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    Aufsteigt der Strahl, und fallend gietEr voll der Marmorschale Rund,

    Die, sich verschleiernd, berflietIn einer zweiten Schale Grund;

    Die zweite gibt, sie wird zu reich,Der dritten wallend ihre Flut,Und jede nimmt und gibt zugleich

    Und strmt und ruht.Conrad Ferdinand Meyer

    Das Wesen der Wirklichkeit in der Einheit der GegenstzeReflexionen zum PANTA RHEI = NICHTS IST VON BESTAND

    Dr. phil. Bernhard A. Grimm

    Einen zweifellos wunderschnen Namen trgt diese Akademie und verweist damit auf denwesentlich transitorischen Charakter allen Lebens und der gesamten uns umgebenden Wirk-lichkeit: die einzige Konstante der sichtbaren Welt ist der Wandel, und das heit: ALLES istin stetem Fluss und nichts ist von Bestand. An den Rndern des Wandels jedoch, am Anfangund am Ende, beim Beginn und beim Abschied stehen Gegenstze, die in ihrem Spannungs-reichtum das Werden, das Flieen, die Bewegung, den Fortschritt, die Vernderung erst be-dingen und ermglichen. Diesem Phnomen will ich behutsam nachspren, wenn ich michhier dem vorsokratischen Philosophen Heraklit von Ephesos zuwende, dessen Lehre Platon

    in der Kurzformel des panta rhei zusammengefasst sehen will eine etwas ungenaue Sicht-weise, da er sich hier einerseits auf Kratylos, einem Nachfolger Heraklits, bezieht und ande-rerseits so zitiert werden muss: panta chorei kai uden menei = alles weicht (zurck), (gehtweg, geht davon), nichts bleibt.

    Die Welt als Werden die Welt im Werden

    Wiewohl die Kurzformel des panta rhei = alles fliet also nirgendwo in den Fragmentendes Heraklit begegnet, so entspricht sie aber durchaus seiner Auffassung, derzufolge es einebestndige, dem Wandel entzogene Wirklichkeit nicht gibt: Alle Dinge sind vernderlich.Heraklit wollte aber nicht, wie spter seine Nachfolger, die auch Platon im Auge hat, so weitgehen, die gesamte Wirklichkeit als Inbegriff von Prozessen darzustellen, sondern er fasstesie als Inbegriff von Dingen auf, die aber seiner Ansicht nach niemals gleich bleiben, auchdann nicht, wenn wir an ihnen keine Vernderung wahrnehmen.

    Heraklit sieht deutlich die Bestndigkeit und Allgegenwart der Vernderung. Er findet im All,im Geist und in der Seele nichts Feststehendes. Nichts ist, weil alles wird- kein Umstand ver-

    harrt unverndert, und sei es auch nur einen winzigen Augenblick - alles hrt auf zu sein, wases war, und wird, was es sein wird. Damit findet sich ein ganz neuer Akzent in der Philoso-phie: Heraklit fragt nicht nur wie Thales von Milet, was die Dinge sind,sondern auch, wie sie

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    zu dem gewordensind, was sie sind, und er vermutet wie spter Aristoteles, dass die Behand-lung der zweiten Frage die beste Annherung an die erste darstellt.

    Symbol der stndigen Vernderung der Wirklichkeit ist fr ihn das flieende Wasser: So wieein Fluss im Verlauf der Zeit immer derselbe zu sein scheint, tatschlich aber immer ein ande-

    rer ist, weil sein Wasser unaufhrlich strmt, so scheinen auch manche Dinge dieselben zubleiben, whrend sie sich doch in Wirklichkeit wandeln.

    Das gilt auch fr den Menschen:

    Wir knnen nicht zweimal in denselben Fluss steigen, weil nicht nur der Fluss nicht derselbebleibt, sondern weil auch wir nicht dieselben bleiben: Wir steigen in dieselben Flsse undsteigen nicht (in dieselben)! Wir sind und sind nicht (dieselben) Denen, die in dieselbenFlsse steigen, strmen andere und immer wieder andere Wassere zu ... Man kann nichtzweimal in denselben Fluss steigen.

    Johann Wolfgang von Goethe hat diesen Gedanken aufgegriffen und in den Versen aus Dau-er im Wechsel so verdichtet:

    Gleich mit jedem Regengussendert sich dein holdes Tal,

    Ach, und in demselben FlusseSchwimmst du nicht zum zweiten Mal.

    Auch bei Michel de Montaigne begegnen wir diesem Bild:

    So sieht man einen Bach dahin sich gieen,Und eine Welle nach der anderen flieen.

    Und all in ihrer Reih und all in ewgem Zug.Schlgt eine nach, wie eine vor ihr schlug:

    Von der wird jene angeregt,Die eine andre fortbewegt.

    So gehet Wog in Wog, und immer bleibt der Bach.Nur andre Wogen flieen und andre kommen nach.

    Die von Platon inspirierte heutige Literatur stellt Heraklit so dar, als ob er seine Philosophieausschlielich um den Begriff des ewigen Wandels herum aufgebaut htte. Die erhaltenenBruchstcke lassen aber eine solche einseitige Ausdeutung kaum zu. Wie die meisten Philo-sophen sehnte auch er sich danach, das Eine hinter dem Vielen zu findenund inmitten deschaotischen Flusses und der berbordenden Vielfalt der Welt zu einer beruhigenden Einheitund Ordnung zu gelangen: Aus Allem Eins und aus Einem Alles, verkndet er in einemseiner Fragmente.

    Man hat zu lange und zu einseitig nur im Werden, im ewigen Fluss der Dinge das Grundprin-zip der Heraklitischen Philosophie gesehen und es stets in Gegensatz zum (starren) Seinsprin-zip seines Zeitgenossen Parmenides gestellt, der den Wandel nur als Schein ansieht und die

    Welt in ihrer ganzen Gegenstzlichkeit und Widersprchlichkeit und in ihrem tatschlichenWandel einfach berspringt. Es geht Heraklit aber nicht um den Gegensatz von Sein undWerden er sieht Sein und Werden, und keinesfalls will er das Sein in ein unendliches Str-

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    men und Vergehen auflsen, das jeder bleibenden Ordnung widerstreitet. Das tun, wie gesagt,erst die Herakliteer um Kratylos, seine Epigonen sie sehen nur noch die Vernderung.

    Die Zusammenschau der Gegenstze

    Heraklit erblickt die Wirklichkeit als in sich widersprchlich und wird nicht mde, die Ge-genstze aufzuweisen, die sich in der Welt zeigen. Die Welt ist eine zerrissene Welt. Aber esgeht ihm dabei um nichts anderes als um die Ordnung, die das Geschehen in der Spannungder Gegenstze ganzheitstiftend und magebend zur Einheit zusammenfgt.Wogegen er sichwehrt, das ist das bloe isolierte Nebeneinander, aber auch jedes bloe Nacheinander. Daswirft er seinen Vorgngern vor als Grundirrtum, nmlich nicht erkannt zu haben, dass bei-spielsweise Tag und Nacht Eines sind.

    Dieser Gedanke des Zusammenfalls der Gegenstze (= coincidentia oppositorum, wie dies einJahrtausend spter Nikolaus von Kues formuliert, ohne Heraklit zu zitieren!), zugespitzt in derThese, dass ALLES EINS ist, kehrt in den verschiedensten Formulierung wieder.

    Leben und Tod Wachen und Schlafen Mischung und Trennung Entstehen und Vergehen Alt und Jung Sterblich und Unsterblich Gerade und Krumm Mnnliches und Weibliches Hohes und Tiefes ja auch Gutes und Bses:

    - es istalles dasselbe. Genauer: es ist das eine nicht ohne das andere.Es schlgt ineinanderum, weil es damit zuerst das Gesetz seines Wesens nach der Notwendigkeit erfllt.

    In diesen Zusammenhang gehrt auch das rtselhafte Fragment 62: Unsterbliche: sterblich,Sterbliche: unsterblich: sie leben gegenseitig ihren Tod und sterben ihr Leben.

    Wenn Heraklit also sagt, dass alles in stetem Wandel, in stetem Austausch sich befindet, derKosmos so einem bestndig umgerhrten Mischkrug gleicht, also auch dem, der in denselbenFluss steigt, stets neue Wasser zustrmen, so dass wir in denselben Fluss steigen und dochnicht in desselben, sind und nicht sind, so will das alles nicht ein Bild der ewigen Unruhe desDaseins sein, sondern er will darauf hinweisen,

    dass erst in der Bewegung des Hin und Her, des Auf und Ab, des Seins undNichtseins, also durch den Gegenlauf, das wahre Ganze sich bildet, das nur ist alsEinheit der Gegenstze.

    Zum ineinander verschrnkten Spannungsverhltnis der jeweiligen Bezugspole - beispiels-weise von Tag und Nacht - liee sich sagen, sie schlagen ineinander um, indem der Tag sich

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    in der Abenddmmerung dem Ende zuneigt und damit das Einsetzen der Nacht bedingt imgegenlufigen Prozess der Morgendmmerung geht aus dem Rckgang der Dunkelheit derTag wiederum hervor.

    Goethe hat diesen ewigen Wirbel mit Blick auf die einigende Kraft der Weltseele, des Welt-geists, in seinem Gedicht Eins und Alles so veranschaulicht:

    Und umzuschaffen das Geschaffne,Damit sichs nicht zum Starren waffne,

    wirkt ewiges lebendges Tun.Und was nicht war, nun will es werden

    Zu reinen Sonnen, farbigen Erden,In keinem Falle darf es ruhn.

    Es soll sich regen, schaffend handeln,

    Erst sich gestalten, dann verwandeln;Nur scheinbar stehts Momente still.

    Das Ewige regt sich fort in allen:Denn alles muss ins Nichts zerfallen,

    Wenn es im Sein beharren will.

    Wem kme da nicht auch das herrliche Gedicht Stufen (1941) von Hermann Hesse in denSinn mustergltig die Dynamik menschlichen Lebens und die alles Lebendigen nachzeich-nend:

    Wir sollten heiter Raum um Raum durchschreiten,an keinem wie an einer Heimat hngen,

    der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,er will uns Stuf um Stufe heben, weiten.

    Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise,und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;

    Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,mag lebender Gewhnung sich entraffen.

    Deshalb im Blick auf das Vorhandensein gegenstzlicher Tendenzen in der Wirklichkeit,

    die stndig aufeinander stoen, ohne dass je ein Gleichgewichtszustand in Permanenz erreichtwrde - ist, wie Heraklit an einer anderen Stelle sagt, der Krieg (polemos), der Streitnicht blo der Herr und Knig, sondern auch der Vater aller Dinge.Jedoch:

    Die Gegenstzlichkeit ist nicht das letzte, vielmehr sind die Glieder der Gegenstze je aufein-ander bezogen. Entgegengesetztes vereinigt sich zum Heilsamen, Krankheit macht die Ge-sundheit s, bel das Gute, Hunger die Sttigung/den berfluss, Mhe/Arbeit die Ru-he/Mue. Gerade im Gegensatz zeigt sich somit Einheit in Form der Zusammengehrigkeitdes Verschiedenen.Mit anderen Worten:

    So wird die Welt der Gegenstze fr Heraklit doch zu einer groen Harmonie, in sich zu-rckkehrend, gleich der des Bogens und der Leier, wie das von Heraklit gern gebrauchte,

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    etwas dunkle Bild fr das Auseinanderstreben, das wieder ineinander geht, lautet und auf dasich noch eingehen will.

    Das Wesen der Wirklichkeit: EINHEIT und EINKLANG

    Heraklit stellt in drei Fragmenten folgende Gegensatzpaare zusammen:

    Tag/Nacht Winter/Sommer Krieg/Frieden Krankheit/Gesundheit

    Hunger/Sattheit Anstrengung/Ruhe Leben/Tod Wachen/Schlafen Jugend/Alter.

    Was auffllt, ist dies: Es handelt sich hier insgesamt um Gegenstze des Erlebens. Das Erle-ben umspannt den Menschen und seine Welt und verbindet sie zu einer Einheit. Die Weise,wie der Mensch sich selbst erfhrt, bestimmt, wie er die Welt erlebt. Und so sind das Lebens-gefhl und die Welt des Gesunden (fast wesentlich) anders als die des Kranken, die des Trau-rig.depressiven anders als die des rundum Glcklichen - Gefhle und Einstellungen des Hun-

    gernden zu seinen Mitmenschen unterscheiden sich von denen des Satten - Lebensgefhl undStimmungen sind oftmals auch abhngig vom Rhythmus von Tag und Nacht, Sommer undWinter.

    All die vorgenannten Gegenstze umfassen wesentliche Bereiche menschlichen Erlebens: dieNatur, den eigenen Leib und die eigene Vitalitt, den sozialen Bereich, das Verhltnis zurZeit, zur eigenen Vergangenheit und Zukunft Heraklit versumt auch nicht, auf die Sulender condition humaine hinzuweisen: auf Hunger, Krankheit, Alter, Tod.

    Diese Gegenstze geben dem Menschen natrlich eine Frage auf: Weshalb gibt es Gesundheitund Krankheit, Sattheit undHunger, Frieden undKrieg, Leben undTod?

    Die Frage nach dem Sinn der Gegenstze ist die Frage des Menschen nach sich selbst undHeraklit nimmt die Frage ernst (Ich machte mich auf die Suche nach mir selbst) und findetdiese Antwort:

    Das Wesen der Wirklichkeit ist die Einheit der Gegenstze (Das Widereinanderstrebendezusammenstimmend).Nherhin:

    Was widereinander ist, bildet zugleich eine Einheit, und Einheit kann nur als Einheit des ein-

    ander Widerstrebenden gedacht werden (Man denke rasch an Einatmen-Ausatmen!).

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    Genau das veranschaulicht Heraklit am Bild des Bogens (Nicht verstehen sie, wie mit sichselbst Auseinanderstrebendes mit sich selbst bereinstimmt. Zurckspannnende Verbindungwie beim Bogen und der Leier):

    Die Gestalteinheit und Funktionsfhigkeit des Bogens beruhen darauf, dass Bogenholzund Sehne jeweils in die entgegengesetzte Richtung ziehen. Dadurch spannt die Sehnedas Bogenholz und das Bogenholz die Sehne. Damit der Pfeil nun in eine Richtungfliegen kann, mssen die Hnde des Schtzen Bogenholz und Sehne in je entgegenge-setzter Richtung ziehen

    Die aus der Verschiedenheit resultierende Einheit zeigt sich bei der Leier darin, dassnur unterschiedlich gespannte Saiten verschiedne Tne und damit eine Harmonie her-vorbringen.

    Wie die Spannung der Saite, je nachdem sie gelockert oder gestrafft wird, die Harmonie derSchwingungen, die man Musik nennt, hervorbringt, so erschafft der Wechsel und der Kampf

    der Gegenstze das eigentliche Wesen und die Bedeutung und die Harmonie des Lebens undder Vernderung.Im Kampfe zwischen Organismus und Organismus, zwischen Mensch undMensch, zwischen Mann und Frau, zwischen Generation und Generation, zwischen Klasseund Klasse, zwischen Nation und Nation, zwischen Idee und Idee, zwischen Glauben undGlauben sind die widerstreitenden Gegenstze ein verschlungenes Gewebe am Webstuhl desLebens, sie wirken einander entgegen, um ungewollt die unsichtbare Einheit und die verbor-gene bereinstimmung des Ganzen hervorzubringen. Die erste Eintracht wird durch die Ver-einigung des Gegenstzlichen, nicht des Gleichartigen, hergestellt; jeder Verliebte wird dasverstehen.

    Das Fragment weist noch auf eine andere Einheit hin: Der Bogen ist die Kampf- und Mord-waffe, whrend die Leier Frieden und Eintracht symbolisiert (Verbindungen: Ganzes undNichtganzes, Zusammenstrebendes Auseinanderstrebendes, Einklang, Missklang, und ausallem eins und aus einem alles).

    HARMONIE in der Zerrissenheit der Wirklichkeit

    Die verschiedenen Dinge und der gesamte Kosmos sind also nach Heraklit, wie wir jetzt wis-sen, eine Verbindung von Gegenstzen. Die Gegenstze bilden ein Ganzes; sie streben zuein-ander und ergnzen einander zu einer Harmonie.

    Das Ganze kann aber nur dadurch bestehen, dass die Gegenstze ihre einander widerstrebendeKraft behalten; insofern sind ihre Verbindungen Nichtganzes und dissonant. Das Ganze be-steht nur durch die Beziehung seiner Teile:

    Jeder Teil des Ganzen ist, was er ist, nur durch die Beziehung zu allen anderen Tei-len und durch seine Stellung in der Ordnung des Ganzen.

    Heraklit hat sein Grundgesetz der Wirklichkeit an einer Flle ganz alltglicher Erscheinungenaufgezeigt, von denen hier nur einige angefhrt werden knnen - ich wiederhole, was ich wei-ter oben schon angedeutet habe (Es ist fr die Menschen nicht besser, dass sie alles bekom-

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    men, was sie wollen. Krankheit macht Gesundheit angenehm und wertvoll, Hunger die Satt-heit, Anstrengung die Ruhe):

    Intensitt des Lebens ist nur im Erleben der Gegenstze mglich: nur auf dem Hin-tergrund des Negativen kann das Positive erlebt werden. Leben ist nur in der Span-

    nung von Frustration und Erfllung mglich. Der Mensch ist stndig in Gefahr, dassdie grten Gter ihm selbstverstndlich und nicht mehr als Geschenk erlebt werden.Ein Bild fr das Leben als Einheit von Erfllung und Unerflltheit ist fr Heraklit dasFeuer:Es existiert nur dadurch, dass es, indem es etwas verbrennt, sich sttigt: es ist stndigunbefriedigt und will auf anderes bergreifen.

    Der Gegensatz des Erlebens schlechthin ist der vonLeben und Tod(Da sie geborensind, wollen sie leben und ihr Todeslos haben oder vielmehr ausruhen; und sie hin-terlassen Kinder, dass wieder Todeslose geboren werden):

    Leben will Leben zeugen, Zeugung ist Verwirklichung des Lebens. Indem nun Lebensich in der Zeugung verwirklicht, bringt es ein Lebewesen hervor, das hinwiederumfr den Tod bestimmt ist. Leben wird gelebt in der Spannung von Lebenswillen undTodessehnsucht. Es wird erfahren als Anstrengung und Last. Der Tod als Ausruhen istdie geheime Sehnsucht des Lebens. Nur vor dem Hintergrund des ungewissen Todeserhalten das Leben und der Augenblick ihren einmaligen Wert; nur der lebt intensiv,der im Bewusstsein seins Todes lebt.

    Die Gegenstze bekmpfen einander; der Tod will das Leben vernichten, und das Le-ben wehrt sich gegen den Tod (Man muss aber wissen, dass der Krieg gemeinsam(allgemein) ist und dass Recht Streit ist und dass alles durch den Streit entsteht undgeordnet wird Krieg ist Vater von allem; die einen erweist er als Gtter, die an-dern als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die andern zu Freien). DerKrieg ist in einem zweifachen Sinn gemeinsam: Er verschont niemanden undschafft zugleich eine tiefere Einheit zwischen den Streitenden. Als Polarittsprinzipist er Ursache der kosmischen Entwicklung.

    Tod und Geburtsind vom zergliedernden Verstand der Menschen willkrlich aus demStrom der Dinge herausgehobene Punkte:

    Vom unparteilichen Standpunkt des Weltalls aus sind sie lediglich Stufen des endlo-

    senGestaltwechsels:

    Jeden Augenblick stirbt ein Teil von uns, whrend das Ganze lebt, jede Sekunde

    stirbt jemand von uns, whrend das Leben lebt. Der Tod ist ebenso gut ein Beginn

    wie ein Ende, die Geburt ebenso gut ein Ende wie ein Beginn.

    Unsere Worte, unsere Gedanken, selbst unsere Sitten sind oftmals nur Vorurteile undvertreten unsere Interessen als Teile oder Gruppen - die Philosophie jedoch muss dieDinge im Lichte des Ganzen betrachten, und da erstaunt mich Heraklit immer wieder:Fr Gott ist alles schn und gut und gerecht; die Menschen aber haben das eine als

    ungerecht, das andere als gerecht angenommen.

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    Ist nun die aus der Gegenstzlichkeit der Wirklichkeit geborene stndige Vernde-rung, deren wir in der Welt gewahr werden, nicht (doch) ein bel, oder ein Segen?

    Heraklit meint hierzu lapidar: Die Tatsache, dass die Gegenstze aufeinander angewiesensind, macht den Kampf und das Leiden des Lebens verstndlich und darum verzeihlich: Fr

    die Menschen wre es nicht besser, wenn ihnen alles zuteil wird, was sie wollen Krank-heit macht Gesundheit angenehm und gut, Hunger Sattheit, Mhe Ruhe. Er tadelt diejenigen,die wnschen, dass der Kampf auf der Welt ein Ende nehmen mge; ohne diese Gegensatz-spannung wrde es keinen Einklang geben, kein Weben am lebendigen Gewebe, keineEntwicklung.Die Harmonie ist nicht das Aufhren des Gegensatzes, sie ist eine Spannung,

    bei der keines der beiden Elemente endgltig den Sieg davontrgt, sondern beide notwendi-

    gerweise in Wirksamkeit bleiben.

    Auch Hlderlin greift das Ineinander komplementrer Gegenstze als simultane Verbunden-heit des Widerstreitenden auf und beruft sich auf das Eine in sich selber Unterschiedene desHeraklit, wenn er in der letzten Fassung des Hyperion formuliert:

    Wie der Zwist der Liebenden,sind die Dissonanzen der Welt.

    Vershnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.Es scheiden und kehren im Herzen die Adern

    Und einiges, ewiges, glhendes Leben ist Alles.

    Gott oder der Logos als Einheit stiftend

    Heraklit fragt auch nach der in allen gegenstzlichen Erscheinungen verborgenen Wirklich-keit, und sie wird mit verschiedenen Namen bezeichnet: Der Gottist Tag und Nacht, Winterund Sommer, Krieg und Frieden, Sattheit und Hunger. Er verndert sich so, wie (Feuer), das,wenn es mit Rucherwerk vermischt wird, nach dem Wohlgeruch jedes einzelnen benanntwird.

    Die Gegensatzpaare, die hier von Gott ausgesagt werden, stehen beispielhaft fr alle Gegen-stze:

    Gott verndert sich nicht; er erscheint inden Gegenstzen und bleibt ihnen gegenber dochtransparent - er ist den Erscheinungen als deren Lebenskraft immanent. Dennoch ist er vonihnen verschieden

    Zwei Fragmente bezeichnendie transzendente Wirklichkeit alsLogos:Obwohl dieser Logosimmer ist, kommen die Menschen nie dazu, ihn zu verstehen, weder bevor sie ihn gehrt ha-ben, noch nachdem sie ihn einmal gehrt haben; denn whrend alles nach diesem Logos ge-schieht, sind sie wie Unerprobte Obwohl der Logos gemeinsam (allgemein) ist, leben dieVielen, als ob ihr Denken ihnen eigen wre.

    Wenn ich die Fragmente berschaue, drngt sich mir dies auf:

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    Der Logos ist die eigentliche Lehre Heraklits.Zugleich wird von ihm ausgesagt, er sei ewigseiend. Er ist das Verhltnis, in dem die Gegenstze zueinander stehen, und das Gesetz, nachdem sie einander ablsen, der Logos ist die dynamische, ordnende Gre, die alles Geschehenbestimmt.

    Jeder Mensch hat Anteil am Logos; die Suche nach dem Selbst fhrt zu ihm: Die Grenzender Seele kannst du im Gehen nicht ausfindig machen, auch wenn du jede Strae abwanderst;so tief ist ihr Logos.

    Dem Logos zu folgen ist die zentrale Forderung der Ethik Heraklits. Die Lehre vom morali-schen Naturgesetz, die spter von der Stoa vertreten wurde, geht letztlich auf ihn zurck. Nurder Logos als das Allgemeine kann unter den Menschen Gemeinschaft schaffen. Ohne Gesetzkann keine menschliche Gemeinschaft bestehen. Alle menschlichen Gesetze aber nhren sichvon dem einen gttlichen, das ohne jede Einschrnkung gilt.

    ***

    Heraklit hat sich also nach all dem Gesagten nicht damit begngt, den Fluss aller Dinge ein-fach nur zu behaupten, sondern er hat versucht, ihn auf eine Ursache zurckzufhren und imBezogensein der Gegenstze aufeinander, die den Wandel erst ermglichen, eine tiefere, diesehaltende Einheit sichtbar werden zu lassen. Er ist also nicht einfachhin der Philosoph desWerdens gegenber Parmenides als dem Philosophen des Seins. Seine Flusslehre ist eineherrliche Metapher fr die Prozessualitt der Welt:

    Das Sein ist das Werden des Ganzen, weshalb demnach das Sein nicht statisch, sondern alsewiger Wandel dynamisch zu erfassen ist.Doch hinter und zugleich in dem unaufhrlichen

    Fluss steht die Einheit: die Einheit in der Vielheit und die Vielheit in der Einheit.

    Als Ursache des Flusses, des Wandels aller Dinge betrachtete Heraklit das Vorhandenseingegenstzlicher Tendenzenin der Wirklichkeit. Seiner Ansicht nach stoen stndig Gegenst-ze aufeinander, ohne dass je ein Gleichgewichtszustand erreicht wrde. Der Krieg der Ge-genstze ist die Ursache dafr, dass alles im Fluss ist: er ist der Vater aller Dinge, aller Din-ge Knig. Die Fragmente sind reich an anschaulichen Beispielen fr den Widerstreit derDinge und Krfte: So fhrt beispielsweise die Drehbewegung der Schraube zur geradlinigenFortbewegung, das Meerwasser ist lebensnotwendig (fr Fische) und ungeniebar (fr Land-

    tiere), die Enden der Leier streben auseinander und bewirken damit die harmonische Stim-mung der Saiten usw.

    Heraklit bleibt nicht bei der Zerrissenheit der Wirklichkeit stehen. Die eigentliche Natur derWirklichkeit zeigt sich jedoch nicht sogleich auf den ersten Blick, sondern sie liebt es, sichgleichsam zu verbergen. Obwohl sie sich verbirgt, ist sie nicht ohnmchtig: Heraklit war so-gar berzeugt, dass unsichtbare Harmonie mchtiger sei als sichtbare (Unsichtbare Harmonieist strker als sichtbare ... Das Auseinanderstrebende vereinigt sich, und aus dem Ver-schiednen entsteht die schnste Harmonie). Die Verhltnisse der Oberflche sind nicht diewahren; wahrhaft wirklich ist nur das in der Tiefe liegende Wesen. Die Erkenntnis des We-sens gewinnen wir jedoch nicht durch Erfahrung, sondern durch rein vernnftige Einsicht,

    d.h. sie ist metaphysische Erkenntnis.

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    Heraklits Leistung bestand darin, mit groem Nachdruck ein dynamisches Weltbild vertretenzu haben, das nicht wissenschaftlich, sondern metaphysisch und in gewissem Sinne religisist: Der Logos als das Eine Weise ist gttlich und kann Zeus oder Brahma oder das Gttli-che genannt werden.

    Jedenfalls verbindet Heraklit

    Anerkennung der Mannigfaltigkeit der Dinge mit der Idee der Einheit der Gesamt-wirklichkeit,

    die Erfahrung gegenstzlicher Tendenzen in der Welt mit dem Gedanken einer umfas-senden gesetzmigen Ordnung,

    die Bercksichtigung der Verhltnisse im materiellen Bereich mit deren Unterordnungunter ein vernnftiges, letzen Endes gttliches Prinzip, an dem der menschliche Geistteilhaben kann.

    Er gibt uns auch eine Lehrstunde in Sachen Polaritt des Seins,mit der wir hier in der Aka-demie ja fortwhrend konfrontiert sind (neben Einatmen-Ausatmen, Muse-Arbeit auch dies:Trauer-Freude, Licht-Schatten, Leben-Tod, Rationalitt-Emotionalitt, Verlust-Gewinn, Los-lassen-Erhalten, Krise-Chance/Gefahr etc.). Wir erkennen unschwer:

    Alle Polaritt offenbart die Grundstruktur der Zwei.heit, wobei aber dies festzuhalten sehrwichtig ist: Diese Zwei.heit verweist auf eine Zwei, die nicht durch eins plus eins zustandekommt, sondern durch die Halbierung einer Ein.heit. Eine solche Ein.heit, die als Zwei.heitoder Zwei.hlftigkeit erscheint und meist nur in diesen (Einzel)Teilen wahrgenommenwird, ist polar zu nennen. Alle polaren Erscheinungen bestehen somit aus zwei Hlften, diesich zu einer Ein.heit er.gnzen, wobei das Besondere dieser Ganz.werdung darin liegt, dassdie zwei Hlften sich wechselseitig bedingen und erzeugen. Aus der einen Hlfte geht dieandere hervor, und umgekehrt. Es ist dies eine kreis.frmige Bewegung (zyklisches, nichtlineares Denken ist angesagt!), bei der kein Anfang und kein Ende auszumachen ist.

    Hier ist durchaus auch an die Gegenstzlichkeiten gedacht, von denen bei Heraklit die Redewar, und deren eine, nmlich die von Leben und Sterben/Tod, uns immer wieder neu beschf-tigt, beschftigen muss. Die Frage, lebe oder sterbe ich tglich ein Stck?, entpuppt sich alseine falsch gestellte. In Wahrheit lebe undsterbe ich tglich ein Stck beides in einem, eben

    polar. Und so verhlt es sich auch mit der Krise:

    Wer Krise, in die wir rasch durch Trennung, Verlust und Tod geraten knnen, polar begreift,wer in jeder Krise eine Aufgabe zur Entwicklung und Reife, eine Chance zur Bewusstseins-entwicklung zu entdecken vermag, erlebt und erfasst den Rhythmus des Werdens und erkennt(nicht sofort, aber vielleicht doch): wer die eine Hlfte nicht ertrgt, wird die andere nichterleben wer nicht einatmet, wird nicht ausatmen knnen - wer die Sinnbotschaft seiner Kri-se nicht versteht, wird die Entwicklungschance versumen und (im puren Sein seiner derzeiti-gen Zustndlichkeit) erstarren, so gar nicht im Sinne des ewigen Wandels, eines Fortschrei-tens (auf eine neue Stufe), des Heraklitischen panta rhei. Nur in Harmonie (fr Heraklit jaauch kein absolutes Aequilibrium, sondern dynamisch, voller Spannung von beiden Enden

    her!) zu verbleiben, nur auf einer Gleichgewichtsstufe zu verharren, wrde Entwicklung ver-unmglichen.Jedoch:

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    Das Hauptproblem liegt fr uns Menschen doch darin, dass jede polare Hlfte so aussieht, alsstnde sie fr sich da und wre ganz. Das heit: Wer in eine Krise geraten ist, sieht die (=seine) Welt nur grau und schwarz - das ist seine Wirklichkeit, die durchaus ernst zu nehmenund zu respektieren ist; aber wie ist dem Krisengeschttelten verstndlich zu machen, dass er

    (erneut) vor eine Wende in seinem Leben und nicht vor dem Ende des Lebens steht. Wohlkeiner kommt so ohne weiteres und von alleine auf die Idee, in einem schmerzlichen Verlust-erlebnis den mglichen Beginn eines besseren Lebens zu sehen, die Nacht fr die Hlfte zunehmen, der dann der helle Tag folgt. Wer macht sich bewusst, dass sein Einatmen aus demAusatmen hervorgeht und dass der Atmungsvorgang insgesamt ein stndiges Ineinanderflie-en zweier Teilprozesse darstellt? Und wer mag schon daran denken, dass er oder sie als Per-son nur ein halbes Wesen ist, stndig auf der Suche nach seiner Ergnzung? Nun, Heraklitvon Ephesos (und spter andere Philosophen auch) hat so gedacht. Und unsere Akademieknpft (nicht nur vom Namen her) an solche Philosophie der Polaritt an und macht die Men-schen rechtzeitig damit vertraut, wie solches integrative Denken, wie solche Zusammenschauvon Extremen - auch und eben die von Leben und Sterben, von Geburt und Tod - nicht nur

    notwendig, sondern letztlich hilfreich, heilsam, vielleicht sogar lebensrettend sein kann.