. C. Garcia, Washington: Development of the concepts of fatigue and weariness in Latin America; V Navarra, Baltimore: Evolution of the work process in the United States and its implica­tions in health and medidne; F. Della Peruta, Milano: Social consequences of the main industrial diseases; V. Janlert, Lulea/Schweden: Unemployment and health-changing concepts in the 20th century.

Weitere Vorträge galten den sozialen und psychologischen Aspekten der Arbeit: B. Belicza, Zagreb: The struggle for health and social institutional achievements; F. Carnevale, Verona: Evolution of the pathology of work. The Italian case 1890-1960; C. Castellani, Milano: From factory pollution to the protection of workers. An exemplary case; R. Misiti, Roma: The psychology of work.

Die Vorträge unterschiedlicher Fachrichtungen, die sowohl übersichtsdarstellungen zur Geschichte der Physiologie, Medizin und Soziologie der Arbeit in bezugauf einzelne Sach­gebiete, auf Perioden oder auf einzelne geographische Regionen darboten, als auch über Einzeluntersuchungen zu einigen enger begrenzten Problemkreisen, hauptsächlich aus der neuzeitlichen Entwicklung referierten, gaben eine vielseitige Einsicht in die Thematik. Sie vermittelten einen überblick über die seit etwa drei Jahrzehnten publizierten Materialien und Erkenntnisse und über die jüngst und die eigens für das Symposium erarbeiteten Er­gebnisse über einzelne Teilgebiete und Aspekte der Beziehungen zwischen Arbeit und Ge­sundheit. Außer den umfang- und inhaltsreichen historischen Ereignissen und Wandlungen kamen auch die neueren Entwicklungen, die bis zur Gegenwart wirken oder noch gleicher­maßen bedeutend sind, zur Sprache. Die fundierten ausführlichen Referate wurden durch ausgiebige, weitere Gesichtspunkte und neu auftauchende Fragen liefernde Diskussionen ergänzt.

Abschließend sei erwähnt, daß den Teilnehmern die Möglichkeit geboten wurde, kultur­und wissenschaftsgeschichtlich hervorragende Stätten außerhalb von Ischiakennenzulernen. Neapel und die Zoologische Station mit den Laboratorien und dem Aquarium, das sich noch im Zustand des 19. Jahrhunderts befindet, und mit dem von Hans von Marees aus­gemalten Bibliothekssaal erinnerten an das Werk von Anton Dohrn vor hundert Jahren. In die eigentümliche Vulkanlandschaft der Solfatara bei Pozzuoli, wo Zinnober und die durch Vitruv und Plinius gerühmte, als eine Art Zement verwendete Pozzuolanerde, pulvis Puteolanus, gewonnen wurden, führte die Fahrt zu den Campi Flegrei bei Neapel, welche die überreste der frühen griechischen Kolonien aus dem 8. Jahrhundert vor Christus mit den römischen Nachfolgesiedlungen in Cumae, Baia und dem mehrstöckigen Amphitheater des Flavius und dem durch Goethe bewunderten "Tempel des Serapis" in Pozzuoli aufweisen. Schließlich konnte auch eine Fahrt nach Capri zur Blauen Grotte, in die einst Ernst Haeckel hineinschwamm, zu den von den blühenden, duftenden Ginster­sträuchern umkränzten felsigen Kalkhügeln, die wie viele Dichter auch Freund Allmers und Viktor von Scheffel besangen, und zu der von dem Arzt und Schriftsteller Axel Munthe geschaffenen Sammlung mit auserlesenen antiken Gegenständen am Felshang über dem Meer die reiche Kulturtradition des Okzidents vor Augen führen.

1 Axel Garboe: Thomas Bartholin, Teil I-II. (Acta Historica Scientiarum Naturalium et Medicinalium, Vol. 5, 6). K~benhavn 1949-1950. Vgl. I, 60-74.

2 Niels Stensen: Das Feste im Festen (1669). Deutsche Übersetzung von Kar! Mieleitner, ergänzt von Gustav Scherz. (Ostwalds Klassiker, N.F., Bd 3) Frankfurt am Main 1967, S. 17f., 81-83, Anm. 103.- 'Gustav Scherz: Pionier der Wissenschaft. Munksgaard 1963, S. 27, 204.

Dokumentation und Information 219

3 Briefe an Seidel vom 3. März und an Friedrich von Stein vom 10. März 17 87 aus Neapel; vgl. Goethes Werke, hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abth. IV, Bd 8, Weimar 1890, S. 207f., 209~228 weitere Briefe bis zum 1. Juni 1787 aus Neapel mit dem Schluß (S. 228) in einem Brief an Charlotte von Stein: "Übrigens gehe ich gern aus Neapel, denn im Grunde habe ich hier nichts zu thun und das bunte Leben ist meine Sache nicht. Von dem Feldbau in der Terra di Lavoro hätte ich mich gerne gründlicher unterrichtet, wenn ich Zeit gehabt hätte."

4 Goethes sämtliche Werke, hrsg. von Karl Goedeke. Bd 22, Stuttgart [1893]. S.140~175: Italieni­sche Reise, über den Aufenthalt in Near>el, vgL s; 143 über "ein Schauspiel neuer Vegetation". S. 174 über die Urpflanze, S. 144: "Hier fand ich am Ufer die ersten Seesterne und Seeigel ausge­spült ... merkwürdige Geschiebe ... "; Bd 23, Stuttgart und Berlin [1893], S. 9~29, 10: "An Herder ... Ferner muß ich Dir vertrauen, daß ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und -Organisation ganz nahe bin und daß es das Einfachste ist, was nur gedacht werden kann. Unter diesem Himmel kann man die schönsten Beobachtungen machen ... Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüs­sel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen".

5 Dorothea Kuhn: Auch ich in Arcadien, Kunstreisen nach Italien 1600~1900 (Katalog Nr. 16 der Sonderausstellung des Schiller-Nationalmuseums in Marbach). (2. Aufl. Stuttgart 1966), S. 77 ~ 113, 96f. Nr. 112 und 113 Goethe über den "Tempel des Serapis", Nr. 114 Goethe: "Eilige Anmerkungen über den Vesuv", 19. März 1787.

6 D. Kuhn (wie Anm. 5), S. 113~119 Nr. 145~152; S 130f. Nr. 180. 7 D. Kuhn (wie Anm. 5), S. 139~142, 158f. Nr. 219. ~ Edmond Blanc I Uon Delhoume: La vie

emouvante et noble de Gay-Lussac. Paris 1950, S. 55~60; kurz wird die Reise erwähnt bei Maurice Crosland: Gay-Lussac. Scientist and bourgeois. Cambridge (1978), S. 37.

8 Leopold von Buch beschrieb seine Ergebnisse ausfUhrlieh in: Geognostische Beobachtungen auf Reisen durch Deutschland und Italien. Bd 1~2, Berlin 1802~1809. Von dieser Schrift sind Teile enthalten in: Leopold von Buch's Gesammelte Schriften, hrsg. von J. Ewald, J. Rothund H. Eck, Bd 1, Berlin 1867. Hierin S. V-XLVIII J. Ewald: Leopold von Buch's Leben und Wirkenbiszum Jahre 1806. S. XL V-XL VIII über L. v. Buchs zweite Reise zu den Vulkanen Unteritaliens 1805 mit A. v. Humboldt und J. L. Gay-Lussac, auf der sie am 26. Juli 1805 das starke Erdbeben bei Neapel und am 12. August einen Ausbruch des Vesuvs miterlebten; vgl. S. 132~142: 1801 über Vulkane; S. 386~468: "Neapel", über den Vesuv und die Phlegräischen Felder; S. 551f. über das Erdbeben von 1805; Ebd. Bd 2 Berlin 1870. S. '62~68 über die Beobachtungen am Monte Epomeo auf Ischia 1805.

9 Haeckel und Allmers. Die Geschichte einer Freundschaft in Briefen der Freunde. Hrsg. von Rudolph Koop. (Die Nordwestmark, Bd 11) Bremen 1941, S. 17~50: über den Aufenthalt am Golfvon Neapel und auf Sizilien, wobei eine nächtliche Besteigung des Vesuvs, ein Besuch der Blauen Grotte als Schwimmer und mehrere Wochen der Erkundungswanderungen auf Capri und auf Ischia nicht fehlten. S. 189~193: Zur Erinnerung an den Beginn der Freundschaft verehrte A!lmers Haeckel zum 60. Geburtstag 1894 ein Gedicht: "Neapolitanisches Sommerlied aus dem Jahre 1859", das folgende Strophen enthielt: "Auf Ischia, auf Ischia I Was waren das ftir Stunden! I In ihnen, denkt, hat Haeckel ja I Nicht weit von Casamicciola I Auf gluterftilltem Boden da I Das treu'ste Herz ge­funden. I 1 ... 1 I Messina hat nicht nur 'ne Braut, I Hat auch Radiolaren; I Die müssen freilich äußerst klein, I Weil da das Meer so eng ist, sein; I Doch auch mit kleinsten Rädern kann I Zur Höh' des Ruhms man fahren. II 0 Mittelmeer, o Mittelmeer, I Ach, daß du schmeckst so ekel! I Wenn Capri­wein dein Wasser wär', I Wir tränken dich mit Wonne leer I Und forderten vielleicht noch mehr I Zum Hoch ftir unsern Haeckel!"

10 Theodor Heuß: Anton Dohrn. Tübingen 1940 (1948, 1962). ~ Brigitte Hoppe: Meeresbiologie in den erstenhundert Jahren der Versammlungen Deutscher Naturforscher und Ärzte,Medizinhistorisches Journal 1 (1966), 31~42, vgl. 37~40. Bibliographie der Literatur über die Zoologische Station in Neapel in: The Naples Zoological Station at the Time of Anton Dohrn. Catalogue by Christiane Groeben and Irmgard Müller, English translation by Richard and Christi Ivell. Naples 1975, S. 107~ 110.

11 Th. Heuß (wie Anm. 1011962), S. 314f. ~ Arnold Böcklin 1827~1901. Katalog zur Ausstellung in Basel1977. Bearbeitet von Susanne Burger, Dorothea Christ u. a, Basel(Stuttgart 1977, S. 18f.

12 Vgl. unter anderem dessen Arbeiten über das Mechanismusproblem in der Biologie im 19. Jahrhundert und über Helmholtz; Vincenzo Cappelletti (a): Entelech'ta. Saggi sulle Dottrine BioJogiehe del Secolo Decimonono (Publicazioni dell' Istituto di Filosofia dell' Universita di Roma, XII) [Roma 1965 J Firenze o.J.; Derselbe [Hrg.] (b): Hermann von Helmholtz, Opere [italien. Übersetzung mit Erläu-

220 Dokumentation und Information

terungen]. (Classici della scienza, vol. 9) Torino 1967; Derselbe [Hrg.] (c): Rudolph Virchow: Vecchio e nuovo vitalismo [italienische Übersetzung mit Erläuterungen]. (Colletta piccola della biblioteca filosofica Ja terza) Bari 1969.

13 E. Bastholm: The History of Museie Physiology. From the Natural Philosophers to Albrecht von

14 f:;!~~ ~~c;~u~;s~~r~~~~~~~~:i:~~~i~~t~~~~~~~a~te~:~isc~~~~~~i;;~;~il; ~t~~~~~~~;:~~·biology. 15

New York usw. (1972). Michel Valentin (a): Introduction a l'Histoire de !'Ergonomie. (IXieme Congres Soc. Ergon. Langue Franc., Conservatoire ·Nationale des Arts et des Metiers) Paris 1972; Derselbe (b): Travail des Hommes et Savants Oub!ies, Histoire de Ia Medecine du Travail, de Ia S6curit6 et de !'Ergonomie. Paris 1978.

16 Bernardino Ramazzini: Demorbis artificium ... Diatriba, Editionova Patavii 1713. Faks. Ed. Roma 1953. - Pericle di Pietro (a): Epistolario di Bernardino Ramazzini. Modena 1964; Derselbe (b): Bibliografia di Bernardino Ramazzini. (Collana di Studi i sui Problemi Medico-Sociali, XCIX) Roma 1977.

17 Vgl. Pierre Huard: Structure de Ja medecine chinoise. (Les Conferences du Palais de Ia Decouverte, Serie D, No. 49) Paris 1957; P. Huard I Huang Kuang-Ming (M. Wong): La Medecine chinoise au Cours des Si<~cles. Paris 195 9.

Priv.-Doz. Dr. Brigitte Hoppe Institut flir Geschichte der Naturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München, Deutsches Museum Museumsinseil D-8000 München 26