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Was kommt nach der Informationsgesellschaft? 11 Antworten Verlag Bertelsmann Stiftung Edition Reformwerkstatt Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) ?

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Michael Kühlen

Vorwort

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Eckard Minx,

Harald Preissler,

Burkhard Järisch

Wie sieht ein Elefantaus?

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Holger Rust

Am ehesten:Ideengesellschaft

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Rolf Jensen

Die Ära derGeschichtenerzähler

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Klaus Burmeister,

Andreas Neef, Beate

Schulz-Montag

Crossover Society

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Charles Leadbeater

Das Zeitalter derSelbstbestimmung

152

Hermann Haken

Die Selbstorganisations-gesellschaft

174

Matthias Horx

Vor uns:Das High Touch Age

196

Norbert Bolz

Blindflug ins21. Jahrhundert

222

John Naisbitt

Das Gesetz derGesellschaft

250

Angela und Karl-

heinz Steinmüller

Auf dem Wegin die neue Traumzeit

274

Steve Talbott

Information oderBedeutung?

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Die Zukunft ist uralt.

Schon im 15. vorchristlichen Jahrhundert betätig-ten sich die Tempelpriesterinnen in Delphi als Futu-rologinnen – aus einer Erdspalte aufsteigendesÄthylengas sorgte für die nötige Entrückung. Haru-spizium – das Lesen von Tiereingeweiden – half inRom jahrhundertelang, die Geschicke der Republikzu lenken.

Nostradamus (1503–1566) konnte seinen Ruf alsSeher sogar in die Zukunft retten – in unsereGegenwart also: In den Tagen nach dem 11. Septem-ber war sein Name einer der am häufigsten einge-gebenen Suchbegriffe im Internet. Hilfreich ist, dassNostradamus seine gereimten Prophezeiungeneher vage, in einer Mischung aus Französisch, Spät-latein und Provençalisch verfasste, die vieleDeutungsmöglichkeiten zulässt. Multiple Zukünfte,würde man heute sagen.

Was macht die Zukunft so faszinierend? Vieleglauben, die Unfähigkeit, sich die Zukunft vorstel-len zu können, sei dem Menschen vorgegeben:Die längste Zeit war das Wetter die einzige Dimen-sion des Kommenden; alle über den Wechsel derJahreszeiten hinausgehenden Erwägungen sind nur

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im Kontext fortgeschrittener gesellschaftlicherOrganisation von Bedeutung – und damit mensch-heitsgeschichtlich eher jung.

Sollte es dieses eingebaute Unvermögen tatsächlichgeben, wäre das Scheitern der ersten großenZukunftsprognose der Neuzeit einfach zu erklären:Thomas Robert Malthus irrte, weil er nur Vergan-genheit und Gegenwart in die Zukunft verlängerte.

Malthus hatte richtig beobachtet, dass bis inseine Zeit die Bevölkerungszahl exponentiell ge-wachsen war, die Nahrungsmittelproduktionaber nur linear. Die Schere, so Malthus’ zwingendeSchlussfolgerung 1798 in seinem »Essay on thePrinciple of Population«, werde sich immer weiteröffnen, die Menschheit schließlich Hungers ster-ben. Malthus kam nicht auf den Gedanken, dass esneue Faktoren geben könnte, die das Bevölkerungs-wachstum bremsen und/oder die Nahrungsmittel-produktion massiv erhöhen könnten.

Zukunft durch Extrapolation ist ein oft gemachterFehler: Extrapolation stand hinter der Prognose, dieStraßen Englands müssten angesichts des steigen-den Kutschverkehrs bis 1961 im Pferdemist versin-ken (es kamen mistfreie Verkehrsmittel); Extra-polation ließ Paul Ehrlich 1968 in »The PopulationBomb« wie Malthus 170 Jahre vor ihm Hungerund Leid vorhersagen (es kamen die grüne Revolu-tion und die Pille).

Zukunft durch Extrapolation ist die bequeme,buchhalterische Zukunft. Vielleicht war deswegendie phantastische Zukunftsdeutung (die ja die

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oben beschriebene anthropologische Konstantezu sprengen versucht) häufig die erfolgreichere.Jules Verne sagte in seinen Romanen insgesamt96 Erfindungen voraus, von denen 57 Wirklich-keit wurden, darunter etwa Faxgerät, Fernseher,künstlicher Erdtrabant und Atomkraft.

Den Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke reutenoch viele Jahrzehnte später, dass er seine Idee derRadioübertragung via Nachrichtensatellit 1945lediglich in einer Erzählung beschrieb, statt sie zumPatent anzumelden.

Und Stanislaw Lem schrieb seine monumentale»Summa Technologiae« im Polen der 60er Jahre völ-

lig abgeschottet vom Boom der Zukunftsforschungin Nordamerika, gestützt vor allem auf die eigeneVorstellungskraft – und beschrieb das Kommendedennoch erheblich besser als sein populärer Kol-lege Herman Kahn in den USA, der vor allem an dieAllmacht der Technik glaubte.

Lem war es etwa, der als erster die virtuelle Realitätvorhersagte (bei ihm heißt sie Phantomatik) undso eine Grundannahme unserer Existenz in Fragestellte: dass sich nämlich sinnlich erfahrene undphysisch vorhandene Realität weitgehend decken.Indem Lem vom Selbstverständlichen Abschiednahm, erfasste er noch besser, was die Zukunft aus-machen sollte, als Verne und Clarke mit ihremeher technischen Fokus.

Die Beispiele erfolgreicher »fiktionaler« Zukunfts-schau durch Verne, Clarke und Lem beweisen abernicht, dass die systematische Beschäftigung mit

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Zukunft nicht ihre Berechtigung hätte, wie einBlick in die Geschichte der Futurologie und ihrerAnwendung zeigt.

Als Begriff 1943 von Ossip K. Flechtheim erfun-den, wurde die Futurologie in den folgenden Jah-ren mit dem »Office of Scientific Research andDevelopment« (OSRD), den Zukunftsstudien fürdie Luftwaffe und dem Rand-Projekt (späterRand Corporation) in den USA zur fächerübergrei-fenden Disziplin: Ihre ursprüngliche Aufgabe(Unterstützung der Kriegsanstrengungen der Ver-einigten Staaten) konnten OSRD und Rand ambesten erfüllen, indem sie ihren Untersuchungs-gegenstand von waffentechnischen auf allge-meine technologische, kulturelle und wirtschaft-liche Entwicklungen ausweiteten, das wurderasch offenbar.

1945 entwarf etwa OSRD-Direktor Vannavar Bushin »As We May Think«, einem noch immer vielzitierten Artikel für den Atlantic Monthly, ein Bildder Zukunft, das in mancher Hinsicht der heu-tigen Wirklichkeit erstaunlich nahe kommt.

Bush nahm beispielsweise den Hypertext vor-weg (ein Paradigmenwechsel, denn bislang warenInformationen nie assoziativ verknüpft gewe-sen), irrte sich aber völlig in seinem Lobgesang aufdie lösungsfreie Fotografie als der zentralen Zu-kunftstechnik (hier war Bush den aktuellen, kurz-fristigen technischen Entwicklungen seiner Zeitverhaftet).

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Dieses Muster lässt sich auf andere Prognosen über-tragen: Mit einem Blick für Richtungsänderungenoder Störereignisse werden Prognosen treffsichererals durch scheinbar realistischere Annahmen, hin-ter denen sich häufig implizite kulturelle Prämissen(etwa Wertvorstellungen) oder implizite Hypothe-sen verbergen (etwa die Annahme, nur Technikkönne soziale Probleme lösen). Solche Prämissenund Hypothesen wirken als Denkblockaden: DieZukunftsforscher der 50er Jahre konnten sich ohneProbleme vorstellen, dass einst Astronauten aufdem Mond arbeiten würden, nicht aber, dass ihreFrauen berufstätig sein könnten.

Shell stieg in der zweiten Hälfte der 70er Jahrennur deshalb zu einem der weltweit größten Erd-ölkonzerne auf, weil die hauseigenen Zukunftsfor-scher konstant niedrige Rohölpreise nicht fürselbstverständlich hielten und deswegen von derBranche belächelte Klauseln in ihre Verträgemit Reedern aufnahmen, die es ihnen ermöglich-ten, im Falle eines Preissprungs Transportkapa-zitäten zu stornieren. 1974 konnte Shell so auf dieeingebrochene Nachfrage flexibel reagieren, wäh-rend die Konkurrenz nicht benötigte Tanker trotz-dem bezahlen musste.

Dennis C. Meadows hingegen lag 1973 mit seinemberühmten Bericht an den Club of Rome (»An denGrenzen des Wachstums«) nicht zuletzt deswegenso daneben, weil er einen drastischen Anstieg desÖlpreises nicht als Möglichkeit für die nahe Zu-kunft berücksichtigt und so die wirtschaftliche undtechnische Entwicklung völlig falsch eingeschätzthatte.

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Meadows vernachlässigte bei seinen Prognosenüber die Erschöpfung der Rohstoffvorräte zudemdie Möglichkeit, dass weitere große Vorkom-men entdeckt werden könnten (was geschah); erging außerdem wie selbstverständlich davonaus, dass Wirtschaftswachstum und Rohstoffver-brauch sich weiterhin in Abhängigkeit von-einander entwickeln würden (was nicht geschah).

Pessimisten wie Meadows und Ehrlich diskreditier-ten mit ihren Fehlprognosen die Futurologie sonachhaltig, dass noch 1997 der Economist witzelte:

»Diese Leute glauben anscheinend, dass sie, weilsie sich in der Vergangenheit stets geirrt haben,nun zukünftig um so eher Recht behalten werden.«

Der Economist machte sieben Stadien einer pessi-mistischen Prognose aus: Zunächst entdeckt einWissenschaftler eine mögliche Gefahr, etwa für dieUmwelt. Journalisten greifen die Warnung auf,verkürzen und übertreiben sie. Dann nehmen sichdie Umweltschützer des Ganzen an – wer ihreapokalyptische Einschätzung nicht teilt, ist ein Hand-langer der Industrie. Später schlägt die Stundeder Bürokraten: Sie legen Zielmarken fest (wie etwazum CO2-Ausstoß) und ersetzen so wissenschaft-lichen Diskurs durch Verordnungen. Im fünftenSchritt wird ein Übeltäter ausfindig gemacht –am liebsten die USA. Schließlich meldet sich einprominenter Skeptiker (häufig der Wissenschaft-ler, der die erste Warnung ausgesprochen hatte) undwird von den Apokalyptikern empört zum Schwei-gen gebracht. Letzter Schritt: Irgendwann werden diedüsteren Prognosen heimlich korrigiert, dasThema still beerdigt.

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So Recht der Economist auch mit dieser bitterbösenAnalyse hatte, verkannte er doch die Funktions-weise pessimistischer Prognosen, die eine genaueEinschätzung ihrer Validität unmöglich macht.

Während »self-fulfilling prophecies« dadurch wahrwerden, dass man sie ausspricht – eine Zeitungschreibt, eine Bank sei wirtschaftlich schwer ange-schlagen, darauf ziehen alle Einleger besorgt ihrGeld ab und die Bank macht wirklich Pleite –, gibtes andere Vorhersagen, die genau dadurch nichtwahr werden, so genannte »self-destroying prophe-cies«.

Meadows’ Prognosen waren methodologischzweifelhaft – aber sind sie nicht auch deswegennicht eingetreten, weil die Politik bestürzt um-steuerte und so die nahende Katastrophe fürs Ersteverhinderte? Auch eine schlechte Prognose kannalso eine nützliche Prognose sein.

An diesem Punkt lohnt es, sich noch einmal Flecht-heims zu entsinnen. Der hatte nämlich mit demBegriff »Futurologie« nicht nur die Vorhersage vonZukunft, von der bislang vor allem die Rede war,bezeichnen wollen, sondern auch die Planung oderGestaltung von Zukunft. Futurologie also nichtnur als analytische, sondern auch als normative Wis-senschaft.

Futurologie wäre so nicht länger nur deswegenwichtig, um sich auf Gegebenes (passiv) besser ein-stellen zu können – normative Futurologie denkt

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Zukunft vielmehr im Plural, identifiziert eine dieserZukünfte als wünschenswert und benennt dieSchritte, die nötig sind, um diese Zukunft zu errei-chen.

Im Englischen wird dieses Spannungsverhältnisgerne mit drei ähnlich klingenden Wörtern illus-triert: »predictable«, »probable« und »preferable«.

»Predictable«, vorhersagbar, sind eine Reihe unter-schiedlicher Zukünfte, von denen einige eher wahr-scheinlich (»probable«) sind als andere – »prefer-able« ist die Zukunft, für die man sich entscheidetund auf die man hin arbeitet.

Aus Zukunft Zukünfte zu machen bedeutet also, dieGestaltbarkeit des Kommenden in den Mit-telpunkt zu stellen – und so die Autonomie desMenschen zu betonen. Das ist der eigentlicheUnterschied zwischen der modernen Zukunfts-forschung und dem Orakel von Delphi.

Von den elf Beiträgen dieses Bandes ist der vonEckard Minx am deutlichsten diesem Gedanken dermultiplen Zukünfte verpflichtet. Minx warnt vorden Beschränkungen, denen eindimensionale Prog-nosen unterworfen sind, und plädiert deswegenfür die Szenario-Technik, die stets mehrere, in sichkonsistente Zukunftsbilder entwickelt.

Wie können diese Zukunftsbilder aussehen?

Hermann Haken, gelernter Physiker, überträgt phy-sikalische Gesetzmäßigkeiten auf gesellschaftli-che Prozesse und sagt deswegen die Selbstorganisa-tionsgesellschaft voraus. Die naturwissenschaftlich

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geprägte Terminologie Hakens (»Ordner«, »Kon-trollparameter«) ist wenig eingängig, seine Schluss-folgerungen aber lesen sich erfrischend unortho-dox. Haken mildert die Radikalität seiner Gedanken,indem er am Ende seines Beitrags für das »PrinzipVerantwortung« plädiert.

John Naisbitt geht von anderen Grundannahmenaus, kommt aber zu ähnlichen Ergebnissen wieHaken. Wie für viele Amerikaner sind für Naisbittdie Nachkriegsdemokratien Westeuropas (etwaGroßbritannien vor Thatcher) am besten mit demBegriff »Sozialismus« zu beschreiben. Sozialis-mus, Kommunismus und Faschismus – für Nais-bitt ist das 20. Jahrhundert geprägt durch zent-ralistische Steuerung. Auch sein Gegenentwurf istdie Selbstorganisationsgesellschaft. Ihr wichtigs-tes Instrument: das Internet. Die Schlüsseltechnolo-gie der Informationsgesellschaft betreibt damitderen Ablösung, so Naisbitt.

Der deutsche Zukunftsforscher Matthias Horxgreift in seinem Beitrag einen anderen GedankenNaisbitts auf, den dieser in seinem 1992 erschie-nen Bestseller »High Tech – High Touch« formu-liert hatte: dass Technik nämlich nur von Belangist, wenn sie vom Menschen her gedacht wird. Horxzeigt, dass die heutige Informationstechnologie anden Bedürfnissen der Nutzer vorbei geht – auch derKühlschrank mit Internet-Anschluss wird darannichts ändern. Es wird also noch lange dauern, biswir überhaupt von der Informationsgesellschaftsprechen können.

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Angela und Karlheinz Steinmüller haben als ehe-malige Science-Fiction-Autoren keine Berührungs-ängste mit gegenwärtiger und zukünftiger Tech-nik. In einem sokratischen Gespräch deklinieren sieeine Vielzahl technologischer Entwicklungenund möglicher Zukünfte durch – und einigen sichschließlich auf die Traumzeit: eine Epoche derErzählungen und Mythen.

Dieser Gedanke stammt ursprünglich – ein andererQuerbezug – von Rolf Jensen, der 1999 in einemkaum beachteten Buch die »Dream Society« vorher-gesagt hatte. Jensen erläutert in seinem Beitragnoch einmal den Kerngedanken: Die materiellenEigenschaften der Produkte, die wir konsumie-ren, werden immer unwichtiger; wir kaufen statt-dessen die Geschichten, die mit ihnen assoziiertsind. Eine Rolex geht nicht genauer als eine Quarz-uhr aus dem Kaufhaus, sie sieht auch nicht bes-ser aus – aber sie erzählt eine Geschichte. Wenn Ge-schichten aber tatsächlich in Zukunft unser Lebenprägen werden, lohnt es, die Muster und Mechanis-men guter Geschichten zu ergründen – der zweiteFokus von Jensens Beitrag.

Holger Rust beleuchtet kritisch die Geschichtesolcher Labels wie Baby Boomer, Yuppie und Gene-ration X: Er zeigt, dass die von den Begriffen be-schriebene Wirklichkeit häufig erst durch die Be-griffsprägung entsteht. Das nährt sein Miss-trauen gegenüber allen Bindestrichgesellschaften,vor allem, wenn sie mit dem Anspruch auftreten,die jeweilige Vorgängerin komplett abgelöst zu ha-ben. Wir werden »eine informationstechnologie-

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basierte Wissensdienstleistergesellschaft mit in-dustriellem Kern« bleiben, sagt Rust – und machtals neuen gemeinsamen Nenner die Idee aus.

Klaus Burmeister jedoch geht selbst ein Quer-schnittsbegriff wie Rusts Ideengesellschaft zu weit.Für ihn gibt es nicht den einen Nachfolger derInformationsgesellschaft: Burmeister macht eineVielzahl unterschiedlicher Entwicklungen aus,die parallel zueinander ablaufen. Deswegen mussdie Rolle der Gesamtgesellschaft als notwendigerOrientierungsrahmen gestärkt werden. Wie die Zu-kunft aussehen soll, kann dann diskursiv verhan-delt werden.

Auch Charles Leadbeater vermeidet die Ausru-fung einer einzelnen neuen Bindestrichgesellschaft.Er beobachtet scheinbar gegenläufige Trends –zunehmende technische Vernetzung der Menschen,Betonung der Autonomie eines jeden Einzelnen,wachsender Bürgersinn –, glaubt aber, dass sichdiese Entwicklungen zu einer neuen Form vonhybridem Individualismus fügen werden, der selbst-bestimmt und kooperativ zugleich ist.

Steve Talbott wird grundsätzlich: Er dekonstruiertden Begriff Information. Talbotts Befürchtung:Unser Verständnis von Information (definierbar,quantifizierbar, bearbeitbar, übertragbar) ist zueng gefasst, als dass wir damit der Wirklichkeit ge-recht werden könnten: Die technizistisch geprägteVorstellung von Information, die der Informations-gesellschaft zugrunde liegt, so Talbott, klammertSinn und Bedeutung aus.

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Auch Norbert Bolz empfindet – aus ganz ähnli-chen Gründen wie Talbott – ein Ungenügen amBegriff der Informationsgesellschaft: Prägnan-ter wäre es für ihn, von einer Wissensgesellschaftzu sprechen. Je mehr aber eine Gesellschaft aufWissen basiert, desto weniger weiß sie von ihrerZukunft, denn wir wissen nichts von zukünfti-gem Wissen. Das macht Prognosen schwierigerdenn je – und damit letztlich eine Politik desSichdurchwurstelns erfolgversprechender als Anti-zipation und Nachhaltigkeitsdenken.

Elf ganz unterschiedlich Beiträge, Antworten, Aus-blicke also. Die Zukunft wird nicht langweilig.

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Michael Kühlen istLektor im VerlagBertelsmann Stiftung.

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Die Informationsgesellschaft –

Idee oder Realität?

Wir haben davon gehört: Prognosen sind schwierig,insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen.Aber schon das Hier und Heute weist Tücken auf.So stellt Armin Pongs in seinem gleichnamigenBuch die unschuldige Frage: »In welcher Gesellschaftleben wir eigentlich?« Beim Versuch einer Antwortkommen wir ins Straucheln. Gesellschaften werdenals »kapitalistisch«, »feudalistisch«, »industriell«,

»autoritär«, »freizeit- und/oder erlebnisorientiert«bezeichnet. Immer stärker tritt nun der Begriff

»Information« als charakterisierende Größe dermodernen Welt hervor; viele Autoren habenLänder wie die USA, Japan und Deutschland alsInformationsgesellschaften identifiziert.

Dabei ist die »Informationsgesellschaft« nur einesder Label, mit dem die befragten Zeitdiagnostikerunsere Gegenwart zu beschreiben suchen. Zu denanderen Kandidaten gehören die Verantwortungs-gesellschaft, die Wissensgesellschaft, die flexibleGesellschaft, die Mediengesellschaft, die moderneoder gar die postmoderne Gesellschaft.

Man fühlt sich in die mittlerweile berühmte Gruppevon Blinden hineinversetzt, die gebeten werden,einen Elefanten zu beschreiben. Je nachdem, welche

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Stellen die tastenden Hände berühren, fällt dasErgebnis aus: Der Blinde, der ein Bein des Elefantenfühlt, ist davon überzeugt, dass es sich um einenBaum handele, die Person, die das Ohr fühlt,erkennt darin den Fächer, und der Schwanz führtzur Vermutung, es handele sich beim Elefantenum ein Seil. Jeder der Blinden hat auf seine Weiserecht, und dennoch erfasst keiner von ihnen dasgesamte Erscheinungsbild des Elefanten.

Mit der Frage »Was kommt nach der Informations-gesellschaft?« wird es uns also nicht anders gehenals den Blinden, die den Elefanten beschreiben sol-len. In jedem Fall steht fest: Antworten auf Fragenhängen immer davon ab, aus welcher Perspektivewir auf die Frage blicken. Bei der Frage nach der In-formationsgesellschaft können mögliche Perspek-tiven die folgenden sein.

Die technische Sicht – die Datenautobahn:

Dieses Bild der Informationsgesellschaft ist wesent-lich geprägt durch die Leistungssteigerung derInformations- und Kommunikationstechnologie.Die Konvergenz von Rechnerleistung, Telekom-munikation und Medien ist unbestritten der Trendder 90er Jahre. Unbeantwortet bleibt jedoch dieFrage, wieviel Informations- und Kommunikations-technologie notwendig ist, um eine Informations-von einer Industriegesellschaft unterscheiden zukönnen.

Die ökonomische Sicht – die »New Economy«:

Der Internet-Boom führte zur oft geäußerten Mei-nung, die Wirtschaft habe die Ära der zyklischenEntwicklung überwunden und befinde sich nun in

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einer Phase des langen Aufschwunges. Das Plat-zen der Spekulationsblase bestätigte die Kritikerund enttäuschte diejenigen, die in der Tat aufeine »Neue Ökonomie« gehofft und in diese Hoff-nung investiert hatten.

Der Einfluss der elektronischen Informations-verarbeitung scheint dabei übertrieben. Robert J.Gordon zeigte 1999 in einer vielbeachtetenStudie, dass dem unbestritten starken Anstieg desProduktivitätswachstums im IT-Hardware-Bereich eine weitgehend indifferente, zum Teil garstagnierende Entwicklung in allen anderenBranchen gegenübersteht.

Insgesamt ist die Bedeutung von Informations-technologien für Wirtschaft und Gesellschaft un-bestritten. Jedoch ist die Wirtschaft nach wie vorstark durch die Nutzung bodenständiger Faktorengeprägt, von natürlichen Ressourcen bis hin zumenschlicher Arbeitskraft, die sich nicht ohne Wei-teres virtualisieren lassen.

Die soziale Sicht – Information als gesell-

schaftlicher Machtfaktor: Aus dieser Perspek-tive wird versucht, die Informationsgesellschaftüber die Nutzung von Informations- und Kommu-nikationstechnologie sowie deren gesellschaftlicheBedingungen zu interpretieren. Was sind die Rah-menbedingungen dieser Nutzung: Kosten, Quali-fikation, Demographie? Wie steht es um diemögliche Überwachung von Mitarbeitern mittelsInformations- und Kommunikationstechnologie,also etwa die automatische Erfassung der Anschlägepro Minute von Schreibkräften? Trotz weiter

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steigender Durchdringung der Gesellschaft mitsolchen Technologien ist deren Nutzung nach wievor stark unterschiedlich ausgeprägt.

Arbeit – die »Informationsarbeiter«: Die Infor-mationsgesellschaft wird vielfach über die Zahlsolcher Erwerbstätiger definiert, deren Arbeit derUmgang mit sogenannter Information ist. Wenndie Zahl der Lehrer, Rechtsanwälte, Finanzdienst-leister, Unterhalter die Zahl der Stahl-, Werft-und Bauarbeiter übersteige, so konstituiere dasdie Informationsgesellschaft, so diese Definition.

Auch sie ist wegen des Zuordnungsproblems um-stritten. Ist der Bahnangestellte im Stellwerk, derZugfahrpläne verarbeitet, mit anderen Stellwerkenkommuniziert und die Streckenbenutzung regelt,ein Informationsarbeiter? Laut Statistik ist er bisherein »Industriearbeiter«.

Kultur – die Sucht nach weniger und mehr

Information: Der Begriff Kultur bezeichnet einenSatz von gemeinsam getragenen – meist implizi-ten – Theorien, Meinungen und Anschauungendarüber, wie das gesellschaftliche Leben abläuft.

In den hochentwickelten westlichen Gesellschaftenist die Alltagserfahrung in einem bisher nie dagewesenen Umfang durch Medien und eineanwachsende Informationsflut gekennzeichnet.

Paradoxerweise ist es gerade diese starke Zu-nahme von medialer Information, die Kritiker wieBaudrillard aufgreifen, um vom »Ende der In-formationsgesellschaft« zu sprechen. Die schiere

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Informationsmenge, ihre extreme Vielfalt, Kurz-lebigkeit und Widersprüchlichkeit mache sie selbstbedeutungslos. Gleichzeitig würden »Erfahrun-gen aus erster Hand« zunehmend Mangelware.

Was also ist die Informationsgesellschaft? Außerder Meinung, dass Information einen zunehmen-den Stellenwert in der Gesellschaft einnehme, gibtes kaum Übereinstimmung über deren wesentlicheMerkmale. Es muss also offen bleiben, was mit demBegriff Informationsgesellschaft eigentlich gemeintist. Wir werden auch künftig mit der Spannung zwi-schen Euphorie (»Das ist die Zukunft!«) und grund-sätzlichen Zweifeln über die Legitimität des Begriffsleben müssen.

Die Prognose einer Informationsgesellschaft undenthusiastische Reaktionen auf neue Technologiensind kein neues Phänomen. Blicken wir in diezweite Hälfte des 19. Jahrhunderts: Die revolutio-näre Erfindung hieß damals nicht Internet, son-dern Telegraph, doch die Grundidee war dieselbe:Kommunikation und der Austausch von Informa-tionen wurden über ein Netzwerk abgewickelt.

Schnell überzog ein Netz aus Kupferkabeln Europa,Amerika und Asien. Unternehmen, die Länder undKontinente mit Überland- und Unterseeleitungenverbanden, schossen wie Pilze aus dem Boden. VieleKommentatoren sprachen von einer neuen Welt-ordnung. Philanthropen träumten vom Weltfrieden –wenn jeder mit jedem kommuniziere, so die These,gebe es keine Mißverständnisse mehr. Der Wegzur aufgeklärten, friedlichen Welt schien nicht mehrweit.

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Leider wurden die optimistischen Prognosen nurallzu rasch von der Wirklichkeit eingeholt: Stattzum Instrument der Völkerfreundschaft zu wer-den, diente die schnelle Informationsübermittlungvorrangig Geschäftsleuten zur Beschleunigungihrer Transaktionen und Generälen zur modernenKriegsführung; zudem nutzten kleine und großeGauner das Telegraphennetz für ihre Betrügereien.Auch die Freude der Investoren über das Wachs-tum der Telegraphenfirmen währte nur kurz, denndie nächste Revolution der Kommunikation – dasTelefon – zerstörte schon wenig später viele Hoff-nungen und Entwicklungen der Telegraphen-Ära.

Solche vorschnellen Euphorien haben eine ebensolange Tradition wie Fehlprognosen. So meinte derberühmte Mathematiker und Erfinder Lord Kelvinim Jahr 1897: »Das Radio hat absolut keine Zu-kunft.« Eine Mercedes-Benz-Marktanalyse aus demJahre 1900 ergab, dass wegen der begrenzten An-zahl von Chauffeuren »die weltweite Nachfrage nachAutomobilen die Zahl 5000 nicht übersteigen«werde. Der Flugpionier Wilbur Wright vertrat noch1901 die Ansicht: »Der Mensch wird es in dennächsten fünfzig Jahren nicht schaffen, sich miteinem Metallflugzeug in die Luft zu erheben.«Thomas J. Watson, Vorstandsvorsitzender der IBM,meinte 1943: »Ich glaube, auf dem Weltmarktbesteht Bedarf für fünf Computer, nicht mehr.« KenOlsen, CEO des Computerherstellers Digital,sah noch 1977, also mehr als eine Generationspäter, keinen Grund, »warum einzelne Individuenihren eigenen Computer haben sollten«.

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Wie kommt es, dass selbst ausgewiesene Expertenmit ihren Prognosen oft so fürchterlich daneben-liegen?

Zukunft wissen?

Das Problem ist zunächst ein systematisches:Exaktes Wissen über die Zukunft ist unmöglich. EinGedankenexperiment verdeutlicht dieseTatsache: Stellen wir uns vor, wir führen in einemAuto mit schwarz abgeklebter Windschutzscheibeauf einer Einbahnstraße. Durch den Blick in denRückspiegel besitzen wir einiges Wissen über denStraßenverlauf der Vergangenheit, die Sicht nachvorne bleibt uns aber verwehrt. Der prognostischeAnsatz wäre nun, aus dem Verlauf der Straße,den wir bereits kennen, die weitere Straßenführungabzuleiten. Es ist offensichtlich, dass dies nur biszur nächsten Kurve gutgehen kann.

Ein Problem, das mit genügend Erfahrung odertiefgreifendem Wissen über den Status quo gelöstwerden könnte? Nein. Zum einen ist bei denmeisten Problemen die Forderung nach Kenntnisaller Fakten schlichtweg nicht zu erfüllen, weildie Datenmenge in kürzester Zeit gigantische Aus-maße annähme. Selbst die Wettervorhersage –eine Betrachtung relativ weniger, gut beschreibbarerGrößen wie Luftdruck oder Temperatur –stößt beim Versuch, aus der Kenntnis aller Faktenund Zusammenhänge das Wetter vorherzusagen,schnell an ihre Grenzen.

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Laplace beschwor 1814 seinen berühmten »Dämon«,ein theoretisches Konstrukt einer allwissenden In-telligenz, die »für einen gegebenen Augenblick allein der Natur wirkenden Kräfte sowie die gegen-seitige Lage der sie zusammensetzenden Elementekennte . . . [N]ichts würde ihr ungewiss sein, undZukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vorAugen liegen.«

Diese deterministische Weltsicht und damit dieVision der exakten Prognose wurden jedoch spätes-tens mit Plancks Quantentheorie und HeisenbergsUnschärferelation hinfällig. Winzige »Unschärfe-Effekte« auf atomarer Ebene pflanzen sich fort underzeugen makroskopisch erkennbare Unsicherhei-ten, die mit keiner Prognosemethode der Welt vor-herzusagen sind. Seitdem wissen wir, dass dasUnwissen über letzte Zusammenhänge und damitdas Unwissen über die Zukunft systembedingtund nicht zu durchdringen ist.

Ist schon der Versuch problematisch, die Dynamikunbelebter Materie vorherzusagen, so wird der Ver-such der Prognose menschlicher Entscheidungenoder gar sozialer Systeme vollends absurd. Belast-bare Aussagen über die Zukunft sind also im bes-ten Fall von höchster Unsicherheit geprägt,im schlimmsten Fall sind sie reine Scharlatanerie.

Dennoch leben wir in einer Zeit, die süchtig nachZukunft ist. Trendforscher, selbst ernannte Zu-kunftsexperten und Berater erfreuen sich großerNachfrage. Im gleichen Maße, wie die Frage ausder Mode gekommen ist, was wir aus dem lernenkönnen, was war, hat sich die Aufmerksamkeit

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auf das verlagert, was kommt. Prognosen sollenUnsicherheiten abbauen, Orientierung vermit-teln oder Entscheidungen ersetzen.

Unser Umgang mit Zukunft hat immer auch einepsychologische Komponente. Selbst der »objektiveExperte« ist nicht in der Lage, sich aus seinemKontext, seinem Wunschdenken und seinen unbe-wussten Prämissen zu befreien.

Typische Denkblockaden sind etwa:

Unsere Wahrnehmung der Außenwelt ist immerselektiv. Selbst bei einfachen Problemen überfordertdie Masse der verfügbaren Daten das menschlicheBewusstsein – es trifft eine Auswahl.

Diese Auswahl von Informationen ist meist nichtdurch die Sachlage bestimmt, sondern durch Denk-strukturen: Wir überschätzen bestätigende und er-wünschte Informationen und bevorzugen anschau-liche Informationen.

Der Denkapparat kann nur schlecht zwischen zu-fälligen und nicht-zufälligen Ereignissen trennen:Er sieht Zusammenhänge, wo es keine gibt, oder er-kennt sie nicht, wenn sie nicht offensichtlich sind.

Nichtlineare Beziehungen sind schwer einschätz-bar. So überbewerten wir häufig neueste Trendsoder überschätzen die Stabilität längerfristig be-obachteter Ereignisse bzw. Erfahrungen.

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