bakunin, michael - philosophie der tat

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MICHAIL BAKUNIN PHILOSOPHIE DER TAT Michail Bakunin Philosophie der Tat

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MICHAIL BAKUNIN

PHILOSOPHIE DER TAT

Michail Bakunin

Philosophie der Tat

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MICHAIL BAKUNIN

PHILOSOPHIE DER TAT

AUSWAHL AUS SEINEM WERK

EINGELEITET UND HERAUSGEGEBEN

VON RAINER BEER

VERLAG JAKOB HEGNER IN KÖLN

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© by Verlag Jakob Hegner in Köln • 1968 Gesamtherstellung J. P. Bachern in Köln

Printed in Germany

Scan: jojox / 05.10.2005

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INHALT

Einleitung 9 Persönlichkeit und Werk 9 - Geistesgeschicht-l iches Selbstverständnis 18 - Entwurf einer Anti-metaphysik 38 - Sozialrevolutionäres Programm 52 - Lebensbericht aus den Briefen 54 - Anmer-kungen 54

Philosophie der Tat Die Reaktion in Deutschland (1842) 61 Gott und der Staat (1871) 97 Sozialrevolutionäres Programm (1865/66) 321

I. Ziel der Gesellschaft 321 II. Revolutionärer Katechismus 321 III. Zusammenfassung der Grundideen

dieses Katechismus 359 Lebensbericht aus den Briefen (1860 und 1861) 367 Textnachweise 389 Abkürzungsverzeichnis 390

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EINLEITUNG

Michail Bakunin, von Karl Marx als leidenschaft-licher Widersacher erbittert bekämpft, hat von Sei-ten der Nachwelt ein denkwürdiges geistiges Schicksal erfahren. Der ein Leben lang kämpferi-sche Russe teilt es, wenn wir von Marx absehen, mit jenen Philosophen des Protestes, die der Sam-melbegriff „Linkshegelianer“ oder „Junghegelia-ner“ zwar weitläufig umfassend, aber so auch nur typisierend unscharf bezeichnet. Während nämlich Marx schon bald zum geistigen Anführer von Grup-pen, Parteien und schließlich ganzer Staatssysteme erkoren wurde, schienen seine philosophischen Mit-streiter und Antipoden dagegen lange Zeit einer verstummten Periode der Philosophiegeschichte an-zugehören. Sie deckte tiefe Vergessenheit zu, Marx und Engels galten als gefährliche, aber nicht gesell-schaftsfähige Außenseiter. Für das philosophische Bildungsbewußtsein bis zum Beginn des 20. Jahr-hunderts gab es zwischen Hegel und den Neukanti-anern keine Ereignisse von Rang in der Philosophie. Selbst Nietzsche und seine Jüngerschaft fielen der Exklusivität anheim, sozusagen einer aristokrati-schen, die das Gegenstück zur proletarischen von Marx bot. Erst in der Krisensituation des 20. Jahr-hunderts, insbesondere durch die Erschütterungen infolge der beiden Weltkriege, verlor die scheinbar

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fraglose Tradition seit dem Ausgang der klassischen Philosophie des Deutschen Idealismus auch in Deutschland ihre Selbstverständlichkeit. Im Ringen um Neuorientierung und Neuanfänge rückten in das Blickfeld der ernsthaften geistigen Aus-einandersetzung nun auch Philosophen, die bislang - Avantgardisten ausgenommen - nur das Interesse von Ideologen beanspruchten. Man begann die Phi-losophie- und Geistesgeschichte des 19. Jahrhun-derts umzuschreiben und neue Linien in ihrer Land-schaft zu entdecken. Heute zweifelt niemand mehr daran, welche einschneidende Bedeutung jene ver-gessene Epoche nach Hegels Tod für unsere eigene geistige Situation und Existenz hat. Und in diese folgenreiche Epoche gehört Bakunin1 hinein, sie wird von ihm wesentlich mitgetragen. Bakunin ist mit seiner revolutionären Sozialphilosophie ein Zeuge für jenen revolutionären Bruch“2 im Denken des 19. Jahrhunderts, der gleichsam in einer zweiten kopernikanischen Wende nach Kant hinführt zu un-serer eigenen philosophischen Gegenwart. Daß die-se durch das bedrohliche Dreigestirn Marx, Kierke-gaard und Nietzsche mit seiner Kritik und Destruk-tion der überlieferten Metaphysik wesentlich be-stimmt wird, ist auch dort aufzuzeigen, wo man darum nicht weiß. In diesem Prozeß der Destruktion von Metaphysik aber gebührt Michail Bakunin nicht nur deshalb eine geistige Position, weil er führend die Kenntnis Hegels nach Bußland3 vermittelte und

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so die geistigen Voraussetzungen für den späteren Marxismus-Leninismus4 dort schuf. In Bakunins Werk spiegeln sich - nach dem Maße seiner Persön-lichkeit - in gedrängter Dynamik jene Entwick-lungsstadien ab, die von Kant und Fichte zu Hegel und von da in revolutionärer Umkehrung zum Pa-thos einer Anti-Metaphysik oder „Philosophie der Tat“ vorantreiben. Um jedoch den wahren philosophiegeschichtlichen Ort zu sehen, wo Bakunin steht, muß man sich, so-fern vorbelastet, von einer weitverbreiteten Ba-kuninlegende befreien. Sie stempelt ihn zum bloßen politischen Agitator5 - der er natürlich auch ist - ab und etikettiert seine - belangreiche - Spätphiloso-phie und politisch-soziale Theorie mit den nichtssa-genden Formeln des „Nihilismus“ oder „Anarchis-mus“. Um ein zutreffendes Gesamtbild Bakunins zu gewinnen, müssen selbstverständlich seine Spät-schriften herangezogen und von der Thematik aus interpretiert werden, welche die nachhegelianische Zeit als ihre spezifische, noch nicht aus getragene Fragestellung erst hervorbringt. Es gilt also, in dem Auflösungsprozeß der Philosophie des Idea-lismus die Konturen der Bakuninschen Philosophie abzuheben und ihre sachliche Bedeutung herauszu-stellen. Die Auswahl der hier ungekürzt vorgelegten Texte Bakunins setzt sich zwei Ziele. Einerseits nämlich soll ein adäquates Bild von Bakunins Spät-philosophie gegeben werden, die allein über die rein

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historische Fragestellung hinaus eigenes sachliches Gewicht innerhalb des Gesamtwerkes ausmacht. Andererseits sollen darüber hinaus treibende Mo-mente sichtbar gemacht werden, die eine neue, bis zu Hegel nicht explizit gewordene philosophische Thematik freilegen. Die dazu vereinigten Texte ver-mitteln also ein bedeutsames Stück philosophi-scher Problemgeschichte und Problemkonstella-tion, das im Hinblick auf die Genesis der Bewußt-seinslage jenen revolutionären Bruch dokumentiert, im Hinblick auf die Sache aber u. a. auch philoso-phisch-geistige Aufgaben fixieren, die mit Begriffen wie Sozialtheorie nur unvollständig, mit solchen wie philosophischer Anthropologie oder „neuer Lehre vom Menschern nur ungenau bezeichnet werden. An Hand der Texte in diesem Problemkreis orientierende Linien zu ziehen und die Problemfüh-rung zwischen den ausgewählten Stücken erkennen zu lassen, versucht diese Einführung. Doch zu-nächst seien einige Worte über Persönlichkeit und Lebenswerk Bakunins gesagt.

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PERSÖNLICHKEIT UND WERK

Das Leben Bakunins verläuft abenteuerlich bewegt, erfüllt von äußeren und inneren Kämpfen ohne Un-terlaß. Geographisch berührt es, in die Zeit des En-des der Napoleonischen Ära bis einige Jahre nach der deutschen Reichsgründung sich erstreckend, drei Kontinente; an den großen Auseinander-setzungen philosophischer und politischsozialer Art nimmt es leidenschaftlichen Anteil, ja es ist eine wesentliche Kraft in ihnen. Geboren am 18. Mai 1814 als Sohn einer Adelsfamilie in Prjamuchino nahe dem alten Twer, der später Kalinin genannten Stadt, schlägt Bakunin nach sorgfältiger häuslicher Erziehung und reicher Bildungsaufnahme als junger Mann die standesgemäße Offizierslaufbahn ein. Er bricht diese aber plötzlich ab, um sich der Wissen-schaft, insbesondere der Philosophie widmen zu können. Die Beschäftigung mit einem russischen Schellingianer scheint diesen Entschluß ausgelöst zu haben. Der Exoffizier geht 1835 nach Moskau, wo er sich dem Kreis um den berühmten und ein-flußreichen Stankewitsch anschließt. Hier, in die-sem Zentrum des literarischen und philosophischen Lebens im damaligen Rußland, wird Bakunin - im Herbst 1855 - zuerst mit den Werken Kants und Fichtes vertraut. Die guten Deutschkenntnisse las-sen in ihm sogar den Plan reifen, Fichtes Schriften

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„Von der Bestimmung des Gelehrtem und „Die Anweisung zum seligen Leben“ ins Russische zu übersetzen, was zu einem Teil auch geschieht. Fich-tes „Bestimmung des Gelehrten“ erscheint 1855 in der Bakuninschen Übersetzung. Das Pathos Fichtes schwingt im Stile Bakunins noch in den Alters-schriften nach, der Einfluß seiner Freiheitsidee hat sich im Werke Bakunins nie mehr ganz verloren. In höchstem Maße aufwühlend jedoch gestaltet sich sodann Bakunins Begegnung mit dem Werk Hegels, dem er sich zu Anfang 1857 nähert und ab Sommer dieses Jahres intensiv hingibt. Die Aneignung der Hegeischen Philosophie vollzieht sich bei diesem russischen Jünger gleich der Aufnahme einer neuen Offenbarung, der auch das Persönlichste im Leben - geschwisterliche Bindungen und freundschaftliche Bande - zur Deutung bedingungslos unterworfen werden. Die Vertiefung in das Gedankengebäude dieses letzten großen Metaphysikers nicht nur des Idealismus, sondern des Abendlandes, erreicht schließlich einen Grad, daß Bakunin sich nach dem Weggang des Stankewitsch in das Ausland mit Recht als besten Hegelkenner in Moskau und damit im Rußland der damaligen Zeit repräsentieren kann. Als eine Frucht seiner Hegelstudien veröffentlicht er eine Übersetzung von Hegels Gymnasialreden mit einer lehrreichen Einleitung und zwei Aufsätze unter dem Titel „Über die Philosophie«:. Die spät- und nachidealistische Thematik, wie Wirklichkeit

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und Idee, Praxis und Theorie, Existenz und Ver-nunft sich wahrhaft zueinander verhalten, wird be-reits hier aufgeworfen: das sprengende Reflexions-moment der Auseinandersetzung in der Philosophie nach Hegels Tod. Innere und äußere Konflikte, das Wissen, daß in seinem Leben und in seiner Philoso-phie vorläufig alle Möglichkeiten durchgespielt sei-en, trieben den Hegeljünger dorthin, wo er, wie so viele andere, die Quelle des damaligen Geistesle-bens vermeinte und wohin ihn seit Jahren die Sehn-sucht trug: nach Berlin. Im Sommer 1840 trifft Ba-kunin dort ein. Indessen strahlt über dem Berlin die-ser Jahre nicht mehr die Sonne des Hegelianismus in steiler Mittagshöhe, vielmehr neigt der Sonnen-tag des klassischen Idealismus sich der Dämmerung zu. Das geistige Berlin befindet sich inmitten der Ära, die einerseits die Spaltung der Hegelschule in eine konservative „Rechte“ und eine revolutionäre „Linke“ hervorbringt und andererseits die Reihen der Antihegelianer stärkt6. Schelling tritt sein Berli-ner Lehramt unter entschieden antihegelianischen Akzenten und mit gleichsam missionarischem Eifer an7. Die Axiome der überlieferten großen Metaphy-sik sind erschüttert, die gesellschaftlich-politische Lebenswelt Alteuropas beginnt sich zu wandeln; ei-ne ungeheure Wende in der europäischen Welt be-reitet sich vor, in der jegliches und jedes in jedem Bereich revolutioniert wird, bis zum schrankenlosen Durchbruch im 20. Jahrhundert. Die kommenden

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Destrukteure der überlieferten Ideenwelt - Kier-kegaard und Marx - beginnen sich vom Idealismus abzuwenden. Auch Bakunin versucht sich in den Vorlesungen Schellings, bricht jedoch deren Besuch unzufrieden ab und sucht die - schicksalhafte - Be-kanntschaft mit dem revolutionären Linkshegelianer Arnold Rüge im Herbst 1841. Sie eröffnet dem Russen neue philosophische Horizonte, er wird hi-neingeworfen in die Krisenproblematik des einst allmächtigen Hegeischen Systems und mit der völ-lig veränderten geistesgeschichtlichen Situation und ihren gewandelten Fragestellungen konfrontiert. Aus dieser Zeit des beginnenden revolutionären Umdenkens stammt der hier abgedruckte Aufsatz „ Reaktion in Deutschland“ aus den berühmt berüch-tigten Deutschen Jahrbüchern. Fortan wird Bakunin verschlungen vom Protest gegen die „alte“ Philo-sophie und Metaphysik, gegen die „alte“ Gesell-schaft und schließlich gegen den „alten“ Menschen und die „alte“ Welt. Durch den Abbruch des Ber-liner Aufenthalts setzt Bakunin auch nach außen ein Zeichen für seine geistige Wandlung. Dresden, Pa-ris, Brüssel und die Schweiz werden nun seine Wirkstätten, Marx und Proudhon seine Freunde. Und unter den neu erwachsenden sozial-revolutionären Aspekten rückt immer mehr in das Zentrum seiner Überzeugungen die These, daß die Philosophie den Übergang von der Theorie zur Ge-sellschafts-, ja zur Weltveränderung leisten müsse;

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das Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis in der „alten“ Philosophie müsse überwunden werden. Bakunin proklamiert nun eine „Philosophie der Tat“, die er zunächst mehr handelnd vollzieht, als daß er sie denkend ausarbeitet. Chancen zur realen Erprobung bot der Strudel der Zeitereignisse in den Revolutionsmonaten von 1848 und 1849 überreich. Allerdings folgt dem Schritt von der Theorie zur Tat, die Bakunin durch aktive Teilnahme an den Aufständen realisiert, die Verurteilung zum Tode. Nach Aufenthalten in sächsischen und österreichi-schen Gefängnissen und der Begnadigung wird der Revolutionär im Jahre 1851 an Rußland aus-geliefert. Dort muß er unter schrecklichen Umstän-den Jahre in der Peter-und-Paul-Festung zubringen, bis er endlich 1857 in die Verbannung nach Sibirien verschickt wird8. 1861 gelingt ihm über Japan und Amerika die Flucht nach London, das er im De-zember dieses Jahres erreicht9. Das folgende Jahr-zehnt verbringt er rastlos und unstet, der gesamte europäische Kontinent wird Schauplatz seiner agita-torischen Tätigkeit. Er ist fasziniert von den großen politischen Zeitereignissen wie dem Polenaufstand, den italienischen Einigungskämpfen und dem Deutsch-Französischen Krieg, voll der Hoffnung auf einen baldigen Ausbruch der Revolution. Zu-sammen mit Marx beteiligt sich Bakunin maßgeb-lich an der Gründung der „Ersten International - der Internationalen Arbeiterassoziation - am 28. Sep-

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tember 1864 in London10. Bakunins Pläne, als An-führer einer geheimen Internationalen Gesellschaft die Revolution vorzubereiten, stoßen auf hartnäcki-gen Widerstand, so daß er 1872 unter unklaren Ma-chenschaften aus der Internationale ausgeschlossen wird und mit Marx sich endgültig in erbitterter Feh-de entzweit. Wachsende Resignation überfiel da-nach den Enttäuschten, was das Nahebevorstehen einer europäischen Revolution betraf. Doch in den Zielen blieb er beharrlich. Neue schriftstellerische Pläne erfüllten ihn während der letzten Jahre, die er in Locarno zubrachte. In Bern, wo er von einem Freunde sich heilen lassen wollte, fand dieses unru-hige Leben am 6. Juli 1876 sein Ende. Sosehr dieses Leben, durch alle Höhen und Tiefen des Daseins gejagt, getrieben und gehetzt gewesen war, gewann der Akteur dennoch so viel Muße, um in literarischer Gestalt seine Gedanken, wo nicht auszuformen, so doch zu entwerfen. Die Schriften, Manifeste und Entwürfe füllen bereits heute, wo die Neuherausgabe seiner Werke im Gange ist11, meh-rere Bände. Aus solcher Fülle legt die gegenwärtige Auswahl exemplarische Teile des Gesamtwerkes vor, um an literarisch anspruchsvollen Texten Ba-kunins Gedankenwelt in der Phase vorzustellen, in der sie zu einer spezifisch eigenen Position herange-reift ist und die Aussagen nicht nur für den Weg Bakunins zeugen, sondern sein philosophisches Te-los einfangen. Die Auswahlstücke umschließen also

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bleibende oder charakteristische Ergebnisse und Fragestellungen von Bakunins Denken. Bis hin zu dieser Periode der Resultate erstrecken sich natür-lich Stadien des philosophisch-geistigen Werdens. Eine knappe Orientierung darüber soll zumindest einen Eindruck von der dynamischen Entfaltung un-seres Philosophen vorzeichnen und dazu die Mög-lichkeit vorbereiten, die Auswahltexte in das Ge-samtwerk einzuordnen. Vier große Phasen der philosophischen Entfaltung Bakunins sind deutlich zu unterscheiden. Deren An-fänge fallen in die Jahre 1833 bis 1836, sie stehen - nach der Chronologie der Lektüre - im Zeichen Schellings, Kants und Fichtes. Das konzentrierte Studium der Hauptwerke Hegels in den Jahren 1837 bis 1840 verwandelt Persönlichkeit und Philosophie Bakunins zutiefst. Wir heben so eine erste Phase der Beschäftigung mit der Philosophie des Idealismus, die wir als protoidealistische bezeichnen, von einer zweiten ab, die treffend als hegelianische in die Li-teratur eingeführt ist. Da beiden Perioden nur histo-risches Interesse im engeren Sinne gelten kann, sind sie mit Texten in diesem Bändchen nicht vertreten. Während dieses Zeitabschnitts trägt Bakunin in ers-ter Linie mit an der Vermittlung Hegels in das russi-sche Geistesleben. Mit dem Berlinaufenthalt setzt, wie schon ange-deutet, eine schwere philosophische Krise Bakunins ein, in der er eine allmähliche Loslösung von Hegel

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versucht und die ersten Durchbrüche zum Eigenen vollzieht. Dieses dritte Stadium soll, so unbestimmt es sich selbst gibt, als posthegelianisches umschrie-ben werden; es währt von etwa 1842 an in letzten Ausläufen bis zum Revolutionsjahr 1848. Der Auf-satz „Reaktion in Deutschland“ gewährt einen lehr-reichen Einblick, wie Bakunin noch in der Sprache und den Begriffen Hegels zu neuen geistigen Ufern vorzudringen versucht. Das spezifisch Bakuninsche Philosophieren beginnt sich zu formen, wir stehen kurz vor der eigentlichen Reifephase, also vor der vierten, radikalistisch-antimetaphysischen Periode, in der Bakunin seinen Entwurf einer Anti-Philosophie hervorbringt. Das philosophische und das agitatorische Element sind in dieser „Philoso-phie der Tat“ nicht mehr ohne weiteres zu trennen. Repräsentativ für sie ist die Abhandlung „Gott und der Staat“ aus dem Jahre 1871. Sie enthält alle we-sentlichen Themen der voll entfalteten Philosophie Bakunins. Auf ihren Grundlagen basiert das Sozial-revolutionäre Programm, von dem der „Katechis-mus der revolutionären Gesellschaft - 1865/ 66 ge-schrieben - eine anschauliche Probe bietet. Im Rückblick auf die Stadien, die der revolutionäre Denker durchlaufen hat, darf an den besonderen Aspekt erinnert werden, unter dem die hier vorge-nommene Periodisierung von Bakunins philosophi-scher Entwicklung steht. Sie darf, wie bei allen aus der Gedankenwelt der Linkshegelianer stammenden

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Philosophen, nicht als in einer streng systematisch-folgerichtigen Gedankenentfaltung begründet gese-hen werden. Denn diese Epoche der Auflösung des Systemdenkens hat ihre besondere Eigenart und fordert eigene Maßstäbe der Beurteilung und Be-trachtung, wenn wir jene verstehen wollen. Vor al-lem der kritischen Auseinandersetzung ist damit ei-ne besondere methodische Aufgabe gestellt, die der Leser der Werke jener Epoche nach den großen Systemen allenthalben auf sich nehmen muß. Der neuartigen Problematik verliehen die Entdecker in einer neuartigen Struktur der Texte beredten Aus-druck, die näher zu erörtern ist.

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GEISTESGESCHICHTLICHES

SELBSTVERSTÄNDNIS Diese strukturelle Eigenart im Denk- und Sprachstil der Nachhegelianer liegt nun insbesondere darin, daß sie im Wechselspiel von Begriffen und Appel-lationen philosophieren, gelöst vom Systemzwang und bewußt engagiert am Pathos des politischen und gesellschaftlichen Protestes. Damit sind We-senszüge genannt, die das geistesgeschichtliche Selbstverständnis der Epoche nach Hegel bestim-men. Bakunins Jahrbuchartikel „Reaktion in Deutschland“ spiegelt es anschaulich wider. Er steht deshalb an der Spitze unseres Auswahlbändchens, damit der Umkreis abgesteckt werde, innerhalb des-sen das Philosophieren Bakunins beim Eintritt in die Reifeperiode ansetzt. Vorweg ist zu sagen, daß seine Reflexionen sich ebensowenig wie die der Zeitgenossen vom Gewand der metaphysischen Spekulation ganz befreien können, andererseits aber der durchgehenden Strenge der Begriffsentwicklung längst abgeschworen haben. Das politisch-sozialökonomische Engagement ist das Maß aller Dinge, die Aufgabe des Philosophen besteht nicht so sehr in der Reflexion und Meditation als viel-mehr in der Revolte, der geistigen wie der tätigen. Provokativ und überraschend für den, der zunächst die Zusammenhänge nicht kennt, stehen die Sätze

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Bakunins da, es stehe bevor »eine qualitative Um-wandlung, eine neue, lebendige und lebendig ma-chende Offenbarung - ein neuer Himmel und eine neue Erde -, eine jugendliche und herrliche Welt, in der alle gegenwärtigen Dissonanzen zur harmoni-schen Einheit sich auflösen werden«12. Unver-kennbar Töne eines Messianismus, eines - inner-weltlichen - Zukunftversprechens, das uns von Marx und Lenin nur zu bekannt ist! Dieses Heils-versprechen kehrt jedoch auch bei den Propheten der technischen Weltperfektion wieder, die kom-munistischen Theorien nicht nur fernstehen, son-dern in der Regel erklärte Gegner dieses politischen Systems sind. Ganz offensichtlich also rühren wir an Zusammenhänge, deren Wurzeln tiefer Hegen und die offenbar eines dringlichen Gegenwarts-interesses würdig sind. Zunächst ähnlich befrem-dend für den unvoreingenommenen Leser von heute wird die Art sein, wie Bakunin die gesellschaftlich-politische Konstellation seiner Zeit mit Hegeischen Begriffsschemata analysiert. Dennoch wird es sich verlohnen, und zwar nicht nur aus historischen, gei-stesgeschichtlichen Gründen, sondern ebensosehr zum Verständnis des Werdens der eigenen Gegen-wart, der exponierten Thematik nachzugehen. Hin-ter der These Bakunins, Hegel »hat eine praktische Welt postuliert - eine Welt, welche keineswegs durch eine formale Anwendung und Verbreitung von fertigen Theorien, sondern nur durch eine ur-

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sprüngliche Tat des praktischen autonomischen Geistes sich erst vollbringen wird«13, ist unschwer der Ursprung des Geistes zu erkennen, der der Geist unserer Zeit ist. Der Essay Bakunins enthält in nuce jene Problematik, die den Hintergrund der Ausei-nandersetzungen über Marx, Kierkegaard und Nietzsche bis hin zu Heidegger in unseren Tagen schafft. Wenn wir bei der Analyse der Grundthesen der Abhandlung Schicht um Schicht abtragen, wer-den wir die unabsehbare Macht Ideologie - viel zi-tiert und wenig verstanden allenthalben - von ihren geistesgeschichtlichen Wurzeln her und in ihren Verfahrensweisen gleichsam idealtypisch freilegen können. Erwachsen sind die Denkmotive Bakunins hier wie anderwärts dem Boden umfassender Hegel-Aneignung und schließlich grundsätzlicher Hegel-Kritik, wie auch Feuerbach, Strauß, Bruno Bauer, Moses Hess, Kierkegaard und Marx sie übten14. Nur ist Bakunin in vielen Punkten radikaler und konse-quenter. Wie er die eigene geistesgeschichtliche Si-tuation verstanden wissen will, bestimmt er sehr präzise. „Hegel“, sagt er, ist „unbedingt der größte Philosoph der Gegenwart, die höchste Spitze unse-rer modernen, einseitig theoretischen Bildung... ge-rade dadurch ist er auch der Anfang einer notwen-digen Selbstauflösung der modernen Bildung15.“ In dieser These, daß die moderne Bildung, d. h. was Inhalt und Form des Geistes jetzt ausmacht, einem

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Selbstauflösungsprozeß unterliege, formuliert Ba-kunin das Selbstverständnis der Nachhegelianer kla-rer und unverzerrter, als es bis dahin geschehen war. Das Ziel dieses Prozesses sei, wie Bakunin meint, „die Selbstauflösung in eine ursprüngliche und neue praktische Welt - in die wirkliche Gegenwart der Freiheit16“. Diese Sätze, die auf den heutigen Leser wie erratische Blöcke herniederfallen, verlangen uns durch ihren Voraussetzungsreichtum ein inter-pretierendes Verweilen ab, das uns jenes vielfältige Geschehen des revolutionären Bruches des Denkens im 19. Jahrhundert mit seinen bedeutsamen Folgen aufgliedern soll. Wir setzen also an zu einem Über-schreiten jener Schwelle, an der geistesgeschichtlich unsere moderne Welt beginnt. Die Entgegensetzung von Theorie und Praxis, die hier im philosophischen Grundansatz Bakunins eine so große Rolle spielt, ist uns Heutigen insbesondere durch die Nachhegelia-ner so sehr zum Gemeinplatz geworden, daß die grundstürzende philosophische Wende, die in dem Thematischwerden eines schroffen oder gar aus-schließenden Gegensatzes zwischen beiden sich ankündigt, leicht übersehen werden kann17. Wir be-finden uns damit an einem Angelpunkt, der eine ü-ber zweitausendjährige Überlieferung abtrennt von der Moderne, Grundvoraussetzung schafft für die moderne Arbeitswelt. Ein gewaltiger philosophi-scher Destruktionsprozeß hat sie ermöglicht, Ba-kunin hat an ihm Anteil auch nach dieser Seite hin.

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Zur Vergegenwärtigung des Ausmaßes dieser Wandlung müssen wir weitläufiger zurückgreifen. Den Bereich der Praxis hat die europäische Philo-sophie von Plato und Aristoteles bis Hegel nahezu durchgängig als unwesentlich zugunsten der „Theo-rie“ abgewertet. Das Wesentliche dieser Welt war nach dieser Auffassung nur durch die Mühen des theoretischen Geistes zu erfassen, ihm schloß sie sich auf. Dieser war eingehaust im un-erschütterlichen unveränderlichen Reich des Im-merseienden, dessen letzter Grund als Gott, sei es als unpersönliches höchstes Gut oder personaler christlicher, gedeutet wurde. Dieser Ideenkosmos lag vor jeder Inhaltlichkeit der Welt, vor jeder Dif-ferenzierung von Geist und Natur. Menschliche Theorie war ein Spiegelbild göttlicher Theorie, d. h. geistiger Anschauung, deren Übermacht alles Sei-ende vorherbestimmte und vorherformte. Prakti-sches, Zugestaltendes außerhalb dieser Sphäre konnte Selbständigkeit nicht beanspruchen. „Pra-xis“ konnte erst in dem Maße Eigenständigkeit ge-winnen, in dem das menschliche Subjekt selbst zu Selbstmächtigkeit erwachte. Die unangefochtene, nur zuweilen in neuen Perspektiven sich offenba-rende Macht des Reichs der Ideen - fundamentale Voraussetzung aller großen Philosophie bis dahin - wird erst zu Beginn der europäischen Neuzeit einer Umprägung unterzogen, in der die Stellung des menschlichen Subjekts neu bestimmt und in engem

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Zusammenhang damit die Sphäre der „Praxis“ in einer gewissen Vorläufigkeit entdeckt wird. Bevor wir dieses revolutionierende Phänomen näher be-trachten, wollen wir uns kurz der Stationen erin-nern, durch die hindurch es am Ende in seiner gan-zen Entfaltung erblüht. Nikolaus von Cues und Des-cartes schmelzen den überlieferten Kosmos der I-deen - bisher als übermächtig, gegenständlich, dem Subjekt vorgegeben schlicht hingenommen — ein in die Rückwendung zum betrachtenden und auf-nehmenden Subjekt. Fortan setzt alles Philosophie-ren in einer Wende gegen die Überlieferung seit der Antike primär beim Subjekt, beim Menschen an: der philosophische Ausdruck für jenen ungeheueren Bewußtseinswandel in Europa, der seit der Renais-sance in nie dagewesenem Aktivismus ausgreift zur Eroberung der Erde. Diese Subjektphilosophie selbst kulminiert in den Werken der Philosophie des Idealismus, bei Kant, Fichte, Schelling und Hegel - natürlich in mannigfach abgewandelter Gestalt -, und erreicht ihre Peripetie, wie uns die eingangs zi-tierten Stellen bereits deutlich zeigten, bei Bakunin. Was heißt dieses Ausgehen vom Subjekt, was meint neuzeitliche Subjektivitätsphilosophie, was bedeutet Souveränitätserklärung des Subjekts, die Bakunin in extremer Weise radikalisiert? Bis zum Anbruch der europäischen Neuzeit war die Grundstellung des philosophierenden Menschen dadurch bestimmt, daß er stets einer ihn übersteigenden Macht sich ü-

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berantwortet sah, sei es der der Ideen, der allgemei-nen Vernunft, des in sich beständigen Seienden oder Gottes. Diese Mächtigkeit der Objektivität von Sein und Seiendem destruieren die Philosophen der „ko-pernikanischen“ Wende; sie entdecken die Macht des Bewußtseins und schließlich die gestaltende Tä-tigkeit des menschlichen Subjekts gegenüber dem, was Welt, was gestalthaft Seiendes erst vermöge des Gestaltenkönnens des Subjekts wird. Nicht nur Philosophie, sondern „Welt“ insgesamt werden nun vom Subjekt und seiner Freiheit aus verstanden und in der Theorie aufgebaut. Auf dem Höhepunkt die-ser philosophischen Entwicklung kommt es zu einer nie dagewesenen Verkündigung der Freiheit des menschlichen, endlichen Geistes, wobei Freiheit nicht nur als sittliches Moment begriffen wird, son-dern als souveränes Entwerfenkönnen von Welt und Seiendem, die zu bloßem Material der Tätigkeit des autonomen Subjekts herabsinken. Noch freilich blieb es Vollstrecker der Tätigkeit eines - wider-sprüchlich gedachten - absoluten Subjekts hin zu Hegel. Da dieser Fragestellung nicht nur Bakunins Freiheitsthematik entspringt, sondern weitere we-sentliche Momente, die er zur Deutung der eigenen geistesgeschichtlichen Situation heranzieht, wenden wir uns kurz dem Stadium der Subjektphilosophie bei Hegel zu. Aus ihm nämlich stammen die Apo-rien, die über das Freiheitsphilosophem hinaus Ba-kunins Problematik hervortreiben: die Frage nach

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dem „Praktischwerden“ von Ideen, die Frage da-nach, was „Wirklichkeit“ eigentlich sei und wie die Resultate der neuen Philosophie eine „neue Welt“ begründen können. Sofern also Welt und Mensch nicht in eine vorge-gebene Ordnung von bestandhaft Seiendem einge-spannt sind, sondern Welt und Mensch, Seiendes und Sein einen Prozeß des Bewußtseins des Sub-jekts darstellen, erhebt sich unabweisbar die Frage, welche Bedeutung der nicht eliminierbaren Zeit-lichkeit des Subjekts zukommt. Der damit geöffnete Horizont der Geschichtlichkeit scheint allen souve-ränen Weltkonstruktionen vom Subjekt aus zu spot-ten, und sie spottete ihrer je länger desto tiefer. Die bunte Vielfalt von Welt, Leben, Geschichte beginnt philosophisch relevant zu werden, die bislang all-mächtige autonome Vernunft wird mit Bereichen konfrontiert, denen sie sich bisher entziehen zu können glaubte. Eine neue Welt von Erfahrung und Wirklichkeit tut sich auf, die nach Bakunins und der Linkshegelianer Meinung der Selbstmächtigkeit der Ideen trotzt. Hegel jedoch versuchte noch das Alte und das Neue in einem System zusammenzubauen: die Vernunft schien die Mannigfaltigkeit der wirk-lichen Geschichte durch die ordnende Macht der zielgerichteten Ideen bewältigt zu haben. »Was ver-nünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig«, lautet der berühmte Satz in der Rechtsphilosophie18. Zwar hatte Hegel die Ideen in

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den Kampf der Geschichte, in die Zeit hineinver-senkt, aber nur um sie so reiner am Ende dem be-trachtenden - theoretischen - Geist zum Genuß dar-zubringen: Theorie und Praxis, Geist und Natur, I-dee und Wirklichkeit, Vernunft und Tatsachenwelt schienen in faszinierender Harmonie versöhnt. Das Subjekt aber war nun unendlich ausgeweitet zu ei-nem namenlosen allgemeinen Geist, der den Schmerz des endlichen leidenden Subjekts und sei-ner Realbedingungen rücksichtslos mediatisierte zu einer Stufe des allgemeinen Fortschritts im Bewußt-sein der Freiheit. Die menschliche Geschichte, die Weltgeschichte wurde Schädelstätte zur Verherr-lichung des Absoluten. Diese künstlichen Synthesen aber, die Endliches und Unendliches so wissend versöhnten, fielen der radikalen Destruktion zum Opfer, wie sie Kierkegaard, Marx und Bakunin bei-spielhaft einleiteten. In einer Pervertierung der ide-alistischen Subjektsphilosophie verneint Bakunin unter Einebnung des Bezuges zu Unendlichem jede Schranke für den menschlichen Geist und setzt die radikale Autonomie des Subjektes, das frei seine Welt entwirft. Unter dieser übersteigerten Selbst-mächtigkeit des Subjekts schrumpft notwendiger-weise alles Seiende außerhalb des Subjekts zum bloß Verfügbaren zusammen. In solchen Zusam-menhang also müssen die zum Teil phantastisch anmutenden Reflexionen der Jahrbuchabhandlung gestellt werden. Indessen trägt dieser radikalisierte

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Autonomieglaube nicht nur Bakunins Philosophie - sosehr er in dieser Form befremdlich erscheinen mag -, sondern er liegt der Vielzahl der „modernen Weltanschauungen“ verborgen zugrunde, ja er ist die verschüttete geistesgeschichtliche Grundlage unseres technokratischen Zeitalters, wenn es auch davon nicht weiß. Sein Perfektionsglaube, sein Pa-thos universeller Planung, sein Mythos der Mach-barkeit und Herstellbarkeit von jedem und jegli-chem durch die moderne Wissenschaft sind nur möglich geworden auf dem Boden der radikalen Subjektivitätsphilosophie, die prinzipielle Grenzen nicht mehr anerkennt, sondern nur noch relative. Die Implikation der Probleme Subjektivität, Freiheit und Autonomie, des Verhältnisses von Theorie und Praxis, von Ideenphilosophie und Wirklichkeitsphi-losophie, von meditativer und Tatphilosophie weist auf die Zukunftsaufgabe der Philosophie nach den Nachhegelianern hin. Die Destruktion der Hegel-schen Synthesen richtet sich letztlich auf den Ver-söhnungscharakter seiner Philosophie überhaupt. Die sichtbar gewordenen theoretischen Widersprü-che beschwören einen Kampf gegen alle Versöh-nungsversuche des Systems herauf, der am Ende den Harmonieglauben, der die überlieferte euro-päische Metaphysik - bis auf wenige Ausnahmen -beherrschte, zum Einsturz bringt. Mit diesem Vor-stoß erhält der seit dem Spätmittelalter in Gang ge-brachte Prozeß der Entzauberung und Säkula-

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risierung der Welt seinen philosophischen Aus-druck. Die triumphal verkündete „neue Welt“ wird im 20. Jahrhundert von bedrängender Endlichkeit, der Mensch in der Profanität zu einem philo-sophischen Zentralproblem19. Bakunin ist erfüllt von einer wahren Leidenschaft, diese Entzauberung voranzutreiben bis zu dem Punkt, wo dem Men-schen nur noch die nackte Härte der Faktizität in sich und um sich bleibt; am heftigsten attackiert er in seiner Kampfschrift diejenigen, die noch an den Versöhnungen der überlieferten Metaphysik festhal-ten möchten - die gescholtenen und verachteten Vermittler, welche die großen Gegensätze der Zeit, der Gesellschaft in Hegelscher Manier versöhnen wollen. Denn so viele Begriffsschemata auch Bakunin aus Hegels Arsenal hervorholt - wir werden dies noch näher verfolgen können -, so gilt doch seine kri-tisch-destruktive Stoßkraft der Zerstörung der Ver-mittlungen Hegels, sei es der zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Gott und Welt, Staat und Reli-gion oder Philosophie und Zeitsituation. Diese Am-bivalenz in der Stellung Bakunins zu Hegel, der zu-folge der einstige Hegeljünger bis zu seinem Tode zwischen Bewunderung und Verachtung Hegels schwankt, zieht sich durch Bakunins Werk seit Be-ginn seiner philosophischen Reifezeit. Bevor wir aber in die denkwürdige, zunächst schwer verständliche Handhabung Hegelscher Be-

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griffe wie des Gegensatzes, der Negation und Revo-lution in der vorliegenden Schrift einzudringen ver-suchen, soll uns ein Rekurs auf die Problematik der Subjektivitätsphilosophie des Autors darauf vorbe-reiten und die Axiome seines Entwurfes deutlicher machen. Die Subjektivitätsphilosophie hatte jede objektive Vorgegebenheit aufgelöst zugunsten eines Dyna-mismus der Entfaltung des Selbstbewußtseins: „Welt“ war zum Prozeß des Geistes geworden. In dieser Selbsterkenntnis des Geistes als universeller Mächtigkeit sah Hegel die absolute Vollendung der Philosophie, durch die Natur und Geist, Mensch und Gott, Geschichte und Gesellschaft und ihr Ziel keine Rätsel mehr ließen, sondern eben einem ab-schließenden und abgeschlossenen Wissen un-terworfen waren in der letzten aller Philosophien, in der Hegeischen. Der Geist auf der Stufe des zu sich gekommenen Selbstbewußtseins erkannte im Rück-blick auf allen Stufen nur sich selbst auf seinem notwendigen Gang. Hegel beanspruchte das sichere Wissen, daß nun das Ende, der Abschluß der Ge-schichte erreicht sei. Inzwischen war jedoch die „Geschichte“ weitergegangen, und zwar unerbittlich und schrecklich weitergegangen. Sie brachte in den dringlichen neuen politischen und sozialen Proble-men unabweisbare neue Realitäten hervor, ange-sichts derer die jüngere Generation, darunter mit explosiver Energie Bakunin, neue Aufgaben an

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Stelle vollendeten Abschlusses, Kampf und Zwiespalt an Stelle harmonischer Versöhnung, den Schmerz der Existenz des Individuums und seiner realen Verhältnisse an Stelle seligen Aufgehens in der Betrachtung des Weltgeistes entdeckten. Enthu-siastisch wird diese werdende „neue Welt“ zum Thema der Philosophie gemacht, deren Bestimmung neu formuliert wird. Sie könne sich nicht mehr mit der Theorie begnügen, ihre Wahrheit bestehe im Praktisch wer den. Der Wahrheitsbegriff, der - klas-sischer Tradition diametral entgegen - unter den veränderten Aspekten einer gewaltsamen Revoluti-onierung verfällt, wird von Bakunin vollends radi-kalisiert: »Weg mit allen religiösen und philosophi-schen Theorien! Sie sind nur eine Lüge; die Wahr-heit ist keine Theorie, sondern die Tat, das Leben selbst20.« Damit hat Bakunin jene Bahn der Absage an die Vernunft betreten, die Schopenhauer gegen die Vernunftüberlieferung seit den philosophischen Anfängen bei den Griechen in die europäische Phi-losophie einführte. Im Irrationalismus Nietzsches und Spenglers hat sie ihre Fortsetzung erhalten. Ba-kunins Pamphlet „Die Reaktion in Deutschland“ wird so zu einer Programmschrift der „Philosophie der Tat“, welche den Übergang von der Theorie zur Praxis und das heißt zur politisch-gesellschaftlichen Tat erzwingen will. Dieser Tat aber fehlt das Was und Wohin. Denn in dieser prophetisch propagier-ten „Philosophie der Tat“ überschlägt sich das idea-

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listische Autonomiedenken. Kants theoretisches Subjekt prägte der Welt der Inhalte die Formen auf, und das moralische Subjekt stand absolut über aller Inhaltlichkeit, nur auf formales Gesetz bezogen, souverän da. Nach Bakunins Grundphilosophem aber schafft sich das menschliche Subjekt seine Welt selbst in jeder Hinsicht. Überlegungen und philosophische Verfahrenswei-sen solcher Art mögen wie abstruse Gedanken-experimente erscheinen, jedoch nur so lange, bis ih-re wirklichkeitsträchtige Macht nicht durchschaut ist, ihre Nachwirkung bis zur eigenen Gegenwart, die so realitätssicher sich gibt, nicht anerkannt ist. Denn in der vorgeführten Radikalisierung der neu-zeitlichen Subjektivitätsphilosophie und in der Ü-bersteigerung des Autonomiephilosophems bildet sich jener ungeheuer folgenreiche Ansatz heraus, der von einst bis zur Gegenwart den Boden bereitet, auf dem ein nie vorher dagewesenes Pseudodenken keimt, nämlich das der halben oder ganzen Ideolo-gien, der Weltanschauungen und Parteiprogramme, die nicht Politik, sondern Ersatzreligionen bieten. Reflektieren und Philosophieren sind nicht mehr primär Erkenntnis von Seiendem oder Erkenntnis-streben auf es zu, sondern selbstmächtiges Entwer-fen von „Welten“ - verkürzten und verzerrten Er-satzbildern der Wirklichkeit. Gemeinsam ist diesen Weltbildern der Entwurfcharakter, ob sie nun von sozialistischen Ideologen oder kapitalistischen

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Technokraten stammen. Und so offensichtlich die philosophischen oder wissenschaftlichen Irrtümer solcher Entwurfsphilosophien sind, die autonom konstruierte abgeschlossene Bilder dieser Welt an die Stelle des wirklichen unabschließbaren Ganzen aufzwingen wollen, stellen sie dennoch in allen Tei-len des Globus eine schreckliche Macht dar: Eine grenzenlos veränderbare Welt wird dem grenzen-los selbstmächtigen Menschen - scheinbar - immer verfügbarer. Eben diese Perspektive falscher Un-endlichkeit, die heute so viele Äußerungen über Mensch, Welt und Geschichte im Grunde verdirbt, liegt Bakunins Worten zugrunde, daß ein neuer Himmel, eine neue Erde geschaffen werde. Bakunin schlägt dabei, wiederum in Gemeinsamkeit mit al-len ihm nachfolgenden und gegenwärtigen Ideolo-gen, einen Ton an, der an die Verkündigung eines Reiches ohne Ende erinnert und einen Endzustand verheißt, der jeden für immer beglückt — natürlich im Diesseits. Eschatologisch-chiliastische Momen-te der Weltreligionen werden also säkularisiert, das Unendliche verendlicht, Überzeitliches verzeitlicht, bisher als jenseitig Betrachtetes verdiesseitigt, eine qualitative - nicht graduelle - Veränderung der Menschenwelt in Aussicht gestellt. Die pseudo-religiösen Elemente sind unverkennbar. Indessen unübersehbar selbst für den Priester der autonomen Weltentwürfe und -konstruktionen existieren jene mächtigen Realitäten im Leben des einzelnen wie

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der Gemeinschaft, als da sind die überlieferten I-deen von Gott, Welt, Mensch; die bisherige Ge-schichte, Institutionen wie Staat, Kirche und Wirt-schaft; die Gesellschaft mit ihren Rechts-, Eigen-tums-, Kultur- und Erziehungsverhältnissen. Sie al-le müssen - Bakunin verwendet den Terminus be-reits in dieser Abhandlung21 - der Destruktion, d. h. dem zerstörenden Abbau unterzogen werden. Noch rührt Bakunin erst am Rande an das Thema Destruktion; die Umwertung der Werte, wie Nietz-sche sagt, steht noch bevor. Später wird er, wie wir noch erfahren werden, weitergehen bis zur systema-tischen Pandestruktion, d. h. alles, die Welt der Ü-berlieferung wie auch die gesamte gegenwärtige Welt, soll zerstört werden. In der Frühphase der „Philosophie der Tat“, wie sie sich im Essay nie-dergeschlagen hat, ist dieses Thema noch einge-grenzt auf die Realität der Parteien der Zeit. Ihrer Analyse wendet sich Bakunin im einzelnen zu. Er hat also einen sehr konkreten Gegenstand gewählt, der allerdings zur Überraschung des Lesers sehr abstrakt behandelt wird. Denn Bakunin zieht zur Deutung die vergleichsweise abstrakten Begriffe Hegels heran. Was so als eitles Spiel mit leeren Begriffen erscheinen könnte, enthüllt sich allerdings als eine tödlich ernste Philosophie der Politik auf Grund von Prinzipien. Wir nennen vorweg die we-sentlichen davon: Gegensatz, Negation, Revolution und die - schon genannte - Destruktion. Bakunins

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Ambivalenz zu Hegel und den Idealisten zeigt sich dabei am deutlichsten daran, wie er den Begriff der Negation umprägt und so sein geistesgeschichtli-ches Selbstverständnis auf eine völlig veränderte Basis gründet. In der Hegelischen Metaphysik folgt jeder Thesis - sie negierend - die Antithesis, die wiederum in der Synthesis aufgehoben wird. Die Negation ist also jene treibende Kraft in allen Bezir-ken, die Positives schafft. Bakunin dagegen erhebt - in einem revolutionären Akt - die Negation zur Ei-genständigkeit, ja zur Mitte des menschlichen Geis-tes. Von Hegel bzw. Schelling führt hier eine große Linie über Bakunin zu Nietzsche und Sartre. Es ist der fortschreitende Aufstand gegen das Sein, die Revolte des Nichts, gestiftet von der Überzeugung, daß es die besondere Auszeichnung des Menschen sei, nicht so sehr an Seiendes und Existierendes zu rühren, sondern vielmehr, Seiendes und Existenz insgesamt negieren zu können. Dieses Vermögen des Verneinens wird der Grund für die All-machtstellung des menschlichen Subjekts und die Vernichtung alles Gegenständlich-Objektiven in Natur und Geschichte. Die Konsequenzen dieses Theorems wird Bakunin erst in den kommenden Jahren weiterdenken, vorläufig skizziert er noch unbekümmert aus jugendfrischem Geiste heraus die triumphalen Möglichkeiten der realisierten mensch-lichen Freiheit, die zerstört und aufbaut. Denn »die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende

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Lust22«. Drohend nehmen sich schon jetzt Bakunins Worte aus, die Parolen der großen Französischen Revolution - liberte, egalite, fraternite - seien oft mißverstanden worden. Man vergesse so leicht, »daß diese Worte die gänzliche Vernichtung der be-stehenden politischen und sozialen Welt andeu-ten23«. Darin also liegt das Ziel der neuen Philoso-phie beschlossen. Sie will nicht nur der Praxis ge-gen die Theorie einen Anspruch erkämpfen; sie will nicht nur eine neue Welt praktisch gestalten; diese neue Philosophie, entstanden aus den neuzeitli-chen Philosophemen von Subjektivität, Freiheit, Autonomie und Negation, schickt sich an, nicht nur die überlieferte geistige Welt, sondern auch die ge-sellschaftlich-politische zu destruieren. Ja, sie wird - immer mehr - diese Intention als die für sie ent-scheidende offenbaren. Am Thema „Reaktion“ ent-wickelt Bakunin nicht nur seine politische Theorie, sondern Ansätze zu einer aller herkömmlichen Me-taphysik entgegenlaufenden Philosophie. Sein Es-say ist nach übereinstimmender Auffassung die be-deutendste Darstellung des geistesgeschichtlichen Selbstverständnisses der Junghegelianer. Sie entfal-tet die ganze Motivik der Philosophie der Zeit. - Ohne Zweifel ist die Stoßkraft bewundernswert, mit der die Probleme der veränderten Situation aufge-griffen werden. Politik und Gesellschaft werden für die Philosophie zentrale Themen. Aber damit nicht genug: Brennende Fragen der Gesellschaftsge-

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staltung in der modernen Welt und immerwährende Aufgaben der Gestaltung von Politik unter der Idee der Freiheit werden schonungslos und mit ganzem Einsatz angegangen. Dieses bleibende Wahrheits-moment darf trotz der vielen Irrtümer nicht ver-kannt werden: Ihm gilt noch heute verdientermaßen das unmittelbare Interesse. In ihrer bedingungslosen Radikalität wird sich allerdings diese neue Philoso-phie sogar gegen die eigene Abkunft wenden, in-dem sie sich als Philosophie selbst überwinden will in einer schrankenlosen Politisierung ihrer selbst: Die Philosophie stirbt ab, Sinn kann nur mehr die politisch-gesellschaftliche Tat beanspruchen. Voll des Triumphes, eine eschatologische Wende vollzo-gen zu haben, ist diese Anti-Philosophie nirgends klarer entworfen als in Bakunins größtem und ge-schlossenstem Werk „Gott und der Staat“, das man mit Recht als sein Hauptwerk bezeichnen kann.

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ENTWURF EINER ANTIMETAPHYSIK Bakunins Entwürfe in seiner Brandschrift gegen die Reaktion bilden nämlich sozusagen nur die Propy-läen für den Tempelbau der neuen revolutionären Philosophie, den er in dem monumentalen Werk „Gott und der Staat“ errichtet hat. Radikaler und re-volutionärer ist im Abendland selten philosophiert worden. Nun gelingt Bakunin eben der volle Durchbruch, der in der Zeit des Jahrbuch-Essays durch eine noch anhaltende und auch ungeklärte Bindung an Hegel verhindert wurde, und zwar ge-schieht er mit der ganzen Leidenschaftlichkeit, zu welcher der Russe Bakunin mehr Prädestination hatte als seine westlichen Geistesverwandten. Wir können nämlich an mehreren Beispielen polnischer und russischer Hegelkritiker der Epoche beobach-ten, wie gerade sie mit der Vehemenz slawischer Menschen entschiedener und radikaler den Bruch mit dem Althegelianismus vollziehen als andere; si-cher auch auf Grund einer völlig anders gearteten geistigen und sozialgeschichtlichen Tradition in ih-ren Herkunftsländern. „Gott und der Staat“ ist Aus-druck der vierten Entwicklungsperiode Bakunins, also seines zu Ende gebrachten Denkens, wie es dann als Bakuninismus weiterlebt, sei es als mar-kanter Gegensatz zum Marxismus, sei es als eine denkwürdige Philosophie des Sozialismus über-haupt. Im Titel der Schrift sind mit den beiden Beg-

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riffen „Gott“ und „Staat“ zwar die Pole genannt, um welche die Darstellung kreist, die Thematik jedoch des ganzen Buches ist komplexer: Das Ganze der „Philosophie der Tat“, die Intentionen und Re-flexionen der neubegründeten Anti-Philosophie stel-len sich unverhüllt vor. Daß Bakunin den Gegenstand seiner Darstellung weitläufiger, als es der Titel vermuten läßt, absteckt, bestätigt bereits die ohne nähere Hinführung in den Raum der Auseinandersetzung geschleuderte Ein-gangsfrage: »Wer hat recht, die Idealisten oder die Materialisten24?« Es wird damit gleichsam die mo-derne Gigantomachie der Philosophie eröffnet. Ba-kunins folgende Antwort und vor allem der Satz »die ganze geistige und moralische, politische und soziale Geschichte der Menschheit ist ein Reflex ih-rer wirtschaftlichen Geschichte25« darf nun keines-falls dazu verleiten, von den weiteren Überlegungen nichts anderes zu erwarten als einen Vulgärmateria-lismus. Diese Komponente ist zweifellos vorhan-den, ist aber nur eine von vielen, und zwar die am wenigsten charakteristische. Wir werden versuchen, die Grundbegriffe der Ba-kuninschen Anti-Philosophie herauszustellen und ihren Zusammenhang untereinander zu beleuchten. Da nun Bakunin sein Hauptwerk unvollendet der Nachwelt hinterlassen hat, ziehen wir, um ein abge-rundetes Bild seiner Position von den Texten dieses Bändchens aus geben zu können, auch den soge-

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nannten - abgedruckten - „Katechismus“ zur Deu-tung heran. Dort finden wir als Ergänzung jenen Teil seiner Konzeption, der in „Gott und der Staat“ fehlt, nämlich die Ziele von Bakunins revolutionä-rem Sozialismus und dessen Gesellschaftstheorie. Die Dimension dieses revolutionären Sozialismus ist zutiefst abgelesen an der Thematik der großen philosophischen Überlieferung und deren Problem-konstellation. Nur von solchen Maßen aus kann Ba-kunins zweite Grundthese adäquat verstanden wer-den: »Die Tatsachen gehen den Ideen vorher26.« Die Tragweite dieses Axioms in der Geschichte des Geistes ist unabsehbar, obgleich es schwierig ist, von unserer - nachhegelianischen - Bewußtseinslage aus, die damit vollzogene Revolution sichtbar zu machen: In solchem Ausmaße leben und denken wir in den Resultaten jenes Vorgangs. Geistesgeschichtlich gesehen wird das jahrtausend-alte philosophische Grundwort in einem kühnen Griff entthront und der neuartige Horizont „Tatsa-chenwelt“ oder „ Wirklichkeit in spezifischem Sin-ne aufgerissen. Hegels Gleichsetzung von (wesen-hafter) „Wirklichkeit“ und „Vernünftigkeit“, von (wesenhaften)“Tatsachen“und“Ideen“ wird zum Angelpunkt der Angriffe, aus denen heraus auch Bakunin eine philosophische Grundentscheidung trifft. Denn in dem Augenblick, in dem dieses Iden-tischsein von Wirklichkeit und Idee nicht mehr Voraussetzung der Philosophie bildet, formt sich

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ein völlig neues Bild vom Menschen und seiner Welt. Da die Tatsachen und Ideen keine Deckung in der Gegenwart besitzen, können sie aber in der Zu-kunft durch die Tat des Menschen identisch werden. Und es sind seine Ideen, Produkte seiner eigenen Macht, da ja nichts außerhalb ist. Von solch selbst-bezogener Immanenz des menschlichen Subjekts aus konstruiert Bakunin seine „neue Welt“, seinen „neuen Menschen“ in der „neuen Gesellschaft*. Die rezipierte Philosophie der Subjektivität und auto-nomen Freiheit - um den Bezug zur Transzendenz beraubt - lieferte die Methode, die neu entdeckte Welt der „Wirklichkeit“ den Stoff. Allerdings muß dieser „Stoff“ aus den komplizierten geistesge-schichtlichen Verflechtungen herausgelöst werden, da er, zwar an das Tageslicht gehoben durch die Einsichten in den Auflösungsprozeß der Ideenphilo-sophie, dennoch auch ein fundamentum in re be-sitzt, nämlich in den noch nie dagewesenen ge-schichtlichen und gesellschaftlichen Erscheinungen des beginnenden Industriezeitalters. Politik, Ge-sellschaft und Wirtschaft waren spätestens seit der Französischen Revolution zu Mächten geworden, die jedes überkommene philosophische Gedan-kengebäude sprengten. In dieses Vakuum der Philo-sophie stießen Bakunin und seine Mitkämpfer hin-ein und initiierten Fragestellungen, die zum Teil bis heute weder theoretisch gelöst noch praktisch auf-gelöst wurden. Hegel wurde zum Janus dieser Epo-

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che. Einerseits entbrannte an seinem Ideendom die heftigste Kritik seiner Jünger, andererseits wurde er wahrhaftig der Philosoph der „modernen“ Kultur, dessen Werke auch ins Chinesische übersetzt wer-den. Hegel erblickte nämlich die neuen Wirklich-keiten scharf, schwenkte aber auf dem Weg der i-deellen Bewältigung ein, so daß in seiner Philoso-phie der gewaltige, aller Welt offenbare Wider-spruch zwischen der aufgenommenen konkreten Welt- und Geschichtswirklichkeit und den ideellen Versöhnungsmächten blieb. Auch Bakunin hatte in seiner Hegelperiode denkwürdigerweise die grau-same Gesellschaftswirklichkeit des alten Rußland in der universellen Harmonie der göttlichen Idee sich versöhnt aufheben lassen. Politisch-gesellschaftliche „Theorie“ und „Praxis“ waren in-dessen in ihrem schroffen Gegensatz so greifbar geworden, daß Bakunin - wie viele seiner Philoso-phengeneration — die Trennung von Wirklichkeit und Idee zu einem Kernsatz seiner Philosophie er-hebt. Wort und Begriff Idee werden in einschnei-dender Weise ihres traditionellen philosophischen Bedeutungsgehalts beraubt. Was aber heißt es, in den Ideen nicht mehr in sich und immer seiende, dem Menschen vorgeordnete objektive Gestalten, sondern praktikable Abstraktionen des menschli-chen Verstandes zu sehen? Was heißt es nun unter dem Gesichtspunkt, die Tatsachen gehen den Ideen vorher, die Situation, die Existenz des Menschen in

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seiner Welt denken? Es wird sich bestätigen, daß Bakunin diese Grundfragen nach der Destruktion der traditionellen Metaphysik mehr noch als Marx bis zum Äußersten vorantreibt. Bakunin realisiert den revolutionären Bruch im Denken kompromißlo-ser als jeder andere Denker vor Nietzsche. „Idee“ oder „Gott“ waren, von wenigen Häresieversuchen abgesehen, seit Anbeginn des Denkens letzter Grund, um den alles Philosophieren kreiste. Das endliche Denken des Menschen wußte oder fühlte sich umgriffen von Sein und Denken des Unendli-chen. Parmenides in der Frühzeit der Griechen dachte in dieser Hinsicht nicht anders als Hegel, der Worte tiefer Bewunderung für seinen griechischen Vorläufer findet. Die Existenzphilosophie wird die-sen Ansatz weiterführen und ausarbeiten. In späte-rer Übereinstimmung mit dieser nimmt auch Baku-nin das konkrete Individuum in einer gleichur-sprünglichen Beziehung zur Mitwelt. Das »einsame und abstrakte Individuum ist eine Fiktion, gleich der Gottes29«. Diese Erkenntnis der grundsätzlichen Verwiesenheit des menschlichen Individuums auf die mitmenschliche Umwelt wird zum Gemeingut aller nachfolgenden philosophischen, anthro-pologischen und soziologischen Richtungen bis heute. Freilich verabsolutiert Bakunin - wie Marx - dieses gesellschaftsverwiesene Sein des Menschen zum Sein schlechthin, so daß Natur und Geist auf-gelöst werden zu Produkten der Gesellschaft.

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Ohne bleibende Wirkung ist Bakunins Ausarbeitung einer konkreten Anthropologie gewesen. Nach sei-ner Meinung sind Animalität, Denken und Empö-rung die Grundkonstanten der menschlichen Exis-tenz. Wie haben wir diese Bakuninsche Triade zu deu-ten? Das Revolutionierende hegt in den Bestim-mungen „Animalität“ und Empörung; beide durch-brechen die tradierten Schemata der philosophi-schen Lehre vom Menschen. Denn Animalität darf nicht verstanden werden als eine Schicht im We-sensaufbau des Menschen, die durch das Ganze der Menschennatur verwandelt wird. Bakunin versteht unter seinem Begriff das elementare Dasein des Menschen als Lebewesen, das erst im Laufe der Ge-schichte durch Denken und Empörung zu einem grandiosen Selbstbewußtseinsprozeß überhöht wird. Bakunin vertritt hier eine Form des Biologismus, der von Schopenhauer über Darwin bis zu' Nietz-sche eine große Bedeutung erlangte. Der Mensch als Empörer, als Neinsager kraft seiner Freiheit: Dies ist die eigentliche geistige Schrift Bakunins. Die Revolution also in jeder Form ist nach dieser Anti-Philosophie zutiefst angelegt im menschlichen Dasein, die Fähigkeit dazu eine der ausgezeichneten Eigenschaften des Menschen. Von hier ist es nicht mehr weit bis zur Pandestruktion, zur Verneinung alles Bestehenden, wie sie Bakunin schließlich for-dert. Im Grunde handelt es sich um den Aufstand

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des neuzeitlichen Menschen gegen alle Grenzen und Bindungen, gegen Natur und Geschichte, bereit, in einer „zweiten Schöpfung“80 eine neue Welt und ei-nen neuen Menschen aus eigener Machtvollkom-menheit zu schaffen: in makelloser Vollendung. Ei-ner Analyse dieser Gedankengänge werden die Ur-sprünge solchen Denkens nicht entgehen. Eine ver-borgene Verzweiflung an Transzendenz und Trans-zendierenkönnen wirft den Menschen in eine ent-zauberte, profane, entgötterte und säkularisierte Welt; von da aus aber richtet das autonome Subjekt eine Pseudoheilsgeschichte auf: die Vollendung des Menschen in der Zukunft in dieser grenzenlos ver-änderbaren, verfügbaren Welt. Da nun aber alle ge-schichtlich überlieferte und gegenwärtige Erfahrung der menschlichen Endlichkeit und der Grenzen der Zeitlichkeit Welt- und Menschenbilder solcherart des Unernstes überführen, flüchtet das bodenlos gewordene Denken blind in die reine Negation, die es zu einer allmächtigen Kraft im Menschen hinauf-steigert, dabei indessen verkennt, daß es ein gedan-kenmächtiges Moment im Existenzentwurf des Menschen zu einem generellen, schrankenlos seinsmächtigen umdeutet. Die sich ausbreitenden Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts beschreiten zumeist denselben Weg, dessen Durchschaubarkeit das Exempel Bakunin aufzeigen soll. Nichtsdestoweniger jedoch darf wegen dieser si-tuationsbedingten Irrtümer die Achtung vor Ba-

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kunins bedingungslosem Engagement am geistigen wie sozialen Protest geschmälert werden. Der Pro-test gegen den Weltgeist, der die Individuen ver-schlingt, gegen den Kontemplativismus, der in seli-ger innerer Harmonie auch die Welt als vollendet harmonisch ausgeben möchte und über die Härten und das Inhumane im Leben der Gesellschaft sich hinwegzutäuschen versucht, dieser Protest war eine dringliche männliche Tat und ist es geblieben, allem Philosophastertum im Stile des l'art pour l'art und seiner Verantwortungslosigkeit zum Trotz. Die entgötterte Welt der Profanität und die ent-zauberte wirkliche Existenz des Menschen in der wirklichen Gesellschaft konstituieren also die Aus-gangslage von Bakunins Denken, und daher auch der Kampf gegen alle überkommene Philosophie. Es ist eine schroffe Anti-Philosophie, eine kämp-ferische Anti-Metaphysik, was allmählich bei Ba-kunin heranreift. Die Ambivalenz zu Hegel ist um-geschlagen in einen Antihegelianismus, der zwar Grundschemata aus Hegels System weiterhin bei-behält, aber immer eindeutiger die Gegenposition bezieht. Am Ende wird neben der Bekämpfung der Hegeischen Religionsphilosophie der Angriff auf die Hegeische Staatsphilosophie Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Denn nicht nur die „Kirche“, sondern auch der mit ihr verbundene Staat, diese unheilige Allianz zwischen Gott und Staat, müssen total beseitigt werden. Bakunin sieht in der Macht-

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seite des Staates immer mehr das größte Übel auf Erden. Staat ist wesentlich Macht, Macht aber we-sentlich Unterdrückung des Menschen; folglich muß zur Rettung der Freiheit des Menschen Staat in jeder Form radikal und sofort abgeschafft werden. Alle Formen der Herrschaft - griechisch der Arche - dienen der Versklavung des Menschen. Bakunin er-hebt deshalb die Forderung nach absolut staatsfreier Gesellschaft, nach absoluter Gewaltlosigkeit — und dies ist auch der ursprüngliche Wortsinn von An-archie - in der menschlichen Gesellschaft. Darin liegt das ursprüngliche Ziel des sogenannten Anar-chismus, als dessen Vater Bakunin gilt. Der radikale Kampf der Anarchisten gegen jegliche staatliche Ordnung mit allen Mitteln hat sich in der ersten Ge-neration erst am stumpfen Widerstand der beste-henden Staatsmacht entzündet. Mit diesem Ziel, den Staat in jeder Form sofort aufzuheben, steht der Sozialismus Bakunins in einem entscheidenden Punkt konträr zum Marxismus. Während Marx die Entfremdung des Menschen von sich selbst primär durch den rücksichtslosen Versachlichungsprozeß der Wirtschaft erzwungen sieht, wird nach Baku-nins These vor allem durch den Druck der Macht der Mensch in die Entfremdung gerissen. Der soge-nannte freiheitliche Sozialismus, wie ihn die Baku-ninanhänger nannten, hat sich entschiedener von Hegels Dialektik gelöst und hält den Staat auch nicht als Entwicklungsmoment auf dem Wege zur

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staatsfreien Gesellschaft der Zukunft für nötig. Der Übergang von der alten Gesellschaft zur neuen soll im Sprung erfolgen. Erst im hohen Alter modifiziert Bakunin in dieser Hinsicht seine Anschauungen, in-dem er nun einer evolutionären Entwicklung ihr Recht einräumt, die dann die universelle Revolution auslösen wird. Denn die Vernichtung von Kirche, Staat und bestehenden Gesellschaftsklassen genügt nicht, wie Bakunin darlegt, um den staatsfreien So-zialismus zu sichern. Die Aufhebung der bisherigen Geschichte muß radikaler geleistet werden. Dazu gehört wesentlich der totale Abbau aller vorhande-nen Rechtsverhältnisse, darunter wiederum als be-sonders dringlich der des Erbrechtes. Ähnlich müs-sen Kultur und Erziehung auf völlig neue Grundla-gen gestellt werden. Nur dann werden sich die Ei-gentumsverhältnisse, die das Sein des Menschen bestimmen, so ändern, daß aus der politischen auch die ökonomische Gleichheit hervorgeht. Die politi-sche Gleichheit nämlich, wie sie seit der Französi-schen Revolution zusehends allenthalben gewährt wird, ist nichts ohne die ökonomische, lehrt Baku-nin mit Eindringlichkeit. Wir werden kritisch den Sinn und die Möglichkeit dieser Reformideen prü-fen müssen - in manchem sind sie dem Geist des 20. Jahrhunderts sehr verwandt. Der Glaube an die grenzenlose Veränderbarkeit des Menschen und sei-ner Welt steckt hinter beiden. Die Verleugnung jeg-licher Kontinuität zur überlieferten Geschichte, die

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Aufkündigung der Bindung, auch der kritisch bilan-zierenden Bindung an sie, ist so modern, daß viel-mehr die entgegengesetzte Geisteshaltung, die in der gewesenen Geschichte Werte anerkennt, wie ein Anachronismus in der Zeitsituation sich behaupten muß. Bakunins Anti-Metaphysik entfaltet eine Posi-tion, die im aktuellen Thema des Austritts aus der Geschichte besonders in Deutschland in einer for-cierten, besinnungslos aufgenommenen und vor-angetriebenen Entwicklung bedrängend wiederkehrt in unseren Tagen. Die sachfernen, ideologischen Elemente solcher Konzeptionen von einer universellen Revolution al-ler Bedingungen des menschlichen Daseins hegen auf der Hand. Sie entwerfen eine profanierte, ver-diesseitigte Heilsgeschichte der Menschen von ei-nem falschen Unendlichkeitsbegriff aus, den keine Wissenschaft, geschweige denn Philosophie akzep-tieren kann. Allerdings bereitete einst dieser philo-sophische Extremismus nicht nur theoretisch, son-dern auch praktisch die großen europäischen Revo-lutionen vor. In ihm vermischen sich eben Utopie und frühzeitige Erkenntnis der bevorstehenden Wandlungen der Gesellschaft im industriell-technischen Zeitalter. Wie bei jeder sozialistischen oder humanitären Uto-pie überhaupt erhebt sich auch im Zusammenhang unserer Betrachtung jene immanent kritische Frage, welche Kräfte und welche Konturen die „Welt da-

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nach“, nämlich nach dem Einreißen der alten, for-men werden. Bakunin beschwört als Antwort darauf eine auf freien Zusammenschluß untereinander im Menschen angelegte Potenz, das sogenannte födera-tive Prinzip. Dieses werde alle Probleme der Ein-zelgestaltung der neuen Gesellschaft freiheitlich re-geln. Natürlich ist dieser Begriff um nichts klarer als etwa der vielgeschmähte Begriff des Weltgeistes bei Hegel. „Freie Assoziationen« sollen in Zukunft das Zusammenleben der Menschen regulieren. Hier wird die irrationale Komponente offenbar, deren die sozialistisch-realistischen Utopien so wenig entraten wie die idealistischen. Jedoch unberührbar von die-sen utopischen Zügen bleibt Bakunins Postulat, die größte »Freiheit der Individuen und der menschli-chen Sittlichkeit31« zu schaffen. Sozialismus in die-sem Verstände, wie ihn Bakunin an dieser Stelle de-finiert, ist gewiß ein wahrhaft humanes Anliegen. Bemerkenswert ist dabei, daß Bakunin in seiner An-ti-Metaphysik ähnlich wie Marx einen „realen“ Humanismus sieht. Das Unterscheidungsmerkmal „real“ erhält er deshalb, weil der neue Humanismus im Gegensatz zum traditionellen nicht im Ideellen bei einer Elitegruppe steckenbleiben wird, sondern konsequent die Theorie in Praxis, die Idee in aller Wirklichkeit umsetzen soll. Humanismus und Phi-losophie treten damit in das Stadium der „Verwirk-lichung“, Welt und Mensch werden fortan nicht mehr nur interpretiert, sondern qualitativ verändert,

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wie Bakunin und Marx übereinstimmend fordern. Die antimetaphysische Philosophie der Tat Baku-nins stellt sich als oberste Aufgabe, die vollständi-ge »Humanisierung der wirklichen Lage aller wirk-lichen Individuen, die auf der Erde geboren werden, leben und sterben32«. Dieser Satz faßt die Intentio-nen und die philosophische Gegenposition Baku-nins am treffendsten zusammen. Den Komplex an Voraussetzungen, aus dem heraus er erwuchs, möchte dieser erläuternde Gang durch die Grundge-danken von Bakunins schwierigem, aber aufschluß-reichem Hauptwerk „Gott und der Staat“ angedeutet haben.

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SOZIALREVOLUTIONÄRES PROGRAMM Der in unserer Auswahl daran sich anschließende „Katechismus der revolutionären Gesellschaft* vermittelt einen Eindruck, wie ernst es Bakunin mit seiner Zielsetzung ist. In diesem Aktionsprogramm sind thesenhaft die Leitsätze der Bakuninschen So-zialphilosophie zusammengefaßt. Der gewollt her-absetzende Gebrauch des Wortes „Katechismus“, der aus der christlichen Didaktik stammt, weist wiederum auf pseudoreligiöse Momente hin. Das geistes-, philosophie- und sozialgeschichtliche Be-ziehungsgefüge, in dem diese kleine Zusam-menfassung steht, wurde bei den Ausführungen zu den beiden vorangehenden Schriften aufgegliedert. Das aus vielen anderen Entwürfen ausgewählte „Programm einer internationalen revolutionären Organisation“ darf mit Recht zu den radikalsten po-litisch-sozialökonomischen und humanitären Uto-pien der Weltliteratur gezählt werden. Dieser Ent-wurf einer neuen Zukunft ist von einem solchen Ex-tremismus, daß nicht wie bei anderen aus Utopie und Wissen kunstvoll gemischten Ideologien die Wurzeln verdunkelt werden - sie liegen vielmehr offen da. Die Realität der Geschichte und die un-aufhebbaren Antinomien von Endlichkeit und Zeit-lichkeit des Menschen werden einfach negiert und übersprungen, um ein von allen endlichen Bezügen gereinigtes fiktives Zukunftsbild zu zeichnen. Die

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Emanzipation des Menschen ist nur eine Frage der eigenen, selbsterlösenden Tat.

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LEBENSBERICHT AUS DEN BRIEFEN Aus einer Unzahl von Briefen werden hier zwei - aus Irkutsk vom 8. Dezember 1860 und aus San Franzisko vom 15. Oktober 1861 - abgedruckt, die ein besonders anschauliches und persönliches Bild von Bakunins bewegtem Leben vermitteln. Er-läuternd sei angefügt, daß der erwähnte Murawjew Amurski, ein Verwandter Bakunins, General-gouverneur von Sibirien war. Dieser trug sich mit sozialreformerischen Plänen, war jedoch von Ba-kunins berühmtem Freund Alexander Herzen in der Sozialrevolutionären Zeitschrift „Glocke“ von Lon-don aus als Reaktionär angegriffen worden. In Ba-kunins Analyse des Spannungszustandes der russi-schen Gesellschaft leuchtet die panslawistische Komponente in seinen Überlegungen auf, auf die unsere Auswahl ansonsten verzichtete. Daß der Verfasser des Briefes aus Irkutsk die - bis heute hinsichtlich der Deutung umstrittene33 - sogenannte Beichte vor dem Zaren in erklärendes Licht zu stel-len sehr bemüht ist, gibt gerade diesem Brief auch bedeutsamen dokumentarischen Wert.

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1] Eine vollständige Ausgabe der Werke Bakunins fehlt noch. Die dt. „Gesammelten Werke“ sind bei den Textnachweisen S. 581 unter Ziffer 2 genannt; sie stützen sich z. T. auf die Edition von Max Nett-lau und James Guillaume, Michel Bakounine Oeuv-res, Paris 1895-1913 (in frz. Spr.). Dazu sind heran-zuziehen die begonnene, aber nicht weitergeführte russische Gesamtausgabe - Werke und Briefe (sot-schinenija i pisma), ed. J. Steklov, Moskau 1934-36, 4 Bde, - und das jüngst von Lehrling, Rüter und Scheibert inaugurierte „Bakunin-Archiv“; vgl. Anm. 11. Eine gute Einführung in Persönlichkeit und Werk geben Tschizewskij - vgl. Anm. 3 - und Scheibert - vgl. Anm. 4. - Instruktiv auch: E. M. Carr, Michael Bakunin, London 1937; neuerdings in den Vintage Books New York 1961. Zur Gesamt-problematik: Th. G. Masaryk, Zur Russischen Ge-schichts- und Religionsphilosophie, 2 Bde, Jena 1913; Nachdruck: Düsseldorf-Köln 1965 - nicht frei von sehr eigenwilligen Akzenten - und Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, Ba-sel-Stuttgart 1963. 2] Vgl. Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Stuttgart5 1964. 3] Vgl. Dimitrij Tschizewskij, Hegel bei den Slaven, Darmstadt 21961, S. 145ff.; insbesondere S. 189ff. 4] Vgl. jetzt Peter Scheibert, Von Bakunin zu Lenin, Bd. I, Leiden 1956.

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5] Vgl. z. B. auch Tschizewskij a. a. 0., S. 206f. 6] Vgl. besonders Jürgen Gebhardt, Politik und E-schatologie, Studien zur Geschichte der Hegeischen Schule in den Jahren 1830-1840, München 1963 (= Münchener Studien zur Politik. Hrsg. vom Institut für Politische Wissenschaften der Universität Mün-chen durch Eric Voegelin und Hans Maier, 1. Heft) und Horst Stuke, Philosophie der Tat, Studien zur Verwirklichung der Philosophie“ bei den Junghege-lianern und den wahren Sozialisten (= Industrielle Welt Bd. 5), Stuttgart 1963. 7] Schellings Denkmotive analysiert in einer großen Untersuchung Walter Schulz, Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schel-lings, Stuttgart u. Köln 1955; vgl. dazu auch Dieter Henrich, Der Ontologische Gottesbeweis, Tübingen 1960, S. 219 ff. 8] Vgl. hierzu Bf., diese Auswahl, S. 360ff. 9] Vgl. hierzu Bf., diese Auswahl, S. 376ff. 10] Vgl. zu der Auseinandersetzung zwischen Marx und Bakunin jetzt Peter Scheibert, Marx, Bakunin und die Erste Internationale, in: Österreichische Osthefte 7 (1965), 441 ff. 11] Archives Bakounine / Bakunin-Archiv, hrsg. von A. Lehning, A. J. C. Rüter, P. Scheibert, Leiden 1961 ff. Bisher 3 Bde. 12] Reaktion, S. 66 f. l3] Reaktion, S. 77

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14] Vgl. Löwith a. a. O., Stuke a. a. O. und Hans Barth, Wahrheit und Ideologie, Erlenbach-Zürich - Stuttgart 21961; auch die von K. Löwith herausge-gebene und eingeleitete Textsammlung „Die Hegei-sche Linke“, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962. 15] Reaktion, S. 77 16] Reaktion, S. 77f. Zur Analyse des Begriffes der »verwirklichten Freiheit« vgl. Rudolph Berlinger, Das Werk der Freiheit, Frankfurt/M. 1959, S. 59ff. 17] Vgl. Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Poli-tica 11, Neuwied 1963; Helmut Kuhn, Das Sein und das Gute, München 1962; Manfred Riedel, Theorie und Praxis im Denken Hegels, Stuttgart 1965; Joa-chim Ritter, Vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles, Köln 1953; ders., Hegel und die französische Revolution, Köln 1957. 18] Grundlinien der Philosophie des Rechts, ed. Hoffmeister, 41955, S. 14. 19] Vgl. Wilhelm Kamiah, Der Mensch in der Pro-fanität, Stuttgart 1949. 20] Zitiert bei Tschizewskij, a. a. O., S. 205. 21] In einem beifällig aufgenommenen Zitat aus dem Lager der Gegner, Reaktion, S. 67 22] Reaktion, S. 96 23] Reaktion, S. 91 24] GuS, S. 97 25] GuS, S. 97 26] GuS, S. 97 27] GuS, S. 120

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28] GuS, S. 120 29] GuS, S. 271 30] So Feuerbach; jetzt leicht zugänglich in: Ludwig Feuerbach, Kleine Schriften, Theorie 1, Frankfurt/M. 1966, S. 10. 31] GuS, S. 294 32] GuS, S. 169f. 33] Vgl. dazu jetzt Eric Voegelin, Anamnesis, Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1966, S. 223 ff.

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PHILOSOPHIE DER TAT

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DIE REAKTION IN DEUTSCHLAND

(In: Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst 5 (1842), 985ff.)

Ein Fragment von einem Franzosen Freiheit, Realisierung der Freiheit - wer kann es leug-nen, daß dies Wort jetzt obenan steht auf der Tagesord-nung der Geschichte? Freund und Feind werden und müssen das zugeben, ja, es wird niemand wagen, sich offen und keck selbst als einen Feind der Freiheit zu bekennen. Aber das Sagen, das Bekennen macht es nicht, wie das auch schon das Evangelium weiß; denn leider gibt es noch immer eine Menge von Leuten, wel-che in Wahrheit, in ihrem innersten Herzen nicht an die Freiheit glauben. Es ist schon der Mühe wert, um der Sache willen sich auch mit diesen zu beschäftigen. Denn sie sind sehr verschiedener Natur. Zunächst be-gegnen uns da hochgestellte, bejahrte und erfahrene Leute; in ihrer Jugend selbst Dilettanten der politischen Freiheit - denn es liegt ein gewisser pikanter Genuß für einen vornehmen und reichen Mann darin, von Freiheit und Gleichheit zu sprechen, und macht ihn noch dazu in der Gesellschaft doppelt interessant - suchen sie nun, da es mit der Fähigkeit zum jugendlichen Lebensgenuß vorbei ist, ihre physische und geistige Abspannung un-ter dem Schleier des so oft gemißbrauchten Wortes „Er-fahrung“ zu verhehlen. - Mit diesen Leuten lohnt es sich gar nicht zu sprechen; - es war ihnen niemals Ernst

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mit der Freiheit, und die Freiheit war ihnen niemals eine Religion, welche die größten Genüsse und die tiefste Seligkeit nur auf dem Wege der ungeheuersten Widersprüche, der bittersten Schmerzen und einer voll-ständigen, unbedingten Selbstentsagung darreicht. - Schon deshalb lohnt es sich mit ihnen nicht zu spre-chen, weil sie alt sind und somit alle bon gré mal gré bald sterben werden. Es gibt aber leider auch viele junge Leute, welche die-selben Überzeugungen oder vielmehr denselben Man-gel an aller Überzeugung mit ihnen teilen. - Diese gehö-ren entweder und zum größten Teil der ihrem Wesen nach in Deutschland politisch längst abgestorbenen Aristokratie an - oder zur bürgerlichen, kommerziellen und Beamtenklasse. - Mit ihnen auch ist nichts anzu-fangen und selbst noch weniger als mit der ersten Kate-gorie der klugen und erfahrenen, ihrem Tode schon so nahe stehenden Leute. - Diese hatten wenigstens einen Schein von Leben, jene aber sind von Hause aus unle-bendige und tote Menschen. Ganz eingewickelt in ihre kleinlichen Eitelkeits- oder Geldinteressen und durch ihre alltäglichen Sorgen vollständig in Anspruch ge-nommen, haben sie selbst nicht die mindeste Ahnung vom Leben und von dem, was um sie vorgeht, - so daß, wenn sie in der Schule nicht etwas von Geschichte und Geistesentwicklung gehört hätten, sie wahrscheinlich glauben würden, daß es in der Welt nie anders gewesen ist als jetzt. - Das sind farblose, gespensterhafte Na-turen, sie können weder nützen noch schaden; von ih-

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nen haben wir nichts zu fürchten, weil nur das Lebendi-ge wirken kann, und da es nicht mehr Mode ist, mit Gespenstern umzugehen, so wollen wir auch unsere Zeit nicht mit ihnen verlieren. Es gibt aber noch eine dritte Kategorie von Gegnern des Prinzips der Revolution, das ist die bald nach der Res-tauration in ganz Europa aufgetauchte reaktionäre Par-tei, welche in der Politik: Konservativismus, in der Rechtswissenschaft: historische Schule und in der spe-kulativen Wissenschaft: positive Philosophie genannt wird. - Mit dieser wollen wir reden; es wäre abge-schmackt von uns, ihre Existenz zu ignorieren und so zu tun, als ob wir sie für unbedeutend hielten; wir wer-den im Gegenteil aufrichtig gestehen, daß sie jetzt ü-berall die regierende Partei ist, und noch mehr: wir wol-len ihr zugeben, daß ihre gegenwärtige Macht nicht ein Spiel des Zufalls ist, sondern in der Entwicklung des modernen Geistes ihren tiefen Grund hat. — Überhaupt räume ich der Zufälligkeit keine wirkliche Gewalt in der Geschichte ein - die Geschichte ist eine freie, somit aber auch eine notwendige Entwicklung des freien Geistes, so daß, wenn ich die gegenwärtige Oberherr-schaft der reaktionären Partei zufällig nennen wollte, ich dadurch dem demokratischen Glaubensbekenntnis, welches sich einzig und allein auf der unbedingten Freiheit des Geistes gründet, den schlechtesten Dienst leisten würde. - Desto gefährlicher würde uns so eine schlechte, lügenhafte Beruhigung sein, da wir leider bis jetzt noch sehr weit davon entfernt sind, unsere Stellung

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zu begreifen, und da - in nur zu häufiger Verkennung der wahren Quelle unserer Macht so wie der Natur un-seres Feindes - wir entweder von dem traurigen Bilde der Alltäglichkeit niedergedrückt, unseren Mut gänzlich verlieren, oder - was vielleicht noch schlimmer ist, da die Verzweiflung in einem lebendigen Menschen nicht lange dauern kann - uns einem unbegründeten, kna-benhaften und fruchtlosen Übermute ergeben. Nichts kann der demokratischen Partei nützlicher sein als die Erkenntnis ihrer momentanen Schwäche und der relati-ven Kraft ihrer Gegner; - durch diese Erkenntnis tritt sie erst aus der Unbestimmtheit der Phantasie in die Wirk-lichkeit hinein, in der sie leben, leiden und am Ende siegen muß; - durch diese Erkenntnis wird ihre Begeis-terung besonnen und demütig ; - und erst wenn sie durch diese schmerzliche Reibung mit der Wirklichkeit zum Bewußtsein ihres heiligen, priesterlichen Amts kommen wird, wenn sie aus den unendlichen Schwie-rigkeiten, die ihr überall im Wege stehen und die nicht allein, wie sie oft zu meinen scheint, aus dem Ob-skurantismus ihrer Gegner fließen, sondern vielmehr aus der Fülle und Totalität der menschlichen Natur, die sich durch abstrakt theoretische Sätze nicht erschöpfen läßt - erst wenn sie aus diesen Schwierigkeiten die Un-zulänglichkeit ihrer ganzen gegenwärtigen Existenz erkennen und daher begreifen wird, daß ihr Feind nicht nur außer ihr, sondern auch und viel mehr in ihr selber vorhanden ist, und daß sie damit anfangen muß, diesen ihr innewohnenden Feind zu besiegen; - erst wenn sie

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sich überzeugen wird, daß die Demokratie nicht nur in Opposition gegen die Regierenden besteht und nicht eine besondere konstitutionelle oder politisch-ökonomische Veränderung ist, sondern eine totale Umwandlung desjenigen Weltzustandes und ein in der Geschichte noch nie gewesenes, ursprünglich neues Leben verkündigt, erst wenn sie aus allem dem begrei-fen wird, daß die Demokratie eine Religion ist, wenn sie also durch diese Erkenntnis selbst religiös wird, d. h. durchdrungen von ihrem Prinzip nicht nur im Denken und Räsonieren, sondern ihm treu auch im wirklichen Leben, bis zu seinen kleinsten Erscheinungen, - erst dann wird die demokratische Partei die Welt wirklich besiegen. Somit wollen wir aufrichtig gestehen, daß die ge-genwärtige Macht der reaktionären Partei nicht zufällig, sondern notwendig ist; sie hat ihren Grund in der Unzu-länglichkeit nicht des demokratischen Prinzips, - dieses ist ja die in der Freiheit sich realisierende Gleichheit der Menschen, somit aber auch das innerste, allgemeinste und allumfassendste, mit einem Worte das einzige sich in der Geschichte betätigende Wesen des Geistes; -sondern in der Unzulänglichkeit der demokratischen Partei, welche noch nicht zum affirmativen Bewußtsein ihres Prinzips gekommen ist und deshalb nur als Nega-tion der bestehenden Wirklichkeit existiert. Als solche, als nur Negation hat sie zunächst notwendig die ganze Fülle des Lebens außer sich, eine Fülle, die sie noch nicht aus ihrem von ihr selbst fast nur negativ begriffe-

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nen Prinzipe entwickeln kann. Deshalb ist sie aber bis jetzt auch nur eine Partei und noch nicht die lebendige Wirklichkeit - Zukunft und nicht Gegenwart. -Schon dieses, daß die Demokraten nur eine Partei bilden - und dazu noch eine ihrer äußerlichen Existenz nach schwa-che Partei - und daß sie als nur Partei das Bestehen ei-ner andern, ihnen entgegengesetzten, kräftigen Partei voraussetzen, - schon dieses allein müßte ihnen eine Aufklärung über ihre eigene wesentlich ihnen inwoh-nende Mangelhaftigkeit geben. Ihrem Wesen, ihrem Prinzipe nach ist die demokratische Partei das All-gemeine, das Allumfassende, ihrer Existenz nach aber, als Partei, ist sie nur ein Besonderes, das Negative, dem ein anderes Besondere, das Positive, gegenübersteht. - Die ganze Bedeutung und die unaufhaltsame Kraft des Negativen ist das Zugrundegehen des Positiven, - mit dem Positiven richtet es aber sich selbst, als dieses schlechte, besondere und seinem Wesen unadäquate Dasein, zugrunde. - Der Demokratismus besteht noch nicht als er selbst in seinem affirmativen Reichtum, sondern nur als das Negieren des Positiven, und deshalb muß es auch in dieser schlechten Gestalt mit dem Posi-tiven zusammen zugrunde gehen, um aus seinem freien Grunde in einer wiedergeborenen Gestalt, als lebendige Fülle seiner selbst wieder hervorzuspringen; - und diese Veränderung der demokratischen Partei in sich selber wird nicht nur eine quantitative Veränderung sein, d. h. nicht nur eine Verbreitung ihrer jetzigen, besonderen und somit schlechten Existenz, - Gott bewahre! - so

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eine Verbreitung wäre die Verflachung der ganzen Welt, und das Endresultat der ganzen Geschichte wäre eine absolute Nichtigkeit, - sondern eine qualitative Umwandlung, eine neue, lebendige und lebendig ma-chende Offenbarung, - ein neuer Himmel und eine neue Erde - eine jugendliche und herrliche Welt, in der alle gegenwärtigen Dissonanzen zur harmonischen Einheit sich auflösen werden. Noch weniger kann der Mangelhaftigkeit der de-mokratischen Partei dadurch geholfen werden, daß man die Einseitigkeit ihrer Existenz als Partei durch eine äußerliche Vermittlung mit dem Positiven aufhebt - das wäre ein eitles Streben, denn das Positive und das Ne-gative sind miteinander ein für allemal unverträglich; - das Negative scheint zunächst, insofern es in seinem Gegensatze zum Positiven isoliert und für sich genom-men wird, inhalts- und leblos zu sein; - und diese scheinbare Inhaltslosigkeit ist auch der Hauptvorwurf, den die Positiven den Demokraten machen; - ein Vor-wurf, der aber nur auf einem Mißverständnis beruht, - denn das Negative ist gar nicht als Isoliertes, als solches wäre es gar nichts; - es ist nur im Gegensatze zum Posi-tiven; sein ganzes Sein, sein Inhalt und seine Lebendig-keit ist nur die Zerstörung des Positiven. »Die revoluti-onäre Propaganda, sagt der Pentarchist1, ist ihrem tief-sten Wesen nach die Negation der bestehenden Staats-zustände; denn ihrer innersten Natur nach hat sie kein anderes Programm als die Destruktion des Bestehen-den.« - Ist es aber möglich, daß das, dessen ganzes Le-

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ben nur Zerstören ist, sich mit dem, was es seiner in-nersten Natur nach zerstören muß, äußerlich vertragen könnte? - so können nur laue Halbmenschen, denen es weder mit dem Positiven, noch mit dem Negativen Ernst ist, denken. Die reaktionäre Partei unterscheidet sich jetzt innerhalb ihrer selbst in zwei Hauptabteilun-gen: in die der reinen, konsequenten, und in die der in-konsequenten, vermittelnden Reaktionäre; die ersten fassen den Gegensatz in seiner Reinheit; sie fühlen wohl, daß das Positive und Negative sich ebensowenig vermitteln lassen wie Feuer und Wasser, und da sie im Negativen nicht sein affirmatives Wesen sehen und somit nicht an das Negative glauben können, so folgern sie daraus ganz richtig, daß das Positive durch eine vollständige Unterdrückung des Negativen durchaus erhalten werden müsse. Daß sie nicht zugleich einse-hen, daß das Positive nur insofern dieses, von ihnen verteidigte Positive ist, als ihm das Negative noch ge-genübersteht, und daß es folglich im Falle eines voll-ständigen Sieges über das Negative, nunmehr außer dem Gegensatze, nicht mehr das Positive, sondern vielmehr die Vollendung des Negativen wäre, - daß sie dieses nicht einsehen, muß ihnen verziehen werden, da die Blindheit der Hauptcharakter alles Positiven ist und die Einsicht nur dem Negativen angehört. In unserer schlechten und gewissenlosen Zeit aber, wo so viele aus Feigheit die strengen Konsequenzen ihres eigenen Prinzips vor sich selbst zu verbergen suchen, um da-durch der Gefahr zu entfliehen, in dem gekünstelten

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und schwachen Gebäude ihrer vermeintlichen Überzeu-gungen beunruhigt zu werden, muß man diesen Herren einen großen Dank wissen. Sie sind aufrichtig, ehrlich, sie wollen ganze Menschen sein. Viel reden läßt es sich nicht mit ihnen, weil sie niemals in ein vernünftiges Gespräch eingehen wollen; es ist ihnen so schwer, jetzt, da das auflösende Gift des Negativen sich überall ver-breitet hat, - es ist ihnen so schwer, ja fast unmöglich, sich in der reinen Positivität zu erhalten, so daß sie von ihrer eigenen Vernunft abstrahieren und vor sich selbst, vor dem kleinsten Versuche, ihre Überzeugungen zu beweisen, was ja die Widerlegung derselben wäre, sich fürchten müssen. -Sie fühlen dieses recht wohl und deshalb schimpfen sie auch da, wo sie sprechen müß-ten; und dennoch sind sie ehrliche und ganze Men-schen, oder richtiger, sie wollen ehrliche und ganze Menschen sein; ebenso wie wir hassen sie jede Halb-heit, weil sie wissen, daß nur ein ganzer Mensch gut sein kann und daß die Halbheit die faule Quelle aller Schlechtigkeit ist. Diese fanatischen Reaktionäre verketzern uns; - wenn es möglich wäre, würden sie vielleicht selbst die unter-irdische Macht der Inquisition aus der Rüstkammer der Geschichte aufrufen, um sie gegen uns zu brauchen; sie sprechen uns alles Gute, alles Menschliche ab, sie sehen in uns nichts anderes als eingefleischte Antichristen, gegen welche jedes Mittel erlaubt ist. - Werden wir ihnen mit derselben Münze bezahlen? Nein, es wäre unser und der großen Sache, deren Organe wir sind, un-

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würdig. Das große Prinzip, dessen Dienste wir uns ge-weiht haben, gibt uns unter vielen anderen Vorteilen das schöne Vorrecht, gerecht und unparteiisch zu sein, ohne dadurch unserer Sache zu schaden. Alles, was nur auf einer Einseitigkeit beruht, kann nicht die Wahrheit selbst als Waffe brauchen, da die Wahrheit die Wider-legung aller Einseitigkeit ist; - alles Einseitige muß in seiner Äußerung parteiisch und fanatisch sein, und der Haß ist sein notwendiger Ausdruck, weil es sich nicht anders behaupten kann, als durch ein gewalttätiges Ab-schaffen aller anderen ihm entgegengesetzten und eben-so, wie es selbst, berechtigten Einseitigkeiten. Eine Ein-seitigkeit setzt schon durch ihr Dasein allein das Dasein anderer Einseitigkeiten voraus, und doch muß sie ihrer wesentlichen Natur zufolge diese ausschließen, um sich zu behaupten. Dieser Widerspruch ist der Fluch, der über sie verhängt ist, ein ihr eingeborener Fluch, der alle guten Gefühle, die doch jedem Menschen schon als Menschen eingeboren sind, in ihrer Äußerung in Haß verwandelt. Wir sind unendlich glücklicher in die-ser Hinsicht; - als Partei stehen wir wohl den Positiven gegenüber und kämpfen mit ihnen, und alle schlechten Leidenschaften werden auch in uns durch diesen Kampf aufgeweckt; insofern wir selbst einer Partei angehören, sind wir auch sehr oft parteiisch und ungerecht; wir sind aber nicht nur diese dem Positiven entgegengesetz-te negative Partei; - wir haben unseren lebendigen Quell in dem allumfassenden Prinzipe der unbedingten Freiheit, in einem Prinzipe, das alles Gute, was nur im

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Positiven enthalten ist, auch in sich enthält und das über das Positive, ebensosehr wie über uns selbst als Partei, erhaben ist. - Als Partei treiben wir nur Politik, als eine solche sind wir aber nur durch unser Prinzip berechtigt; sonst hätten wir nicht einen besseren Grund als das Po-sitive, und so müssen wir, schon unserer Selbsterhal-tung wegen, unserem Prinzipe, als dem einzigen Grun-de unserer Macht und unseres Lebens, treu bleiben, d. h. uns als diese einseitige, nur politische Existenz in der Religion unseres allumfassenden und allseitigen Prin-zips immerwährend aufheben. Wir müssen nicht nur politisch, sondern in unserer Politik auch religiös han-deln, religiös in dem Sinne der Freiheit, deren einzig wahrer Ausdruck die Gerechtigkeit und die Liebe ist. Ja, uns allein, die wir Feinde der christlichen Religion genannt werden, uns allein ist es vorbehalten und selbst zur höchsten Pflicht gemacht, die Liebe, dieses höchste Gebot Christi und dieses einzige Wesen des wahren Christentums, selbst im heißesten Kampfe wirklich zu üben. Und so wollen wir auch gegen unsere Feinde gerecht sein, wir wollen anerkennen, daß sie sich bestreben, das Gute wirklich zu wollen, ja, daß sie durch ihre Natur zum Guten, zum lebendigen Leben berufen und nur durch ein unbegreifliches Mißgeschick von ihrer wah-ren Bestimmung abgelenkt worden sind. - Wir sprechen nicht von jenen, welche sich ihrer Partei angeschlossen haben, nur um ihren schlechten Leidenschaften Raum geben zu können. Tartüffe gibt es leider viele in allen

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Parteien; wir sprechen nur von den aufrichtigen Vertei-digern des konsequenten Positivismus; diese bemühen sich um das Gute, aber sie können es nicht zum tatkräf-tigen Wollen bringen; das ist ihr großes Unglück, sie sind in sich selbst zerspalten. In dem Prinzipe der Frei-heit sehen sie nur eine kalte und nüchterne Abstraktion, - wozu auch manche nüchterne und trockene Verteidi-ger desselben viel beigetragen haben, - eine Abstrakti-on, welche aus sich alles Lebendige, alles Schöne und Heilige ausschließt. Sie sehen nicht ein, daß dieses Prinzip mit seiner jetzigen schlechten, nur negativen Existenz gar nicht zu verwechseln ist, und daß es nur als lebendige, das Negative ebenso auch wie das Positi-ve aufgehoben habende Affirmation seiner selbst siegen kann und sich realisieren wird. Sie meinen - und diese Meinung ist noch leider von manchen Anhängern der negativen Partei selbst geteilt, - sie meinen, daß das Negative sich als solches zu verbreiten strebt, und sie denken, ebenso wie wir selbst, daß die Verbreitung des-selben die Verflachung der ganzen geistigen Welt wäre; zugleich haben sie in der Unmittelbarkeit ihres Gefühls ein ganz berechtigtes Streben zum lebendigen, vollen Leben, und da sie im Negativen nur die Verflachung desselben finden, so kehren sie zur Vergangenheit zu-rück, zu der Vergangenheit, so wie sie noch vor dem Entstehen des Gegensatzes zwischen dem Negativen und Positiven war. Insofern haben sie recht, als diese Vergangenheit wirklich eine in sich lebendige Totalität war, und als solche viel lebendiger und reicher als die

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zerrissene Gegenwart erscheint; - ihr großer Irrtum be-steht aber darin, daß sie meinen, sie in ihrer vergange-nen Lebendigkeit vergegenwärtigen zu können; sie ver-gessen, daß die vergangene Totalität ihnen selbst nun-mehr nicht anders als in dem auflösenden und zerspal-tenden Reflexe des heutigen, unvermeidlichen und aus ihr selbst entstandenen Gegensatzes erscheinen kann und daß sie, als Positives, nur der entseelte, d. h. dem mechanischen und chemischen Prozesse der Reflexion preisgegebene Leichnam seiner selbst ist. Als Anhänger des blinden Positivismus begreifen sie das nicht, - als ihrer Natur nach lebendige Menschen fühlen sie diesen Mangel am Leben recht wohl; - und da sie nicht wissen, daß schon dadurch allein, daß sie positiv sind, sie das Negative an ihnen selbst haben, so wälzen sie die ganze Schuld dieses Mangels und das ganze Gewicht ihres durch diese Impotenz sich zu befriedigen in Haß ver-wandelten Strebens zum Leben und zur Wahrheit auf das Negative. Dies ist der notwendige innere Prozeß in jedem konsequenten Positivisten, und deshalb sag' ich auch, daß sie wirklich zu bedauern sind, da der Quell ihres Strebens doch fast immer ehrlich ist. Die vermittelnden Positivisten haben eine ganz andere Stellung; sie unterscheiden sich von den konsequenten einerseits dadurch, daß sie, von der Reflexionskrankheit der Zeit mehr als diese angefressen, nicht nur das Nega-tive nicht unbedingt als ein absolut Böses verwerfen, sondern ihm selbst eine relative, momentane Berechti-gung zugestehen; andererseits aber dadurch, daß sie

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nicht dieselbe energische Reinheit besitzen, eine Rein-heit, zu der die konsequenten, rücksichtslosen Positivis-ten wenigstens streben und die wir als das Merkmal einer vollen, ganzen und ehrlichen Natur bezeichnet haben. Den Standpunkt der Vermittelnden können wir im Gegenteil als den der theoretischen Unehrlichkeit bezeichnen, der theoretischen, sag' ich, weil ich gern jede praktische, persönliche Beschuldigung vermeide und weil ich nicht glaube, daß ein persönlich böser Wille in die Entwicklung des Geistes wirklich hem-mend eingreifen könnte; obgleich man auch gestehen muß, daß die theoretische Unehrlichkeit der Notwen-digkeit ihres Wesens nach fast immer in eine praktische umschlägt. Die vermittelnden Positivisten sind klüger und einsichtsvoller als die konsequenten; - sie sind die Klugen, die Theoretiker par excellence, und insofern sind sie auch die Hauptrepräsentanten der Gegenwart; - wir könnten auf sie das, was im Anfange der Julirevolu-tion von einem französischen Journale über das Juste-milieu gesagt wurde, anwenden: le côté gauche dit: 2 fois 2 font 4, - le côté droit: 2 fois 2 font 6, - et le juste-milieu dit: 2 fois 2 font 5; - das würden sie uns aber übelnehmen ; - und so wollen wir versuchen, ihr un-klares und schweres Wesen in allem Ernste und mit der tiefsten Ehrfurcht vor ihrer Weisheit zu untersuchen. - Mit ihnen ist es viel schwerer als mit den Konsequenten fertigzuwerden; - diese haben die praktische Energie ihrer Überzeugungen ; sie wissen und sie sprechen mit klaren Worten aus das, was sie wollen; - sie hassen e-

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benso wie wir alle Unbestimmtheit, alle Unklarheit, weil sie als praktisch energische Naturen nur in einer reinen und klaren Luft frei atmen können. - Mit den Vermittelnden ist es aber eine eigene Sache; - sie sind pfiffig, - oh! sie sind klug und weise! sie erlauben nie-mals dem praktischen Drange zur Wahrheit, das zu-sammengekünstelte Bauwerk ihrer Theorien zu zerstö-ren; - sie sind zu erfahren, zu klug, um der gebietenden Stimme des einfachen praktischen Gewissens ein gnä-diges Gehör zu schenken. - Von der Höhe ihres Standpunktes sehen sie auf dieses mit Vornehmheit herab, - und wenn wir sagen, daß nur das Einfache wahr und wirklich ist, weil nur ein solches allein schöpferisch wirken kann, so be-haupten sie dagegen, daß nur das Zusammengesetzte wahr ist, weil es ihnen die größte Mühe gekostet hat, ein solches zusammenzuflicken, und weil es das einzige Merkzeichen ist, woran man sie, kluge Leute, von dem dummen und ungebildeten Pöbel unterscheiden kann, - mit ihnen ist es schon deshalb sehr schwer, fertigzu-werden, weil ihnen alles bekannt ist, - weil sie als welt-kluge Leute es für eine unverzeihliche Schwäche hal-ten, sich durch etwas überraschen zu lassen, - weil sie mit ihrer Reflexion alle Winkel des natürlichen und geistigen Universums durchgeschlüpft haben und weil sie nach dieser langen und mühevollen Reflexions-Reise zu der Überzeugung gekommen sind, daß die wirkliche Welt es nicht der Mühe wert ist, daß man sich mit ihr in eine wirklich lebendige Berührung einlasse. -

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Mit diesen Leuten ist es schwer ins Reine zu kommen, da sie ebenso wie die deutschen Konstitutionen, mit der rechten Hand zurücknehmen das, was sie mit der linken zugeben, - sie antworten niemals »ja« oder »nein«; - sie sagen: »gewissermaßen haben sie recht, aber, doch«, und wenn sie schon nichts mehr zu sagen haben, da sagen sie: »Ja, es ist ein eigen Ding.« Und doch wollen wir versuchen, uns mit ihr ein-zulassen; - die Partei der Vermittelnden, ihrer innerli-chen Haltungslosigkeit und ihrer Unfähigkeit aus sich was hervorzubringen ungeachtet, ist jetzt eine mächtige, ja die mächtigste Partei; - es versteht sich, daß sie es nur ihrer Majorität und nicht ihrem Inhalte nach ist; - sie ist eines der wichtigsten Zeichen der Zeit, und so darf man sie nicht ignorieren und umgehen. Ihre ganze Weisheit besteht darin, daß sie behaupten, zwei entge-gengesetzte Richtungen seien schon als solche einseitig und somit unwahr; - wenn die beiden Glieder des Ge-gensatzes aber für sich abstrakt genommen unwahr sind, so muß die Wahrheit in ihrer Mitte liegen und so muß man sie miteinander vermitteln, um zur Wahrheit zu gelangen. - Dieses Räsonnement scheint zunächst unwiderleglich zu sein; - wir haben ja selbst zugegeben, daß das Negative, insofern es dem Positiven entgegen-gesetzt und in dieser Entgegensetzung auf sich bezogen ist, einseitig sei; - folgt aber daraus nicht notwendig, daß es an dem Positiven seine wesentliche Erfüllung und Ergänzung hat? - Und haben die Vermittelnden nicht recht, das Positive mit dem Negativen vermitteln

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zu wollen? -Ja, wenn diese Vermittlung möglich ist; - ist sie aber wirklich möglich? Ist das Zugrunderichten des Positiven nicht die einzige Bedeutung des Ne-gativen? - Wenn die Vermittelnden ihren Standpunkt auf der Natur des Gegensatzes begründen, nämlich dar-auf, daß zwei entgegengesetzte Einseitigkeiten sich als solche gegenseitig voraussetzen, so müssen sie doch jene Natur in ihrem ganzen Umfang gelten lassen und anerkennen; - sie müssen es der Konsequenz wegen, um sich selbst, ihrem eigenen Standpunkt treu zu blei-ben, - da die ihnen günstige Seite des Gegensatzes von der ihnen ungünstigen untrennbar ist; diese ungünstige Seite aber besteht darin, daß das Voraussetzen des einen Gliedes durch das andere nicht ein positives, sondern ein nega-tives, ein auflösendes ist. - Die Herren sind an die Lo-gik Hegels zu verweisen, wo die Kategorie des Gegen-satzes so schön behandelt ist. - Der Gegensatz und dessen immanente Entwicklung macht einen der Hauptknotenpunkte des ganzen Hegei-schen Systems - und da diese Kategorie die Hauptkate-gorie, das herrschende Wesen unserer Zeit ist, so ist auch Hegel unbedingt der größte Philosoph der Gegen-wart, die höchste Spitze unserer modernen, einseitig theoretischen Bildung; - ja, gerade als diese Spitze, ge-rade dadurch, daß er diese Kategorie begriffen und so-mit aufgelöst hat, - gerade dadurch ist er auch der An-fang einer notwendigen Selbstauflösung der modernen Bildung; - als diese Spitze ist er schon über die Theorie,

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- freilich zunächst noch innerhalb der Theorie selbst -, hinausgegangen und hat eine neue praktische Welt pos-tuliert, - eine Welt, welche keineswegs durch eine for-male Anwendung und Verbreitung von fertigen Theo-rien, sondern nur durch eine ursprüngliche Tat des praktischen autonomischen Geistes sich erst vollbrin-gen wird. - Der Gegensatz ist das innerste Wesen nicht nur aller bestimmten, besonderen Theorien, sondern der Theorie überhaupt, und so ist der Moment des Begrei-fens derselben zugleich auch der Moment der Vollen-dung der Theorie; - die Vollendung dieser ist aber ihre Selbstauflösung in eine ursprüngliche und neue prakti-sche Welt, - in die wirkliche Gegenwart der Freiheit. Hier ist es aber noch nicht der Ort, dieses weiterzuent-wickeln, und so wollen wir uns wieder zur Erörterung der logischen Natur des Gegensatzes wenden. Der Ge-gensatz selbst, als das Umfassen seiner beiden einseiti-gen Glieder, ist total, absolut, wahr; - ihm kann man nicht die Einseitigkeit und die mit dieser notwendig verbundene Seichtigkeit und Armut vorwerfen, da er nicht das Negative allein, sondern auch das Positive ist und da er, als dieses allumfassende, die totale, absolute, nichts außer sich habende Fülle ist; - das berechtigt die Vermittelnden zu fordern, daß man nicht das eine der beiden einseitigen Glieder abstrakt festhalte, sondern sie in ihrem notwendigen Bunde, in ihrer Untrennbar-keit, als Totalität auffasse: - Nur der Gegensatz ist wahr, sagen sie, und jedes der entgegengesetzten Glie-der, für sich genommen, ist einseitig und somit unwahr;

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- den Gegensatz haben wir folglich in seiner Totalität zu ergreifen, um die Wahrheit zu haben. - Hier fängt aber gerade die Schwierigkeit an; - der Gegensatz ist wohl die Wahrheit; er existiert aber nicht als solcher, er ist nicht als diese Totalität da; - er ist nur eine an sich seiende, verborgene Totalität und seine Existenz ist gerade die sich widersprechende Entzweiung seiner beiden Glieder - des Positiven und des Negativen. - Der Gegensatz als die totale Wahrheit ist die untrennbare Einheit der Einfachheit und der Entzweiung seiner selbst in einem; das ist seine an sich seiende, verborge-ne, somit aber auch seine zunächst unfaßbare Natur, und gerade weil diese Einheit eine verborgene ist, so existiert er auch einseitig nur als die Entzweiung seiner Glieder; - er ist nur als das Positive und das Negative da, und diese schließen sich so entschieden gegenseitig aus, daß dieses gegenseitige Sichausschließen ihre gan-ze Natur ausmacht. - Wie ist aber denn die Totalität des Gegensatzes zu ergreifen? - Hier scheinen zwei Aus-wege zu bleiben: Entweder muß man von der Entzwei-ung willkürlich abstrahieren und zur einfachen, der Entzweiung vorangehenden Totalität des Gegensatzes flüchten; - dieses ist aber unmöglich, weil das Unfaßba-re einmal unfaßbar ist -und weil der Gegensatz als sol-cher unmittelbar nur als Entzweiung, ohne diese gar nicht ist; - oder die entgegengesetzten Glieder mütter-lich zu vermitteln suchen; - darin besteht denn das gan-ze Streben der vermittelnden Schule. - Wir wollen se-hen, ob es ihnen wirklich gelingt. Das Positive scheint

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zunächst das Ruhige, das Unbewegliche zu sein; es ist ja nur dadurch positiv, daß es ohne Störung in sich ruht und in sich nichts hat, was es negieren könnte, - nur dadurch, daß es innerhalb seiner selbst keine Bewegung hat, da jede Bewegung eine Negation ist. - Das Positive ist aber gerade ein solches, in welchem die Bewe-gungslosigkeit als eine solche gesetzt ist, ein solches, welches in sich als die absolute Bewegungslosigkeit reflektiert ist; - die Reflexion auf die Be-wegungslosigkeit ist aber mit der Reflexion auf die Bewegung untrennbar; oder vielmehr sie sind eine und dieselbe Reflexion, und so ist das Positive, die absolute Ruhe, nur gegen das Negative, die absolute Unruhe positiv; - das Positive ist innerhalb seiner selbst auf das Negative, als auf seine eigene lebendige Bestimmung bezogen. - So hat das Positive eine doppelte Stellung in Bezug auf das Negative: einerseits ruht es in sich selber und hat in diesem apathischen Beruhen auf sich nichts von dem Negativen in sich; - andrerseits aber und gera-de dieser Buhe wegen, als ein dem Negativen in sich selber Entgegengesetztes, schließt es tätig das Negative aus sich aus; - diese Tätigkeit des Ausschließens ist aber eine Bewegung, und so ist das Positive, gerade seiner Positivität wegen, an ihm selber nicht mehr das Positive, sondern das Negative : - Indem es das Negati-ve von sich ausschließt, schließt es sich selber von sich aus und richtet sich selber zugrunde. Das Positive und das Negative sind folglich nicht gleichberechtigt, wie die Vermittelnden es denken ; -

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der Gegensatz ist kein Gleichgewicht, sondern ein Ü-bergewicht des Negativen, welches der übergreifende Moment desselben ist; - das Negative, als das bestim-mende Leben des Positiven selbst, schließt in sich allein die Totalität des Gegensatzes ein und so ist es auch das absolut Berechtigte. - Wie, wird man mich vielleicht fragen, haben Sie uns nicht selbst zugestanden, daß das Negative für sich abstrakt genommen ebensogut wie das Positive einseitig ist und daß die Verbreitung der jetzigen schlechten Existenz desselben eine Verfla-chung der ganzen Welt wäre? - Ja - aber ich sprach nur von der jetzigen Existenz des Negativen, von dem Ne-gativen, insofern es, von dem Positiven ausgeschlossen, ruhig auf sich bezogen und somit selbst positiv ist; - als solches ist es auch durch das Positive negiert und die konsequenten Positivisten verrichten, indem sie die Existenz des Negativen, seine ruhige Beziehung auf sich negieren, zugleich ein logisches und ein heiliges Amt - obgleich sie nicht wissen, was sie tun. Sie glau-ben das Negative zu negieren und sie negieren im Ge-genteil das Negative nur insofern, als es sich selbst zum Positiven macht; sie wecken das Negative aus der phi-listerhaften Buhe auf, zu der es nicht bestimmt ist, und sie führen es zu seinem großen Berufe zurück - zum rast- und rücksichtslosen Vernichten alles positiv Be-stehenden. Wir werden zugeben, daß das Positive und das Negati-ve, wenn dieses ruhig und egoistisch auf sich bezogen und somit sich selber untreu ist, gleichberechtigt sind -

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das Negative soll aber nicht egoistisch sein - es soll sich mit Liebe dem Positiven hingeben, um dasselbe zu ver-zehren und um in dieser religiösen, glaubensvollen, lebendigen Tat der Vernichtung die unerschöpfliche und zukunftsschwangere Tiefe seiner Natur zu offenba-ren. - Das Positive ist durch das Negative und das Ne-gative umgekehrt durch das Positive negiert; - was ist denn das in beiden Gemeinsame und das über beide Übergreifende? - Das Negieren, das Zugrunderichten, das leidenschaftliche Verzehren des Positiven, — selbst wenn dieses sich pfiffig unter der Gestalt des Negativen zu verbergen sucht. - Nur als dieses rücksichtslose Ne-gieren ist das Negative berechtigt, - als solches ist es aber absolut berechtigt, - weil es als solches das Tun des in dem Gegensatze selbst unsichtbar gegenwärtigen praktischen Geistes ist, - der durch diesen Vernich-tungssturm mächtig die sündhaften, vermittelnden See-len zur Buße mahnt und sein nahes Kommen, seine nahe Offenbarung in einer wirklich demokratischen und universell-menschlichen Kirche der Freiheit verkündigt. Dieses Sich selbst auflösen des Positiven ist die einzig mögliche Vermittlung des Positiven mit dem Negati-ven, weil es die immanente, die totale Bewegung und Energie des Gegensatzes selber ist, und so ist jede ande-re Weise, sie zu vermitteln, eine willkürliche und jeder, der eine andere Vermittlung bezweckt, beweist dadurch nur, daß er von dem Geiste der Zeit nicht durchdrungen und somit entweder dumm oder gesinnungslos ist, weil man nur dann wirklich geistreich und sittlich ist, wenn

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man sich diesem Geist vollständig hingibt und von ihm durchdrungen wird. - Der Gegensatz ist total und wahr; - das geben selbst die Vermittelnden zu; - als totaler ist er aber durchaus lebendig, und die Energie seiner all-umfassenden Lebendigkeit besteht gerade, wie wir es eben gesehen haben, in diesem rastlosen Sich-selbstverbrennen des Positiven in dem reinen Feuer des Negativen. Was tun die Vermittelnden nun? - Sie geben uns dies alles zu, sie anerkennen die Totalität des Gegensatzes ebenso wie wir, nur daß sie diesen seiner Bewegung, seiner Lebendigkeit, seiner ganzen Seele berauben, oder vielmehr berauben wollen, -weil die Lebendigkeit des Gegensatzes eine praktische, eine mit ihren halben und impotenten Seelen unverträgliche, aber eben dadurch eine über alle ihre Versuche, sie zu ersticken, erhabene Macht ist. - Das Positive, haben wir gesagt und bewie-sen, ist für sich genommen unberechtigt; -es ist nur in-sofern berechtigt, als es die Ruhe des Negativen, seine Beziehung auf sich negiert, insofern es unbedingt und entschieden das Negative aus sich ausschließt und es dadurch in seiner Tätigkeit erhält, - insofern es selbst zum tätigen Negativen wird. - Diese Tätigkeit des Ne-gierens, zu der die Positivisten durch die unüberwindli-che, in allen lebendigen Naturen unsichtbar gegenwär-tige Macht des Gegensatzes selbst erhoben werden und welche ihre einzige Berechtigung und das einzige Merkmal ihrer Lebendigkeit ausmacht, - gerade diese Tätigkeit des Negierens wollen ihnen die Vermittelnden

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verbieten. - Infolge eines sonderbaren, unbegreiflichen Mißgeschicks, oder vielmehr aus dem ganzen begreifli-chen Mißgeschicke ihrer praktischen Gesinnungslosig-keit, ihrer praktischen Impotenz, erkennen sie in den Positiven gerade das an, was an ihnen tot, verfault und nur der Vernichtung würdig ist, - und verwerfen an ih-nen das, was ihre ganze Lebendigkeit ausmacht: - den lebendigen Kampf mit dem Negativen, die lebendige Gegenwart des Gegensatzes in ihnen. Sie sagen den Positiven: »Meine Herren! Sie haben recht, die verfaul-ten und verdorrten Reste der Herkömmlichkeit zu be-wahren; es lebt sich so hübsch und so angenehm in die-sen Ruinen, in dieser vernunftwidrigen Rokoko-Welt, deren Luft unseren schwindsüchtigen Geistern ebenso gesund ist, wie die Luft eines Viehstalls für schwind süchtige Körper; - was uns anbetrifft, so hätten wir uns mit der größten Freude in Ihrer Welt ansässig gemacht, - in einer Welt, wo nicht die Vernunft und die vernünf-tigen Bestimmungen des menschlichen Willens, son-dern das lange Bestehen und die Unbeweglichkeit der Maßstab des Wahren und Heiligen sind und wo demzu-folge China mit seinen Mandarinen und seinen Bam-busschlägen als absolute Wahrheit gelten muß! - Aber was ist da zu tun, meine Herren! - Die Zeiten sind schlecht, unsere gemeinsamen Feinde, die Negativen, haben sehr viel Raum gewonnen; - wir hassen sie eben-so und vielleicht noch mehr als Sie selbst, da sie in ihrer Ungebundenheit uns zu verachten sich erlauben; - aber sie sind mächtig geworden, und man muß nolens volens

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auf sie Rücksicht nehmen, um nicht gänzlich von ihnen vernichtet zu werden; - seien Sie doch nicht so fana-tisch, meine Herren, - räumen Sie ihnen einen kleinen Platz in Ihrer Gesellschaft ein; - was liegt Ihnen daran, wenn sie in ihrem historischen Museum die Stelle man-cher, sonst sehr ehrwürdigen, aber doch ganz verfalle-nen Ruinen einnehmen? - Glauben Sie uns, ganz be-glückt durch die Ehre, die Sie ihnen dadurch erweisen, werden sie sich schon in Ihrer ehrwürdigen Gesellschaft sehr ruhig und bescheiden benehmen; - denn es sind am Ende nur junge Leute, die durch Not und Mangel an sorgenfreier Lage erbittert“2, nur deshalb so schreien und so viel Lärm machen, weil sie sich dadurch eine gewisse Bedeutung und eine angenehme Stellung in der Gesellschaft zu verschaffen hoffen.« Nachdem wenden sie sich zu den Negativen und sagen ihnen: »Ihr Streben ist edel, meine Herren! Wir begrei-fen Ihre jugendliche Begeisterung für die reinen Prinzi-pien und haben die größte Sympathie für Sie; glauben Sie uns aber, die reinen Prinzipien sind in ihrer Reinheit auf das Leben unanwendbar ; - es gehört eine gewisse Dosis von Eklektizismus zum Leben; - die Welt läßt sich nicht so bemeistern, wie Sie es wünschen; Sie müssen ihr etwas nachgeben, um auf sie wirken zu können, - sonst werden Sie Ihre Stellung in ihr gänzlich verderben.« - Und wie man von den polnischen Juden erzählt, daß sie im letzten polnischen Kriege den beiden kämpfenden Parteien, den Polen ebensowohl wie den Russen, zugleich dienen wollten und von beiden aufge-

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hängt wurden, - so plagen sich diese Armseligen mit dem unmöglichen Geschäft der äußerlichen Vermitt-lung, und werden zum Dank von beiden Parteien ver-achtet. - Schade nur, daß die gegenwärtige Zeit zu schwach und zu energielos ist, um das Solonsche Ge-setz3 auf sie anzuwenden! Das sind Phrasen, wird man mir entgegnen; die Vermit-telnden sind meistens ehrwürdige und wissenschaftlich gebildete Leute; - es gibt sehr viel allgemein geachtete und hochgestellte Personen unter ihnen, und Sie haben sie als einsichts- und gesinnungslose Menschen darge-stellt! - Was kann ich aber dafür, wenn es so wirklich ist? - Ich will keinen persönlich angreifen; - das Innere eines Individuums ist mir ein unantastbares Heiligtum, ein Inkommensurables, über welches ich mir niemals ein Urteil erlauben werde; - dieses Innere kann für das Individuum selbst einen unendlichen Wert haben; - für die Welt, in der Wirklichkeit aber ist es nur insofern, als es sich äußert, und nur ein solches, als welches es sich äußert; - jeder Mensch ist wirklich nur das, was er in der wirklichen Welt ist, - und das Schwarze kann ich doch unmöglich weiß nennen. Ja, wird man mir erwidern, Ihnen scheint ihr Streben schwarz oder vielmehr grau zu sein; — in der Tat wol-len jene und bezwecken sie nur den Fortschritt und be-fördern ihn viel mehr als Sie selbst, indem sie besonnen zu Werke gehen und nicht übermütig wie die Demokra-ten die ganze Welt auseinandersprengen wollen. — Wir haben aber gesehen, was dieser vermeinte, von den

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Vermittelnden bezweckte Fortschritt ist; - wir haben gesehen, daß sie eigentlich nichts anderes als die Ersti-ckung des einzig lebendigen Prinzips unserer sonst so armen Gegenwart, die Erstickung des schöpferischen und zukunftsvollen Prinzips der auflösenden Bewegung wollen; — sie sehen ebenso wie wir ein, daß unsere Zeit eine Zeit des Gegensatzes ist; - sie geben uns zu, daß dies ein schlechter, ein in sich zerrissener Zustand ist, - und anstatt durch die Vollendung des Gegensatzes ihn in eine neue, affirmative und organische Wirk-lichkeit umschlagen zu lassen, wollen sie ihn, diesen in seiner jetzigen Existenz so dürftigen und schwindsüch-tigen Zustand, durch eine endlose Allmählichkeit ewig erhalten. - Ist das ein Fortschritt? - Sie sagen den Posi-tiven: »Erhalten Sie das Alte, aber erlauben Sie zugleich auch den Negativen, es allmählich aufzulö-sen;« - und den Negativen: »Lösen Sie das Alte auf; - nur nicht auf einmal und gänzlich -, damit Sie immer etwas zu tun haben;-- d. h. bleiben Sie jedes in Ihrer Einseitigkeit; - wir aber, die Auserwählten, werden den Genuß der Totalität für uns bewahren;« - armselige Totalität, mit welcher sich nur armselige Geister befrie-digen können! - Sie berauben den Gegensatz seiner bewegenden, praktischen Seele und freuen sich, daß sie mit ihm nach Willkür schalten und walten können; - der große heutige Gegensatz ist ihnen keine praktische Macht der Gegenwart, der sich jeder lebendige Mensch rücksichtslos aufgeben muß, um lebendig zu bleiben, sondern nur ein theoretisches Spielwerk. -Sie sind nicht

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von dem praktischen Geiste der Zeit durchdrungen und deshalb sind sie auch unsittliche Menschen; ja, sie, die sich so sehr ihrer Moralität rühmen, sind unsittliche Menschen, weil die Sittlichkeit außer der alleinseligma-chenden Kirche der freien Menschheit unmöglich ist. - Ihnen muß man wiederholen, was der Apokalyptiker den Vermittelnden seiner Zeit sagt: »Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. - Ach, daß du kalt oder warm wärest. Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich bin reich und habe gar satt und bedarf nichts; - und weißt nicht, daß du bist elend und jämmerlich, arm, blind und bloß.« Aber, wird man mir sagen, fallen Sie nicht mit Ihren rein auseinan-der gehaltenen Extremen in den abstrakten von Schel-ling und Hegel längst überwundenen Standpunkt zu-rück? - Hat dieser Hegel, den Sie so hochschätzen, selbst nicht die ganz richtige Bemerkung gemacht, daß im reinen Lichte ebenso wenig gesehen werden kann als in der reinen Finsternis und daß erst die konkrete Einheit beider das Sehen überhaupt möglich macht, - und besteht nicht das große Verdienst Hegels gerade darin, bewiesen zu haben, wie jede lebendige Existenz nur dadurch lebendig ist, daß sie ihre Negation nicht außer sich, sondern in sich als immanente Le-bensbedingung hat; und daß, wenn sie nur positiv wäre und die Negation außer sich hätte, sie bewegungs- und leblos wäre? - Das weiß ich sehr gut, meine Herren! - Ich gebe Ihnen zu, daß ein lebendiger Organismus zum

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Beispiel nur dadurch lebendig ist, daß er den Keim sei-nes Todes in sich trägt; - aber wenn Sie mir Hegel zitie-ren wollen, so müssen Sie ihn vollständig zitieren; - dann werden Sie ersehen, daß das Negative nur so lange die Lebensbedingung dieses bestimmten Organismus ist, als es nur in ihm als ein in seiner Totalität gehalte-nes Moment ist; - daß aber ein Punkt vorkommt, wo die allmähliche Wirkung des Negativen plötzlich abgebro-chen wird, so daß dieses zum selbständigen Prinzipe umschlägt ; - und daß dieser Augenblick der Tod dieses bestimmten Organismus ist, ein Moment, das in der Hegeischen Philosophie als der Übergang der Natur in eine qualitativ neue Welt, - in die freie Welt des Geistes bezeichnet wird. Dasselbe wiederholt sich in der Ge-schichte: - Das Prinzip der theoretischen Freiheit zum Beispiel regte sich schon in der vergangenen katholi-schen Welt vom Anfange ihrer Existenz an; - dieses Prinzip war die Quelle aller Häresien, an denen der Ka-tholizismus so reich war; - ohne dieses Prinzip aber wäre der Katholizismus bewegungslos, und so war es zugleich auch das Prinzip seiner Lebendigkeit, aber nur so lange, als es in seiner Totalität, als bloßes Moment, gehalten war; - so ist auch der Protestantismus allmäh-lich hervorgegangen ; - seinen Anfang hatte er im An-fange des Katholizismus selbst; - einmal aber wurde diese Allmählichkeit abgebrochen, und das Prinzip der theoretischen Freiheit erhob sich zum selbständigen, unabhängigen Prinzipe; - da wurde erst der Gegensatz in seiner Reinheit offenbar, und Sie wissen wohl, meine

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Herren, - Sie, die Sie sich Protestanten nennen, - was Luther den Vermittelnden seiner Zeit antwortete, als sie ihm ihre Dienste vorschlugen. - Sie sehen, meine Ansicht über die Natur des Ge-gensatzes ist nicht nur einer logischen, sondern auch einer historischen Bestätigung fähig; - ich weiß aber, daß Ihnen mit keinem Beweise geholfen werden kann, da Sie in Ihrer Leblosigkeit kein anderes Geschäft so gern übernehmen als das Bemeistern der Geschichte; - Sie sind ja nicht umsonst trockene Zurechtmacher ge-nannt worden! »Noch sind wir nicht geschlagen, - wer-den mir vielleicht die Vermittelnden antworten, - alles, was Sie vom Gegensatze sagen, ist wahr; nur eines können wir Ihnen nicht zugeben, - nämlich daß es jetzt in unserer Zeit so arg wäre, wie Sie es behaupten; - es gibt wohl Gegensätze in der Gegenwart, sie sind aber nicht so gefährlich, wie Sie es versichern. - Sehen Sie, überall ist Ruhe, über all hat sich die Bewegung gelegt; - keiner denkt an Krieg und die Mehrzahl der Nationen und der jetzt lebenden Menschen strengen alle ihre Kräfte an, um den Frieden zu erhalten, weil sie wohl wissen, daß die materiellen Interessen, welche jetzt zur Haupt-Angelegenheit der Politik und der allgemeinen Kultur geworden zu sein scheinen, ohne Frieden nicht zu befördern sind. - Wieviel wichtige Veranlassungen zum Kriege und zur Auflösung der bestehenden Ord-nung der Dinge gab es nicht von der Juli-Revolution an bis zu unserer Zeit! - Es kamen im Laufe dieser zwölf Jahre solche Verwicklungen vor, von denen man un-

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möglich erwarten konnte, daß sie sich friedlich auflösen lassen würden, - solche Augenblicke, wo ein allgemei-ner Krieg fast unvermeidlich schien und wo die schrecklichsten Stürme uns bedrohten; - und doch lös-ten sich alle Schwierigkeiten allmählich auf, alles blieb ruhig und der Friede scheint sich für immer auf die Er-de niedergelassen zu haben!« - Friede, - sagen Sie, - ja, was man nun Friede nennt! - Ich behaupte aber dagegen, daß noch nie die Gegensät-ze so scharf hingestellt waren wie jetzt, - daß der ewige Gegensatz, der in allen Zeiten derselbe ist, nur daß er sich im Fortgange der Geschichte immer mehr steigert und entwickelt, - daß der Gegensatz der Freiheit und der Unfreiheit sich in unserer, den Auflösungsperioden der heidnischen Welt sonst so ähnlichen Gegenwart zu seiner letzten und höchsten Spitze getrieben und em-porgeschwungen hat! - Haben Sie nicht auf dem Vor-grunde des durch die Revolution erhobenen Tempels der Freiheit die geheimnisvollen und furchtbaren Wor-te: Liberte, Egalite und Fraternite gelesen, und wissen Sie und fühlen Sie nicht, daß diese Worte die gänzliche Vernichtung der bestehenden politischen und sozialen Welt andeuten? - Haben Sie nichts von den Stürmen der Revolution gehört und wissen Sie nicht, daß Napoleon, dieser vermeintliche Bezähmer des Demokratismus, die nivellierenden Prinzipien desselben, als ein würdiger Sohn der Revolution, in ganz Europa mit siegender Hand verbreitet hat? - Haben Sie nicht auch vielleicht etwas von Kant, Fichte, Schelling und Hegel gehört,

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oder wissen Sie wirklich nichts von einer Philosophie, welche in der intellektuellen Welt dasselbe nivellieren-de revolutionäre Prinzip, - und Prinzip der Autonomie des Geistes aufgestellt hat, und begreifen Sie nicht, daß dieses Prinzip im höchsten Gegensatze mit allen jetzi-gen positiven Religionen, mit allen gegenwärtigen Kir-chen steht? »Ja«, - werden Sie mir antworten, »diese Gegensätze gehören ja eben zur vergangenen Geschich-te; die Revolution ist in Frankreich selbst durch die weise Regierung Ludwig Philipps und die moderne Philosophie durch einen ihrer größten Urheber, durch Schelling selbst neulichst überwunden worden; - der Gegensatz ist nun überall, in allen Sphären des Lebens aufgelöst.« - Und Sie glauben wirklich an diese Auflö-sung, an diese Überwindung des revolutionären Geis-tes? - Sind Sie denn blind und taub und haben Sie keine Augen und Ohren für das, was um sie her vorgeht? - Nein, meine Herren, - der revolutionäre Geist ist nicht überwunden; - er ist nur, nachdem er durch seine erste Erscheinung die ganze Welt in ihren Fugen erschüttert hat, wieder in sich zurückgegangen; er hat sich nur in sich vertieft, um bald wieder sich als affirmatives, schaffendes Prinzip zu offenbaren, und gräbt jetzt, wenn ich mich dieses Ausdrucks Hegels bedienen darf, wie ein Maulwurf unter der Erde, - und daß er nicht umsonst arbeitet, das können Sie an den vielen Ruinen sehen, von denen unser religiöser, politischer und sozia-ler Boden bedeckt ist. - Sie sprechen von Auflösung, von Versöhnung! - Sehen Sie sich nur um, und sagen

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Sie mir, was ist lebendig geblieben von der alten katho-lischen und protestantischen Welt? — Sie sprechen von der Überwindung des negativen Prinzips! - Haben Sie aber nichts von Strauß, Feuerbach und Bruno Bauer gelesen und wissen Sie nicht, daß ihre Werke in aller Händen sind? - Sehen Sie nicht, daß die ganze deutsche Literatur, Bücher, Broschüren, Zeitungen, - ja daß die Werke der Positivisten selbst unbewußt und unwillkür-lich von diesem negativen Geiste durchdrungen sind? - und das nennen Sie Versöhnung und Friede! Sie wissen wohl, daß die Menschheit, ihrer erhabenen Bestimmung zufolge, sich nur in einem universell-praktischen Prin-zipe befriedigen und beruhigen kann, in einem Prinzipe, das die tausendfach verschiedenen Erscheinungen des geistigen Lebens mächtig in sich zusammenfaßt; - wo ist aber dieses Prinzip, meine Herren? - Sie müssen doch mitunter auch lebendige, menschliche Au-genblicke in dem Fortgange Ihrer sonst so traurigen Existenz erleben, - solche Augenblicke, wo Sie die kleinlichen Motive Ihres Alltagslebens von sich abwer-fen und sich nach der Wahrheit, nach dem Großen, nach dem Heiligen sehnen; - antworten Sie mir nun aufrichtig, die Hand aufs Herz, haben Sie irgendwo was Lebendiges gefunden? - Haben Sie je unter den Ruinen, die uns umgeben, diese ersehnte Welt entdeckt, wo Sie sich gänzlich aufgeben und in dieser großen Kom-munion mit der ganzen Menschheit sich neu wie-dergebären könnten? - Ist etwa diese Welt der Protes-tantismus? - Aber er ist der furchtbarsten Anarchie

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preisgegeben - in wieviel verschiedene Sekten ist er nicht auseinander gerissen? »Ohne großen, allgemeinen Enthusiasmus gibt es nur Sekten, keine öffentliche Meinung«, sagt Schelling, - und die jetzige protestanti-sche Welt ist himmelweit davon entfernt, von einem allgemeinen Enthusiasmus durchdrungen zu sein, ist die nüchternste Welt, die man sich nur vorstellen kann. -Ist es etwa der Katholizismus? - Wo ist aber seine alte Herrlichkeit? - Ist er nicht jetzt, - er, der sonst über die ganze Welt gebot, — ist er nicht zum gehorsamen Werkzeuge einer ihm fremden, unsittlichen Politik ge-worden? - Oder finden Sie vielleicht Ihre Beruhigung im gegenwärtigen Staate? - Ja, das wäre wirklich eine schöne Beruhigung! - Der Staat ist jetzt im tiefsten in-nerlichen Widerspruche begriffen, - weil der Staat ohne Religion, ohne eine kräftige allgemeine Gesinnung un-möglich ist; - sehen Sie nur auf Frankreich und Eng-land, wenn Sie sich davon überzeugen wollen; - von Deutschland will ich schon gar nicht sprechen! - Gehen Sie endlich in sich, meine Herren, und sagen Sie mir aufrichtig, sind Sie mit sich selbst zufrieden und kön-nen Sie mit sich zufrieden sein? -sind Sie nicht selbst, ohne Ausnahme, traurige und dürftige Erscheinungen unserer traurigen und dürftigen Zeit? - sind Sie nicht voll von Widersprüchen? - sind Sie ganze Menschen? - glauben Sie an etwas wirklich? - wissen Sie, was Sie wollen, und können Sie überhaupt etwas wollen? -hat an Ihnen die moderne Reflexion, diese Epidemie unse-rer Zeit, einen einzigen lebendigen Teil übriggelassen

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und sind Sie nicht durch und durch von ihr durchdrun-gen und durch sie gelähmt und gebrochen? - In der Tat, meine Herren, Sie müssen gestehen, daß unsere Zeit eine traurige Zeit ist und daß wir alle ihre noch viel traurigeren Kinder sind! Andererseits aber regen sich Erscheinungen um uns her, welche uns verkündigen, daß der Geist, dieser alte Maulwurf, sein unterirdisches Werk bereits vollbracht hat und daß er bald wieder erscheinen wird, um sein Gericht zu halten; - es bilden sich überall, und beson-ders in Frankreich und England sozialistisch-religiöse Vereine, welche, der gegenwärtigen politischen Welt ganz fremd, aus ganz neuen uns unbekannten Quellen ihr Leben schöpfen und sich im stillen entwickeln und verbreiten. - Das Volk, - die arme Klasse, welche ja ohne Zweifel die größte Mehrzahl der Menschheit bil-det, - die Klasse, deren Rechte man schon theoretisch anerkannt hat, die aber bis jetzt noch durch ihre Geburt, durch ihre Verhältnisse zur Besitzlosigkeit und zur Unwissenheit, somit aber auch zur faktischen Sklaverei verurteilt ist, - diese Klasse, welche das eigentliche Volk bildet, nimmt überall eine drohende Stellung an und beginnt die im Verhältnisse zu ihr schwachen Rei-hen ihrer Feinde zu zählen und die wirkliche Voll-führung ihrer ihr von allen schon zugestandenen Rechte zu fordern. - Alle Völker und alle Menschen sind von einer gewissen Ahnung erfüllt und jeder, dessen Le-bensorgane nur nicht gelähmt sind, sieht mit einer schauerlichen Erwartung der nahenden Zukunft entge-

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gen, welche das erlösende Wort aussprechen wird. - In Rußland selbst, in diesem endlosen und schneebedeck-ten Reiche, das wir so wenig kennen und dem vielleicht eine große Zukunft bevorsteht, - in Rußland selbst sammeln sich dunkle, Gewitter verkündigende Wolken - Oh, die Luft ist schwül, sie ist schwanger von Stür-men! Und darum rufen wir unseren verblendeten Brüdern zu: Tut Buße! Tut Buße! - Das Reich des Herrn ist nah! Den Positivisten sagen wir: - Öffnet Euere geistigen Augen - laßt die Toten das Tote begraben und über-zeugt Euch endlich, daß der Geist, der ewigjunge, ewig neugeborene, nicht in verfallenen Ruinen zu suchen ist! - Und die Vermittelnden mahnen wir, ihre Herzen der Wahrheit zu öffnen und sich von ihrer armseligen und blinden Weisheit, von ihrem theoretischen Hochmut und von der knechtischen Furcht zu befreien, welche ihre Seele austrocknet und ihre Bewegungen lähmt. Laßt uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründli-che und ewig schaffende Quell alles Lebens ist. - Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust! Jules Elysard4

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1] vermutlich K. J. Stahl, konservativer Staatsrechtler. 2] s. Marheinekes Votum in der B. Bauerschen Angele-genheit S. 86. 3] Schrieb vor, daß im Bürgerkriegsfall jeder Bürger Partei nehmen müsse. [Hg.] 4] Pseudonym. [Hg.

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GOTT UND DER STAAT (1871) Wer hat Recht, die Idealisten oder die Materialisten? Wenn die Frage einmal so gestellt wird, wird ein Zau-dern unmöglich. Ohne jeden Zweifel haben die Idealis-ten unrecht und nur die Materialisten haben recht. Ja-wohl, die Tatsachen gehen den Ideen vorher, jawohl, das Ideal ist, wie Proudhon sagte, nur eine Blume, de-ren Wurzel die materiellen Existenzbedingungen bil-den. Jawohl, die ganze geistige und moralische, politi-sche und soziale Geschichte der Menschheit ist ein Re-flex ihrer wirtschaftlichen Geschichte. Alle Zweige moderner, gewissenhafter und ernster Wissenschaft wirken zusammen, diese große, diese grundlegende und entscheidende Wahrheit zu verkün-den: jawohl, die soziale Welt, die menschliche Welt im eigentüchen Sinne, die Menschheit mit einem Wort ist nichts anderes als die — für uns und unseren Planeten wenigstens - letzte und oberste Entwicklung, der höchs-te Ausdruck der Animalität. Da aber jede Entwicklung notwendig eine Verneinung einschließt, nämlich die Verneinung ihrer Grundlage oder ihres Ausgangs-punktes, ist die Menschheit zugleich und vor allem die bewußte und fortschreitende Verneinung der tierischen Natur in den Menschen, und gerade diese ebenso ver-nünftige als natürliche Verneinung, die nur vernünftig ist, weil sie natürlich ist, geschichtlich und logisch wie die Entwicklungen und Produkte aller Naturgesetze,

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gerade diese Verneinung bildet und schafft das Ideal, die Welt der geistigen und moralischen Überzeugun-gen, die Ideen. Ja, unsere ersten Vorfahren, unsere A-dams und Evas waren, wenn nicht Gorillas, doch sehr nahe Verwandte des Gorilla, oninivore, intelligente und wilde Tiere, die in unendlich höherem Grade als alle anderen Tierarten die zwei wertvollen Fähigkeiten be-saßen: die Fähigkeiten zu denken und die Fähigkeit, das Bedürfnis, sich zu empören. Diese beiden Fähigkeiten und ihr fortschreitendes Zusammenwirken im Laufe der Geschichte bilden den bewegenden Faktor, die ver-neinende Kraft in der positiven Entwicklung der menschlichen Animalität und schaffen folglich alles, was das Menschliche in den Menschen ausmacht. Die Bibel, ein sehr interessantes und manchmal sehr tiefes Buch, wenn man sie als eine der ältesten erhaltenen Äußerungen menschlicher Weisheit und Phantasie be-trachtet, drückt diese Wahrheit sehr naiv in ihrem My-thos von der Erbsünde aus. Jehovah, von allen Göttern, die die Menschen je angebetet, gewiß der eifersüchtigs-te, eitelste, roheste, ungerechteste, blutgierigste, despo-tischste und menschlicher Würde und Freiheit feind-lichste, schuf Adam und Eva aus man weiß nicht was für einer Laune heraus, ohne Zweifel, um seine Lange-weile zu vertreiben, die bei seiner ewigen egoistischen Einsamkeit schrecklich sein muß, oder um sich neue Sklaven zu schaffen; dann stellte er ihnen edelmütig die ganze Erde mit all ihren Früchten und Tieren zur Ver-fügung, wobei er diesem vollständigen Genuß nur eine

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einzige Grenze setzte. Er verbot ihnen ausdrücklich, die Frucht vom Baume der Erkenntnis zu essen. Er wollte also, daß der Mensch, alles Bewußtseins von sich selbst beraubt, ewig ein Tier bleibe, dem ewigen Gott, seinem Schöpfer und Herrn, Untertan. Aber da kam Satan, der ewige Rebell, der erste Freidenker und Weltenbefreier. Er bewirkt, daß der Mensch sich seiner tierischen Un-wissenheit und Unterwürfigkeit schämt; er befreit ihn und drückt seiner Stirn das Siegel der Freiheit und Menschlichkeit auf, indem er ihn antreibt, ungehorsam zu sein und die Frucht vom Baume der Erkenntnis zu essen. Man weiß, was folgte. Der Herrgott, dessen Voraussicht eine seiner göttlichen Eigenschaften, ihm hätte sagen müssen, daß dies so kommen würde, geriet in schreck-liche und lächerliche Wut: er verfluchte Satan und die von ihm selbst geschaffenen Menschen und die Welt, sich gewissermaßen selbst in seiner eigenen Schöpfung schlagend, wie dies Kinder im Zorn zu tun pflegen, und sich nicht begnügend, unsere Vorfahren in der Gegen-wart zu treffen, verfluchte er sie in allen künftigen Ge-nerationen, die an dem Verbrechen ihrer Vorfahren doch unschuldig sind. Unsere katholischen und protes-tantischen Theologen finden das sehr tief und sehr ge-recht, gerade weil es ungeheuer unbillig und unsinnig ist! Dann erinnerte er sich, daß er nicht nur ein Gott der Rache und des Zornes, sondern auch ein Gott der Liebe sei, und nachdem er einige Milliarden armer menschli-cher Wesen während ihres Lebens gequält und sie zu

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ewiger Höllenqual verdammt hatte, erbarmte er sich der übrigen, und um sie zu retten, um seine ewige und gött-liche Liebe mit seinem ewigen und göttlichen, immer opfer- und blutgierigen Zorn zu versöhnen, schickte er als Sühneopfer seinen einzigen Sohn auf die Erde, da-mit er von den Menschen getötet würde. Dies nennt man das Geheimnis der Erlösung, welches die Grundla-ge aller christlichen Religionen bildet. Und wenn we-nigstens noch der göttliche Retter die Welt der Men-schen gerettet hätte! Mitnichten; in dem von Christus versprochenen Paradies wird es, wie man durch aus-drückliche Ankündigung weiß, nur sehr wenige Auser-wählte geben. Die übrigen, die ungeheuere Mehrheit der gegenwärtigen und künftigen Generationen, werden ewig in der Hölle braten. Inzwischen liefert der stets gerechte, stets gute Gott zu unserem Trost die Erde den Regierungen der Napoleon III. und Wilhelm I., der Fer-dinand von Österreich und der Alexander von Rußland aus. Das sind die unsinnigen Geschichten und unge-heuerlichen Lehren, die man mitten im neunzehnten Jahrhundert in allen Volksschulen Europas, auf den ausdrücklichen Befehl der Regierungen, erzählt und lehrt. Das nennt man die Völker zivilisieren! Liegt es nicht auf der Hand, daß all diese Regierungen die sys-tematischen Vergifter, die eigennützigen Verdummer der Volksmassen sind? Ich ließ mich von meinem Gegenstand abziehen durch den Zorn, der mich stets packt, wenn ich an die elenden

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und verbrecherischen Mittel denke, durch die man die Völker in ewiger Knechtschaft hält, ohne Zweifel, um sie besser scheren zu können. Was sind die Verbrechen aller Tropmann der Welt, gegenüber diesem Verbre-chen beleidigter Menschheit, das täglich am hellen Tag, auf der ganzen Fläche der zivilisierten Erde von denen begangen wird, die sich Schützer und Väter der Völker zu nennen wagen? - Ich kehre zum Mythos von der Erbsünde zurück. Gott gab Satan recht und erkannte an, daß der Teufel Adam und Eva nicht betrogen hatte, als er ihnen Er-kenntnis und Freiheit versprach als Belohnung des Un-gehorsams, zu dem er sie verleitet ; denn sobald sie von der verbotenen Frucht gegessen hatten, sagte Gott zu sich (siehe die Bibel): »Sieh da, der Mensch ist wie einer von Uns geworden, er kennt das Gute und das Böse; hindern wir ihn also, die Frucht des ewigen Le-bens zu essen, damit er nicht unsterblich werde wie Wir.« Lassen wir jetzt die fabelhafte Seite dieses Mythos bei-seite und betrachten wir seinen wirklichen Sinn. Dieser ist sehr klar. Der Mensch hat sich befreit, er hat sich von der tierischen Natur getrennt und sich als Mensch gebildet; er begann seine Geschichte und seine eigent-lich menschliche Entwicklung mit einem Akt des Un-gehorsams und der Erkenntnis, das heißt mit der Empö-rung und dem Denken. Drei Elemente oder drei Grundprinzipien bilden die wesentlichen Bedingungen aller gemeinschaftlichen

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und persönlichen menschlichen Entwicklung in der Geschichte: 1. die menschliche Animalität; 2. das Den-ken; 3. die Empörung. Dem ersten entspricht die soziale und private Wirtschaft, dem zweiten die Wissenschaft, dem dritten die Freiheit1. Die Idealisten aller Schulen, die Aristokraten und Bourgeois, Theologen und Metaphysiker, Politiker und Moralisten, Geistlichen, Philosophen oder Dichter - nicht zu vergessen die liberalen Ökonomisten, diese zügellosen Anbeter des Ideals -, all diese sind sehr ver-letzt, wenn man ihnen sagt, daß der Mensch, mit all seiner glänzenden Intelligenz seinen erhabenen Ideen und grenzenlosen Bestrebungen, wie alles auf der Welt, nichts als Materie, nichts als ein Produkt dieser niedri-gen Materie ist. Wir könnten ihnen erwidern, daß die Materie, von wel-cher die Materialisten sprechen - eine spontane, ewig bewegliche, tätige, produktive Materie, chemisch und organisch bestimmt und in Erscheinung tretend entspre-chend den ihr eigenen mechanischen, physischen, tieri-schen und intelligenten Eigenschaften oder Kräften -, nichts mit der niedrigen Materie der Idealisten gemein hat. Letztere, ein Produkt ihrer falschen Abstraktion, ist tatsächlich ein dummes, unbelebtes, unbewegliches, zu allem unfähiges Ding, ein toter Rückstand, eine häßli-che Einbildung, jener schönen Einbildung gegenüber-gestellt, die sie Gott, das höchste Wesen nennen, dem-gegenüber die Materie, die Materie der Idealisten, von

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ihnen selbst all dessen beraubt, was ihre wirkliche Na-tur ausmacht, notwendig das höchste Nichts darstellt. Sie nahmen der Materie die Intelligenz, das Leben, alle bestimmenden Eigenschaften, tätigen Beziehungen oder Kräfte, selbst die Bewegung, ohne welche die Materie nicht einmal Gewicht hätte, und ließen ihr nur die Un-durchdringlichkeit und die unbedingte Bewegungslo-sigkeit im Raum; sie legten all diese Kräfte, Eigen-schaften und natürlichen Äußerungen dem von ihrer abstrahierenden Phantasie geschaffenen eingebildeten Wesen bei; dann nannten sie, mit Vertauschen der Rol-len, dieses Produkt ihrer Einbildung, dieses Phantom, diesen Gott, der das Nichts ist: »das höchste Wesen«, und erklärten mit notwendiger Konsequenz, daß das wirkliche Wesen, die Materie, die Welt das Nichts sei. Und dann sagen sie uns mit ernster Miene, daß diese Materie unfähig sei, etwas hervorzubringen, nicht ein-mal sich von selbst in Bewegung zu setzen, und daß sie folglich von ihrem Gott erschaffen sein müsse. In dem Anhang1 am Ende dieses Buches deckte ich die wahrhaft empörenden Unsinnigkeiten auf, zu denen man unvermeidlich geführt wird durch die Einbildung eines Gottes, sei es eines persönlichen, der Welten schafft und organisiert, sei es selbst eines unpersönli-chen, der als eine Art im ganzen Weltall verbreitete göttliche Seele angesehen wird, die das ewige Prinzip des Weltalls bilden würde, sei es einer unendlichen und göttlichen Idee, die immer anwesend und tätig ist und sich stets in der Gesamtheit der materiellen und end-

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lichen Wesen äußert. Ich will mich hier auf die Hervor-hebung eines einzigen Punktes beschränken. Die allmähliche Entwicklung der materiellen Welt ist vollkommen faßbar, ebenso wie die des organischen, tierischen Lebens und die der im Lauf der Geschichte fortschreitenden, individuellen und sozialen Intelligenz des Menschen auf dieser Welt. Sie ist eine ganz natürli-che Bewegung vom Einfachen zum Zusammengesetz-ten, von unten nach oben oder von dem Niedrigeren zu dem Höheren, eine all unseren täglichen Erfahrungen und daher auch unserer natürlichen Logik, den Geset-zen unseres Geistes entsprechende Bewegung, dieser nur auf Grund dieser selben Erfahrungen entstehenden und sich entwickelnden Logik, die sozusagen nur deren Wiedergabe oder bewußte Zusammenfassung im Ge-hirn ist. Das System der Idealisten bietet uns das gerade Gegen-teil. Es stürzt alle menschlichen Erfahrungen und den allgemeinen gesunden Menschenverstand absolut um, der doch die wesentliche Bedingung alles Verständnis-ses unter den Menschen ist, der von der so einfachen und einstimmig anerkannten Wahrheit, daß zweimal zwei vier ist, sich bis zu den erhabensten und kompli-ziertesten wissenschaftlichen Betrachtungen erhebt, ohne je etwas durch Erfahrung oder Betrachtung der Dinge nicht streng Bestätigtes zuzugeben, und so die einzige ernstliche Grundlage menschlicher Kenntnisse bildet.

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Statt dem natürlichen Weg von unten nach oben zu fol-gen, vom Niedrigen zum Höheren, vom relativ Einfa-chen zum Zusammengesetzten, statt klug und verstän-dig die tatsächliche fortschreitende Bewegung von der anorganischen Welt zur organischen, Pflanzen-, dann Tier-, dann speziell menschlichen Welt zu begleiten und die Bewegung der chemischen Materie oder des chemischen Wesens zur lebenden Materie oder dem le-benden Wesen und vom lebenden zum denkenden We-sen, statt dessen schlagen die idealistischen Denker, von dem von der Theologie ererbten göttlichen Phan-tom besessen, verblendet und angetrieben, den ganz entgegengesetzten Weg ein. Sie gehen von oben nach unten, vom Höheren zum Niedrigeren, vom Zusam-mengesetzten zum Einfachen. Sie beginnen mit Gott, sei es als Person, sei es als göttliche Substanz oder Idee, und ihr erster Schritt ist ein schrecklicher Fall von den erhabenen Höhen des ewigen Ideals in den Schlamm der materiellen Welt, von der absoluten Vollkom-menheit zur absoluten Unvollkommenheit, von dem Gedanken vom Wesen, oder vielmehr vom höchsten Wesen, zum Nichts. Wann, wie und warum das göttli-che, ewige, unendliche Wesen, das absolut Vollkom-mene, wahrscheinlich von sich selbst gelangweilt, sich zu diesem verzweifelten Salto mortale entschloß, das hat kein Idealist, Theologe, Metaphysiker oder Dichter ]e selbst zu verstehen gewußt, noch es den Ungläubigen erklären können. Alle vergangenen und gegenwärtigen Religionen und alle übersinnlichen philosophischen

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Systeme drehen sich um dieses einzige und frevelhafte Geheimnis2. Heilige Männer, erleuchtete Gesetzgeber, Propheten und Erlöser suchten darin das Leben und fanden darin nur Folter und Tod. Es verzehrte sie, wie die antike Sphinx, weil sie es nicht zu erklären wußten. Große Philosophen, von Heraklit und Plato bis Des-cartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Fichte, Schelling und Hegel, ohne der indischen Philosophen zu gedenken, schrieben Haufen von Büchern und schufen ebenso scharfsinnige wie erhabene Systeme, in denen sie ne-benbei viele schöne und große Dinge sagten und un-sterbliche Wahrheiten entdeckten, die aber dieses Ge-heimnis, den Hauptgegenstand ihrer übersinnlichen Forschungen, ebenso unergründet ließen, wie es vor ihnen gewesen war. Da aber die gigantischen Anstren-gungen der bewunderungswürdigsten Genies, welche die Welt kennt, die seit wenigstens dreißig Jahrhunder-ten immer von neuem diese Sisyphusarbeit unternah-men, nur dazu führten, dieses Geheimnis noch unver-ständlicher zu machen, können wir da hoffen, daß es uns heute durch die handwerksmäßige Spekulation ir-gendeines pedantischen Schülers einer künstlich auf-gewärmten Metaphysik enthüllt werde und das zu einer Zeit, in der alle lebendigen und ernsten Geister sich von dieser zweifelhaften Wissenschaft abgewendet haben, die das Ergebnis eines geschichtlich gewiß erklärlichen Vergleichs zwischen der Unvernunft des Glaubens und der gesunden wissenschaftlichen Vernunft ist? Es ist augenscheinlich, daß dieses schreckliche Geheimnis

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unerklärbar ist, das heißt, daß es unsinnig ist, weil das Unsinnige allein sich nicht erklären läßt. Es ist augen-scheinlich, daß, wer dasselbe zu seinem Glück, zu sei-nem Leben braucht, auf seine Vernunft verzichten und, wenn er kann, zum naiven, blinden, dummen Glauben zurückkehrend, mit Tertullian und allen aufrichtigen Gläubigen die Worte wiederholen muß, welche die wahre Quintessenz der Theologie enthalten: Credo quia absurdum. Dann hört jede Erörterung auf und es bleibt nur die triumphierende Dummheit des Glaubens. Aber eine andere Frage erhebt sich dann sofort: Wie kann in einem intelligenten und unterrichteten Menschen das Bedürfnis entstehen, an dieses Geheimnis zu glauben? Nichts ist natürlicher, als daß der Glaube an Gott, den Schöpfer, Organisator, Richter, Herren, Verflucher, Retter und Wohltäter der Welt sich im Volk erhalten hat, und zwar vor allem bei der Landbevölkerung, viel mehr als beim städtischen Proletariat. Das Volk ist lei-der noch sehr unwissend und wird in seiner Unwissen-heit erhalten durch die systematischen Anstrengungen aller Regierungen, welche diese Unwissenheit sehr be-gründeterweise für eine der wichtigsten Bedingungen ihrer eigenen Macht halten. Von der täglichen Arbeit erdrückt, der Muße, des geistigen Verkehrs, der Lektü-re, kurz aller Mittel und der meisten Antriebe beraubt, welche das menschliche Denken entwickeln, nimmt das Volk meist ohne Kritik und in Bausch und Bogen die religiösen Traditionen an, die es von der frühesten

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Kindheit an in allen Lebensverhältnissen umgeben und die von einer Menge offizieller Vergifter allerart, Pries-tern und Laien, künstlich in ihm am Leben erhalten werden, wodurch sie sich in ihm in eine Art geistiger und moralischer Gewohnheit verwandeln, die nur zu oft viel mächtiger ist als sein natürlicher, gesunder Men-schenverstand. Noch eine andere Ursache erklärt und rechtfertigt in gewissem Grade den unsinnigen Glauben des Volkes. Dies ist die elende Lage, zu der es durch die bestehende Gesellschaftsordnung in den zivili-siertesten Ländern Europas unabänderlich verurteilt ist. In geistiger und moralischer wie in materieller Hinsicht auf ein Minimum menschlicher Existenz eingeschränkt, in seine Lebensweise eingesperrt wie ein Gefangener in den Kerker, ohne Ausblick, ohne Ausweg, sogar ohne Zukunft, wenn man den Ökonomisten glauben will, müßte das Volk die merkwürdig enge Seele und den niedrigen Instinkt der Bourgeois haben, wenn es nicht das Bedürfnis empfinden würde, aus diesen Ver-hältnissen herauszukommen; dazu gibt es aber nur drei Mittel, zwei phantastische und ein wirkliches. Die bei-den ersteren sind das Wirtshaus und die Kirche, körper-liche oder geistige Ausschweifung; das dritte ist die soziale Revolution. Ich schließe daraus, daß letztere allein, viel mehr wenigstens als alle theoretische Propa-ganda der Freidenker, imstande sein wird, den religiö-sen Glauben und die Ausschweifungsgewohnheiten im Volk bis zu ihren letzten Spuren zu zerstören, einen Glauben und Gewohnheiten, die viel enger miteinander

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verknüpft sind, als man gemeinhin glaubt; durch Ersatz der gleichzeitig trügerischen und niedrigen Genüsse dieser körperlichen und geistigen Zügellosigkeit durch die ebenso feinen wie wirklichen Genüsse der in jedem und in allen sich vollständig entwickelnden Mensch-lichkeit, wird die soziale Revolution allein die Macht haben, gleichzeitig alle Wirtshäuser und alle Kirchen zu schließen. Bis dahin wird die Masse des Volkes glauben und wird dabei, wenn auch nicht die Vernunft, so doch wenigs-tens das Recht, dies zu tun, auf seiner Seite haben. Es gibt eine Menschenklasse, die, wenn sie auch nicht selbst glaubt, sich doch wenigstens gläubig stellen muß. Das sind alle Folterer, Unterdrücker und Ausbeuter der Menschheit. Geistliche, Monarchen, Staatsmänner, Krieger, öffentliche und private Finanziers, Beamte aller Art, Polizisten, Gendarmen, Kerkermeister und Henker, Monopolisten, Kapitalisten, Steuereintreiber, Unternehmer und Hausbesitzer, Advokaten, Ökono-misten, Politiker aller Farben, bis zum letzten Philister, alle wiederholen einstimmig die Worte Voltaires:

Wenn es keinen Gott gäbe, müßte man einen erfinden. Denn, ihr versteht, das Volk braucht eine Religion. Sie ist das Sicherheitsventil.

Es gibt endlich eine ziemlich zahlreiche Klasse ehrli-cher, aber schwacher Seelen, die zu intelligent sind, um

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die christlichen Dogmen ernst zu nehmen und sie im einzelnen verwerfen, aber nicht die nötige Kraft und Entschlossenheit haben, sie als Ganzes zu verwerfen. Sie geben alle speziellen Unsinnigkeiten der Religion der Kritik preis, sie weisen alle Wunder zurück, aber sie klammern sich verzweifelt an den Hauptunsinn, der die Quelle aller anderen ist, an das Wunder, das alle ande-ren Wunder erklärt und rechtfertigt, an das Dasein Got-tes. Ihr Gott ist nicht das starke und mächtige Wesen, der brutal positive Gott der Theologie. Er ist ein nebel-haftes, durchsichtiges, trügerisches Wesen, so trüge-risch, daß, wenn man ihn zu packen glaubt, er sich in das Nichts verwandelt; er ist eine Spiegelung, ein Irr-licht, das weder wärmt noch erhellt. Und doch halten sie an ihm fest und glauben, daß mit seinem Verschwin-den alles mit ihm verschwinden würde. Das sind unent-schlossene, krankhafte Seelen, die sich in der heutigen Kultur nicht zurechtfinden, die weder der Gegenwart noch der Zukunft angehören, blasse Phantome, die ewig zwischen Himmel und Erde hängen und die sich in der-selben Stellung zwischen der Bourgeoispolitik und dem Sozialismus des Proletariats befinden. Sie fühlen sich nicht stark genug, einen Gedanken bis zu Ende zu den-ken, zu wollen und sich zu entschließen, und sie verHe-ren ihre Zeit und Mühe damit, immer das Unversöhnli-che versöhnen zu wollen. Im öffentlichen Leben nennt man sie Bourgeoissozialisten. Eine Diskussion ist weder mit ihnen, noch gegen sie möglich. Sie sind zu krank.

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Es gibt aber eine kleine Zahl ausgezeichneter Männer, von denen niemand ohne Achtung zu sprechen wagt und deren kräftige Gesundheit, Geistesstärke und guten Glauben niemand zu bezweifeln sich träumen läßt. Es genügt, Mazzini, Michelet, Quinet, John Stuart Mill3 zu nennen. Sie alle sind edle und starke Seelen, große Her-zen, große Geister, große Schriftsteller, besonders was Mazzini, den heldenhaften und revolutionären Wiede-rerwecker einer großen Nation, betrifft; sie alle sind Vertreter des Idealismus und Verächter, leidenschaftli-che Gegner des Materialismus, folglich auch des Sozia-lismus, in der Philosophie wie in der Politik. Gegen sie also muß diese Frage erörtert werden. Stellen wir zunächst fest, daß keiner der erwähnten ausge-zeichneten Männer und kein anderer halbwegs bedeu-tender idealistischer Denker unserer Zeit sich mit der logischen Seite dieser Frage im engeren Sinn beschäf-tigt hat. Keiner versuchte, philosophisch die Möglich-keit des göttlichen Salto mortale von den ewigen und reinen Begionen des Geistes in den Schlamm der mate-riellen Welt zu lösen. Fürchteten sie, an diesen un-lösbaren Widerspruch heranzugehen, verzweifelten sie an seiner Lösung, nachdem dieselbe den größten Genies der Geschichte fehlgeschlagen, oder betrachteten sie ihn schon als hinreichend gelöst? Das ist ihr Geheimnis. Tatsache ist, daß sie die theoretische Darlegung der Existenz eines Gottes beiseite ließen und nur ihre prak-tischen Gründe und Folgerungen entwickelten. Sie alle sprachen davon wie von einer allgemein ange-

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nommenen Tatsache, die als solche keinem Zweifel mehr unterliegen kann, und beschränkten sich, an Stelle jedes Beweises, das Alter und die Allgemeinheit des Glaubens an Gott festzustellen. Diese eindrucksvolle Einstimmigkeit gilt in den Augen vieler ausgezeichneter Männer und Autoren so, um nur die berühmtesten zu nennen, nach der beredt ausge-drückten Meinung Joseph de Maistres und der des gro-ßen italienischen Patrioten Giuseppe Mazzini, mehr als alle Nachweise der Wissenschaft. Wenn die Logik einer kleinen Zahl konsequenter und sogar sehr großer, aber alleinstehender Denker zu einem gegenteiligen Ergeb-nis führt, so sagen sie, dies sei um so schlimmer für diese Denker und ihre Logik, denn die allgemeine Zu-stimmung zu einer Idee, ihre allgemeine Annahme von alters her wurden immer als siegreichster Beweis für ihre Wahrheit betrachtet. Das Gefühl der ganzen Welt, eine überall und immer auftretende und sich behaup-tende Überzeugung könnten nicht fehlgehen. Sie müß-ten ihre Wurzel in einer im Wesen des Menschen selbst liegenden Notwendigkeit haben. Und da festgestellt wurde, daß alle Völker der Vergangenheit und Gegen-wart an das Dasein Gottes glaubten und noch glauben, ist klar, daß die, die so unglücklich sind, daran zu zwei-feln, trotz aller Logik, die sie zu diesem Zweifel brach-te, abnormale Ausnahmen, Monstrositäten sind. Das Alter und die Allgemeinheit eines Glaubens soll also, gegen alle Wissenschaft und Logik, ein hinrei-

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chender und unwiderleglicher Beweis für seine Rich-tigkeit sein. Warum dies? Bis zum Jahrhundert von Kopernikus und Galilei glaubte alle Welt, die Sonne drehe sich um die Erde. Hat sich nicht alle Welt geirrt? Was ist älter und allgemeiner als die Sklaverei? Die Menschenfresserei vielleicht. Seit Beginn der ge-schichtlichen Gesellschaft bis heute gab es immer und überall Ausbeutung der erzwungenen Arbeit der Mas-sen, von Sklaven, Leibeigenen oder Lohnarbeitern durch eine herrschende Minderheit, Unterdrückung der Völker durch Kirche und Staat. Man muß daraus schließen, daß diese Ausbeutung und Unterdrückung der menschlichen Gesellschaft absolut verbundene Notwendigkeiten sind? Diese Beispiele zeigen, daß das Beweismittel der Verteidiger des Herrgotts nichts be-weist. Nichts ist tatsächlich so allgemein und so alt, als das Unrechte und Unsinnige; Wahrheit und Gerechtigkeit dagegen sind in der Entwicklung der menschlichen Ge-sellschaften am wenigsten allgemein verbreitet und am jüngsten. Dies erklärt auch die ständige historische Er-scheinung unerhörter Verfolgungen, deren Gegenstand ihre ersten Verkünder seitens der offiziellen, patentier-ten und interessierten Vertreter der „allgemeinen“ und „alten“ Glaubensdogmen stets waren und noch sind, oft auch seitens derselben Volksmassen, die, nachdem sie die ersten Verkünder gehörig gemartert, stets deren Ideen schließlich annehmen und zum Sieg führen.

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Uns Materialisten und revolutionäre Sozialisten er-staunt und erschreckt diese geschichtliche Erscheinung in keiner Weise. Gestützt auf unser Gewissen, auf unse-re Liebe zur Wahrheit um jeden Preis, auf die Leiden-schaft für die Logik, die an sich allein eine große Macht bildet und außerhalb welcher es kein Denken gibt; ge-stützt auf unsere Leidenschaft für die Gerechtigkeit und unseren unerschütterlichen Glauben an den Sieg der Menschlichkeit über alle theoretischen und praktischen Bestialitäten; gestützt endlich auf das gegenseitige Ver-trauen und die Hilfe, die die kleine Zahl unserer Gleichgesinnten einander geben, nehmen wir alle Fol-gen dieser geschichtlichen Erscheinung auf uns, da wir in ihr die Äußerung eines sozialen Gesetzes sehen, das ebenso natürlich, notwendig und unabänderlich ist, wie alle andern die Welt lenkenden Gesetze. Dieses Gesetz ist eine logische, unvermeidliche Folge des tierischen Ursprungs der menschlichen Gesellschaft; es ist aber, angesichts aller wissenschaftlichen, physiologischen, psychologischen und historischen Beweise, die sich in unserer Zeit angehäuft haben und angesichts seiner so glänzenden Darlegung durch die Taten der Deutschen als Eroberer Frankreichs, wirklich nicht möglich, an diesem Ursprung zu zweifeln. Wenn man aber diesen tierischen Ursprung des Menschen annimmt, erklärt sich alles. Die Geschichte erscheint uns dann als die revolutionäre Verneinung der Vergangenheit, bald langsam, stumpfsinnig und verschlagen, bald leiden-schaftlich und mächtig. Sie besteht in der fortschreiten-

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den Verneinung der ursprünglichen tierischen Natur des Menschen durch die Entwicklung seiner Mensch-lichkeit. Der Mensch, ein wildes Tier, ein Verwandter des Gorilla, ging von der tiefen Nacht des tierischen Instinkts aus, um zum Licht des Geistes zu gelangen, was all seine vergangenen Verirrungen ganz natürlich erklärt und uns zum Teil über seine gegenwärtigen Irr-tümer tröstet. Von der tierischen Sklaverei ausgehend, durchschritt er die göttliche Sklaverei, einen Zwischen-zustand zwischen seiner Tierheit und Menschlichkeit, und heute schreitet er zur Eroberung und Verwirkli-chung seiner menschlichen Freiheit. Daraus folgt, daß das Alter eines Glaubens, einer Idee, weit entfernt, etwas zu deren Gunsten zu beweisen, sie uns im Gegen-teil verdächtig erscheinen lassen muß. Denn hinter uns liegt unsere Tierheit, vor uns unsere Menschlichkeit, und das menschliche Licht, das einzi-ge, das uns erwärmen und erleuchten kann, das einzige, das uns befreien, uns würdig, frei, glücklich machen und die Brüderlichkeit unter uns verwirklichen kann — dieses Licht leuchtet nie am Anfang, sondern, je nach der Zeit, in der man lebt, stets am Ende der Geschichte. Schauen wir also nie rückwärts, schauen wir immer vorwärts, denn vor uns ist unsere Sonne und unser Heil, und wenn es erlaubt, ja sogar nützlich und notwendig ist, zurückzuschauen, um unsere Vergangenheit zu stu-dieren, dann geschieht dies nur, um festzustellen, was wir gewesen sind und was wir nicht mehr sein dürfen, was wir glaubten und dachten und was wir nicht mehr

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glauben und denken dürfen, was wir getan und was wir niemals wieder tun dürfen. Soweit über das Alter. Was die Allgemeinheit eines Irrtums betrifft, so beweist dieselbe nur eines: die Ähn-lichkeit, wenn nicht die völlige Gleichheit der mensch-lichen Natur in allen Zeiten und allen Zonen. Und da feststeht, daß alle Völker, zu allen Zeiten ihrer Ge-schichte, an Gott glaubten und noch glauben, müssen wir daraus einfach schließen, daß die aus uns selbst hervorgegangene Gottesidee ein in der Entwicklung der Menschheit geschichtlich notwendiger Irrtum ist und uns fragen, warum und wie sie entstand und warum die ungeheuere Mehrheit der Menschheit sie noch heute als wahr annimmt. Solange wir uns nicht erklären können, wie die Idee einer übernatürlichen oder göttlichen Welt in der ge-schichtlichen Entwicklung des menschlichen Bewußt-seins entstand und notwendigerweise entstehen mußte, so lange mögen wir wohl wissenschaftlich von der Sinnlosigkeit dieser Idee Überzeugtsein, wir werden sie aber in der Meinung der Mehrheit nie zerstören können. Denn wir wären nie imstande, sie in denselben Tiefen des menschlichen Wesens zu zerstören, in denen sie entstand und zu einem unfruchtbaren, aussichts- und endlosen Kampf verurteilt, müßten wir uns immer be-gnügen, sie nur an der Oberfläche zu bekämpfen, in ihren zahllosen Äußerungen, deren kaum vom gesun-den Menschenverstand erkannte Sinnlosigkeit sofort in neuer und nicht weniger sinnloser Form wiederentste-

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hen würde. Solange die Wurzel aller die Welt martern-den Sinnlosigkeiten, der Glaube an Gott, unberührt bleibt, wird sie stets neue Früchte zeitigen. So beginnt in unseren Tagen, in gewissen Kreisen der höchsten Gesellschaft, der Spiritismus sich auf den Ruinen des Christentums festzusetzen. Nicht nur im Interesse der Massen, auch im Interesse der Gesundheit unseres ei-genen Geistes müssen wir uns bemühen, das ge-schichtliche Werden der Gottesidee, die Reihe der Ur-sachen, welche diese Idee im Bewußtsein der Menschen erzeugten und entwickelten, zu begreifen. Wenn wir uns auch Atheisten nennen und für solche halten, so-lange wir diese Ursachen nicht verstanden haben, werden wir uns stets mehr oder weniger von dem Lärm dieses allgemeinen Gewissens beherrschen las-sen, dessen Geheimnis wir nicht herausgefunden haben, und bei der natürlichen Schwäche selbst des Stärksten gegenüber dem allmächtigen Einfluß des sozialen Mi-lieus, das ihn umgibt, riskieren wir stets früher oder später, auf die eine oder andere Art, in den Abgrund der religiösen Sinnlosigkeit zurückzufallen. Beispiele sol-cher schmachvoller Bekehrungen sind in der heutigen Gesellschaft häufig. Ich führte den Hauptgrund der noch heute von dem religiösen Glauben auf die Massen ausgeübten Macht an. Diese mystischen Neigungen be-zeichnen bei den Massen nicht sosehr eine Verirrung des Geistes, als tiefe innere Unzufriedenheit. Sie sind der instinktive und leidenschaftliche Aufschrei des menschlichen Wesens gegen die Enge, die Flachheit,

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die Schmerzen und die Schande eines erbärmlichen Lebens. Gegen diese Krankheit, sagte ich, gibt es nur ein einziges Mittel: die soziale Revolution. Im Anhang1 suchte ich die Ursachen der Entstehung der geschichtlichen Entwicklung der religiösen Hirnge-spinste im Menschenbewußtsein auseinanderzusetzen. Hier will ich die Frage der Existenz eines Gottes oder des göttlichen Ursprungs der Welt und des Menschen nur vom Standpunkt ihrer moralischen und sozialen Nützlichkeit behandeln und über die theoretische Ur-sache dieses Glaubens nur wenige Worte sagen, um meine Gedanken besser klarzumachen. Alle Religionen, mit ihren Göttern, Halbgöttern, Pro-pheten, Erlösern und Heiligen wurden von der leicht-gläubigen Phantasie von Menschen geschaffen, die noch nicht zur vollen Entwicklung und zum Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten gelangt waren; der Himmel der Religion ist also nichts als eine Lichtspiegelung, in der der Mensch, von Unwissenheit und Glauben über-spannt, sein eigenes Bild wiedersieht, aber vergrößert und verkehrt, d. h. vergöttlicht. Die Geschichte der Re-ligionen, die des Ursprungs, der Größe und des Verfalls der Götter, wie sie im menschlichen Glauben aufeinan-der folgten, ist also nichts als die Entwicklung der Intel-ligenz und des kollektiven Bewußtseins der Menschen. Je nachdem sie auf ihrem geschichtlichen Vormarsch in sich selbst oder in der äußeren Natur eine Kraft, eine Fähigkeit oder selbst einen großen Fehler fanden, über-trugen sie dieselben durch einen Akt ihrer religiösen

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Phantasie auf ihre Götter, übertrieben, ins Maßlose aus-gedehnt, wie Kinder zu tun pflegen. Dank dieser Be-scheidenheit und frommen Großmütigkeit der gläubi-gen und leichtgläubigen Menschen bereicherte sich der Himmel durch das, was der Erde geraubt wurde, und konsequenterweise wurden die Menschheit, die Erde desto elender, je reicher der Himmel wurde. Sobald einmal die Gottheit eingesetzt war, wurde sie natürlich als Grund, Ursache, Schiedsrichter und absoluter Ver-füger über alle Dinge proklamiert: Die Welt war nichts mehr, die Gottheit alles, und der Mensch, ihr wahrer Schöpfer, der sie ohne sein Wissen aus dem Nichts he-rausgezogen, beugte sein Knie vor ihr, betete sie an und erklärte sich als ihr Geschöpf und ihr Sklave. Das Christentum ist gerade die Religion par excellence, weil es in seiner Ganzheit die Natur, das eigentliche Wesen jedes religiösen Systems ausdrückt und äußert, nämlich die Verarmung, die Versklavung und die Ver-nichtung der Menschheit zum Vorteil der Gottheit. Da Gott alles ist, sind die wirkliche Welt und der Mensch nichts. Da Gott die Wahrheit, die Ge-rechtigkeit, das Gute, das Schöne, die Macht und das Leben ist, ist der Mensch die Lüge, das Schlechte, das Übel, die Häßlichkeit, die Ohnmacht und der Tod. Da Gott der Herr ist, ist der Mensch der Sklave. Der Mensch ist unfähig, die Gerechtigkeit, die Wahrheit und das ewige Leben selbst zu finden und kann sie nur durch göttliche Offenbarung erlangen. Wer aber Of-fenbarung sagt, sagt auch Offenbarer, Erlöser, Prophe-

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ten, Priester und Gesetzgeber, die Gott selbst erleuchte-te, und sobald diese einmal als Vertreter der Gottheit auf der Erde anerkannt sind, als die heiligen Lehrer der Menschheit, die Gott selbst auserwählte, um die Menschheit auf den Weg des Heils zu leiten, müssen sie notwendigerweise absolute Macht ausüben. Alle Men-schen schulden ihnen unbegrenzten und demütigen Ge-horsam; denn gegenüber der göttlichen Vernunft gibt es keine menschliche Vernunft, und vor der Gerechtig-keit Gottes bleibt keine irdische Gerechtigkeit bestehen. Als Sklaven Gottes müssen die Menschen auch Sklaven der Kirche und des Staates sein, insoweit als der Staat von der Kirche geheiligt ist. Dies begriff von allen be-stehenden und vergangenen Religionen das Chris-tentum am besten, nicht ausgenommen selbst die alten orientalischen Religionen, welche übrigens nur be-stimmte und bevorrechtete Völker umfaßten, während das Christentum den Anspruch hat, die ganze Mensch-heit zu umfassen, und von allen christlichen Sekten hat der römische Katholizismus allein dies mit strenger Konsequenz verkündet und verwirklicht. Deshalb ist das Christentum die absolute Religion, die letzte Re-ligion, und die römisch-apostolische Kirche die einzig konsequente, rechtmäßige und göttliche. Ob es also den Metaphysikern und religiösen Idealisten, Philosophen, Politikern oder Dichtern gefällt oder nicht: die Gottesidee enthält die Abdankung der menschlichen Vernunft und Gerechtigkeit in sich, sie ist die entschiedenste Verneinung der menschlichen Frei-

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heit und führt notwendigerweise zur Versklavung der Menschen, in Theorie und Praxis. Wenn wir also nicht die Versklavung und Herab-würdigung der Menschen wollen, wie die Jesuiten, die protestantischen Momiers, Pietisten oder Methodisten, dann können und dürfen wir dem Gott der Theologie und dem Gott der Metaphysik nicht das geringste Zuge-ständnis machen. Denn wer in diesem geheimnisvollen Alphabet A sagt, sagt schließlich unvermeidlich auch Z, und wer Gott anbeten will, muß, ohne sich kindische Illusionen zu machen, tapfer auf seine Freiheit und Menschlichkeit verzichten. Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave; der Mensch kann und soll aber frei sein: folglich existiert Gott nicht. Ich fordere jeden auf, diesem Kreis zu entgehen, und nun mag man wählen. Muß man daran erinnern, wie sehr und wie die Religio-nen die Völker verdummen und verderben? Sie töten in ihnen die Vernunft, dieses Hauptwerkzeug der mensch-lichen Befreiung, und führen sie zum Schwachsinn, der wesentlichen Voraussetzung ihrer Sklaverei. Sie enteh-ren die menschliche Arbeit und machen sie zum Zei-chen und zur Quelle der Knechtschaft. Sie töten Begriff und Gefühl der menschlichen Gerechtigkeit und lassen die Waagschale immer sich auf die Seite der triumphie-renden Schurken, der bevorrechteten Auserwählten der göttlichen Gnade neigen. Sie töten menschlichen Stolz

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und Würde und schützen nur die Kriechenden und De-mütigen. Sie ersticken im Herz der Völker jedes Gefühl menschlicher Brüderlichkeit und erfüllen es mit göttli-cher Grausamkeit. Alle Religionen sind grausam, alle sind auf Blut ge-gründet; denn alle ruhen hauptsächlich auf der Idee des Opfers, das heißt auf der beständigen Opferung der Menschheit zugunsten der unersättlichen Rache der Gottheit. In diesem blutigen Geheimnis ist der Mensch immer das Opfer, und der Priester, auch ein Mensch, aber ein durch die Gnade bevorrechteter, ist der göttli-che Henker. Dies erklärt uns, warum die Priester aller Religionen, die besten, die menschlichsten, die sanf-testen beinahe immer auf dem Grund ihres Herzens — und wenn nicht im Herzen, in ihrer Einbildung, ihrem Geist (und man kennt den furchtbaren Einfluß beider auf das Herz der Menschen), - warum, sage ich, in den Gefühlen jedes Priesters etwas Grausames und Blut-dürstiges liegt. All das wissen unsere ausgezeichneten Idealisten der Gegenwart besser als irgendjemand. Sie sind gelehrte Leute, die ihre Geschichte kennen, und da sie gleichzei-tig lebende Menschen sind, große Seelen, von aufrich-tiger und tiefer Liebe zur Menschheit durchdrungen, so verfluchten und brandmarkten sie all diese Untaten, all diese Verbrechen der Religion mit unerreichter Be-redsamkeit. Mit Entrüstung weisen sie jede Gemein-schaftlichkeit mit dem Gott der positiven Religionen

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und seinen vergangenen und gegenwärtigen irdischen Vertretern zurück. Der Gott, den sie anbeten oder anzubeten glauben, un-terscheidet sich von den wirklichen Göttern der Ge-schichte gerade dadurch, daß er durchaus kein positiver und auf irgendeine Weise theologisch oder selbst meta-physisch bestimmter Gott ist. Er ist weder das höchste Wesen Robespierres und Jean Jacques Rousseaus, noch der pantheistische Gott Spinozas, noch selbst der gleichzeitig immanente und transzendente und sehr zweideutige Gott Hegels. Sie hüten sich, ihm irgend-eine positive Bestimmung zu geben, da sie sehr gut fühlen, daß eine solche Bestimmung ihn der zersetzen-den Tätigkeit der Kritik preisgeben würde. Sie werden nie sagen, ob es ein persönlicher oder unpersönlicher Gott ist, ob er die Welt erschaffen hat oder nicht; sie sprechen nicht einmal von seiner göttlichen Vorsehung. All das könnte ihn bloßstellen. Sie werden sich begnü-gen, zu sagen: „Gott“ und nichts weiter. Aber was ist dann ihr Gott? Nicht einmal eine Idee, sondern ein blo-ßer Hauch. Er ist der Gattungsname für alles, was ihnen groß, gut, schön, edel, menschlich erscheint. Aber warum sagen sie dann nicht: „Mensch“? Ach, weil König Wilhelm von Preußen und Napoleon III. und alle ihresgleichen auch Menschen sind, und dies setzt sie in große Verle-genheit. Die wirkliche Menschheit bildet eine Verbin-dung des Erhabensten und Schönsten und des Erbärm-lichsten und Ungeheuerlichsten, was es gibt. Wie kom-

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men sie aus dieser Verlegenheit heraus? Sie nennen das eine göttlich, das andere tierisch und stellen sich die Göttlichkeit und die Animalität als zwei Pole vor, zwi-schen die sie die Menschheit stellen. Sie wollen oder können nicht begreifen, daß diese drei Ausdrücke nur einen einzigen bilden und daß man sie zerstört, wenn man sie trennt. Sie sind in der Logik nicht stark, und man möchte glau-ben, daß sie sie verachten. Das unterscheidet sie von den pantheistischen und deistischen Metaphysikern und drückt ihren Ideen den Charakter eines praktischen Ide-alismus auf, der sein Trachten viel weniger aus der strengen Entwicklung eines Gedankens schöpft als aus den geschichtlichen, kollektiven und individuellen Er-fahrungen, beinahe sagte ich Bewegungen des Lebens. Dies gibt ihrer Propaganda einen Schein von Reichtum und Lebenskraft, aber nur einen Schein; denn das Le-ben selbst wird unfruchtbar, wenn es von einem logi-schen Widerspruch gelähmt wird. Dieser Widerspruch ist folgender: Sie wollen Gott und sie wollen die Menschheit. Sie versteifen sich darauf, zwei Begriffe zusammenzubringen, die, einmal getrennt, sich nur wieder treffen können, um sich gegenseitig zu zerstö-ren. Sie sagen in einem Atemzug: »Gott, und die Frei-heit des Menschen«, »Gott, und die Würde, Gerechtig-keit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das Wohl der Men-schen«, - ohne sich um die unvermeidliche Logik zu kümmern, nach welcher, wenn Gott existiert, dies alles zum Nichtvorhandensein verurteilt ist. Denn wenn Gott

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existiert, ist er notwendigerweise der ewige, höchste, absolute Herr, und wenn ein solcher Herr da ist, ist der Mensch Sklave; wenn er aber Sklave ist, sind für ihn weder Gerechtigkeit noch Gleichheit, Brüderlichkeit, Wohlfahrt möglich. Mögen diese Idealisten sich immer gegen den gesunden Menschenverstand und alle ge-schichtliche Erfahrung, ihren Gott von der zartesten Liebe für die menschliche Freiheit beseelt vorstellen: Ein Herr, was er immer tun und wie freiheitlich er sich zeigen mag, bleibt nichtsdestoweniger ein Herr, und seine Existenz schließt notwendigerweise die Sklaverei von allem, was unter ihm ist, ein. Wenn also Gott exis-tierte, gäbe es für ihn nur ein einziges Mittel, der menschlichen Freiheit zu dienen: aufhören zu existie-ren. Als eifersüchtiger Anhänger der menschlichen Freiheit, die ich als die unbedingte Grundbedingung von allem, was wir in der Menschheit verehren und achten, ansehe, drehe ich Voltaires Satz um und sage: Wenn Gott wirk-lich existierte, müßte man ihn beseitigen. Die strenge Logik, die mir diese Worte diktiert, ist zu klar, als daß ich diesen Gedankengang weiterentwi-ckeln müßte. Und es scheint mir unmöglich, daß dies den erwähnten ausgezeichneten Männern, deren Namen so berühmt und so mit Recht geachtet sind, nicht selbst aufgefallen ist und daß sie den Widerspruch nicht be-merken, der darin liegt, daß sie gleichzeitig von Gott und von der menschlichen Freiheit sprachen. Zur Nichtbeachtung des Widerspruchs muß sie der Gedanke

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veranlaßt haben, daß diese Inkonsequenz oder diese Hintansetzung der Logik in der Praxis zum Besten der Menschheit notwendig ist. Vielleicht verstehen sie auch die Freiheit, von der sie als von einer von ihnen sehr geachteten, ihnen sehr lieben Sache sprechen, in ganz anderem Sinn als wir Materialisten und revolutionäre Sozialisten sie auffassen. Sie sprechen tatsächlich nie von ihr, ohne sofort ein anderes Wort hinzuzufügen, das Wort Autorität, ein Wort und eine Sache, die wir aus vollem Herzen verabscheuen. Was ist die Autorität? Ist es die unvermeidliche Macht der Naturgesetze, die sich in der Verkettung und not-wendigen Aufeinanderfolge der Erscheinungen der physischen und sozialen Welt äußern? Gegen diese Gesetze ist tatsächlich die Empörung nicht nur verbo-ten, sondern auch unmöglich. Wir mögen sie verkennen oder sie noch nicht kennen, aber wir können ihnen nicht ungehorsam sein, weil sie die Grundlage und Grundbe-dingung unseres Daseins sind; sie umgeben und durch-dringen uns, regeln all unsere Bewegungen, Gedanken, Handlungen, so daß, selbst wenn wir ihnen ungehorsam zu sein glauben, wir nur ihre Allmacht beweisen. Ja, wir sind unbedingt die Sklaven dieser Gesetze. Aber es liegt nichts Erniedrigendes in dieser Sklaverei oder vielmehr, es ist gar keine Sklaverei. Denn Sklaverei setzt einen äußeren Herrn, einen Gesetzgeber voraus, der sich außerhalb desjenigen befindet, dem er gebietet; diese Gesetze liegen aber nicht außer uns, sie sind uns eigen, bilden unser Wesen, unser ganzes körperliches,

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geistiges und moralisches Wesen; wir leben, atmen, handeln, denken, und wollen nur durch sie. Außerhalb ihrer sind wir nichts, existieren wir nicht. Woher käme uns also die Macht und der Wille, uns gegen sie zu em-pören. Den Naturgesetzen gegenüber ist für den Menschen nur eine Freiheit möglich: Sie zu erkennen und sie immer mehr seinem Ziel der kollektiven und individuellen Befreiung oder Humanisierung entsprechend anzuwen-den. Sind diese Gesetze einmal erkannt, üben sie eine von der Masse der Menschen nie erörterte Autorität aus. Man muß zum Beispiel ein Narr oder ein Theolo-ge, oder wenigstens ein Metaphysiker, Jurist oder Bourgeoisökonom sein, um sich gegen das Gesetz, daß zweimal zwei vier ist, zu empören. Man muß Glauben besitzen, um sich einzubilden, daß man im Feuer nicht verbrennt und im Wasser nicht ertrinkt, außer man nimmt zu irgend etwas Zuflucht, das auch wieder auf einem anderen Naturgesetz beruht. Aber diese Empö-rungen oder vielmehr diese Versuche oder tollen Ein-bildungen einer unmöglichen Empörung bilden nur eine seltene Ausnahme; denn im allgemeinen kann man sa-gen, daß die Masse der Menschen im täglichen Leben beinahe unbedingt vom gesunden Menschenverstand, das heißt von der Summe der allgemein anerkannten Naturgesetze geleitet wird. Das große Unglück ist, daß eine große Menge von der Wissenschaft schon erkann-ter Naturgesetze den Volksmassen unbekannt bleibt, dank der Sorgfalt der bevormundenden Regierungen,

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die bekanntlich nur zum Besten der Völker da sind. Ein anderer Nachteil ist der, daß der größte Teil der auf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft bezügli-chen Naturgesetze, die ebenso notwendig, unveränder-lich, unvermeidlich sind wie die die physische Welt regierenden Gesetze, noch nicht von der Wissenschaft hinreichend festgestellt und erkannt ist. Sobald sie einmal von der Wissenschaft erkannt und aus der Wissenschaft durch ein großes System der Volkserziehung und des Volksunterrichts in das Be-wußtsein aller übergegangen sein werden, wird die Fra-ge der Freiheit vollständig gelöst sein. Die verbissensten Verfechter der Autorität müssen zugeben, daß dann politische Organisation, Leitung und Gesetzgebung nicht mehr nötig sein werden, drei Din-ge, die, mögen sie dem Willen des Herrschers oder den Abstimmungen eines vom allgemeinen Stimmrecht gewählten Parlaments entspringen und mögen sie selbst dem System der Naturgesetze entsprechen, stets auf gleiche Weise der Freiheit der Massen verhängnisvoll und feindlich sind, weil sie ihnen ein System äußerli-cher und daher despotischer Gesetze aufzwingen. Die Freiheit des Menschen besteht einzig darin, daß er den Naturgesetzen gehorcht, weil er sie selbst als solche erkannt hat und nicht, weil sie ihm von außen her von irgendeinem fremden Willen, sei er göttlich oder menschlich, kollektiv oder individuell, auferlegt sind. Man nehme eine wissenschaftliche Körperschaft, die aus den erleuchtetsten Vertretern der Wissenschaft be-

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steht; man nehme an, sie sei mit der Gesetzgebung, mit der Organisation der Gesellschaft beauftragt, sei von der lautersten Wahrheitsliebe erfüllt und erlasse nur Gesetze, die unbedingt den neuesten Entdeckungen der Wissenschaft entsprechen. Nun, ich behaupte, daß diese Gesetzgebung und diese Organisation Ungeheuerlich-keiten sein werden, und zwar aus zwei Gründen. Ers-tens, weil die menschliche Wissenschaft immer not-wendigerweise unvollkommen ist und man, wenn man das schon Entdeckte mit dem noch nicht Entdeckten vergleicht, von ihr sagen kann, daß sie noch immer in der Wiege liegt. Wenn man also das praktische Leben der Gesellschaft und des einzelnen zwingen würde, sich streng und ausschließlich den letzten Ergebnissen der Wissenschaft anzupassen, würde man Gesellschaft und Individuen zu den Qualen eines Prokrustesbettes verur-teilen, das sie bald zerzerren und erdrücken würde, da das Leben immer unendlich weiter ist als die Wissen-schaft. Der zweite Grund ist der: Eine Gesellschaft, die den von einer wissenschaftlichen Körperschaft gegebenen Gesetzen nicht deshalb gehorchen würde, weil sie selbst den vernünftigen Charakter dieser Gesetze begriff, in welchem Fall die Existenz der Körperschaft unnötig würde, sondern weil die Gesetzgebung dieser Körper-schaft im Namen einer Wissenschaft auferlegt wird, die man verehren würde, ohne sie zu begreifen - eine sol-che Gesellschaft wäre nicht eine Gesellschaft von Men-schen, sondern von stummen Tieren. Sie wäre eine

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zweite Auflage der armen Republik Paraguay, die sich so lange von der Gesellschaft Jesu regieren ließ. Eine solche Gesellschaft würde bald auf die tiefste Stufe des Blödsinns herabsinken. Ein dritter Grund noch macht eine solche Regierung unmöglich. Eine mit solcher sozusagen absoluten Herr-schaftsgewalt bekleidete wissenschaftliche Körper-schaft würde, auch wenn sie aus den erleuchtetsten Männern bestände, unfehlbar und bald selbst moralisch und geistig verdorben werden. Dies ist schon heute bei den wenigen ihnen überlassenen Vorrechten die Ge-schichte aller Akademien. Das größte wissenschaftliche Genie sinkt unvermeidlich und schläft ein, sobald es Akademiker, offizieller, patentierter Gelehrter wird. Es verliert seine Selbstbestimmung, seine revolutionäre Kühnheit und die unbequeme und wilde Tatkraft, die für das Wesen der größten Genies charakteristisch ist, die stets berufen sind, hinfällige Welten zu zerstören und die Grundlagen neuer Welten zu legen. Zweifellos gewinnt es an Höflichkeit, nützlicher und praktischer Weisheit, was es an Denkkraft verliert. Es wird, mit einem Wort, verdorben. Vorrechte, jede bevorrechtete Stellung haben die Eigen-tümlichkeit, Geist und Herz der Menschen zu töten. Der politisch oder wirtschaftlich Bevorzugte ist geistig und moralisch minderwertig. Dieses soziale Gesetz kennt keine Ausnahme und paßt auf ganze Nationen wie auf Klassen, auf Körperschaften und auf Individuen. Es ist das Gesetz der Gleichheit, der höchsten Bedingung der

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Freiheit und Menschlichkeit. Der Hauptzweck dieses Buches ist, dasselbe zu entwickeln und seine Wahrheit in allen Äußerungen menschlichen Lebens zu zeigen. Eine wissenschaftliche Körperschaft, welcher die Re-gierung der Gesellschaft anvertraut wäre, würde sich bald gar nicht mehr mit der Wissenschaft, sondern mit ganz anderen Dingen beschäftigen; sie würde, wie alle bestehenden Mächte, sich damit befassen, sich ewige Dauer zu verschaffen, indem sie die ihr anvertraute Gesellschaft immer dümmer und folglich ihrer Regie-rung und Leitung immer bedürftiger machen würde. Was aber von wissenschaftlichen Akademien gilt, gilt in gleicher Weise von allen konstituierenden und ge-setzgebenden Versammlungen, selbst den aus dem all-gemeinen Stimmrecht hervorgegangenen. Letzteres mag zwar ihre Zusammensetzung erneuern, was aber nicht hindert, daß sich in wenigen Jahren eine Körper-schaft von Politikern bildet, die tatsächlich, nicht recht-lich bevorrechtet sind und durch ihre ausschließliche Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten eines Landes eine Art politischer Aristokratie oder Oli-garchie bilden. Ein Beispiel dafür sind die Vereinigten Staaten und die Schweiz. Also keine Gesetzgebung von außen her und keine Au-torität; beide sind voneinander unzertrennlich und füh-ren zur Knechtung der Gesellschaft und zur Verdum-mung der Gesetzgeber selbst. Folgt hieraus, daß ich jede Autorität verwerfe? Dieser Gedanke liegt mir fern. Wenn es sich um Stiefel han-

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delt, wende ich mich an die Autorität des Schusters; handelt es sich um ein Haus, einen Kanal oder eine Ei-senbahn, so befrage ich die Autorität des Architekten oder des Ingenieurs. Für irgendeine Spezialwissenschaft wende ich mich an diesen oder jenen Gelehrten. Aber weder der Schuster, noch der Architekt und der Gelehr-te dürfen mir ihre Autorität aufzwingen. Ich höre sie frei an und mit aller ihrer Intelligenz, ihrem Charakter, ihrem Wissen gebührender Achtung, behalte mir aber mein unbestreitbares Recht der Kritik und der Nachprü-fung vor. Ich begnüge mich nicht, eine einzige Spezial-autorität zu befragen, ich befrage mehrere, vergleiche ihre Meinungen und wähle die, die mir die richtigste zu sein scheint. Aber ich erkenne keine unfehlbare Autori-tät an, selbst nicht in ganz speziellen Fragen; folglich, welche Achtung ich auch immer für die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit einer Person habe, setze ich in niemand unbedingten Glauben. Ein solcher Glaube wäre ver-hängnisvoll für meine Vernunft, meine Freiheit und den Erfolg meines Unternehmens, er würde mich sofort in einen dummen Sklaven und ein Werkzeug des Willens und der Interessen anderer verwandeln. Wenn ich mich vor der Autorität von Spezialisten beu-ge und bereit bin, ihren Angaben und selbst ihrer Lei-tung in gewissem Grade und solange es mir notwendig erscheint, zu folgen, tue ich das, weil diese Autorität mir von niemand aufgezwungen ist, nicht von den Menschen und nicht von Gott. Sonst würde ich sie mit Abscheu zurückweisen und ihre Ratschläge, ihre Lei-

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tung und ihre Wissenschaft zum Teufel jagen, in der Gewißheit, daß sie mich die Brocken menschlicher Wahrheit, die sie mir geben könnten, in viele Lügen eingehüllt, durch den Verlust meiner Freiheit und Wür-de bezahlen ließen. Ich neige mich vor der Autorität von Spezialisten, weil sie mir von meiner eigenen Vernunft auferlegt wird. Ich bin mir bewußt, daß ich nur einen sehr kleinen Teil der menschlichen Wissenschaft in allen Einzelheiten und positiven Entwicklungen umfassen kann. Die größte Intelligenz genügt nicht, alles zu umfassen. Daraus folgt für die Wissenschaft wie für die Industrie die Notwendigkeit der Arbeitsteilung und Vereinigung. Ich empfange und ich gebe, so ist das menschliche Leben. Jeder ist abwechselnd leitende Autorität oder Geleiteter. Es gibt also keine stetige und feststehende Autorität, sondern einen beständigen Wechsel von gegenseitiger Autorität und Unterordnung, die vorübergehend und vor allem freiwillig ist. Diese gleiche Ursache verbietet mir also, eine feste, beständige und allgemeine Autorität anzuerkennen, weil es keinen universellen Menschen gibt, der imstan-de wäre, mit jenem Reichtum an Einzelheiten, ohne den die Anwendung der Wissenschaft auf das Leben nicht möglich ist, alle Wissenschaften, alle Zweige des sozia-len Lebens zu umfassen. Und wenn es möglich wäre, daß eine solche Universalität je in einem einzigen Mann verwirklicht würde, und wenn er sich derselben bedie-nen wollte, um uns seine Autorität aufzuzwingen, so

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müßte man diesen Mann aus der Gesellschaft jagen, weil seine Autorität unvermeidlich alle anderen zur Sklaverei und zum Schwachsinn herabdrücken würde. Ich meine nicht, daß die Gesellschaft Männer von Ge-nie mißhandeln soll, wie sie es bis jetzt getan hat. Aber ich meine ebensowenig, daß sie sie zu fett ma-chen, vor allem ihnen irgendwelche Vorrechte oder ausschließlichen Rechte einräumen soll, und dies aus drei Ursachen : Erstens weil es ihr oft vorkommen wür-de, einen Marktschreier für einen Mann von Genie zu halten; dann weil sie durch dieses System von Vorrech-ten selbst ein wahres Genie in einen Quacksalber ver-wandeln, demoralisieren, dumm machen kann, und end-lich, weil sie sich einen Despoten geben würde. Ich fasse zusammen. Wir erkennen also die unbedingte Autorität der Wissenschaft an, weil die Wissenschaft keinen anderen Gegenstand hat als die sorgfältige und möglichst systematische Wiedergabe der im materiel-len, geistigen und moralischen Leben der physischen und der sozialen Welt liegenden Naturgesetze; diese beiden Welten bilden tatsächlich nur ein und dieselbe natürliche Welt. Außerhalb dieser Autorität, der einzig rechtmäßigen, weil vernünftigen, und der menschlichen Freiheit entsprechenden, erklären wir alle anderen Au-toritäten für lügenhaft, willkürlich, despotisch und ver-hängnisvoll. Wir erkennen die unbedingte Autorität der Wissen-schaft an, aber wir weisen die Unfehlbarkeit und Uni-versalität der Vertreter der Wissenschaft zurück. In un-

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serer Kirche - man erlaube mir einen Augenblick, die-ses Wort zu gebrauchen, das ich im übrigen verab-scheue; beide, Kirche und Staat, sind mir unausstehlich -, in unserer Kirche, wie in der protestantischen Kirche, haben wir ein Oberhaupt, einen unsichtbaren Christus, die Wissenschaft, und wie die Protestanten, sogar kon-sequenter als die Protestanten, wollen wir in derselben weder Papst, noch Konzile, noch Versammlungen un-fehlbarer Kardinäle, noch Bischöfe und selbst keine Priester dulden. Unser Christus unterscheidet sich vom protestantischen und christlichen Christus darin, daß letzterer ein persönliches Wesen und unserer unpersön-lich ist; der christliche Christus, der schon in einer ewi-gen Vergangenheit zur Vollendung gelangte, stellt sich als vollkommenes Wesen dar, während die Vollendung und Vervollkommnung unseres Christus, der Wis-senschaft, immer in der Zukunft liegen, was soviel heißt, als daß sie nie zur Verwirklichung gelangen wird. Wenn wir nur die unbedingte Autorität der absoluten Wissenschaft anerkennen, setzen wir also in keiner Weise unsere Freiheit aufs Spiel. Ich verstehe unter „absoluter Wissenschaft“ die wirk-lich universelle Wissenschaft, die das Universum, das System oder die Zusammenordnung aller sich in der beständigen Entwicklung der Welten äußernden Natur-gesetze, in seiner ganzen Ausdehnung und all seinen unendlichen Einzelheiten ideal wiedergeben würde. Es ist klar, daß diese Wissenschaft, das erhabenste Ziel aller Anstrengungen des menschlichen Geistes, nie in

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absoluter Vollständigkeit verwirklicht werden wird. Unser Christus wird also ewig unvollendet bleiben, was den Stolz seiner bevorrechteten Vertreter unter uns be-deutend vermindern muß. Gegen diesen Sohn Gottes, in dessen Namen sie uns ihre unverschämte und pedanti-sche Autorität aufzulegen die Anmaßung haben wür-den, werden wir uns auf Gott den Vater berufen, der die wirkliche Welt, das wirkliche Leben ist, von denen je-ner nur der nur allzu unvollkommene Ausdruck ist und deren unmittelbare Vertreter wir selbst sind - die leben-den Wesen, die wir leben, arbeiten, kämpfen, lieben, streben, genießen und leiden. Aber während wir die unbedingte, universelle und un-fehlbare Autorität der Männer der Wissenschaft zu-rückweisen, beugen wir uns gern vor der achtenswer-ten, aber relativen und sehr vorübergehenden, sehr be-schränkten Autorität der Vertreter der Spezialwissen-schaften und verlangen nichts Besseres, als sie zu be-fragen, wenn die Reihe an sie kommt, sehr dankbar für die wertvollen Fingerzeige, die sie uns geben, unter der Bedingung, daß sie selbst bereit sind, von uns gleiche Angaben anzunehmen über Dinge und in Fällen, in de-nen wir gelehrter sind als sie. Im allgemeinen ist es uns ganz erwünscht, zu sehen, daß Männer von großem Wissen, großer Erfahrung, großem Geist und vor allem großen Herzens auf uns einen natürlichen, rechtmäßi-gen, frei angenommenen Einfluß ausüben, der nie im Namen irgendeiner offiziellen, himmlischen oder irdi-schen Autorität auferlegt wird. Wir nehmen alle natürli-

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chen Autoritäten und Einflüsse an, die im Wesen der Sache, nicht aber im Recht liegen; denn jede im Recht liegende und daher offiziell auferlegte Autorität und jeder Einfluß dieser Art wird sofort Unterdrückung und Lüge und würde uns unfehlbar, wie ich hinreichend bewiesen zu haben glaube, Sklaverei und Unsinn auf-zwingen. Mit einem Wort, wir weisen alle privilegierte, patentierte, offizielle und legale Gesetzgebung, Auto-rität und Beeinflussung zurück, selbst wenn sie aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangen sind, in der Überzeugung, daß sie immer nur zum Nutzen einer herrschenden und ausbeutenden Minderheit gegen die Interessen der ungeheueren geknechteten Mehrheit sich wenden können. In diesem Sinne sind wir wirklich Anarchisten. Die modernen Idealisten verstehen die Autorität in ganz anderem Sinn. Obgleich sie sich von dem überlieferten Aberglauben aller bestehenden positiven Religionen befreit haben, geben sie nichtsdestoweniger der Idee der Autorität einen göttlichen, absoluten Sinn. Diese Auto-rität ist nicht die einer wunderbar geoffenbarten Wahr-heit, noch die einer streng wissenschaftlich bewiesenen Wahrheit. Sie begründen sie auf eine wenig schein-philosophische Beweisführung und auf viel unbestimmt religiösem Glauben, auf viel Ideal, abstrakt poetischem Gefühl. Ihre Religion ist wie ein letzter Versuch der Vergöttlichung von allem, was die Menschlichkeit in den Menschen bildet.

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Dies ist das gerade Gegenteil unseres Werkes. Wir glauben, in Hinsicht auf Menschenfreiheit, Men-schenwürde und Menschen wohl dem Himmel die von ihm der Erde geraubten Güter nehmen zu müssen, um sie der Erde zurückzugeben; jene aber bemühen sich, einen letzten religiös heroischen Diebstahl zu begehen, und möchten im Gegenteil dem Himmel, diesem heute entlarvten göttlichen Dieb, den die kühne Pietätlosig-keit und wissenschaftliche Analyse der Freidenker ih-rerseits plündert, alles zurückgeben, was die Mensch-heit an Größtem, Schönstem und Edelstem besitzt. Zweifellos glauben die Idealisten, daß menschliche Ideen und Dinge, um bei den Menschen größere Ach-tung zu genießen, mit göttlicher Weihe umgeben sein müssen. Wie äußert sich diese Weihe? Nicht durch ein Wunder wie bei den positiven Religionen, sondern durch die Größe und Heiligkeit der Ideen und Dinge selbst: was groß, schön, edel, gerecht ist, das gilt als göttlich. In diesem neuen religiösen Kult wird jeder sich an diesen Ideen, diesen Dingen Erleuchtende ein unmittelbar von Gott selbst geweihter Priester. Und der Beweis dafür? Die Größe der Ideen, die er ausdrückt, der Dinge, die er vollbringt, sind der Beweis; ein ande-rer ist nicht nötig. Sie sind so heilig, daß sie nur von Gott eingegeben sein können. Dies ist in wenigen Worten ihre ganze Philosophie, eine Philosophie von Gefühlen, nicht von wirklichen Ge-danken, eine Art metaphysischer Pietismus. Dies scheint unschuldig, ist es aber durchaus nicht, und die

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sehr genaue, enge und trockene Lehre, die sich unter dem unfaßbar Weiten dieser poetischen Formen ver-steckt, führt zu denselben verderblichen Ergebnissen wie alle positiven Religionen: zur vollständigsten Ver-neinung der Menschenfreiheit und Menschenwürde. Wenn man alles, was man Großes, Edles, Schönes in der Menschheit findet, als göttlich preist, erkennt man damit an, daß die Menschheit allein nicht imstande ge-wesen wäre, es hervorzubringen; dies kommt auf das-selbe hinaus, wie wenn man sagte, daß sie, sich selbst überlassen, ihrer eigenen Natur nach elend, ungerecht, niedrig und häßlich ist. Dadurch kommen wir zum Kern jeder Religion, der Herabsetzung der Menschheit zum größeren Ruhm der Gottheit. Und sobald man die natür-liche Minderwertigkeit des Menschen und seine funda-mentale Unfähigkeit, sich aus sich selbst heraus, außer-halb aller göttlichen Erleuchtung, zu gerechten und wahren Ideen zu erheben, zugibt, wird es nötig, auch alle theologischen, politischen und sozialen Folgerun-gen der positiven Religionen zuzugeben. Sobald Gott, das vollkommene und höchste Wesen, sich der Menschheit gegenüberstellt, entstehen von überall gött-liche Vermittler, Auserwählte, von Gott Erleuchtete, um das Menschengeschlecht in seinem Namen zu leiten und zu regieren. Kann man nicht annehmen, daß alle Menschen in glei-cher Weise von Gott erleuchtet sind? Dann brauchte man allerdings keine Vermittler. Aber diese Annahme ist unmöglich, weil ihr die Tatsachen zu sehr wider-

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sprechen. Man müßte dann der göttlichen Erleuchtung alle Sinnlosigkeiten und Irrtümer, alle Greuel, Schänd-lichkeiten, Erbärmlichkeiten und Dummheiten, die in der Welt der Menschen vorkommen, zuschreiben. Es gibt also auf der Welt nur wenige göttlich erleuchtete Menschen. Dies sind die großen Männer der Ge-schichte, die tugendhaften Genies, wie der ausge-zeichnete italienische Bürger und Prophet Giuseppe Mazzini sagt. Unmittelbar von Gott selbst erleuchtet und auf allgemeine, durch das Volksstimmrecht ausge-drückte Zustimmung gestützt - Dio e Popolo -, sind sie berufen, die menschlichen Gesellschaften zu regieren4. Damit sind wir wieder bei der Kirche und dem Staat angelangt. Zwar würde die Kirche in dieser neuen Or-ganisation nicht mehr Kirche, sondern Schule heißen, die, wie alle alten politischen Organisationen, von Got-tes Gnaden sein würde, sich aber diesmal, wenigstens der Form nach, als notwendiges Zugeständnis an den modernen Geist und wie in den Einleitungen der kaiser-lichen Dekrete Napoleons III. gesagt wird, auf den (fik-tiven) Willen des Volkes stützen würde. Aber auf den Bänken dieser Schule würden nicht nur die Kinder sit-zen: Dort säße der ewig Unmündige, der Schüler, der für immer als unfähig gilt, seine Prüfungen zu machen, die Kenntnisse seiner Lehrer zu erwerben und ihrer Zucht zu entwachsen, das Volk5. Der Staat wird nicht mehr Monarchie heißen, sondern Republik, wird aber nichtsdestoweniger der Staat sein, das heißt eine offi-

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ziell und regelrecht von einer Minderheit zuständiger Männer, von tugendhaften Männern von Genie oder Talent, errichtete Vormundschaft zur Überwachung und Leitung des Betragens dieses großen, unverbesser-lichen Schreckenskindes, des Volkes. Die Schullehrer und Staatsbeamten werden sich Republikaner nennen, aber nichtsdestoweniger Vormünder, Hirten sein, und das Volk wird das bleiben, was es bis jetzt gewesen ist, eine Herde. Achtung also vor den Scherern, denn wo es eine Herde gibt, gibt es auch Scherer und Ausbeuter der Herde. In diesem System wird das Volk ewig Schüler und Mündel sein. Trotz seiner Herrschaftsgewalt, die ganz fiktiv ist, wird es das Werkzeug von Gedanken, Willen und folglich auch von Interessen sein, die nicht seine eigenen sein werden. Zwischen dieser Lage und der, die wir Freiheit, die einzige wahre Freiheit, nennen, hegt ein Abgrund. Es würde unter neuen Formen die alte Unterdrückung und Knechtschaft sein, und wo Knecht-schaft ist, ist Elend, Vertierung, die eigentliche Materia-lisierung der Gesellschaft, sowohl der bevorzugten Klassen wie der Massen. Durch Vergöttlichung menschlicher Dinge kommen die Idealisten stets zum Triumph eines niedrigen Materia-lismus. Und das aus einem sehr einfachen Grunde: das Göttliche verflüchtigt sich und erhebt sich zu seiner Heimat, dem Himmel, und das Niedrige bleibt allein wirklich auf der Erde.

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Jawohl, der theoretische Idealismus hat den niedrigsten Materialismus in der Praxis zur notwendigen Folge, nicht für die, die ihn guten Glaubens predigen - für die-se ist die Unfruchtbarkeit all ihrer Bemühungen das gewöhnliche Ergebnis -, aber für die, die ihre Lehren im Leben für die ganze Gesellschaft zu verwirklichen sich bemühen, solange sich diese von den idealistischen Lehren beherrschen läßt. Es fehlt nicht an geschichtlichen Beweisen für diese allgemeine Tatsache, die zuerst sonderbar erscheinen mag, die sich aber natürlich erklärt, sobald man sie nä-her betrachtet. Man vergleiche die beiden letzten Kulturen der antiken Welt, die griechische und die römische. Welche von beiden ist die materialistischere, in ihrem Ausgangs-punkt natürlichere und menschlich idealere? Die grie-chische Kultur. Welche dagegen ist die an ihrem Aus-gangspunkt abstrakt idealere, die die materielle Freiheit des Menschen der idealen Freiheit des Bürgers opfert, vertreten durch die Abstraktion des juridischen Rechts und die natürliche Entwicklung der menschlichen Ge-sellschaft zur Abstraktion des Staates, und welche ist die in ihren Konsequenzen brutalere? Ohne Zweifel die römische. Die griechische Kultur war zwar, wie alle antiken Kulturen, die römische einbegriffen, aus-schließlich national und hatte die Sklaverei zur Grund-lage. Aber trotz dieser beiden ungeheueren historischen Fehler faßte und verwirklichte sie nichtsdestoweniger als erste die Idee der Menschheit; sie veredelte und ide-

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alisierte wirklich das Leben der Menschen; sie verwan-delte die Menschenherden in Vereinigungen freier Menschen; sie schuf die Wissenschaften, Künste, eine unsterbliche Dichtkunst und Philosophie und die ersten Begriffe der Menschenachtung durch die Freiheit. Mit der politischen und sozialen Freiheit schuf sie das freie Denken. Und am Ende des Mittelalters, zur Zeit der Renaissance, genügte es, da£ einige griechische Emig-ranten einige ihrer unsterblichen Bücher nach Italien brachten, um das Leben, die Freiheit, das Denken, die Menschheit, die in dem finsteren Kerker des Katholi-zismus vergraben waren, zur Wiedererstehung zu brin-gen. Die menschliche Befreiung, das ist der Name der griechischen Kultur. Und der Name der römischen Kul-tur? Eroberung mit all ihren brutalen Folgen. Und ihr letztes Wort? Die Allmacht der Cäsaren. Das ist die Herabwürdigung und Sklaverei der Nationen und Men-schen. Und was tötet und erdrückt noch heutzutage brutal, materiell in allen Ländern Europas die Freiheit und Menschlichkeit? Der Triumph des cäsarischen oder römischen Prinzips. Vergleichen wir jetzt zwei moderne Kulturen: die ita-lienische und die deutsche. Die erstere vertritt zweifel-los in ihrem allgemeinen Charakter den Materialismus, die letztere im Gegenteil das Abstrakteste, Reinste, Ü-bersinnlichste, was es an Idealismus gibt. Was sind die praktischen Früchte beider?

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Italien leistete der Sache der menschlichen Befreiung schon ungeheuere Dienste. Es war das erste Land, wel-ches wieder aufstand und in weitem Sinn das Prinzip der Freiheit in Europa durchführte und der Menschheit ihre Adelstitel wiedergab: Industrie, Handel, Dicht-kunst, Künste, positive Wissenschaften und freies Den-ken. Seitdem wurde es durch drei Jahrhunderte vom kaiserlichen und päpstlichen Despotismus erdrückt und von seiner herrschenden Bourgeoisie in den Kot gezo-gen, so daß es heute allerdings sehr verfallen erscheint im Vergleich zu dem, was es war. Und doch, welcher Unterschied, wenn man es mit Deutschland vergleicht! Trotz diesem, wie wir hoffen, vorübergehenden Verfall kann man in Italien menschlich und frei leben und at-men, von einem Volk umgeben, das für die Freiheit geboren zu sein scheint. Selbst das bourgeoise Italien kann mit Stolz auf Männer, wie Mazzini und Garibaldi, weisen. In Deutschland atmet man die Luft ungeheuerer politischer und sozialer Knechtschaft, die ein großes Volk mit wohlbedachter Ergebung und gutem Willen philosophisch erklärt und annimmt. Seine Helden - ich spreche von denen des gegenwärtigen, nicht des künfti-gen Deutschland, des adligen, bürokratischen, politi-schen und bourgeoisen, nicht des proletarischen Deutschland - sind ganz das Gegenteil von Mazzini und Garibaldi: es sind heute Wilhelm I., der rohe und naive Vertreter des protestantischen Gottes, und die Herren von Bismarck und Moltke, die Generale Manteuffel und Werder. In all seinen internationalen Beziehungen war

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Deutschland, seit es besteht, langsam, systematisch eindringend, erobernd, immer bereit, seine eigene frei-willige Knechtschaft auf die benachbarten Völker aus-zudehnen; seit es sich als einheitliche Macht bildete, wurde es eine Drohung, eine Gefahr für die Freiheit von ganz Europa. Der Name Deutschland bedeutet heute brutalen und triumphierenden Sklavensinn. Um zu zeigen, wie sich der theoretische Idealismus sofort und unvermeidlich in praktischen Materialismus verwandelt, braucht man nur das Beispiel aller christli-chen Kirchen und natürlich, vor allem, das der römisch-apostolischen Kirche anzuführen. Was gibt es Erhabe-neres, im idealen Sinn, Uneigennützigeres, von allen irdischen Interessen Losgelösteres als die von dieser Kirche gepredigte Lehre Christi - und was gibt es brutal Materialistischeres als die beständige Praxis derselben Kirche seit dem 8. Jahrhundert, seitdem sie sich als Macht zu bilden begann? Was war und ist wohl der Hauptgegenstand all ihrer Streitigkeiten mit den Herr-schern Europas? Die weltlichen Güter, die Einkünfte der Kirche zunächst und dann die weltliche Macht, die politischen Vorrechte der Kirche. Man muß ihr die Ge-rechtigkeit widerfahren lassen, daß sie zuerst in der modernen Geschichte die unbestreitbare, aber sehr we-nig christliche Wahrheit entdeckte, daß Reichtum und Macht, wirtschaftliche Ausbeutung und politische Un-terdrückung der Massen der untrennbare Ausdruck des Reichs der göttlichen Idealität auf der Erde sind: Der Reichtum befestigt und vermehrt die Macht, die Macht

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entdeckt und schafft immer neue Reichtumsquellen, und beide sichern besser als Martyrium und Glaube der Apostel, besser als die göttliche Gnade den Erfolg der christlichen Lehre. Diese geschichtliche Wahrheit ver-kennen auch die protestantischen Kirchen nicht. Ich spreche natürlich von den unabhängigen Kirchen von England, Amerika und der Schweiz, nicht von den un-terjochten Kirchen Deutschlands. Letztere haben keine eigene Initiative; sie tun, was ihre Herren, ihre weltli-chen Herrscher, die gleichzeitig ihre geistlichen Ober-häupter sind, ihnen zu tun befehlen. Es ist bekannt, daß die protestantische Propaganda, die Englands und Ame-rikas besonders, sich sehr eng an die Propaganda der materiellen, der Handelsinteressen dieser beiden großen Nationen anschließt; es ist auch bekannt, daß letztere Propaganda durchaus nicht die Bereicherung und den materiellen Wohlstand der Länder, in die sie in Gesell-schaft von Gottes Wort eindringt, zum Gegenstand hat, sondern die Ausbeutung dieser Länder zur wachsenden Bereicherung und wirtschaftlichen Wohlstand gewisser ausbeutender und gleichzeitig sehr frommer Klassen des eigenen Landes. Mit einem Wort, es ist durchaus nicht schwer, an Hand der Geschichte zu beweisen, daß die Kirche, daß alle christlichen und nichtchristlichen Kirchen neben ihrer überirdischen Lehre wahrscheinlich zur Beschleuni-gung und Erhöhung des Erfolgs derselben niemals un-terließen, sich zu großen Gesellschaften zu organisieren zur wirtschaftlichen Ausbeutung der Massen, der Arbeit

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der Massen, unter dem Schutz und mit dem unmittelba-ren und besonderen Segen irgendeiner Gottheit,- daß alle Staaten, die bekanntlich an ihrem Ursprung mit all ihren politischen und juridischen Einrichtungen und herrschenden und bevorzugten Klassen nichts anderes waren als weltliche Nebenstellen dieser verschiedenen Kirchen, gleicherweise als Hauptgegenstand dieselbe mittelbar von der Kirche gerechtfertigte Ausbeutung zum Nutzen weltlicher Minderheiten haben - und daß im allgemeinen die Tätigkeit des Herrgotts und aller göttlichen Idealitäten auf der Erde immer und überall schließlich zur Begründung des einer kleinen Zahl wohlbekommenden Materialismus auf dem fanatischen und beständig dem Hunger ausgesetzten Idealismus der Massen führte. Was wir heute sehen, ist ein neuer Beweis dafür. Wer sind heute, abgesehen von den oben erwähnten, in der Irre gehenden großen Herzen und Geistern, die erbit-tertsten Verteidiger des Idealismus? Zunächst alle fürst-lichen Höfe. In Frankreich waren es Napoleon III. und seine Frau, Madame Eugenie; ihre Exminister, Höflinge und Exmarschälle, von Bouher und Bazaine bis Fleury und Pietri; die Männer und Frauen dieser kaiserlichen Welt, die Frankreich so gut idealisiert und gerettet ha-ben; ihre Journalisten und Gelehrten, die Cassagnac, Girardin, Duvernois, Veuillot, Leverrier, Dumas, dann die schwarze Phalanx der Jesuiten und Jesuitinnen jeder Kleidung; der ganze Adel und die ganze obere und mittlere Bourgeoisie Frankreichs; liberale Doktrinäre

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und Liberale ohne Doktrin: die Guizot, Thiers, Jules Favre, Pelletan und Jules Simon, alles verbissene Ver-teidiger der bourgeoisen Ausbeutung. In Preußen, in Deutschland ist es Wilhelm I., der wahre gegenwärtige Vertreter des Herrgotts auf Erden, all seine Generäle, alle seine pommerischen und anderen Offiziere, seine ganze Armee, die, auf ihren religiösen Glauben ge-stützt, soeben Frankreich auf die bekannte ideale Art erobert hat. In Bußland ist es der Zar und sein ganzer Hof, sind es die Murawieff und Bergh, alle Würger und frommen Bekehrer Polens. Mit einem Wort, überall dient heute der religiöse oder philosophische Idealismus - letzterer ist nur die mehr oder weniger freie Übertra-gung des ersteren - der materiellen, blutigen und bruta-len Gewalt, der schamlosen materiellen Ausbeutung als Fahne; die Fahne des theoretischen Materialismus, die rote Fahne der wirtschaftlichen Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit wird dagegen erhoben von dem prak-tischen Idealismus der unterdrückten und hungernden Massen, der die größte Freiheit und das menschliche Becht jedes einzelnen in der Brüderlichkeit aller Men-schen der Erde zu verwirklichen sucht. Wer sind die wahren Idealisten, die Idealisten nicht der Abstraktion, sondern des Lebens, nicht des Himmels, sondern der Erde, und wer sind die Materialisten? Es ist augenscheinlich, daß die Hauptbedingung des theoretischen oder göttlichen Idealismus die Opferung der Logik, der menschlichen Vernunft, der Verzicht auf die Wissenschaft ist. Man sieht andererseits, daß man

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durch die Verteidigung der idealistischen Lehren unbe-dingt zur Partei der Unterdrücker und Ausbeuter der Volksmassen hingezogen wird. Diese beiden großen Ursachen sollten, scheint es, genügen, jeden großen Geist, jedes große Herz vom Idealismus zu entfernen. Wie kommt es, daß unsere ausgezeichneten zeit-genössischen Idealisten, denen gewiß weder Geist, noch Herz, noch guter Wille fehlt und die ihr ganzes Dasein dem Dienst der Menschheit geweiht haben, - wie kommt es, daß diese darauf bestehen, in den Reihen der Vertreter einer hinfort verurteilten und entehrten Lehre zu verharren? Ein sehr triftiger Grund muß sie hierzu treiben. Dies kann weder die Logik noch die Wissen-schaft sein, da diese beide ihre Entscheidung gegen die idealistische Lehre abgegeben haben. Ebensowenig können es persönliche Interessen sein, da diese Männer über alles derartige unendlich erhaben sind. Es muß also ein mächtiger moralischer Beweggrund sein. Wel-cher? Es gibt nur einen einzigen: Diese ausgezeichneten Männer denken ohne Zweifel, daß die idealistischen Theorien oder der idealistische Glaube zur Würde und moralischen Größe des Menschen wesentlich notwen-dig sind und daß die materialistischen Lehren ihn, im Gegensatz dazu, auf die Stufe der Tiere herunterbringen würden. Und wenn gerade das Gegenteil hiervon wahr wäre? Jede Entwicklung, sagte ich, schließt die Verneinung des Ausgangspunktes ein. Da nach der materialistischen Schule der Ausgangspunkt materiell sein muß, muß

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seine Verneinung notwendigerweise ideal sein. Von der Gesamtheit der wirklichen Welt oder von dem, was man abstrakt die Materie nennt, ausgehend, gelangt sie logisch zur wirklichen Idealisierung, das heißt zur Hu-manisierung, zur vollen und ganzen Befreiung der Ge-sellschaft. Da im Gegensatz dazu und aus dem gleichen Grunde der Ausgangspunkt der idealen Schule ideal ist, gelangt sie notwendigerweise zur Materialisierung der Gesellschaft, zur Organisation eines brutalen Despotis-mus und einer harten und schändlichen Ausbeutung unter der Form der Kirche und des Staates. Die ge-schichtliche Entwicklung des Menschen ist nach der materialistischen Schule ein fortschreitender Aufstieg; nach dem idealistischen System kann sie nur ein bestän-diges Fallen sein. Bei jeder menschlichen Frage, die man in Betracht zieht, findet man stets denselben wesentlichen Gegen-satz zwischen den beiden Schulen. So geht, wie ich schon bemerkte, der Materialismus von der tierischen Stufe aus, um die Menschheit zu bilden ; der Idealismus geht von der Gottheit aus, um die Sklaverei zu errichten und die Massen zu aussichtsloser Vertierung zu verur-teilen. Der Materialismus leugnet den freien Willen und führt zur Einführung der Freiheit; der Idealismus ver-kündet den freien Willen im Namen der Men-schenwürde und gründet die Autorität auf den Ruinen aller Freiheit. Der Materialismus weist das Autoritäts-prinzip zurück, weil er es mit gutem Grund als Zugabe zur tierischen Natur betrachtet und weil nach ihm der

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Sieg der Menschlichkeit, der in seinen Augen Hauptziel und -bedeutung der Geschichte ist, nur durch die Frei-heit verwirklicht werden kann. Mit einem Wort, bei jeder Frage wird man die Idealisten stets bei unbeding-tem praktischem Materialismus treffen, während man die Materialisten die höchsten idealen Ziele und Ge-danken verfolgen und verwirklichen sieht. Die Geschichte, sagte ich, kann im System der Idealis-ten nur ein beständiges Fallen sein. Sie beginnen mit einem schrecklichen Fall, von dem sie sich nie wieder erholen: mit dem göttlichen Salto mortale aus den erha-benen Regionen der reinen, absoluten Idee zur Materie: nicht zu der stets tätigen und bewegten Materie voll Eigenschaften und Kräften, Leben und Intelligenz, wie sie uns in der wirklichen Welt erscheint, sondern zur abstrakten, verarmten Materie, die ins absolute Elend gebracht wird durch die regelrechte Plünderung jener Preußen des Denkens, der Theologen und Metaphysi-ker, die ihr alles raubten, um es ihrem Kaiser, ihrem Gott, zu geben; zu ihr, die aller Eigenschaften, aller eigenen Tätigkeit und Bewegung beraubt, nur mehr, im Gegensatz zur Gottesidee, absolute Dummheit, Un-durchdringlichkeit, Untätigkeit und Unbeweglichkeit vorstellt. Der Fall ist so schrecklich, daß die Gottheit, die göttli-che Person oder Idee, sich breitschlägt, ihr Eigenbe-wußtsein verliert und sich nie wiederfindet. Und in die-ser verzweifelten Lage ist sie noch gezwungen, Wunder

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zu üben! Denn sobald die Materie untätig ist, ist jede Bewegung, selbst die materiellste, ein Wunder und kann nur die Wirkung einer göttlichen Dazwischen-kunft, von Gottes Einwirkung auf die Materie, sein. Und so bleibt denn diese arme Gottheit, durch ihren Fall heruntergekommen und fast vernichtet, einige hun-dert Jahrtausende in diesem Ohnmachtszustand, dann erwacht sie langsam, sucht stets vergeblich eine unbe-stimmte Erinnerung von sich selbst zu gewinnen, und jede Bewegung, die sie im Hinblick auf dieses Ziel in der Materie macht, wird eine neue Schöpfung, eine neue Bildung, ein neues Wunder. Auf diese Weise durchschreitet sie alle Grade der Materialität und Besti-alität; zuerst ein Gas, ein einfacher und zusammenge-setzter chemischer Körper, ein Mineral, verbreitet sie sich dann auf der Erde als pflanzlicher und tierischer Organismus und konzentriert sich dann im Menschen. Hier scheint sie bestimmt sich wiederzufinden, denn sie zündet in jedem menschlichen Wesen einen Engelsfun-ken an, ein Teilchen ihres eigenen göttlichen Wesens, die unsterbliche Seele. Wie konnte sie eine absolut unkörperliche Sache in etwas absolut Materiellem unterbringen? Wie kann der Körper den reinen Geist enthalten, einschließen, be-grenzen, binden? Dies ist wieder eine jener Fragen, die allein der Glaube, diese leidenschaftliche und dumme Behauptung des Unsinnigen, lösen kann. Es ist das größte aller Wunder. Hier haben wir nur die Wirkungen und praktischen Folgen dieses Wunders festzustellen.

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Nach Hunderten von Jahrtausenden vergeblicher Be-mühungen, zu sich zu kommen, findet die verlorene, in der von ihr belebten und in Bewegung gesetzten Mate-rie verbreitete Gottheit einen Stützpunkt, eine Art Heim, um sich zu sammeln. Dies ist der Mensch, dies ist seine unsterbliche Seele, die eigentümlicherweise in einen sterblichen Körper gesperrt ist. Aber jeder Mensch, für sich genommen, ist viel zu beschränkt, zu klein, um die göttliche Unendlichkeit zu umschließen; er kann nur einen sehr kleinen Teil derselben enthalten, der, unsterblich wie das Ganze, aber unendlich viel kleiner als das Ganze ist. Daraus ergibt sich, daß das göttliche Wesen, das absolut unkörperliche Wesen, der Geist, teilbar ist wie die Materie. Dies ist ein weiteres Geheimnis, dessen Lösung dem Glauben überlassen werden muß. Wenn sich Gott ganz in jedem Menschen unterbringen könnte, dann wäre jeder Mensch Gott. Wir hätten eine ungeheuere Anzahl von Göttern, von denen jeder von allen anderen beschränkt und doch unendlich wäre, ein Widerspruch, der die gegenseitige Vernichtung der Menschen bedeuten würde und die Unmöglichkeit, daß mehr als ein Mensch da wäre. Was die Teile betrifft, ist dies eine andere Sache: nichts ist tatsächlich der Ver-nunft entsprechender, als daß ein Teil von einem andern Teil begrenzt und kleiner als das Ganze sei. Nur zeigt sich hier mehr oder weniger ein anderer Widerspruch. Begrenzt zu sein ist eine Eigenschaft der Materie, nicht des Geistes; des Geistes hier im Sinn der Materialisten,

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da der Geist für die Materialisten nur die Äußerung des ganz materiellen Organismus des Menschen ist; in die-sem Fall hängt Größe oder Kleinheit des Geistes ganz von der mehr oder weniger großen materiellen Vollen-dung des menschlichen Organismus ab. Aber diese Ei-genschaften der Begrenzung und relativen Größe kön-nen dem Geist, wie ihn die Idealisten verstehen, nicht angehören, dem absolut unkörperlichen, außerhalb je-der Materie existierenden Geist. Da kann es nichts Grö-ßeres und Kleineres, keine Grenze zwischen den Geis-tern geben, denn es gibt nur einen Geist: Gott. Nimmt man noch dazu, daß die unendlich kleinen und be-schränkten Teilchen, die die menschlichen Seelen bil-den, gleichzeitig unsterblich sind, so erreicht man den Gipfel der Widersprüche. Aber das ist eine Frage des Glaubens; gehen wir weiter. So also ist die Gottheit zerrissen und in unendlich klei-nen Teilen in einer ungeheueren Anzahl von Wesen jeden Geschlechts, jedes Alters, aller Rassen und Far-ben untergebracht. Dies ist eine für sie außerordentlich unbequeme und unglückliche Lage; denn die göttlichen Teilchen kennen sich zu Beginn ihrer menschlichen Existenz so wenig untereinander, daß sie beginnen, sich gegenseitig aufzufressen. Jedoch bewahren die göttli-chen Teilchen, die Menschenseelen, in diesem Zustand ganz und gar tierischer Barbarei und Brutalität eine gewisse unbestimmte Erinnerung an ihre ursprüngliche Göttlichkeit: sie werden unaufhaltsam nach ihrem Gan-zen zu angezogen; sie suchen sich und suchen das Gan-

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ze. Die Gottheit selbst, in der materiellen Welt verbrei-tet und verloren, sucht sich in den Menschen, und sie ist derart durch diese Menge menschlicher Gefängnisse, in denen sie zerstreut ist, verwirrt, daß sie bei diesem Su-chen eine Menge Dummheiten macht. Mit dem Fetischismus beginnend, sucht sie sich selbst und betet sich an bald in einem Stein, bald in einem Stück Holz oder einem Stück Tuch. Wahrscheinlich sogar hätte sie sich nie aus dem Tuchfetzen erhoben, wenn die andere Gottheit, die nicht in die Materie fiel und im Zustand reinen Geistes in den erhabenen Höhen des absoluten Ideals oder in den himmlischen Regionen blieb, nicht mit ihr Mitleid gehabt hätte. Hier liegt ein neues Geheimnis, das der in zwei Hälften gespaltenen Gottheit, welche Hälften aber jede ein Ganzes und jede unendlich sind und von denen die eine - Gott der Vater - sich in den reinen, immateriellen Re-gionen erhält, während die andere - Gott der Sohn - sich in die Materie fallen ließ. Wir werden gleich sehen, wie zwischen diesen beiden voneinander getrennten Gott-heiten beständige Beziehungen von oben nach unten und von unten nach oben entstehen und diese Bezie-hungen, als ein einziger ewiger und beständiger Akt gedacht, den Heiligen Geist bilden. Dies ist, in seinem wahren theologischen und metaphysischen Sinn, das große, das schreckliche Geheimnis der christlichen Dreieinigkeit. Aber verlassen wir so schnell wie möglich diese Höhen und sehen wir, was auf der Erde vorgeht. Gott der Vater

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sah von der Höhe seines ewigen Glanzes, daß der arme Sohn Gottes, von seinem Fall flachgequetscht und ver-wirrt, sich derart in die Materie tauchte und in ihr ver-lor, daß er, selbst nachdem er den menschlichen Zu-stand erreicht, sich nicht wiederfand, und er entschloß sich endlich, ihm zu helfen. Aus der ungeheueren Zahl gleichzeitig unsterblicher, göttlicher und unendlich kleiner Teilchen, in die Gott der Sohn sich zerstreute, so daß er sich in ihnen nicht mehr zurechtfand, wählte Gott der Vater die ihm am meisten gefallenden aus und machte daraus seine Erleuchteten, seine Propheten, seine tugendhaften Genies, die großen Wohltäter und Gesetzgeber der Menschheit: Zoroaster, Buddha, Mo-ses, Konfuzius, Lykurg, Solon, Sokrates, den göttlichen Plato und vor allem Jesus Christus, die vollständige Verwirklichung des endlich in eine einzige menschliche Person gesammelten und konzentrierten Gottessohnes; alle Apostel, St. Peter, St. Paul und vor allem St. Jo-hannes; Konstantin den Großen, Mohammed, dann Karl den Großen, Gregor VII., Dante, nach einigen auch Luther, Voltaire und Rousseau, Robespierre und Dan-ton und viele andere große und heilige geschichtliche Persönlichkeiten, deren Namen ich nicht alle anführen kann, aber unter denen ich als Russe den heiligen Niko-laus nicht zu vergessen bitte. So sind wir also bei dem Erscheinen Gottes auf der Er-de angelangt. Aber sobald Gott erscheint, wird der Mensch zu nichts. Man wird einwenden, daß er durch-aus nicht zu nichts wird, da er selbst ein Teil Gottes ist.

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Verzeihung! Ich gebe zu, daß ein Teilchen, ein Teil eines bestimmten, beschränkten Ganzen, wie klein es auch sei, eine Quantität, eine positive Größe ist. Aber ein Teilchen, ein Teil des unendlich Großen ist, mit demselben verglichen, notwendigerweise unendlich klein. Das Produkt von Milliarden, mit Milliarden von Milliarden multipliziert, wird dem unendlich Großen gegenüber unendlich klein sein, und das unendlich Kleine ist gleich null. Gott ist alles, also sind der Mensch und die ganze wirkliche Welt, das Universum, mit ihm nichts. Da gibt es keinen Ausweg. Gott erscheint, der Mensch wird zu nichts, und je grö-ßer die Gottheit wird, desto elender wird die Mensch-heit. Das ist die Geschichte aller Religionen, die Wir-kung aller Erleuchtungen und göttlichen Gesetzgebun-gen. In der Geschichte ist der Name Gottes die schreck-liche historische Keule, mit der alle göttlich erleuchte-ten Männer, die großen „tugendhaften Genies“, die Freiheit, Würde, Vernunft und das Wohl der Menschen niederschlagen. Zuerst sahen wir den Fall Gottes. Jetzt sehen wir einen Fall, der uns mehr interessiert, den des Menschen, durch das einfache Erscheinen oder die Offenbarung Gottes auf Erden. In welch tiefem Irrtum befinden sich unsere lieben und ausgezeichneten Idealisten! Wenn sie zu uns von Gott sprechen, glauben sie uns zu erheben, zu befreien, zu veredeln und wollen dies, und stattdessen würdigen sie uns herab und erdrücken uns. Sie bilden sich ein, mit

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dem Namen Gottes unter den Menschen Brüderlichkeit einführen zu können, und schaffen im Gegenteil Stolz und Verachtung; sie säen Zwietracht, Haß und Krieg und errichten Knechtschaft. Denn mit Gott kommen notwendigerweise die verschiedenen Grade göttlicher Erleuchtung; die Menschheit zerfällt in sehr Erleuchte-te, in minder Erleuchtete und in gar nicht Erleuchtete. Zwar sind alle gleich nichtig vor Gott, aber untereinan-der verglichen sind die einen größer als die anderen, nicht nur in Wirklichkeit, was nichts bedeuten würde, da eine tatsächliche Ungleichheit von selbst in der Menge verlorengeht, wenn sie nichts, keine Fiktion oder gesetzliche Einrichtung findet, an die sie sich an-klammern kann; nein, die einen sind größer als die an-deren durch das göttliche Recht der Erleuchtung, wo-durch sofort eine feste, beständige, erstarrende Un-gleichheit entsteht. Die mehr Erleuchteten müssen von den weniger Erleuchteten gehört und ihnen muß ge-horcht werden, ebenso den weniger Erleuchteten von den gar nicht Erleuchteten. So ist das Prinzip der Auto-rität fest aufgestellt und mit ihm die beiden grundlegen-den Einrichtungen der Knechtschaft: die Kirche und der Staat. Von allen Despotismen ist der der Doktrinäre oder reli-giösen Erleuchteten der ärgste. Sie sind so eifersüchtig auf den Ruhm ihres Gottes und den Triumph ihrer Idee, daß ihnen kein Herz bleibt für die Freiheit, die Würde, nicht einmal für die Leiden der lebenden, wirklichen Menschen. Der göttliche Eifer, die ausschließliche Sor-

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ge um die Idee trocknen in den zartesten Seelen, den mitfühlendsten Herzen die Quellen der Menschenliebe aus. Sie sehen alles, was ist, was in der Welt geschieht, vom Standpunkt der Ewigkeit oder der abstrakten Idee an; sie behandeln vergängliche Dinge mit Verachtung; aber das ganze Leben wirklicher Menschen, der Men-schen von Fleisch und Blut, besteht nur aus vergängli-chen Dingen; sie selbst sind vorübergehende Wesen, die nach ihrem Vergehen von anderen, ebenso vergäng-lichen ersetzt werden, die aber nie selbst wieder-kommen. Von Bleibendem oder relativ Ewigem gibt es bei den Menschen die Tatsache der Menschheit selbst, die in beständiger Entwicklung, immer reicher, von einer Generation zur anderen übergeht. Ich sage relativ ewig, weil nach der Zerstörung unseres Planeten - und diese Zerstörung muß früher oder später eintreten, da alles, was einen Anfang hat, notwendigerweise auch ein Ende haben muß -, weil nach Zerstörung unseres Plane-ten, der ohne Zweifel irgendeiner neuen Bildung im Weltsystem, das allein wirklich ewig ist, als Element dienen wird, niemand weiß, was aus unserer ganzen menschlichen Entwicklung wird. Da aber der Zeitpunkt dieser Auflösung unendlich weit von uns entfernt ist, können wir die Menschheit, im Vergleich mit dem so kurzen menschlichen Leben, ganz gut als ewig betrach-ten. Aber diese Tatsache der fortschreitenden Mensch-heit selbst ist nur wirklich und lebendig durch ihre Er-scheinung und Verwirklichung zu bestimmter Zeit, an

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bestimmten Orten, in wirklich lebenden Menschen und nicht in ihrer allgemeinen Idee. Die allgemeine Idee ist immer eine Abstraktion und schon dadurch in gewissem Grade eine Verneinung des wirklichen Lebens. Ich stellte im Anhang als Eigen-schaft des menschlichen Gedankens und folglich auch der Wissenschaft fest, daß sie von den wirklichen Tat-sachen nur ihren allgemeinen Sinn, ihre allgemeinen Beziehungen, ihre allgemeinen Gesetze erfassen und benennen kann, mit einem Wort das in ihren beständi-gen Verwandlungen Bleibende, wie ihre materielle, individuelle Seite, die sozusagen von Wirklichkeit und Leben vibriert, aber gerade dadurch flüchtig und unfaß-bar ist. Die Wissenschaft versteht den Gedanken der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst, den Gedan-ken des Lebens, nicht das Leben. Hier liegt ihre Grenze, die einzige für sie wirklich unüberschreitbare Grenze, die eben in der Natur des menschlichen Gedankens selbst, des einzigen Organs der Wissenschaft, begründet ist. Auf diese natürliche Beschaffenheit gründen sich die unbestreitbaren Rechte und die große Aufgabe der Wis-senschaft, aber auch ihre tiefe Ohnmacht und selbst ihre schädliche Wirkung, sobald sie durch ihre offiziellen, patentierten Vertreter sich das Recht anmaßt, das Leben zu beherrschen. Die Aufgabe der Wissenschaft ist fol-gende: Durch Feststellung der allgemeinen Beziehun-gen der vorübergehenden und wirklichen Dinge, durch Erkennen der der Entwicklung der Erscheinungen der

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physischen und sozialen Welt eigenen allgemeinen Ge-setze stellt sie sozusagen unveränderliche Markzeichen des Vormarsches der Menschheit auf, indem sie den Menschen die allgemeinen Bedingungen zeigt, deren strenge Beobachtung notwendig und deren Unkenntnis oder Vergessen verhängnisvoll sind. Mit einem Wort, die Wissenschaft ist der Kompaß des Lebens, aber sie ist nicht das Leben. Sie ist unabänderlich, unpersönlich, allgemein, abstrakt, gefühllos, wie die Gesetze, deren ideale, gedachte, das heißt im Gehirn existierende Wie-dergabe sie ist - im Gehirn, um uns zu erinnern, daß die Wissenschaft selbst nur ein materielles Produkt eines materiellen Organs des materiellen Organismus des Menschen, des Gehirns, ist. Das Leben ist ganz flüchtig und vorübergehend, aber auch ganz vibrierend von Wirklichkeit und Individualität, Gefühl, Leiden, Freu-den, Streben, Bedürfnissen und Leidenschaften. Das Leben allein schafft freiwillig die Dinge und alle wirk-lichen Wesen. Die Wissenschaft schafft nichts, sie konstatiert und erkennt nur die Schöpfungen des Le-bens. Und jedesmal, wenn die Männer der Wis-senschaft, ihre abstrakte Welt verlassend, sich in die lebende Schöpfung in der wirklichen Welt hin-einmischen, ist alles, was sie vorschlagen oder schaffen, arm, lächerlich, abstrakt, ohne Blut und Leben, totgebo-ren, dem von Wagner, dem pedantischen Schüler des unsterblichen Doktor Faust, geschaffenen Homunkulus gleich. Daraus ergibt sich, daß die einzige Aufgabe der

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Wissenschaft die ist, das Leben zu erhellen, nicht es zu leiten. Eine Herrschaft der Wissenschaft und der Männer der Wissenschaft, selbst wenn sie sich Positivisten, Schüler Auguste Comtes, nennen oder selbst Schüler der dokt-rinären Schule des deutschen Kommunismus, kann nur ohnmächtig, lächerlich, unmenschlich, grausam, unter-drückend, ausbeutend und verheerend sein. Man kann von den Männern der Wissenschaft als solchen sagen, was ich von den Theologen und Metaphysikern sagte: Sie haben weder Gefühl noch Herz für persönliche, lebende Wesen. Man kann ihnen nicht einmal einen Vorwurf daraus machen, denn es ist die natürliche Fol-ge ihres Berufes. Als Männer der Wissenschaft haben sie nur mit Allgemeinheiten zu tun und interessieren sich nur für solche. Die Wissenschaft, welche nur mit dem zu tun hat, was auszudrücken und beständig ist, d. h. mit mehr oder weniger entwickelten und bestimmten Allgemeinheiten, muß sich hier besiegt erklären von dem Leben, das al-lein in Verbindung steht mit der lebendigen und emp-findlichen, aber unfaßbaren und unsagbaren Seite der Dinge. Das ist die wirkliche und man kann sagen die einzige Grenze der Wissenschaft, eine wirklich unü-berschreitbare Grenze. Ein Naturforscher, der selbst ein wirkliches und lebendes Wesen ist, seziert beispielswei-se ein Kaninchen; dieses Kaninchen ist gleichfalls ein wirkliches Wesen und war, wenigstens vor kaum eini-gen Stunden, eine lebende Individualität. Nachdem der

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Naturforscher es seziert hat, beschreibt er es: Nun, das Kaninchen, welches aus seiner Beschreibung hervor-geht, ist ein Kaninchen im allgemeinen, das, jeder Indi-vidualität beraubt, allen Kaninchen gleich und deshalb nie die Kraft zu existieren haben wird und ewig ein un-bewegliches und nichtseiendes Wesen bleiben wird, nicht einmal körperlich, sondern eine Abstraktion, der festgehaltene Schatten eines lebendigen Wesens. Die Wissenschaft hat nur mit solchen Schatten zu tun. Die lebendige Wirklichkeit entschlüpft ihr und gibt sich nur dem Leben, das, weil es selbst flüchtig und vorü-bergehend ist, immer alles, was lebt, d. h. alles, was vergeht oder flieht, fassen kann und in der Tat faßt. Das Beispiel des der Wissenschaft geopferten Ka-ninchens berührt uns wenig, weil wir uns gewöhnlich für das individuelle Leben der Kaninchen sehr wenig interessieren. Anders ist es mit dem individuellen Le-ben der Menschen, das die Wissenschaft und die Män-ner der Wissenschaft, welche gewöhnt sind, unter Abs-traktionen zu leben, d. h. flüchtige und lebendige Wirk-lichkeiten ihren beständigen Schatten zu opfern, gleich-falls fähig wären, zu opfern oder wenigstens dem Nut-zen ihrer abstrakten Allgemeinheiten unterzuordnen, wenn man sie nur machen ließe. Die menschliche Individualität, ebenso die der unbe-weglichsten Dinge, ist für die Wissenschaft gleichfalls unfaßbar und sozusagen nicht existierend. Deshalb müssen auch die lebenden Individualitäten sich gegen sie verwahren und schützen, um von ihr nicht wie das

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Kaninchen zum Nutzen irgendeiner Abstraktion geop-fert zu werden; wie sie sich gleichzeitig gegen die Theologie, gegen die Politik und gegen die Rechtswis-senschaft verwahren müssen, die alle gleichfalls an je-nem abstrahierenden Charakter der Wissenschaft teilha-ben und das unheilvolle Streben besitzen, die In-dividuen dem Vorteil derselben Abstraktion zu opfern, die nur mit verschiedenen Namen belegt wird; die Theologie nennt sie die göttliche Wahrheit, die Politik das allgemeine Wohl, die Rechtswissenschaft die Ge-rechtigkeit. Ich bin weit davon entfernt, die nützlichen Ab-straktionen der Wissenschaft mit den verderblichen Abstraktionen der Theologie, der Politik und der Rechtswissenschaft vergleichen zu wollen. Diese letzte-ren müssen aufhören zu herrschen, müssen von Grund auf aus der menschlichen Gesellschaft ausgetilgt wer-den - ihr Wert, ihre Befreiung, ihre endgültige Humani-sierung sind nur um diesen Preis möglich -, während die wissenschaftlichen Abstraktionen im Gegenteil ihren Platz einnehmen müssen, nicht um die mensch-liche Gesellschaft nach dem freiheitsmörderischen Traum der positivistischen Philosophen zu regieren, sondern um ihre natürliche und lebendige Entwicklung zu beleuchten. Die Wissenschaft kann wohl Anwen-dung auf das Leben finden, aber nie sich im Leben ver-körpern, weil das Leben die unmittelbare und lebendige Wirkung, die gleichzeitig natürliche und schicksalsbe-stimmte Bewegung der lebendigen Individualitäten ist.

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Die Wissenschaft ist nur die immer unvollständige und vollkommene Abstraktion dieser Bewegung. Wenn sie sich ihm als unbedingte Lehre, als herrschende Autori-tät aufzwingen würde, würde sie es arm machen, ver-drehen und lähmen. Die Wissenschaft kann nicht aus ihren Abstraktionen heraus, sie sind ihr Reich. Aber die Abstraktionen und ihre unmittelbaren Vertreter: Pries-ter, Politiker, Juristen, Ökonomisten und Gelehrte, müs-sen aufhören, die Volksmassen zu beherrschen. Der ganze Fortschritt der Zukunft liegt darin. Er ist das Le-ben und die Bewegung des Lebens, die individuelle und soziale Wirkung der Menschen, die ihrer vollständigen Freiheit zurückgegeben sind. Er ist die vollständige Vernichtung des Autoritätsprinzips. Und wie? Durch die weiteste Verbreitung der freien Wissenschaft im Volke. Auf diese Weise wird die soziale Masse, außer-halb ihrer selbst, keine sogenannte absolute Wahrheit mehr haben, die sie lenkt und beherrscht, die vertreten ist von Persönlichkeiten, welche ein großes Interesse daran haben, sie ausschließlich in ihren Händen zu hal-ten, weil sie ihnen die Macht, und mit der Macht den Reichtum, die Möglichkeit gibt, durch die Arbeit der Volksmassen zu leben. Diese Masse wird aber in sich selbst eine immer relative, aber wirkliche Wahrheit, ein Licht haben, welches ihre natürlichen Bewegungen erhellt und jede Autorität und jede äußere Leitung un-nötig machen wird. Jedoch darf man sich nicht zu sehr darauf verlassen, und wenn es beinahe sicher ist, daß kein Gelehrter heu-

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te wagen wird, einen Menschen wie ein Kaninchen zu behandeln, muß man doch stets fürchten, daß die Ge-lehrten als Körperschaft lebende Menschen wissen-schaftlichen Versuchen unterwerfen, die für die Opfer gewiß weniger grausam, aber nicht weniger schädlich sein würden. Wenn die Gelehrten an den Körpern ein-zelner Menschen nicht experimentieren können, werden sie verlangen, am sozialen Körper Versuche zu machen, was man unbedingt verhindern muß. In ihrer gegenwärtigen Organisation als Monopolisten der Wissenschaft, die als solche außerhalb des sozialen Lebens bleiben, bilden die Gelehrten eine abgeschlos-sene Kaste, die viele Ähnlichkeit mit der Priesterkaste hat. Die wissenschaftliche Abstraktion ist ihr Gott, die lebenden und wirklichen Individuen sind die Opfer; sie sind die geweihten und patentierten Opferpriester. Die Wissenschaft kann die Sphäre der Abstraktionen nicht verlassen. In dieser Beziehung steht sie unendlich tief unter der Kunst, die zwar auch nur mit allgemeinen Typen und Situationen zu tun hat, dieselben aber durch einen ihr eigenen Kunstgriff in Formen zu verkörpern weiß, die zwar nicht im Sinn des wirklichen Lebens lebendig sind, aber trotzdem in unserer Einbildung das Gefühl oder die Erinnerung dieses Lebens hervorrufen; die Kunst individualisiert gewissermaßen die von ihr erfaßten Typen und Situationen und erinnert uns durch diese Individualitäten ohne Fleisch und Knochen, deren Schaffung in ihrer Macht liegt, die deshalb bleibend und unsterblich sind, an die lebenden, wirklichen Indi-

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vidualitäten, die vor unseren Augen erscheinen und vergehen. Die Kunst ist also in gewissem Grade die Rückkehr von der Abstraktion zum Leben. Die Wissen-schaft ist dagegen die beständige Opferung des flüchti-gen, vorübergehenden, aber wirklichen Lebens auf dem Altar der ewigen Abstraktionen. Die Wissenschaft kann ebensowenig die Individualität eines Menschen wie die eines Kaninchens erfassen. Das heißt, sie steht beiden gleich uninteressiert gegenüber. Nicht, daß ihr das Prinzip der Individualität unbekannt wäre. Sie erfaßt es vollständig als Prinzip, aber nicht als Tatsache. Sie weiß sehr gut, daß alle Tierarten, die Gat-tung Mensch einbegriffen, nur wirklich existieren als unbestimmte Zahl von Individuen, die geboren werden und sterben und neuen, ebenso vorübergehenden Indi-viduen Platz machen. Sie weiß, daß mit dem Aufsteigen der Tierarten zu höheren Arten das Prinzip der Indivi-dualität mehr hervortritt und die Individuen vollständi-ger und freier werden. Sie weiß endlich, daß der Mensch, das letzte und vollendetste Tier auf der Erde, die vollständigste und beachtenswerteste Individualität zeigt wegen seiner Fähigkeit, das allgemeine Gesetz zu erfassen, zu verwirklichen und es gewissermaßen in sich selbst, in seiner sozialen und privaten Existenz, zu verkörpern. Wenn sie nicht durch theologischen oder metaphysischen, politischen und juridischen Doktrina-rismus oder durch eng wissenschaftlichen Hochmut verdorben und nicht für die natürlichen Instinkte und Strebungen des Lebens taub ist, weiß sie, und das ist ihr

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letztes Wort, daß die Achtung des Menschen das obers-te Gesetz der Menschheit ist und daß das große, das wahre, das einzig rechtmäßige Ziel der Geschichte die Humanisierung und Befreiung, das heißt die wirkliche Freiheit, das wirkliche Wohl, das Glück jedes in der Gesellschaft lebenden Individuums ist. Denn schließ-lich, wenn man nicht in die freiheittötende Fiktion, daß der Staat das Gemeinwohl vertrete, verfallen will, eine Fiktion, die stets auf die systematische Opferung der Volksmassen gegründet ist, muß man anerkennen, daß kollektive Freiheit und kollektives Wohlbefinden nur existieren, wenn sie die Summe der Freiheit und des Wohlbefindens der Individuen darstellen. Die Wissenschaft weiß das alles, aber sie geht nicht weiter und kann nicht weiter gehen. Da die Abstraktion ihre wahre Natur bildet, kann sie wohl das Prinzip der wirklichen und lebenden Individualität erfassen, aber sie kann nichts mit den wirklichen und lebenden Indivi-duen zu tun haben. Sie beschäftigt sich mit den Indivi-duen im allgemeinen, aber nicht mit Peter und mit Ja-kob, nicht mit diesem oder jenem Individuum, die für sie nicht existieren, nicht existieren können. Ihre Indi-viduen sind, nochmals bemerkt, nur Abstraktionen. Nicht diese abstrakten Individualitäten aber, sondern die wirklichen, lebendigen, vorübergehenden Individu-en machen die Geschichte. Abstraktionen haben keine Füße, sie gehen nur, wenn sie von wirklichen Menschen getragen werden. Für diese wirklichen Wesen, die nicht nur in der Idee, sondern in Wirklichkeit aus Fleisch und

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Blut bestehen, hat die Wissenschaft kein Interesse. Sie betrachtet sie höchstens als Material zu geistiger und sozialer Entwicklung. Was liegt ihr an den besonderen Verhältnissen und dem zufälligen Schicksal von Peter und Jakob? Sie würde sich lächerlich machen, abdan-ken und sich selbst aufheben, wollte sie sich damit an-ders befassen als mit einem Beispiel zur Stütze ihrer ewigen Theorien. Und es wäre lächerlich, ihr deshalb böse zu sein; denn dies ist nicht ihre Aufgabe. Sie kann das Wirkliche nicht erfassen, sie kann sich nur in Abs-traktionen bewegen. Ihre Aufgabe ist die Beschäftigung mit der Lage und den allgemeinen Daseins- und Ent-wicklungsbedingungen der Menschheit im allgemeinen oder einer bestimmten Basse, eines Volks, einer Klasse von Individuen, mit den allgemeinen Ursachen ihrer Wohlfahrt oder ihres Verfalls und den allgemeinen Mit-teln, auf jede Weise den Fortschritt zu fördern. Wenn sie nur diese Aufgabe in weitem, vernünftigem Sinn erfüllt, hat sie ihre ganze Pflicht getan, und es wäre wahrhaft lächerlich und ungerecht, mehr von ihr zu verlangen. Aber es wäre ebenso lächerlich und unheilvoll, ihr eine Aufgabe anzuvertrauen, die sie unfähig ist durchzufüh-ren. Da ihre eigene Natur sie zwingt, das Dasein und das Schicksal von Peter und Jakob zu übergehen, darf man nie erlauben, daß sie selbst oder jemand in ihrem Namen Peter und Jakob beherrscht. Denn sie wäre wohl imstande, sie beinahe so zu behandeln, wie sie die Ka-ninchen behandelt. Oder vielmehr, sie würde fortfahren,

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sie außer acht zu lassen, ihre patentierten Vertreter aber, die durchaus nicht abstrakte, sondern sehr lebendige Männer mit sehr wirklichen Interessen sind, würden dem verderblichen Einfluß nachgeben, den jedes Vor-recht unvermeidlich auf die Menschen ausübt, und würden die Menschen im Namen der Wissenschaft schinden, wie die Priester, die Politiker aller Farben und die Advokaten im Namen Gottes, des Staates und des juridischen Rechts sie bis jetzt geschunden haben. Was ich predige, ist also, bis zu einem gewissen Grade, die Empörung des Lebens gegen die Wissenschaft oder vielmehr gegen die Herrschaft der Wissenschaft, nicht um die Wissenschaft zu zerstören - dies wäre ein Verbrechen an der Menschheit -, sondern um sie an ihren Platz zu weisen, den sie nie wieder verlassen soll-te. Bis jetzt war die ganze Geschichte der Menschheit nur ein beständiges und blutiges Opfern von Millionen armer menschlicher Wesen für irgendeine unerbittliche Abstraktion: Götter, Vaterland, Staatsmacht, nationale Ehre, geschichtliche Rechte, juridische Rechte, politi-sche Freiheit, öffentliches Wohl. Solcherart war bis jetzt die natürliche, freiwillige, unvermeidliche Bewe-gung der menschlichen Gesellschaften. Wir können nichts daran ändern; wir müssen es, was die Vergan-genheit betrifft, annehmen, wie wir alles natürliche Un-heil annehmen. Man muß glauben, daß dies der einzig mögliche Weg zur Erziehung des Menschengeschlechts war. Denn man darf sich nicht täuschen: selbst wenn man den machiavellistischen Künsten der herrschenden

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Klassen den größten Anteil zuschreibt, müssen wir an-erkennen, daß keine Minderheiten mächtig genug ge-wesen wären, all diese schrecklichen Opfer den Massen aufzulegen, wenn es nicht in diesen Massen selbst eine freiwillige, schwindelartige Bewegung gegeben hätte, die sie dazu trieb, sie immer von neuem einer dieser verzehrenden Abstraktionen zu opfern, die, wie die Vampire der Geschichte, sich immer von menschlichem Blut nährten. Daß die Theologen, Politiker und Juristen dies sehr schön finden, ist klar. Als Priester dieser Abstraktionen leben sie nur von dieser beständigen Opferung der Volksmassen. Ebensowenig darf man erstaunen, wenn auch die Metaphysik ihre Zustimmung dazu gibt. Ihre einzige Aufgabe ist ja, das Unbillige und Unsinnige zu rechtfertigen und möglichst vernünftig erscheinen zu lassen. Daß aber selbst die positive Wissenschaft bis jetzt das gleiche Bestreben zeigte, müssen wir feststel-len und beklagen. Sie konnte es nur aus zwei Ursachen tun: Einmal, weil sie, außerhalb des Volkslebens ste-hend, von einer bevorrechteten Körperschaft vertreten wird, und dann, weil sie sich selbst bis jetzt als absolu-tes und letztes Ziel aller menschlichen Entwicklung aufgestellt hat, während sie auf Grund bedachter Kritik, die sie anzuwenden fähig ist und die sie sich letzten Endes gegen sich selbst anzuwenden gezwungen sehen wird, hätte verstehen müssen, daß sie nur ein notwendi-ges Mittel zur Verwirklichung eines viel höheren Zwe-ckes ist: das der vollständigen Humanisierung der wirk-

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lichen Lage aller wirklichen Individuen, die auf der Erde geboren werden, leben und sterben. Der ungeheuere Vorzug der positiven Wissenschaft vor der Theologie, Metaphysik, Politik und dem juridischen Recht besteht darin, daß sie statt der von diesen Lehren verkündeten lügenhaften und unheilvollen Abstraktio-nen wahre Abstraktionen aufstellt, welche die allge-meine Natur oder die Logik der Tatsachen selbst, ihre allgemeinen Beziehungen und die allgemeinen Gesetze ihrer Entwicklung ausdrücken. Dies trennt sie scharf von allen vorhergehenden Lehren und wird ihr immer eine große Stellung in der menschlichen Gesellschaft sichern. Sie wird gewissermaßen deren kollektives Be-wußtsein bilden. Andererseits aber schließt sie sich all diesen Lehren vollständig an: dadurch, daß sie als Ge-genstand nur Abstraktionen hat und haben kann und durch ihr Wesen gezwungen ist, die wirklichen Indivi-duen außer Acht zu lassen, außerhalb welcher selbst die richtigsten Abstraktionen keine wirkliche Existenz ha-ben. Um diesen wesentlichen Fehler zu beheben, müßte sich das praktische Vorgehen der vorgenannten Lehren und das der positiven Wissenschaft in folgendem unter-scheiden. Erstere benutzten die Unwissenheit der Mas-sen, um sie mit Wollust ihren Abstraktionen zu opfern, die übrigens für ihre Vertreter stets sehr einträglich sind. Letztere muß in Erkenntnis ihrer absoluten Un-fähigkeit, die wirklichen Individuen zu erfassen und sich für ihr Schicksal zu interessieren, endgültig und unbedingt auf die Regierung der Gesellschaft verzich-

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ten; denn wenn sie sich um dieselbe kümmern sollte, könnte sie nichts anderes tun, als stets die lebenden Menschen, die die Welt kennt, ihren Abstraktionen zu opfern, die den einzigen sie wirklich beschäftigenden Gegenstand bilden. Die wahre Geschichtswissenschaft zum Beispiel ist noch nicht, und man beginnt kaum heutzutage sich von ihren unendlich verwickelten Bedingungen eine Vor-stellung zu machen. Aber nehmen wir an, diese Wis-senschaft bestehe: was wird sie uns geben können? Sie wird das treue, wohldurchdachte Bild der natürlichen Entwicklung der allgemeinen, materiellen und ideellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen, religiösen, philosophischen, ästhetischen und wissenschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaften geben, welche eine Geschichte gehabt haben. Aber dies allgemeine Bild der menschlichen Kultur, wie sehr es auch in die Einzelhei-ten gehen mag, wird stets nur allgemeine und folglich abstrakte Würdigungen enthalten können in dem Sinn, daß die Milliarden menschlicher Individuen, welche den lebenden und leidenden Stoff dieser Geschichte bilden, die zugleich triumphierend und trostlos ist - triumphierend im Hinblick auf ihre allgemeinen Ergeb-nisse, trostlos mit Hinsicht auf die ungeheuere, »unter ihrem Wagen erdrückte« Hekatombe menschlicher Op-fer -, daß diese Milliarden schattenhafter Individuen, ohne welche aber keines dieser großen abstrakten Re-sultate der Geschichte erreicht worden wäre und die, wohlgemerkt, nie den Vorteil von einem dieser Ergeb-

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nisse hatten -, daß diese Individuen also nicht einmal den geringsten Platz in der Geschichte finden würden. Sie lebten und wurden zum Wohl der abstrakten Huma-nität geopfert und vernichtet. Sollen wir daraus der Geschichtswissenschaft einen Vorwurf machen? Dies wäre lächerlich und ungerecht. Individuen sind unfaßbar für das Denken, die Überle-gung, selbst für das menschliche Wort, das nur Abstrak-tionen auszudrücken fähig ist, unfaßbar in der Gegen-wart wie in der Vergangenheit. Auch die Sozialwissen-schaft, die Wissenschaft der Zukunft, wird also notge-drungen fortfahren, sie nicht in den Kreis ihrer Betrach-tungen zu ziehen. Wir haben nur das Recht, von ihr zu verlangen, daß sie uns mit fester und treuer Hand die allgemeinen Ursachen der persönlichen Leiden anzeigt, und unter diesen Ursachen wird sie gewiß die leider nur zu häufige Opferung und Unterordnung von lebenden Individuen zugunsten abstrakter Allgemeinheiten nicht vergessen, und sie möge uns gleichzeitig die allgemei-nen Bedingungen der wirklichen Befreiung der leben-den Individuen in der Gesellschaft zeigen. Dies ist ihre Aufgabe, dies sind auch ihre Grenzen, außerhalb wel-cher die Tätigkeit der Sozialwissenschaft nur ohnmäch-tig und verhängnisvoll sein könnte. Denn jenseits dieser Grenzen beginnen die doktrinären und Regierungsan-sprüche ihrer patentierten Vertreter, ihrer Priester. Und es ist an der Zeit, mit allen Päpsten und Priestern ein Ende zu machen: wir wollen keine mehr, selbst wenn sie sich sozialistische Demokraten nennen würden.

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Noch einmal: Die einzige Aufgabe der Wissenschaft ist, den Weg zu erhellen. Aber nur das, von allen Regie-rungs- und doktrinären Fesseln befreite, der Fülle seiner natürlichen Tätigkeit wiedergegebene Leben kann schöpferisch tätig sein. Wie ist dieser Widerspruch zu lösen? Die Wissenschaft ist einerseits zur vernünftigen Orga-nisation der Gesellschaft unentbehrlich, andererseits darf sie, da sie unfähig ist, sich für das Wirkliche und Lebendige zu interessieren, sich nicht um die wirkliche oder praktische Organisation der Gesellschaft küm-mern. Dieser Widerspruch kann nur auf eine Art gelöst wer-den: Durch die Auflösung der Wissenschaft als außer-halb des sozialen Lebens aller existierendes Wesen, das als solches von einer Körperschaft patentierter Gelehr-ter vertreten wird, und durch ihre Verbreitung in den Volksmassen. Die Wissenschaft, die berufen ist, hinfort das kollektive Bewußtsein der Gesellschaft zu vertre-ten, muß wirklich Eigentum aller werden. Ohne ihren universellen Charakter zu verlieren, den sie nie auf-geben kann, ohne aufzuhören, Wissenschaft zu sein und fortfahrend sich mit den allgemeinen Verhältnissen und Beziehungen der Individuen und Dinge zu beschäfti-gen, wird sie tatsächlich mit dem unmittelbaren und wirklichen Leben aller Individuen verschmelzen. Diese Bewegung wird derjenigen ähnlich sein, welche die Protestanten zu Anfang der Reformation sagen ließ, daß man jetzt keine Priester mehr brauche, da jeder Mensch

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jetzt sein eigener Priester werde, da jeder Mensch, dank allein der unsichtbaren Vermittlung unseres Herrn Jesu Christi, jetzt seinen Herrgott in sich habe. Aber hier handelt es sich nicht um den Herrn Jesus Christus, noch um den Herrgott, noch um politische Freiheit, juridi-sches Recht, was bekanntlich alles theologisch oder metaphysisch geoffenbarte und gleich unverdauliche Dinge sind. Die Welt der wissenschaftlichen Abstrakti-onen ist nicht geoffenbart, sie ist der wirklichen Welt eigen und ist deren Ausdruck und allgemeine oder abs-trakte Darstellung. Solange diese ideale Welt eine ge-trennte Region bildet, die speziell von der Körperschaft der Gelehrten vertreten wird, droht sie der wirklichen Welt gegenüber den Platz Gottes einzunehmen und ihren patentierten Vertretern das Priesteramt vorzube-halten. Deshalb ist es notwendig, durch allgemeinen, für alle und alle Geschlechter gleichen Unterricht die abgeschlossene soziale Organisation der Wissenschaft aufzulösen, damit die Massen aufhören, von bevorrech-teten Hirten geführte und geschorene Herden zu sein, und von jetzt ab ihr Schicksal selbst in die Hand neh-men können6. Dürfen aber die Massen, bis sie diesen Bildungsgrad erreicht haben, von den Männern der Wissenschaft ge-leitet werden? Gott bewahre! Es wäre für sie besser, sich ohne Wissenschaft zu behelfen, als sich von den Gelehrten regieren zu lassen. Die erste Folge einer Ge-lehrtenregierung wäre, daß die Wissenschaft dem Volke unzugänglich würde, und eine solche Regierung würde

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notwendigerweise eine aristokratische sein, weil die Wissenschaft, wie sie gegenwärtig besteht, eine aristo-kratische Einrichtung ist. Aristokratie der Intelligenz - in praktischer Beziehung die unbarmherzigste, in sozia-ler Hinsicht die anmaßendste und herausforderndste -, dies wäre die im Namen der Wissenschaft errichtete Macht. Diese Regierung wäre imstande, Leben und Bewegung der Gesellschaft zu lähmen. Die Gelehrten, die immer anspruchsvoll und dünkelhaft, immer ohn-mächtig sind, würden sich um alles kümmern wollen, und alle Quellen des Lebens würden unter ihrem ab-strakten und gelehrten Hauch austrocknen. Noch einmal: Das Leben, nicht die Wissenschaft, schafft das Leben; nur die natürliche Tätigkeit des Vol-kes selbst kann die Volksfreiheit schaffen. Es wäre ge-wiß ein großes Glück, wenn die Wissenschaft schon heute den natürlichen Zug des Volkes seiner Befreiung entgegen erhellen könnte. Aber gar kein Licht ist noch besser als ein falsches, das spärlich von außen leuchtet mit dem klaren Zweck, das Volk irrezuführen. Übrigens wird das Licht dem Volk nicht ganz fehlen. Nicht ver-geblich durchlief ein Volk eine lange geschichtliche Laufbahn und zahlte für seine Irrtümer mit Jahrhun-derten schrecklicher Leiden. Die praktische Zu-sammenfassung dieser schmerzlichen Erfahrungen bil-det eine Art überlieferter Wissenschaft, die in gewisser Hinsicht soviel wert ist wie die theoretische Wissen-schaft. Endlich wird ein Teil der studierenden Jugend, diejenigen Bourgeoisstudenten, die hinreichend Haß

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gegen die Lüge, die Heuchelei, die Nichtswürdigkeit und Feigheit der Bourgeoisie empfinden, um in sich den Mut zu finden, ihr den Rücken zu kehren, und hin-reichende Leidenschaft, um ohne Vorbehalt die ge-rechte und menschliche Sache des Proletariats zu der ihren zu machen, wie ich schon sagte, die brüderlichen Unterweiser des Volks sein; wenn sie ihm die noch fehlenden Kenntnisse bringen, werden sie die Regie-rung der Gelehrten ganz unnötig machen. Wenn das Volk sich vor der Regierung der Gelehrten hüten muß, so muß es noch mehr vor der der erleuchte-ten Idealisten auf der Hut sein. Je aufrichtiger diese Gläubigen und Dichter des Himmels sind, desto gefähr-licher werden sie. Die wissenschaftliche Abstraktion, sagte ich, ist eine vernünftige, in ihrem Wesen wahre Abstraktion, die dem Leben notwendig ist, dessen theo-retische Darstellung, dessen Bewußtsein sie ist. Sie kann und muß vom Leben aufgenommen und verar-beitet werden. Die idealistische Abstraktion, Gott, ist ein ätzendes Gift, welches das Leben zerstört und zer-setzt, fälscht und tötet. Der Hochmut der Idealisten, der kein persönlicher, sondern ein göttlicher ist, ist unbe-siegbar und unversöhnlich. Er kann und muß sterben, wird aber nie weichen, und noch mit dem letzten Atem-zug wird er versuchen, die Welt unter den Fuß seines Gottes zu knechten, geradeso wie die preußischen Leutnants, diese praktischen Idealisten Deutschlands, sie unter dem gespornten Stiefel ihres Königs zertreten zu sehen wünschen. Der Glaube ist derselbe — seine

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Gegenstände sind nicht einmal sehr verschieden —, und der Glaube zeitigt dasselbe Ergebnis: Knechtschaft. Dies ist gleichzeitig der Triumph des krassesten und brutalsten Materialismus: Für Deutschland bedarf dies keines Beweises, denn man müsste wirklich blind sein, um es im gegenwärtigen Augenblick nicht zu sehen. Aber ich halte es für nötig, dies auch in bezug auf den göttlichen Idealismus zu beweisen. Der Mensch ist, wie die ganze übrige Welt, ein voll-ständig materielles Wesen. Der Geist, die Fähigkeit zu denken, die verschiedenen äußeren und inneren Eindrü-cke zu empfangen und zurückzuwerfen, sich der ver-gangenen zu erinnern und sie durch das Gedächtnis wieder hervorzubringen, sie zu vergleichen und zu un-terscheiden, gemeinsame Eigenschaften zu abstrahie-ren, und so allgemeine oder abstrakte Begriffe zu schaf-fen, schließlich durch verschiedene Gruppierung und Zusammenfassung der Begriffe Ideen zu bilden, - die Intelligenz mit einem Wort, der einzige Schöpfer all unserer idealen Welt, gehört dem tierischen Körper an und insonderheit der ganz materiellen Organisation des Gehirns. Wir wissen dies ganz bestimmt durch die allgemeine Erfahrung, die durch nichts je widerlegt und die jeder Mensch in jedem Augenblick seines Lebens nachprüfen kann. In allen Tieren, die niedrigsten Arten nicht aus-genommen, finden wir einen gewissen Grad von Intel-ligenz, und wir sehen, daß in der Reihe der Arten die

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tierische Intelligenz sich um so mehr entwickelt, je mehr sich der Organismus einer Art dem des Menschen nähert, daß sie aber im Menschen allein zu jener Macht der Abstraktion gelangt, welche eigentlich das Denken ausmacht. Die allgemeine Erfahrung7, welche in ihrer Ganzheit der einzige Ursprung, die Quelle all unserer Kenntnisse ist, zeigt uns also erstens, daß jedes Tier Intelligenz besitzt, zweitens, daß die Intensität, die Kraft dieser tierischen Funktion, von der relativen Vollkommenheit des tierischen Organismus abhängt. Dieses zweite Er-gebnis der allgemeinen Erfahrung ist nicht nur auf die verschiedenen Tierarten anwendbar; wir stellen das gleiche bei den Menschen fest, deren geistige und mo-ralische Kraft nur zu deutlich von der größeren oder geringeren Vollkommenheit ihres Organismus als Ras-se, als Nation, als Klasse und als Individuum abhängt, so daß es nicht nötig ist, diesen Punkt besonders her-vorzuheben8. Andererseits ist es sicher, daß kein Mensch je den rei-nen, von jeder körperlichen Form losgelösten, von ei-nem tierischen Körper getrennten Geist sah oder sehen konnte. Wenn ihn aber nie jemand sah, wie konnten die Menschen zu dem Glauben an seine Existenz gelangen? Denn dieser Glaube steht allgemein fest, und er ist, wenn auch nicht universell, wie die Idealisten behaup-ten, so doch wenigstens sehr allgemein und als solcher ganz unserer aufmerksamen Beachtung wert; denn ein allgemeiner Glaube, wie dumm er auch sein mag, übt

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immer einen allzu mächtigen Einfluß auf die Geschicke der Menschheit aus, als daß es erlaubt wäre, ihn außer acht zu lassen oder von ihm abzusehen. Die Tatsache dieses Glaubens erklärt sich übrigens auf natürliche und vernünftige Weise. Das Beispiel von Kindern und Jünglingen, selbst von vielen Erwachsenen zeigt uns, daß der Mensch seine geistigen Fähigkeiten schon lange gebrauchen kann, bevor er sich darüber Rechenschaft ablegt, wie er sie ausübt, bevor er zum klaren und genauen Bewußtsein dieser Ausübung kommt. In dieser Zeit, in welcher der Geist seiner selbst unbewußt in Tätigkeit tritt, in der die Intelligenz naiv oder gläubig tätig ist, schafft der von der äußeren Welt bedrückte Mensch, von dem inneren Stachel, dem Le-ben und den vielartigen Bedürfnissen des Lebens ge-trieben, eine Menge Einbildungen, Begriffe und Ideen, die notwendigerweise zuerst sehr unvollkommen sind und der Wirklichkeit der Dinge und Tatsachen, die sie sich auszudrücken bemühen, sehr wenig entsprechen. Und da er sich seiner eigenen Verstandestätigkeit nicht bewußt ist, da er noch nicht weiß, daß er selbst diese Einbildungen, Begriffe und Ideen hervorbringt und her-vorzubringen fortfährt, da er selbst ihren ganz subjekti-ven, das heißt menschlichen Ursprung nicht kennt, be-trachtet er sie natürlich mit Notwendigkeit als objektive Wesen, als wirkliche Wesen, die von ihm selbst ganz unabhängig durch sich selbst und in sich selbst sind.

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Auf diese Weise schufen die Naturvölker, die langsam ihre tierische Unschuld verließen, ihre Götter. Nachdem sie sie geschaffen, fiel ihnen nicht ein, daß sie selbst ihre einzigen Schöpfer waren, und sie beteten sie an, betrachteten sie als wirkliche, ihnen selbst unendlich überlegene Wesen, legten ihnen Allmacht bei und er-klärten sich als ihre Geschöpfe, ihre Sklaven. Mit der Weiterentwicklung der menschlichen Ideen idealisier-ten sich auch die Götter, die, wie ich bemerkte, stets nur der phantastische, ideale, poetische Widerschein oder das verkehrte Bild dieser Ideen waren. Aus groben Feti-schen wurden sie allmählich zu reinen Geistern, die außerhalb der sichtbaren Welt existieren, und zum Schluß, als Folge einer langen geschichtlichen Entwick-lung, verschmolzen sie in ein einziges göttliches We-sen, den reinen, ewigen, absoluten Geist, den Schöpfer und Herrn der Welten. In jeder richtigen oder falschen, wirklichen oder einge-bildeten Entwicklung kostet immer der erste Schritt am meisten, ist die erste Handlung die schwierigste. Wenn der erste Schritt getan, die erste Handlung vollzogen, folgt das übrige in natürlicher Weise als notwendige Folge. Das Schwierige in der geschichtlichen Entwick-lung dieses schrecklichen religiösen Wahnsinns, der uns noch immer besessen hält und erdrückt, war also die Aufstellung einer göttlichen Welt als solcher, au-ßerhalb der wirklichen Welt. Dieser erste Akt der Ver-rücktheit, so natürlich er vom psychologischen Ge-sichtspunkt und so notwendig er demzufolge in der Ge-

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schichte der Menschheit sein mag, vollzog sich nicht auf einen Schlag. Es brauchte, ich weiß nicht wieviel, Jahrhunderte, um diesen Glauben zu entwickeln und in die geistigen Gewohnheiten der Menschen eindringen zu lassen. Nachdem er sich aber einmal festgesetzt hat-te, wurde er allmächtig, wie dies notwendigerweise jede Verrücktheit wird, die sich des menschlichen Gehirns bemächtigt. Man nehme einen Narren; welches immer der besondere Gegenstand seiner Narrheit sein mag, man wird finden, daß die dunkle und fixe Idee, die von ihm Besitz ergriffen, ihm die natürlichste Sache von der Welt scheint, wahrend dagegen die dieser Idee wider-sprechenden natürlichen und wirklichen Tatsachen ihm lächerlicher und verhaßter Wahnsinn zu sein scheinen. Nun, die Religion ist ein gemeinsamer Wahnsinn, der um so mächtiger ist, weil es ein überlieferter Wahnsinn ist, dessen Ursprung sich in das entfernteste Altertum verliert. Als allgemeiner Wahnsinn drang sie in alle öffentlichen und privaten Einzelheiten des sozialen Da-seins eines Volkes ein, verkörperte sich in der Gesell-schaft, wurde sozusagen deren Seele und gemeinsamer Gedanke. Jeder Mensch ist von seiner Geburt an von ihr umringt, nimmt sie mit der Muttermilch in sich auf, nimmt sie auf mit allem, was er hört und sieht. Er wur-de damit so sehr genährt, vergiftet und in seinem gan-zen Wesen durchdrungen, daß er später, wie mächtig auch sein natürlicher Verstand sein mag, unerhörte An-strengungen machen muß, sich von ihr zu befreien, und nie gelingt ihm dies vollständig. Unsere modernen Idea-

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listen sind ein Beweis hierfür; ein weiterer Beweis sind unsere doktrinären Materialisten, die deutschen Kom-munisten: sie konnten sich von der Religion des Staates nicht losmachen. Sobald einmal die übernatürliche, die göttliche Welt sich in der überlieferten Einbildung der Völker festge-setzt hatte, ging die Entwicklung der verschiedenen religiösen Systeme ihren natürlichen und logischen Lauf, immer übrigens der gleichzeitigen tatsächlichen Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Be-ziehungen entsprechend, deren treue Wiedergabe und göttliche Weihe in der Welt der religiösen Phantasie sie stets war. So entwickelte sich der gemeinsame ge-schichtliche Wahnsinn, den man Religion nennt, vom Fetischismus, durch alle Grade des Polytheismus, bis zum christlichen Monotheismus. Der zweite Schritt in der Entwicklung des religiösen Glaubens, nach der Errichtung einer getrennten göttli-chen Welt gewiß der schwerste, war gerade dieser Ü-bergang vom Polytheismus zum Monotheismus, vom religiösen Materialismus der Heiden zum vergeistigten Glauben der Christen. Die heidnischen Götter, dies war ihr wesentlicher Charakterzug, waren vor allem aus-schließlich nationale Götter. Da sie ferner zahlreich wa-ren, bewahrten sie notwendigerweise mehr oder weni-ger einen körperlichen Charakter, oder vielmehr, weil sie körperlich waren, waren sie so zahlreich, da Ver-schiedenheit eine der Haupteigenschaften der wirkli-chen Welt ist. Die heidnischen Götter waren noch nicht

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im eigentlichen Sinn die Verneinung der wirklichen Dinge, sie waren nur ihre phantastische Übertreibung. Um auf den Trümmern ihrer so zahlreichen Altäre den Altar eines einzigen und obersten Gottes, des Herrn der Welt, zu errichten, mußte also zuerst das selbständige Dasein der verschiedenen Nationen der heidnischen oder antiken Welt zerstört werden. Dies taten die Rö-mer auf sehr brutale Weise; sie schufen durch Erobe-rung des größten Teils der den Alten bekannten Welt gewissermaßen den ersten, gewiß noch ganz negativen und groben Entwurf der Idee der Menschheit. Ein Gott, der sich so über alle materiellen und sozialen nationalen Unterschiede aller Länder erhob, der in gewissem Sinn deren direkte Verneinung war, mußte ein unkörperli-ches und abstraktes Wesen sein. Aber der so schwierige Glaube an das Dasein eines solchen Wesens konnte nicht auf einen Schlag entstehen. Er wurde, wie ich im Anhang1 zeigte, von der griechischen Metaphysik lan-ge vorbereitet und entwickelt, welche zuerst philoso-phisch den Begriff der Gottesidee aufstellte, einen ewig schaffenden und stets von der sichtbaren Welt wieder-geschaffenen Typus. Aber die von der griechischen Philosophie entworfene und geschaffene Gottheit war eine unpersönliche Gottheit, da keine konsequente und ernste Metaphysik sich zur Idee eines persönlichen Got-tes erheben oder vielmehr erniedrigen kann. Man mußte also einen Gott finden, der gleichzeitig einzig und sehr persönlich war. Er fand sich in der sehr brutalen, sehr

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egoistischen, sehr grausamen Person Jehovas, des Nati-onalgottes der Juden. Aber die Juden waren, trotz des zugeknöpften nationalen Geistes, der ihnen noch heute eigen ist, lange vor Christi Geburt das internationalste Volk der Erde geworden. Teils als Gefangene ver-schleppt, viel mehr noch getrieben durch ihre Handels-leidenschaft, einen der Hauptzüge ihres Nationalcha-rakters, waren sie über alle Länder verbreitet und trugen überallhin den Kult ihres Jehova, dem sie um so treuer wurden, je mehr er sie im Stiche ließ. In Alexandrien machte dieser schreckliche Gott der Juden die persönliche Bekanntschaft der meta-physischen Gottheit Platos, die die Berührung mit dem Orient schon sehr verdorben hatte und die später durch die Berührung mit Jehova noch mehr verdorben wurde. Trotz seiner nationalen, eifersüchtigen und wilden Abgeschlossenheit konnte er der Anmut dieser idealen und unpersönlichen Gottheit der Griechen nicht lange widerstehen. Er vermählte sich mit ihr, und aus dieser Ehe wurde der geistige - aber nicht geistreiche - Gott der Christen geboren. Es ist bekannt, daß die alexandri-nischen Neuplatoniker die Hauptschöpfer der christli-chen Theologie waren. Aber die Theologie bildet noch nicht die Religion, wie geschichtliche Elemente noch nicht genügen, die Geschichte zu schaffen. Ich nenne geschichtliche Elemente die allgemeinen Anlagen und Verhältnisse irgendeiner wirklichen Entwicklung, im vorliegenden Fall zum Beispiel die römische Eroberung und das Zusammentreffen des Gottes der Juden mit der

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idealen Gottheit der Griechen. Zur Befruchtung dieser geschichtlichen Elemente, zur Hervorbringung einer Reihe neuer geschichtlicher Wandlungen aus ihnen ist eine lebende, natürliche Tatsache nötig, ohne welche sie noch jahrhundertelang nichts zeugende Elemente hätten bleiben können. Diese Tatsache fehlte dem Chri-stentum nicht: es war das Leben, das Leiden und der Tod Jesu Christi. Wir wissen beinahe nichts von dieser großen und heili-gen Persönlichkeit; alles, was die Evangelien von ihr berichten, ist so widerspruchsvoll und so sagenhaft, daß wir kaum einige wirkliche, lebendige Züge daraus ent-nehmen können. Gewiß ist, daß er der Prediger der ar-men Leute war, der Freund und Tröster der Elenden, der Unwissenden, der Sklaven und der Frauen, und daß er von letzteren sehr geliebt wurde. Er versprach allen Unterdrückten, allen hienieden Leidenden - und ihre Zahl ist ungeheuer groß - das ewige Leben. Er wurde, wie sich von selbst versteht, von den Vertretern der offiziellen Moral und der öffentlichen Ordnung seiner Zeit gekreuzigt. Seine Schüler und deren Schüler konn-ten sich, dank der römischen Eroberung, welche die nationalen Grenzen zerstört hatte, verbreiten und trugen tatsächlich die Lehre des Evangeliums in alle den Alten bekannten Länder. Überall wurden sie von den Sklaven und den Frauen mit offenen Armen empfangen, den beiden am meisten unterdrückten, am meisten leiden-den und natürlich auch unwissendsten Klassen der anti-ken Welt. Die wenigen Bekehrten, die sie in der privi-

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legierten und gebildeten Welt gewannen, verdankten sie größtenteils auch nur dem Einfluß der Frauen. Ihre mei-ste Lehre fand fast ausschließlich im Volk statt, das durch die Sklaverei ebenso unglücklich wie verdummt war. Es war das erste Erwachen, die erste grundlegende Empörung des Proletariats. Die große Ehre des Christentums, sein unbestreitbares Verdienst und das ganze Geheimnis seines unerhörten und übrigens ganz berechtigten Triumphs war, daß es sich an dieses ungeheuere leidende Volk wandte, dem die antike Welt, die eine enge und grausame geis-tige und politische Aristokratie bildete, auch die letzten Eigenschaften und einfachsten Rechte der Menschheit verweigerte. Sonst hätte es sich nie verbreiten können. Die von den Aposteln Christi gepredigte Lehre, so trostreich sie den Unglücklichen erscheinen mochte, war vom Gesichtspunkt der menschlichen Vernunft aus zu empörend, zu unsinnig, als daß aufgeklärte Männer sie hätten annehmen können. Wie triumphierend spricht nicht auch der heilige Apostel Paulus von dem Ärgernis des Glaubens und dem Triumph dieser göttlichen Narr-heit, welche die Mächtigen und Weisen der Zeit zu-rückwiesen, welche aber umso leidenschaftlicher von den Einfachen, den Unwissenden und den Armen im Geiste angenommen wurde! Es muß wirklich sehr tiefe Unzufriedenheit mit dem Leben, sehr großer Durst des Herzens und beinahe voll-ständige Geistesarmut vorhanden sein, um die christli-

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che Sinnlosigkeit anzunehmen, die kühnste und unge-heuerlichste aller religiösen Sinnlosigkeiten. Sie war nicht nur die Verneinung aller politischen, so-zialen und religiösen Einrichtungen des Altertums, son-dern der unbedingte Umsturz des gesunden Menschen-verstandes, aller menschlichen Vernunft. Das wirklich existierende Wesen, die wirkliche Welt, wurden von jetzt ab als das Nichts betrachtet; das Produkt der menschlichen Abstraktionsfähigkeit, die letzte und höchste Abstraktion, in welche diese Fähigkeit nach Überschreitung aller existierenden Dinge, der allge-meinsten Bestimmungen des lebenden Wesens, wie der Ideen von Zeit und Raum sogar, nach denen nichts zu überschreiten übrigbleibt, in der Betrachtung ihrer Lee-re und absoluten Unbeweglichkeit ruht (s. den An-hang1) - diese Abstraktion also, dieser tote Rückstand, jeden Inhalts leer, das wahre Nichts, Gott, wird zum einzigen wirklichen, ewigen, allmächtigen Wesen pro-klamiert. Das wirkliche All wird als Nichts erklärt und das absolute Nichts als All. Der Schatten wird Körper und der Körper verschwindet wie ein Schatten9. Es war eine unerhörte Kühnheit und Sinnlosigkeit, das wahre Ärgernis des Glaubens, der Sieg der gläubigen Dummheit über den Geist, für die Massen, und für eini-ge wenige der triumphierende Spott eines ermüdeten, verdorbenen, enttäuschten Geistes, den das ehrliche und ernste Suchen der Wahrheit anekelte, das Bedürfnis, sich zu betäuben und zu verdummen, wie es sich oft bei abgestumpften Geistern findet: credo quia absurdum.

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(»Ich glaube nicht nur an das Unsinnige; ich glaube daran gerade und hauptsächlich, weil es das Unsinnige ist.«) So glauben viele ausgezeichnete und aufgeklärte Geister in unseren Tagen an den tierischen Magnetis-mus, den Spiritismus, das Tischrücken, - aber warum so weit gehen? - sie glauben noch an das Christentum, an den Idealismus, an Gott. Der Glaube des antiken Proletariats, ebenso wie der der modernen Massen nach ihm, war derber und einfacher. Die christliche Lehre hatte sich an sein Herz gewendet, nicht an seinen Geist, an sein ewiges Trachten, seine Bedürfnisse, seine Leiden, seine Sklaverei, nicht an seine noch schlummernde Vernunft, für welche die lo-gischen Widersprüche, die augenscheinliche Sinnlosig-keit also, nicht existieren konnten. Die einzige Frage, welche das antike Proletariat interessierte, war die, wann die Stunde der versprochenen Erlösung schlagen, wann das Reich Gottes kommen würde. Um die theolo-gischen Dogmen kümmerte es sich nicht, weil es nichts davon verstand. Das zum Christentum bekehrte Proleta-riat bildete seine aufsteigende materielle Macht, nicht sein theoretisches Denken. Die christlichen Dogmen wurden bekanntlich in einer Reihe literarischer theologischer Arbeiten und auf den Kirchenversammlungen hauptsächlich von den bekehr-ten Neuplatonikern des Orients ausgearbeitet. Der grie-chische Geist war so tief gesunken, daß wir schon im vierten christlichen Jahrhundert, der Zeit der ersten Kir-chenversammlung, die Idee eines persönlichen Gottes,

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des reinen, ewigen, absoluten Geistes, des Schöpfers und obersten Herrn der Welt, der außerhalb der Welt existiert, von allen Kirchenvätern einstimmig an-genommen finden, und als logische Konsequenz dieser absoluten Sinnlosigkeit den jetzt natürlichen und not-wendigen Glauben an die Geistigkeit und Unsterblich-keit der menschlichen Seele, die in einem sterblichen, aber nur zum Teil sterblichen Körper wohnt und einge-sperrt ist; - nur zum Teil sterblich, weil ein Teil dieses Körpers, obgleich körperlich, unsterblich wie die Seele ist und wie die Seele wieder auferstehen wird. So schwer wurde es selbst Kirchenvätern, sich den reinen Geist außerhalb jeder Körperform vorzustellen! Im Allgemeinen liegt es in der Art aller theologischen und auch metaphysischen Gedankengänge, zu versu-chen, eine Sinnlosigkeit durch eine andere zu erklären. Es war ein großes Glück für das Christentum, daß es die Welt der Sklaven fand. Ein anderes Glück wider-fuhr ihm: der Einfall der Barbaren. Die Barbaren waren tapfere Leute, voll natürlicher Kraft, und vor allem be-lebt und getrieben von großem Lebensbedürfnis und großer Lebensfähigkeit; erprobte Räuber, fähig, alles zu verwüsten und zu verschlingen wie ihre Nachfolger, die heutigen Deutschen; viel weniger systematisch und pedantisch in ihrem Räubertum als letztere, weniger moralisch, weniger gelehrt, aber dagegen viel unabhän-giger und stolzer, fähig der Wissenschaft und der Frei-heit nicht unfähig wie die Bourgeois des modernen Deutschland. Aber trotz all dieser großen Eigenschaften

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waren sie nichts als Barbaren, das heißt, allen Fragen der Theologie und Metaphysik gegenüber ebenso gleichgültig wie die antiken Sklaven, von denen übri-gens viele ihrer Rasse angehörten. Sobald also einmal ihr praktischer Widerwille gebrochen war, war es nicht schwer, sie theoretisch zum Christentum zu bekehren. Zehn Jahrhunderte nacheinander konnte das mit der Allmacht der Kirche und des Staates bewaffnete Chris-tentum, ohne Beeinträchtigung von irgendwelcher Sei-te, den Geist Europas verderben, verschlechtern und fälschen. Es hatte keine Rivalen, weil es außerhalb der Kirche keine Denker, nicht einmal Gebildete gab. Die Kirche allein dachte, sprach, schrieb und lehrte. Ketze-reien, die in ihrem Schoß entstanden, griffen stets nur die theologischen oder praktischen Entwicklungen des Grunddogmas an, nicht dieses Dogma selbst. Der Glau-be an Gott, den reinen Geist und Schöpfer der Welt, und der Glaube an die Geistigkeit der Seele blieben unberührt. Dieser Doppelglaube wurde die ideale Grundlage der ganzen westlichen und östlichen Kultur Europas und drang in alle Einrichtungen ein, verwirk-lichte sich in allen Einzelheiten des öffentlichen und privaten Lebens aller Klassen, ebenso wie der Massen. Kann man sich dann wundern, daß dieser Glaube sich bis zum heutigen Tag erhalten hat und fortfährt, seinen verhängnisvollen Einfluß selbst auf so hohe Geister wie Mazzini, Quinet, Michelet und so viele andere auszu-üben? Wir sahen, daß ihm der erste Kampf von der Re-naissance des freien Geistes im 15. Jahrhundert gelie-

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fert wurde, der Renaissance, welche Helden und Märty-rer hervorbrachte wie Vanini, wie Giordano Bruno und Galilei; obgleich bald erstickt von dem Lärm, Tumult und den Leidenschaften der Reformation, setzte sie geräuschlos ihre unsichtbare Arbeit fort und hinterließ den edelsten Geistern jeder Generation das Werk menschlicher Befreiung durch die Zerstörung des Un-sinnigen, bis sie endlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder im vollen Tageslicht erschien und kühn die Fahne des Atheismus und Materialismus ent-rollte. Man hätte damals glauben können, daß der menschliche Geist sich ein für allemal von jedem gött-lichen Druck befreien würde. Dies war ein Irrtum. Die Gotteslüge, mit der sich die Menschheit - um nur von der christlichen Welt zu sprechen - achtzehn Jahrhun-derte lang genährt hatte, sollte sich noch einmal mäch-tiger als die menschliche Wahrheit zeigen. Da sie sich nicht mehr der Schwarzröcke, der geweihten Raben der Kirche, der katholischen oder protestantischen Priester, die jedes Vertrauen verloren hatten, bedienen konnte, so bediente sie sich der Laienpriester, der Lügner und Sophisten im kurzen Rock, und die Hauptrolle fiel zwei verhängnisvollen Männern unter ihnen zu: dem fal-schen Geist und dem doktrinär despotischsten Willen des vergangenen (18.) Jahrhunderts: J. J. Rousseau und Robespierre.

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Der erstere ist der wahre Typus der Lüge und argwöh-nischen Kleinlichkeit, der Überhebung der eigenen Per-son, der kalten Begeisterung und sentimentaler und gleichzeitig unbarmherziger Heuchelei, der notwendi-gen Lüge des modernen Idealismus. Man kann ihn als den wahren Schöpfer der modernen Reaktion betrach-ten. Während er dem Anschein nach der demokratischs-te Schriftsteller des 18. Jahrhunderts ist, brütet in ihm der erbarmungslose Despotismus des Staatsmanns. Er war der Prophet des doktrinären Staats, dessen Hohe-priester Robespierre, sein würdiger und treuer Schüler, zu werden versuchte. Rousseau hörte Voltaire sagen, daß, wenn es keinen Gott gäbe, er erfunden werden müsse, und er erfand das höchste Wesen, den abstrakten und leeren Gott der Deisten. Und im Namen des höchs-ten Wesens und der von ihm befohlenen heuchlerischen Tugend guillotinierte Robespierre zuerst die Heber-tisten, dann den Genius der Revolution, Danton, in des-sen Person er die Republik ermordete, um so den von da ab notwendig gewordenen Triumph der Diktatur Bonapartes I. vorzubereiten. Nach diesem großen Sieg suchte und fand die idealistische Reaktion weniger fa-natische, weniger schreckliche Diener, wenn man sie an dem bedeutend geringeren Maßstab der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts mißt. In Frankreich waren es Chateau-briand, Lamartine und - soll ich es sagen? Warum nicht? Man muß die ganze Wahrheit sagen - Victor Hugo, der Demokrat, der Republikaner, der Schein-Sozialist von heute, und nach ihnen die ganze melan-

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cholische und sentimentale Kohorte magerer und blas-ser Geister, die unter der Führung jener Meister die Schule des modernen Romantismus bildeten. In Deutschland waren es die Schlegel, die Tieck, die No-valis, die Werner, waren es Schelling und so viele ande-re, deren Namen nicht einmal genannt zu werden ver-dienen. Die von dieser Schule geschaffene Literatur war das wahre Reich der Geister und Gespenster. Sie vertrug das Tageslicht nicht und konnte nur im Halbdunkel leben. Ebensowenig vertrug sie die brutale Berührung der Massen; es war die Literatur der zarten, feinen, aus-gezeichneten Seelen, die dem Himmel, ihrer Heimat, zustrebten und wie gegen ihren Willen auf der Erde lebten. Sie verachtete und verabscheute die Politik, die Tagesfragen; wenn sie aber zufällig von ihnen sprach, zeigte sie sich offen reaktionär und nahm die Partei der Kirche gegen die Unverschämtheit der Freidenker, die Partei, der Könige gegen die Völker und die Partei aller Aristokratien gegen das elende Straßengesindel. Übri-gens herrschte in dieser Schule, wie ich soeben sagte, beinahe vollständige Gleichgültigkeit gegen politische Fragen vor. In den Wolken, in denen sie lebte, konnte man nur zwei wirkliche Punkte unterscheiden: die ra-sche Entwicklung des Bourgeoismaterialismus und die zügellose Entfesselung persönlicher Eitelkeit. Um diese Literatur zu verstehen, muß man ihre Entste-hungsursache in der Umwandlung suchen, die sich in

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der Bourgeoisklasse seit der Revolution von 1795 voll-zog. Von der Renaissance und der Reformation bis zu dieser Revolution war die Bourgeoisie, wenn nicht in Deutschland, so doch wenigstens in Italien, Frankreich, der Schweiz, England und Holland der Held und Ver-treter des revolutionären Geistes der Geschichte. Aus ihr gingen der größte Teil der Freidenker des 15. Jahr-hunderts, die großen religiösen Reformatoren der bei-den folgenden Jahrhunderte und die Apostel der menschlichen Befreiung des 18. Jahrhunderts hervor, diesmal die Deutschlands inbegriffen. Sie allein, natür-lich auf die Sympathien und den mächtigen Arm des Volkes, das an sie glaubte, gestützt, machte die Revo-lution von 1789 und 1795. Sie verkündete den Fall des Königtums und der Kirche, die Verbrüderung der Völ-ker, die Menschen- und Bürgerrechte. Dies sind ihre unsterblichen Ruhmestitel. Seit jener Zeit spaltete sie sich. Eine beträchtliche Par-tei reichgewordener Käufer von Nationalgütern, die sich diesmal nicht auf das städtische Proletariat, son-dern auf die Mehrheit der gleichfalls Grundbesitzer gewordenen Bauern Frankreichs stützte, strebte den Frieden, die Wiederherstellung der öffentlichen Ord-nung, die Gründung einer regelmäßigen und mächtigen Regierung an. Voll Glück jauchzte sie also der Diktatur des ersten Bonaparte zu und sah, obgleich stets voltairi-anisch gesinnt, dessen Abkommen mit dem Papst und die Wiederherstellung der offiziellen Kirche in Frank-

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reich nicht mit bösem Auge an: »Die Religion ist dem Volke so notwendig!« - was heißen will, daß dieser nun selbst gesättigte Teil der Bourgeoisie von jetzt ab zu verstehen begann, daß es im Interesse der Erhaltung seiner Lage und seiner neu erworbenen Güter dringend notwendig sei, den ungesättigten Hunger des Volkes durch Versprechungen himmlischen Mannas zu täu-schen. Damals begann Chateaubriand zu predigen10. Napoleon fiel. Die Restauration führte mit der rechtmä-ßigen Monarchie die Macht der Kirche und die Aristo-kratie nach Frankreich zurück, welche, wenn nicht ihre ganze, so doch einen beträchtlichen Teil ihrer früheren Macht wieder ergriffen. Diese Reaktion warf die Bour-geoisie in die Revolution zurück, und mit dem revoluti-onären Geist erwachte auch der Freigeist wieder. Sie legte Chateaubriand beiseite und begann wieder Vol-taire zu lesen. Sie ging nicht bis Diderot: ihre ge-schwächten Nerven vertrugen keine so starke Kost mehr. Voltaire, der gleichzeitig Freigeist und Deist war, paßte ihr dagegen sehr. Béranger und Paul-Louis Cou-rier drückten ganz und gar diese neue Richtung aus. Der „Gott der braven Leute“ und das Ideal des Bürgerkö-nigs, der zugleich liberal und demokratisch ist und sich vom majestätischen und jetzt unoffensiven Hintergrund der gigantischen Siege des Kaiserreiches abhebt, - dies war in jener Zeit die tägliche geistige Nahrung der fran-zösischen Bourgeoisie. Lamartine, von dem eitel lächerlichen Neid ange-stachelt, sich zur poetischen Höhe des großen eng-

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lischen Dichters Byron zu erheben, hatte seine kalt deli-rierenden Hymnen zu Ehren des Gottes der Adeligen und der rechtmäßigen Monarchie begonnen. Aber seine Gesänge hallten nur in den aristokratischen Salons wi-der. Die Bourgeoisie hörte sie nicht. Béranger war ihr Dichter und Paul-Louis Courier ihr politischer Schrift-steller. Die Juli-Revolution hatte die Veredlung ihres Ge-schmacks zur Folge. Man weiß, daß jeder Bourgeois in Frankreich den unverwüstlichen Typus des bourgeois gentilhomme in sich trägt, der stets hervortritt, sobald er ein bißchen Reichtum und Macht erwirbt. 1850 hatte die reiche Bourgeoisie endgültig den alten Adel im Be-sitz der Macht verdrängt. Sie strebte natürlich die Gründung einer neuen Aristokratie an: einer Aristokra-tie des Geldes vor allem, aber auch einer Aristokratie des Geistes, des guten Benehmens und der feinen Ge-fühle. Die Bourgeoisie begann sich religiös zu fühlen. Das war von ihrer Seite nicht nur eine bloße Nach-äffung der aristokratischen Sitten, sondern auch eine notwendige Folge ihrer Lage. Das Proletariat hatte ihr einen letzten Dienst erwiesen, indem es ihr half, den Adel nochmals zu stürzen. Jetzt brauchte die Bourgeoi-sie diese Hilfe nicht mehr, denn sie fühlte, daß sie im Schatten des Julithrons sicher war, und die von jetzt ab unnütze Verbindung mit dem Volk begann ihr unbe-quem zu werden. Das Volk mußte auf seinen Platz ver-wiesen werden, was natürlich nicht möglich war, ohne große Entrüstung in den Massen hervorzurufen. Es

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wurde notwendig, dieselben zurückzuhalten. Aber in wessen Namen? Etwa im Namen des ohne Umschweife zugegebenen Bourgeoisinteresses? Dies wäre zu schamlos gewesen. Je ungerechter, unmenschlicher ein Interesse ist, desto mehr bedarf es einer Weihe, und wo eine solche hernehmen, wenn man sie nicht in der Reli-gion findet, dieser guten Beschützerin aller Satten und der so nützlichen Trösterin aller Hungrigen? Und mehr als je fühlte die triumphierende Bourgeoisie, daß die Religion dem Volke unbedingt notwendig sei. Nachdem sie all ihre unvergänglichen Ruhmestitel in religiöser, philosophischer und politischer Opposition, im Protest und in der Revolution gewonnen hatte, war die Bourgeoisie endlich die herrschende Klasse gewor-den und hierdurch von selbst Verteidigerin und Erhalte-rin des Staates, der seinerseits die regelrechte Einset-zung der ausschließlichen Macht dieser Klasse ist. Der Staat ist die Gewalt und hat vor allem das Recht der Gewalt für sich, die triumphierende Beweisführung mit dem Zündnadelgewehr und dem Chassepot. Aber der Mensch ist so sonderbar beschaffen, daß ihm diese Art der Beweisführung, so beredt sie scheint, auf die Dauer nicht genügt. Um ihm Achtung einzuflößen, ist irgend-eine moralische Weihe absolut notwendig. Diese Weihe muß ferner so augenscheinlich und einfach sein, daß sie die Massen überzeugen kann, die, von der Gewalt des Staates niedergerungen, hierauf zur moralischen Aner-kennung seines Rechts gebracht werden müssen.

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Es gibt nur zwei Mittel, die Massen von der Güte ir-gendeiner sozialen Einrichtung zu überzeugen. Das erste, das einzige wirkliche, aber auch das schwerste, weil es die Abschaffung des Staates mit sich bringt - das heißt die Abschaffung der politisch organisierten Ausbeutung der Mehrheit durch irgendeine Minderheit -, dieses Mittel wäre die direkte und vollständige Be-friedigung aller Bedürfnisse, aller menschlichen Stre-bungen der Massen; dies käme der vollständigen Auflö-sung der politischen und wirtschaftlichen Existenz der Bourgeoisklasse gleich und, wie ich soeben sagte, auch der Abschaffung des Staates. Dieses Mittel wäre zwei-fellos heilbringend für die Massen, aber verhängnisvoll für die Bourgeoisinteressen. Es kommt also nicht in Betracht. Sprechen wir von dem anderen Mittel, das nur dem Volk verhängnisvoll, dagegen für das Wohl der Bour-geoisvorrechte wertvoll ist. Dieses andere Mittel kann nur die Religion sein. Es ist jene ewige Luftspiegelung, welche die Massen auf die Suche nach den göttlichen Schätzen hinreißt, während die herrschende Klasse viel bescheidener sich damit begnügt, die elenden Güter der Erde und das menschliche Hab und Gut des Volkes, seine politische und soziale Freiheit einbegriffen, unter ihre eigenen Mitglieder zu verteilen, auf sehr ungleiche Art übrigens und so, daß der, der mehr besitzt, immer noch mehr erhält. Es gibt, es kann keinen Staat ohne Religion geben. Man nehme die freiesten Staaten der Erde, die Vereinigten

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Staaten von Nordamerika oder die Schweiz, und sehe, welch wichtige Rolle die göttliche Vorsehung, diese oberste Weihe aller Staaten, in allen offiziellen Reden spielt. Jedesmal aber, wenn ein Staatsoberhaupt von Gott spricht, sei es Wilhelm L, der knutogermanische Kaiser, oder Grant, der Präsident der großen Republik, kann man sicher sein, daß er sich vorbereitet, seine Volks-herde von neuem zu scheren. Die französische Bourgeoisie, liberal, voltairianisch und von ihrem Temperament zu einem eigentümlich engen und brutalen Positivismus, um nicht zu sagen Materialismus getrieben, mußte sich also, nachdem sie durch ihren Triumph von 1830 die Staatsklasse gewor-den, notwendigerweise eine offizielle Religion geben. Die Sache war nicht leicht. Sie konnte sich nicht un-vermittelt unter das Joch des römischen Katholizismus begeben. Zwischen ihr und der Kirche von Rom lag ein Abgrund von Blut und Haß, und wie praktisch und klug man auch geworden sein mag, man unterdrückt doch nie in sich eine geschichtlich gewordene Leidenschaft. Der französische Bourgeois hätte sich übrigens mit Lä-cherlichkeit bedeckt, wenn er zur Kirche zurückgekehrt wäre, um an den frommen Zeremonien des Gotteskults teilzunehmen, der Hauptbedingung einer verdienstli-chen und aufrichtigen Bekehrung. Mehrere versuchten es wohl, aber das Ergebnis ihres Heroismus war nur un-fruchtbarer Skandal. Die Rückkehr zum Katholizismus war endlich wegen des unlösbaren Widerspruches zwi-

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schen der unveränderlichen Politik Roms und der Ent-wicklung der wirtschaftlichen und politischen Interes-sen des Mittelstandes unmöglich. In dieser Hinsicht ist der Protestantismus viel be-quemer. Er ist die Bourgeoisreligion par excellence. Er gibt den Bourgeois gerade soviel Freiheit, wie sie brau-chen, und fand das Mittel, das heimliche Trachten mit der Achtung, die die irdischen Interessen verlangen, zu versöhnen. Daher sehen wir auch, daß gerade in den protestantischen Ländern Handel und Industrie sich entwickelten. Aber es war der französischen Bourgeoi-sie nicht möglich, protestantisch zu werden. Um von einer Religion zur anderen überzugehen - außer wenn es aus reiner Berechnung geschieht, wie bisweilen bei den Juden in Rußland und Polen, die sich drei- oder viermal taufen lassen, um jedesmal einen neuen Vorteil zu erhalten -, um die Religion zu wechseln, ist ein Körnchen religiösen Glaubens notwendig. In dem aus-schließlich positiven Herzen des französischen Bour-geois ist nun aber auch für dieses Körnchen kein Platz. Für ihn gibt es nur die tiefste Gleichgültigkeit gegen alle Fragen, ausgenommen in erster Linie die seinen Geldbeutel betreffenden, dann die seine soziale Eitel-keit betreffenden. Er steht dem Protestantismus gleich uninteressiert gegenüber wie dem Katholizismus. Ande-rerseits hätte die französische Bourgeoisie nicht zum Protestantismus übergehen können, ohne mit der katho-lischen Gewohnheit der Mehrheit des französischen Volkes in Widerspruch zu geraten, was für eine Klasse,

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die Frankreich regieren wollte, eine große Unvorsich-tigkeit gewesen wäre. Ein Mittel blieb wohl übrig: zur humanitären und revo-lutionären Religion des 18. Jahrhunderts zu-rückzukehren. Aber diese Religion führt zu weit. Die Bourgeoisie war also gezwungen, zur Weihe des neuen Staates, des von ihr gegründeten Bourgeoisstaates, eine neue Religion zu gründen, die ohne zu sehr Lächerlich-keit und Ärgernis zu erregen, von der ganzen Bour-geoisklasse laut bekannt werden konnte. So entstand der Deismus der doktrinären Schule. Ande-re würden viel besser, als ich es tun könnte, die Ge-schichte der Entstehung und Entwicklung dieser Schule erzählen, die entscheidenden und, ich kann wohl sagen, verhängnisvollen Einfluß auf die politische, geistige und moralische Erziehung der Bourgeois) ugend Frank-reichs hatte. Sie besteht seit Benjamin Constant und-Madame de Stael, aber ihr wahrer Gründer war Royer Collard; ihre Apostel waren die Herren Guizot, Cousin, Villemain und viele andere; ihr laut bekanntes Ziel ist: die Versöhnung der Revolution mit der Reaktion oder, um die Sprache der Schule zu sprechen, des Freiheits-prinzips mit dem Autoritätsprinzip, natürlich zum Vor-teil des letzteren. Diese Versöhnung bedeutete in der Politik das Wegsti-bitzen der Volksfreiheit zum Nutzen der Bourgeoisherr-schaft, vertreten durch den monarchischen und konsti-tutionellen Staat; in der Philosophie die bewußte Un-terwerfung der freien Vernunft unter die ewigen Grund-

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sätze des Glaubens. Wir haben uns hier nur mit letzte-rem Gegenstand zu beschäftigen. Es ist bekannt, daß diese Philosophie hauptsächlich von Herrn Cousin, dem Vater des französischen Eklektizis-mus, ausgearbeitet wurde. Ein oberflächlicher und pe-dantischer Sprecher, frei von jeder eigenen Auffassung, jedem eigenen Gedanken, aber sehr beschlagen in Ge-meinplätzen, die er mit Unrecht mit gesundem Men-schenverstand verwechselt, bereitete dieser ausgezeich-nete Philosoph auf gelehrte Weise für den Gebrauch der studierenden Jugend Frankreichs ein metaphysisches Gericht nach seinem Geschmack vor, dessen in allen der Universität unterworfenen Schulen des Staates pflichtmäßiger Genuß mehrere Generationen hinterein-ander zu einer Gehirnlähmung verurteilte. Man stelle sich einen philosophischen Salat vor, der aus den ent-gegengesetztesten Systemen besteht, einer Mischung von Kirchenvätern, Scholastikern, Descartes und Pas-cal, Kant und schottischen Psychologen, all dies auf den göttlichen und angeborenen Ideen Piatos aufgebaut und bedeckt mit einer Lage Hegelscher Immanenz, das Ganze natürlich von ebenso geringschätzender wie voll-ständiger Unkenntnis der Naturwissenschaft begleitet und beweisend, wie »zweimal zwei ist fünf«11: 1. Das Dasein eines persönlichen Gottes, die Unsterb-lichkeit der Seele und ihre freie Bestimmung, den freien Willen. Und als Konsequenz dieses dreifachen Glau-bens:

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2. Die individuelle Moral, die unbedingte Verant-wortlichkeit eines jeden vor dem von Gott in seine Brust gesenkten Sittengesetz. Die jeder Gesellschaft vorhergehende individuelle Freiheit, die sich aber nur in der Gesellschaft entwickeln kann. 3. Die Freiheit des einzelnen verwirklicht sich nur durch die Aneignung oder Besitzergreifung der Erde. Das Eigentumsrecht ist eine notwendige Folge dieser Freiheit. 4. Die Familie, einerseits gegründet auf die Erblichkeit dieses Rechts und andererseits auf die Autorität des Gatten und Vaters, ist zugleich eine natürliche und gött-liche Einrichtung, göttlich in dem Sinne, daß sie seit dem Beginn der Geschichte geweiht wurde durch die Religion und das den Menschen von Gott gegebene Gewissen, so unvollkommen es zuerst auch sein mag. 5. Die Familie ist der geschichtliche Keim des Staates. 6. Geschichtliche Entwicklung dieser ewigen Grund-sätze, die die Grundlage aller menschlichen Kultur sind, durch die dreifache Aufwärtsbewegung: a) der menschlichen Intelligenz, die ein Ausfluß und sozusagen eine ständige Offenbarung des Gottes im Menschen ist und zuerst sich geoffenbart hat durch eine Reihe sogenannter Religionen, um sich dann, nachdem sie sich vergebens in einer Menge philosophischer Sys-teme gesucht hat, endlich in dem eklektischen System des Herrn Victor Cousin sich gefunden, erkannt und vollständig verwirklicht hat,

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b) der menschlichen Arbeit, der einzigen Schöpferin der gesellschaftlichen Reichtümer, ohne die keine Kultur möglich ist, c) der bald individuellen,bald allgemeinen mensch-lichen Kämpfe, die immer mit neuen geschichtlichen, poütischen und sozialen Vergleichen enden. All dies von der göttlichen Vorsehung geleitet. 7. Die Geschichte, in ihrer Gesamtheit betrachtet, ist eine ununterbrochene Offenbarung des göttlichen Ge-dankens und Willens. Gott, der reine Geist, das absolute und in sich selbst vollkommene Wesen, wohnt in seiner unendlichen Ewigkeit und Unermeßlichkeit außerhalb der Geschichte der Welt12 und folgt mit einer väterli-chen Neugierde der menschlichen Entwicklung und lenkt sie mit unsichtbarer Hand. Da er in seinem göttli-chen Edelmut unbedingt will, daß die Menschen, seine Geschöpfe und deshalb seine Sklaven, frei seien, und da er begreift, daß sie das nicht sein können, wenn er sich zu oft und zu offensichtlich in ihre Geschäfte mischte, daß seine Macht sie nicht nur beleidigte, sondern auch vernichtete13, offenbart er sich ihnen sowenig wie mög-lich, und dann, wenn es zu ihrem Heile unbedingt nötig wird. Sehr oft überläßt er sie auch ihren eigenen An-strengungen und der Entwicklung jenes zwiefachen Lichtes, zugleich göttlichen und menschlichen, das er in ihren unsterblichen Seelen angezündet hat: Des Gewis-sens, der Quelle jeder Moral, und der Intelligenz, der Quelle aller Wahrheit. Wenn er aber sieht, daß dieses Licht matter zu werden beginnt, wenn die Menschen

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zerschmettert und zu unvollkommen, um immer allein gehen zu können, in eine Lage ohne Ausweg gelangen, dann greift er ein. Aber wie? Nicht durch eines jener äußeren und materiellen Wunder, von denen die aber-gläubischen Traditionen der Völker voll sind und die unmöglich sind, weil sie die von Gott selbst aufgestellte Ordnung und die Naturgesetze umkehren würden (Ja, die Kühnheit der doktrinären Idealisten geht sogar so weit, diese Wunder zu leugnen!), sondern durch ein ausschließlich geistiges und inneres Wunder, welches den Sinnen unzugänglich, das vom Gesichtspunkt der Vernunft, der Logik und des gesunden Menschen-verstandes nicht weniger unsinnig und unmöglich ist als die plumpen, von dem Volksglauben eingebildeten; diese letzteren haben wenigstens den Wert poetischer Naivität, während die sogenannten inneren, mit all ih-rem Anspruch auf Rationalismus, nichts anderes sind als gelehrte, kalte, geschickt an den Haaren herbeigezo-gene Dummheiten. Gott greift dann ein, indem er mit seinem göttlichen Geist irgendeine ausgezeichnete, weniger verdorbene und zerschmetterte und intelligentere Seele als die der anderen erleuchtet. Sie wird sein Prophet, sein Messias. Nachdem er dann von diesem von Gott selbst ihm ge-gebenen Geist erfüllt ist - diese Erleuchtung besteht übrigens in einem jener psychologischen Wunder, die uns angeführt werden und die wir wie geschichtlich festgestellte Tatsachen annehmen sollen, die wir aber nie werden begreifen können; und da der göttliche Geist

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immer dem Grad der Entwicklung, dem Charakter und dem Zeitgeist entsprechend war und sich nie in seiner Fülle und absoluten Vollkommenheit offenbarte, da Gott zu weise war und die Freiheit der Menschen zu sehr liebte, um ihnen eine Nahrung vorzusetzen, die sie unfähig waren zu verdauen -, stark durch den unsicht-baren Beistand Gottes zieht dieser Messias mit unwi-derstehlicher Gewalt alle Seelen, die guten Willens sind, an sich und verkündet den göttlichen Willen und gründet eine neue Religion und neue Gesetze. So wur-den alle religiösen Kulte und alle Staaten ins Leben gerufen. Daraus geht hervor, daß die einen wie die an-deren, als unwandelbar betrachtet und indem man sie loslöst von allen Einzelheiten, die von den Menschen zu verschiedenen Zeiten ihrer geschichtlichen Entwick-lung in sie hineingetragen wurden, göttliche Einrich-tungen sind und als solche unbedingte Autorität genie-ßen müssen. Damit haben wir die Kirche und den Staat mit ihrer göttlichen, zermalmenden und furchtbaren Weihe. 8. Die Kirche und der Staat haben also einen doppelten Charakter: einen göttlichen und menschlichen zugleich. Solange sie göttliche Einrichtungen sind, sind sie un-wandelbar, und ihre ganze geschichtliche Entwicklung besteht nur in einer vollkommeneren Offenbarung ihrer eigenen göttlichen Natur oder des göttlichen Gedan-kens, der in ihrem Schöße verkörpert ist, ohne daß je die neuen Offenbarungen und Erleuchtungen in Ge-gensatz kämen zu den vorhergehenden, was ein Einges-

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tändnis der Lüge von Gott aus bedeuten würde. Aber als menschliche Einrichtungen weisen die Kirche und der Staat, vertreten durch Menschen, und als solche natürlich teilhabend an allen menschlichen Leiden-schaften, Lastern und Dummheiten, notwendig uner-meßliche Fehler auf und sind den großen und heilsamen allmählichen Veränderungen zugänglich, die durch die fortschreitende moralische, geistige und materielle Ent-wicklung der Völker, welche den wahren Hintergrund der Geschichte bilden, herbeigeführt werden. 9. In der geistigen und moralischen Entwicklung der Menschheit, obgleich sie beständig von der göttlichen Vorsehung gelenkt wird, ist die Form der religiösen Offenbarungen trotzdem nicht immer nötig. Sie wäre unvermeidlich in den zurückgebliebensten Zeiten der Geschichte, wenn die Intelligenz, jenes zugleich göttli-che und menschliche Licht, diese ständige Offenbarung Gottes in den Menschen, sich noch nicht genügend entwickelt hätte; aber je nachdem sie von sich selbst Besitz ergreift, sucht diese außerordentliche, unge-wöhnliche Form der Offenbarungen zu verschwinden, um danach den wissenschaftlichen Eingebungen ausge-zeichneter Philosophen, großer Denker Platz zu ma-chen, welche mit diesem göttlichen Werkzeuge besser ausgerüstet sind als die anderen und übrigens immer von Gott unterstützt werden - obgleich sehr oft auf eine, sogar für sie selbst, unmerkliche Art, aber auch oft, indem er sie die Hilfe fühlen läßt (siehe den Daimon des Sokrates). - Sie suchen durch die Anstrengungen

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ihres eigenen Denkens die Geheimnisse Gottes zu ver-stehen, welche ihnen wie jedermann schon teilweise ge-offenbart worden sind durch all die früheren Offen-barungen, so daß ihnen nichts übrig bleibt als die Mühe, sie zu entwickeln und zu erklären, indem sie ihnen von nun an nicht mehr eine wunderbare Tradition als Weihe und Grundlage geben, sondern die logische Entwick-lung des menschlichen Denkens. Nur darin unterscheiden sich die Metaphysiker von den Theologen. All der Unterschied, welcher zwischen ih-nen besteht, liegt in der Form, nicht im Prinzip. Ihr Ge-genstand ist derselbe: Gott, die ewigen Wahrheiten, die göttlichen Prinzipien, die religiöse, politische und bür-gerliche Ordnung, die von Gott festgesetzt ist und sich den Menschen mit absoluter Autorität aufzwingt. Aber die Theologen (nach meiner Ansicht viel konsequenter als die Metaphysiker!) behaupten, daß die Menschen zur Erkenntnis Gottes nur auf dem Wege über-natürlicher Offenbarung gelangen könnten; während die Metaphysiker versichern, daß sie Gott und alle ewigen Wahrheiten begreifen könnten durch die alleinige Kraft ihres Denkens, die, so wiederholen sie immer, die zugleich natürliche (!) und ständige Offenbarung Gottes im Menschen sei. (Für uns sind die einen wie die anderen absurd, wir ziehen diesen Sinnlosigkeiten gegenüber sogar die vor, die es offen sind, und nicht die, welche sich mit der menschlichen Vernunft einen Schein von Achtung ge-ben.)

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10. Aus diesem Gegensatz der Form entstand der große geschichtliche Kampf der Metaphysik gegen die Theo-logie. Diesem Kampf, der auf der einen Seite berechtigt und wohltuend war, fehlten auf der anderen nicht ver-abscheuungswürdige Folgen. Er hat der Entwicklung des Menschengeistes ungeheuer genützt, indem er ihn von dem Joch des blinden Glaubens befreite, in wel-chem ihn die Theologie zurückhalten wollte, und ließ ihn seine eigene Kraft und seine Fähigkeit, sich bis zu göttlichen Dingen zu erheben, erkennen, was die Vor-aussetzung der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit ist. Zu gleicher Zeit hat er aber im Menschen eine wertvolle Eigenschaft geschwächt: die Achtung vor Gott, das Gefühl der Frömmigkeit. Der Menschen-geist ließ sich zu oft hinreißen von der Leidenschaft des Kampfes und von den leichten Siegen, die er über die, immer mehr oder minder dummen, Verteidiger des blinden Glaubens und der veralteten Formen der religi-ösen Einrichtungen davontrug, indem er sogar den Grund des Glaubens leugnete; besonders im 18. Jahr-hundert hat er die Verirrung so weit getrieben, daß er sich als Materialist und Atheist erklärte und die Kirche vernichten wollte, indem er in seinem törichten Hoch-mut vergaß, daß, wenn er es wagte, das göttliche Wesen zu leugnen, er seinen eigenen Verfall, seine vollständi-ge Materialisation verkündete. Er vergaß, daß alle seine Größe, seine Freiheit, seine Macht gerade in der Fähig-keit bestehen, die ihm eigen, sich bis zu Gott zu erhe-ben, dem großen, einzigen Gegenstand aller unsterbli-

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chen Gedanken; er vergaß, daß jene Kirche, die er so törichterweise zerstören wollte, die zweifelsohne in Beziehung auf ihre Sitten, ihre Gebräuche, ihre Formen, die nicht mehr der Höhe des Jahrhunderts entsprachen, viel zu wünschen übrig läßt, daß jene Kirche nicht we-niger als der Staat eine göttliche Einrichtung ist, ge-gründet von göttlich erleuchteten Menschen, und daß sie gegenwärtig noch die einzig mögliche Offenbarung der Gottheit für die unwissenden Massen ist, welche eben deshalb unfähig sind, sich durch die natürliche Entwicklung ihrer noch schlummernden Intelligenz bis zu Gott zu erheben. Diese Abweichung des philosophischen Geistes, so beklagenswert ihre Folgen auch seien, war wahr-scheinlich notwendig, um seine geschichtliche Er-ziehung zu vervollständigen. Zweifellos deswegen dul-dete sie Gott. Gewarnt von den tragischen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts, weiß der philosophische Geist jetzt, daß er, wenn er ohne jedes Maß das Prinzip der Verneinung und Kritik gelten läßt, dem Abgrund entgegengeht und im Nichts endet; daß dieses Prinzip, das vollständig berechtigt und sogar heilsam ist, wenn es mit Mäßigung den vorübergehenden und menschli-chen Formen der göttlichen Dinge gegenüber an-gewandt wird, höchst gefährlich, null, ohnmächtig und lächerlich wird, wenn es sich an Gott vergreift. Er weiß, daß es ewige Wahrheiten gibt, die über jeder Forschung und Darstellung sind, die nicht einmal Gegenstand ei-nes Zweifels sein können, weil sie einerseits uns durch

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das allgemeine Bewußtsein und den einhelligen Glau-ben der vergangenen Jahrhunderte enthüllt werden und andererseits sich als angeborene Ideen in dem Verstand jedes Menschen finden und mit unserem Bewußtsein so unlöslich verschmolzen sind, daß es genügt, wenn wir uns in uns selbst, in unser inneres Wesen vertiefen, da-mit sie vor uns in ihrer ganzen Einfachheit und in ihrer ganzen Pracht erscheinen. Diese Grundwahrheiten, die philosophischen Axiome, sind: Das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der Seele, der freie Wille. Es kann, es darf nicht mehr die Frage sein, ihre Wirklichkeit zu bestreiten, weil uns, wie es Descartes so gut gezeigt hat, die Wirklichkeit gegeben ist und durch die Tatsache, daß wir alle diese Ideen in dem Bewußtsein, das unser Denken von sich selbst hat, finden, uns auferlegt ist. Alles, was wir zu tun haben, ist, sie zu verstehen, sie zu entwickeln, indem wir sie zu einem organischen System zusammenfassen. Das ist der einzige Zweck der Philo-sophie. (Dieser Zweck wird soeben endlich vollständig ver-wirklicht durch das System des Herrn Victor Cousin. Von nun an wird der Denker Gott im Geiste anbeten, er wird sich sogar von jedem anderen Kult befreien kön-nen. Er hat vollständig das Recht, nicht mehr in die Kirche zu gehen, sofern er es wenigstens nicht für nütz-lich findet, dorthin zu gehen wegen seiner Frau, seinen Töchtern oder wegen der Leute. Ob er aber geht oder nicht geht, er wird immer die Einrichtung und sogar den Kult der Kirche, wie veraltet ihm auch ihre Formen er-

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scheinen mögen, achten: Zuerst deshalb, weil sogar diese Formen und die falschen Ideen, welche sie zum Teil in den Massen hervorrufen, in dem Zustand der Unwissenheit, in dem sich das Volk noch befindet, wahrscheinlich nötig sind, und weil man, wenn man sie offen angriffe, Gefahr laufen würde, den Glauben zu erschüttern, der in der im allgemeinen ziemlich un-glücklichen Lage, in welcher sich das Volk befindet, seinen einzigen Trost und die einzige moralische Fes-sel, die es kettet, bildet. Er muß sie endlich achten, weil der Gott, den die Kirche und das Volk unter diesen al-bernen Formen anbetet, derselbe Gott ist, vor dem sich so ernst das majestätische Haupt des doktrinären Phi-losophen neigt. Dieser tröstliche und beruhigende Gedanke ist von ei-nem der ausgezeichneten Häupter der doktrinären Kir-che, durch Herrn Guizot, sehr gut ausgedrückt worden; er freut sich in einer 1845 oder 1846 veröffentlichten Broschüre sehr darüber, daß in Frankreich die göttliche Wahrheit unter all ihren verschiedenen Formen so wohl vertreten sei: Die katholische Kirche — sagt er in dieser Broschüre, die ich nicht zur Hand habe - gibt sie uns unter der Form der Autorität; die protestantische Kirche unter der Form des freien Gewissens und die Uni-versität unter der des reinen Gedankens. Man muß ein sehr religiöser Mann sein, nicht wahr, um es zu wagen, solche Dummheiten zu sagen und zu drucken, wenn man dann noch gleichzeitig ein intelligenter und gelehr-ter Mann ist!)

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11. Der Kampf, der die Metaphysiker und die Theo-logen in Gegensatz brachte, entstand notwendig von neuem in der Welt der materiellen Interessen und der Politik. Das ist der denkwürdige Kampf der Volksfrei-heit gegen die Autorität des Staates. Diese Autorität war, wie die der Kirche am Anfang der Geschichte, natürlich despotisch; dieser Despotismus war heilsam, weil die Völker zuerst zu wild, zu roh, zu wenig reif für diese Freiheit waren - und heute noch sind sie es so wenig! -, zu wenig fähig, noch bereit waren, freiwillig, wie es heute die Deutschen machen, ihren Nacken unter das Joch des göttlichen Gesetzes zu beugen, sich frei-willig den ewigen Bedingungen der öffentlichen Ord-nung zu unterwerfen. Da der Mensch natürlich faul war, mußte er von einer höheren Macht zur Arbeit angetrie-ben werden. Daraus erklärt und rechtfertigt sich in der Geschichte die Einrichtung der Sklaverei; nicht als eine ewige Einrichtung, sondern als eine vorübergehende, von Gott selbst angeordnete Maßregel, die wegen der natürlichen Barbarei und Verkehrtheit der Menschen als geschichtliches Erziehungsmittel notwendig wurde. Indem er die auf das Eigentum14 gegründete und der höchsten Autorität des Gatten und des Vaters unterwor-fene Familie gründete, schuf Gott den Keim des Staa-tes. Die erste Regierung war notwendig despotisch und patriarchalisch. Aber je mehr die Zahl der freien Fami-lien in einem Volke wuchs, um so mehr lockerten sich die natürlichen Bande, die sie zuerst zu einer einzigen Familie, unter der patriarchalischen Leitung eines ein-

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zigen Oberhaupts, vereint hatten; diese ursprüngliche Organisation mußte durch die gelehrtere und kompli-ziertere des Staates ersetzt werden. Im Anfang der Ge-schichte war das überall das Werk der Theokratie. Je nachdem die Menschen, indem sie aus ihrem wilden Zustand heraustraten, zum ersten, natürlich sehr rohen Bewußtsein der Gottheit gelangten, bildete sich eine Kaste von mehr oder minder erleuchteten Vermittlern zwischen dem Himmel und der Erde. Im Namen der Gottheit errichteten die Priester der ersten religiösen Kulte die ersten Staaten, die ersten politischen und rechtlichen Organisationen der Gesellschaft. Wenn man von verschiedenen sekundären Unterschieden absieht, findet man in den antiken Staaten vier Kasten: die Priesterkaste; die der edlen Krieger, die sich aus allen männlichen Gliedern und vornehmlich aus den Häup-tern der freien Familien zusammensetzte (diese beiden Klassen bildeten eigentlich die religiöse, politische und rechtliche Klasse, die Aristokratie des Staates); dann die kaum differenzierte Masse der Gäste, der Flüchtlin-ge, der Kunden und der persönlich freien, aber juri-discher Rechte beraubten Sklaven, die an dem natio-nalen Kult nur indirekt teilnahmen und die in ihrer Ge-samtheit das eigentlich demokratische Element, das Volk, bildeten; zuletzt die Masse der Sklaven, die nicht als Menschen, sondern als Dinge angesehen wurden und auch bis zum Auftreten des Christentums in dieser elenden Lage verharrten.

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Die ganze Geschichte der Antike, die sich je nach der Entwicklung und weiteren Verbreitung der geistigen und materiellen Fortschritte der menschlichen Kultur entrollte, wurde immer von der unsichtbaren Hand Got-tes - der zweifellos nicht persönlich eingriff, sondern durch seine Auserwählten und Erleuchteten: Propheten, Priester, große Eroberer, Politiker, Philosophen und Dichter - gelenkt. Diese ganze Geschichte stellt nur einen unaufhörlichen und unseligen Kampf zwischen diesen Kasten und eine Reihe von Siegen dar, die zuerst die Aristokratie über die Demokratie davontrug und später die Demokratie über die Aristokratie. Wenn die Demokratie besiegt war, mußte sie der militärischen und kaiserlichen Diktatur der Cäsaren Platz machen; sie war unfähig, den Staat, dieses höchste Ziel jeder menschlichen Gesellschaft auf der Erde, zu organisie-ren und besonders den ungeheueren Staat zu organisie-ren, den die Eroberung der Römer auf den Trümmern aller vereinzelten nationalen Existenzen gründete und welcher fast die ganze bekannte Welt der Alten umfaß-te. Da aber die Macht der Cäsaren auf der Zerstörung aller nationalen und partiellen Organisationen der anti-ken Gesellschaft beruhte und da sie demzufolge die Auflösung des sozialen Organismus und die Reduzie-rung des Staates auf eine Teilexistenz bedeutete, welche einzig auf eine mechanische Zusammenfassung der materiellen Kräfte gestützt war, war der Cäsarismus unseligerweise dazu verdammt, durch sein eigenes Prinzip sich selbst zu vernichten, so daß die Barbaren,

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die vom Himmel zur Erneuerung der Erde geschickten Geißeln Gottes, als sie kamen, fast nichts mehr fanden, was sie zerstören konnten. Die Antike hat uns in der Welt des Geistes hinterlassen: das erste Bewußtsein der Gottheit und die metaphysi-sche Herausarbeitung der göttlichen Idee; einen sehr ernsthaften Anfang positiver Wissenschaften; ihre wunderbaren Künste und ihre unsterbliche Poesie - in der zeitlichen Welt: die erhabene Einrichtung des Staa-tes, mit dem Patriotismus, dieser Leidenschaft und Tu-gend des Staates ; das juridische Recht, die Sklaverei und unermeßliche materielle Reichtümer, die durch die angehäufte Arbeit der Sklaven geschaffen und aller-dings durch die schlechte Wirtschaft der Barbaren et-was vergeudet wurden, die aber trotzdem durch die knechtliche und geregelte Arbeit des Mittelalters seit-dem wieder ersetzt, vervollständigt und vergrößert worden sind, und die erste Grundlage zur Entstehung der modernen Kapitalien abgegeben haben. Die große Idee der Menschheit ist der antiken Welt vollständig unbekannt geblieben. Von ihren Phi-losophen dunkel geahnt, war sie zu unvereinbar mit einer auf der Sklaverei beruhenden Zivilisation und ebenso mit der ausschließlichen nationalen Organisati-on der Staaten, um dort zugelassen werden zu können. Christus verkündete sie der Welt, und er war deshalb der Befreier der Sklaven und theoretisch der Zerstörer der antiken Gesellschaft15.

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Wenn es jemals einen unmittelbar von Gott er-leuchteten Menschen gab, so war er es. Wenn es eine absolute Religion gibt, so ist es die seine. Wenn man bei den Evangelien von einigen ungeheuerlichen Zu-sammenhanglosigkeiten absieht, die augenscheinlich entweder von der Dummheit der Abschreiber oder der Unwissenheit der Jünger in sie hineingebracht wurden, so findet man in ihnen unter einer volkstümlichen Form die ganze göttliche Wahrheit: Gott, der reine Geist, der ewige Vater, der Schöpfer, der höchste Herr, die Vor-sehung und die Gerechtigkeit der Welt; seinen einzigen Sohn, den auserwählten Menschen, der vom Heiligen Geist erleuchtet, die Welt erlöst; und endlich diesen göttlichen Geist, der sich am Schlüsse enthüllte, of-fenbarte und allen Menschen den Weg des ewigen Hei-les zeigte. Das ist die göttliche Dreieinigkeit. Neben ihr der Mensch, mit einer unsterblichen Seele begabt, frei und deshalb verantwortlich und zu unendlicher Voll-kommenheit berufen. Endlich wird die Brüderlichkeit aller Menschen im Himmel und ihre Gleichheit (d. h. ihre gleiche Nichtigkeit) vor Gott laut verkündet. Man müßte wahrlich sehr eigen sein, wenn man mehr ver-langen würde. Später sind diese Wahrheiten zweifellos durch die Un-wissenheit und die Dummheit, wie auch durch den un-verständigen und zu oft sogar leidenschaftlich interes-sierten Eifer der Theologen unseligerweise entstellt und verdorben worden, so daß, wenn man gewisse theologi-sche Abhandlungen liest, man sie kaum zu erkennen

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vermag. Die wahre Philosophie aber hat gerade die be-sondere Aufgabe, sie loszulösen von dieser menschli-chen und unreinen Beimischung und sie in ihrer ganzen ursprünglichen Einfachheit, die sowohl wissen-schaftlich als auch göttlich ist, wiederherzustellen16. Die christliche Offenbarung diente einer neuen Kultur zur Grundlage. Sie begann von neuem am Anfang und nahm die Organisation einer neuen Theokratie, die un-bedingte Herrschaft der Kirche, als Grundlage und Ausgangspunkt. Das war verhängnisvoll. Die Kirche, als sichtbare Verkörperung der göttlichen Wahrheit und des göttlichen Willens, mußte notwendig die Welt re-gieren. Wir finden auch in dieser neuen christlichen Welt wieder vier Klassen, die den Kasten des Altertums entsprechen, die uns aber gleichwohl von dem neuen Geist abgeändert erscheinen: die Klasse der Priester, dieses Mal nicht erblich, sondern unterschiedslos aus allen Klassen sich rekrutierend; die erbliche Klasse der feudalen Herren, die Krieger; diejenige der Bürger-schaft der Städte, welche dem freien Volk des Alter-tums entspricht; und endlich die Klasse der Leibeige-nen, die Steuer- und fronpflichtigen Bauern, welche die Sklaven ersetzten, mit dem ungeheueren Unterschied, daß man sie nicht mehr als Dinge, sondern als mit un-sterblichen Seelen begabte Menschen betrachtete, was die Herren nicht hinderte, sie so zu behandeln, als hät-ten sie überhaupt keine Seele.

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Außerdem finden wir in der christlichen Gesellschaft eine neue Tatsache: die von jetzt ab unvermeidliche Trennung zwischen Kirche und Staat. Diese Trennung war die natürliche Folge des internationalen, allgemein menschlichen (unmenschlichen, aber göttlichen) Prin-zips des Christentums. Solange die Götter und Kulte ausschließlich national waren, konnten, mußten sie so-gar mit den nationalen Staaten verschmelzen. Aber so-bald die Kirche den Charakter der Allgemeinheit ange-nommen hatte und da die Verwirklichung des allge-meinen Staates materiell unmöglich war (und trotzdem sollte es für Gott hier nichts Unmögliches geben!), mußte die Kirche wohl oder übel außerhalb ihrer die Existenz und die Organisation nationaler Staaten zulas-sen, die natürlich ihrer hohen Leitung unterworfen wa-ren und nur so lange das Recht der Existenz hatten, als sie sie sanktionierte, die aber gleichwohl ein von ihr getrenntes Dasein führten. Daher der geschichtliche, notwendige Kampf zwischen beiden gleich göttlichen Einrichtungen, zwischen Kirche und Staat; die Kirche wollte dem Staate keinerlei Recht zuerkennen, solange er sich nicht ihrer Überlegenheit beugte, und der Staat proklamierte im Gegensatz dazu, daß er ebenso wie die Kirche von Gott selbst eingesetzt und deshalb nur von Gott abhängig sei. In diesem Kampf der Staaten gegen die Kirche stützte sich die konzentrierte Macht des Staates, vertreten durch das Königtum, hauptsächlich auf die mehr oder weniger von den feudalen Herren geknechteten Volks-

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massen, zum Teil auf die Leibeigenen des Landes, be-sonders aber auf das Volk der Städte, auf die entstehen-de Bürgerschaft und die Handwerkervereinigungen; die Kirche dagegen fand sehr rührige Verbündete in den feudalen Herren, den natürlichen Feinden der zentralis-tischen Macht des Königtums und den Anhängern der Auflösung der nationalen Einheit, der Auflösung des Staates. Aus diesem dreifachen, religiösen, politischen und sozialen Kampf entstand der Protestantismus. Der Triumph des Protestantismus hatte nicht nur die Trennung der Kirche und des Staates zur Folge, son-dern auch noch in vielen, selbst katholischen Ländern, das tatsächliche Aufgehen der Kirche im Staat und des-halb die Bildung absoluter monarchischer Staaten, die Entstehung des modernen Despotismus. Das war der Charakter, den von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun-derts an alle Monarchien auf dem Festland von Europa annahmen. Je nachdem die getrennte Macht der Kirche und die feudale Unabhängigkeit der Herren im höchsten Recht des modernen Staates aufgingen, mußte auch die so-wohl kollektive als individuelle Leibeigenschaft der Volksklassen, Bourgeoisie, Handwerker und Bauern dabei inbegriffen, notwendig verschwinden und allmäh-lich der Errichtung der bürgerlichen Freiheit aller Bür-ger, oder vielmehr aller Staatsuntertanen, Platz machen (was heißen will, daß der mächtigere, aber weniger bru-tale und deshalb viel systematischer zermalmende Des-

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potismus des Staates dem der Herren und der Kirche folgt). Im Staate aufgehend, wurden die Kirche und der feuda-le Adel die beiden bevorrechteten Körper. Die Kirche suchte mehr und mehr zu einem trefflichen Herrschafts-instrument nicht mehr gegen die Staaten, sondern in ihrem Schoße und zum ausschließlichen Nutzen der Staaten, zu werden. Sie erhielt nun vom Staate die wichtige Aufgabe, die Gewissen zu leiten, die Geister zu erheben und die Seelenpolizei zu machen, nicht mehr zum Ruhme Gottes, sondern zum Wohl des Staa-tes. Nachdem der Adel seine politische Unabhängigkeit verloren hatte, wurde er der Höfling der Monarchie, und von ihr begünstigt, bemächtigte er sich des Mono-pols des Staatsdienstes und kannte von jetzt ab kein anderes Gesetz mehr als das Vergnügen des Monar-chen. Kirche und Aristokratie bedrückten von da ab die Völker nicht im eigenen Namen, sondern im Namen und durch die Allmacht des Staates17. Neben dieser politischen Unterdrückung der unteren Klassen gab es noch ein anderes Joch, das schwer auf der Entwicklung ihres materiellen Wohlstandes lastete. Der Staat hatte wohl die einzelnen und die Gemeinden von der herrschaftlichen Abhängigkeit befreit, er hatte aber keineswegs die doppelt geknechtete Arbeit des Volkes befreit: auf dem Lande durch die dem Eigentum noch anhaftenden Vorrechte, wie auch durch die den Landwirten auferlegten Frondienste, in den Städten durch die körperschaftliche Organisation der Handwer-

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ker. Diese Vorrechte, Dienste und diese Organisation, welche aus dem Mittelalter stammten, hinderten die endgültige Befreiung der Klasse der Bourgeoisie. Die Bourgeoisie ertrug dieses doppelte, politische und wirtschaftliche Joch mit steigender Ungeduld. Sie war reich und intelligent geworden, viel reicher und intelli-genter als der Adel, welcher sie beherrschte. Stark die-ser beiden Vorteile wegen und unterstützt vom Volk, fühlte sich die Bourgeoisie berufen, alles zu werden, und sie war noch nichts. Deshalb die Revolution. Diese Revolution wurde vorbereitet durch jene großar-tige Literatur des 18. Jahrhunderts, mit deren Hilfe der philosophische, politische und wirtschaftliche Aufruhr sich in einer gemeinsamen, mächtigen, gewaltigen, hartnäckig im Namen des menschlichen Geistes ver-kündeten Forderung vereinte und die öffentliche revolu-tionäre Meinung erzeugte, welche ein viel furchtbareres Zerstörungsmittel ist als alle Chassepots, Zündnadel-gewehre und die heute so vervollkommneten Kanonen. Dieser neuen Macht konnte nichts widerstehen. Die Revolution brach los und vernichtete gleichzeitig die Vorrechte des Adels, der Altäre und Throne. 12. Diese so enge Verbindung der praktischen Forde-rungen mit der theoretischen Bewegung der Geister im 18. Jahrhundert bildete einen ungeheueren Unterschied zwischen den revolutionären Strebungen dieses Zeital-ters und denen Englands im 17. Jahrhundert. Sie trug zweifellos viel dazu bei, die Macht der Revolution zu erweitern, indem sie ihr einen internationalen, allge-

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meinen Charakter aufdrückte. Zur selben Zeit mußte sie aber folgerichtig die politische Bewegung der Revolu-tion in die Irrtümer hineinführen, welche die Theorie nicht zu vermeiden wußte. Gleichwie die philosophi-sche Verneinung sich zerschmetterte, als sie Gott an-griff und sich materialistisch und atheistisch nannte, ebenso griff die politische und soziale Verneinung, durch dieselbe zerstörende Leidenschaft irregeführt, die wesentlichen und ersten Grundlagen jeder Gesell-schaft an, den Staat, die Familie und das Eigentum, und wagte sich laut als anarchistisch und sozialistisch zu verkünden: siehe die Hebertisten und Babeuf, und später Proudhon und die ganze Partei der revolu-tionären Sozialisten. Die Revolution tötete sich selbst, und wiederum führte der Triumph der entfesselten und ungeordneten Demokratie den der militärischen Dikta-tur herbei. Diese Diktatur konnte nicht von langer Dauer sein, weil die Gesellschaft weder aufgelöst noch tot war, wie zur Zeit der Errichtung des Kaiserreiches der Cäsaren. Die heftigen Erschütterungen von 1789 und 1793 hatten sie nur ermüdet und momentan erschöpft, nicht vernichtet. Unter dem gleichförmigen und ruhmvollen Despotis-mus Napoleons I. jeder Initiative beraubt, benutzte die Bourgeoisie diese zwangsweise Muße, um sich zu sammeln und im Geiste die fruchtbaren Keime der Freiheit, welche die Bewegung des vorhergehenden Jahrhunderts in ihrem Schöße niedergelegt hatte, wei-terzuentwickeln. Von den grausamen Erfahrungen einer

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gescheiterten Revolution gewarnt, verzichtete sie auf die übertriebenen Prinzipien von 1793 und kehrte zu denen von 1789 zurück, welche der treue und wahre Ausdruck des Volkswillens und nicht der einer Sekte, einer Partei gewesen waren; in der Tat enthielten sie alle Bedingungen einer weisen, vernünftigen und prak-tischen Freiheit (d. h. einer ausschließlich bourgeoisen, vollständig zum Nutzen der Bourgeoisie und zum Nachteil des Volkes; das Wort „praktisch“ bedeutet im Munde eines Bourgeois nie etwas anderes), sie machten sie noch praktischer, indem sie alles entfernten, was die Philosophie des 18. Jahrhunderts an zu Unbestimmtem in sie hineingetragen hatte (dieses an zu Unbestimmtem will heißen: an zu Demokratischem, zu Volkstümli-chem, zu Menschlichem), und indem sie sie abänderten (d. h. beschränkten), wie die neuen Bedürfnisse und Be-dingungen der Zeit es verlangten. Auf diese Weise schuf sie endgültig die Theorie vom konstitutionellen Recht, dessen erste Apostel Montesquieu, Necker, Mi-rabeau, Mounier, Dufot, Barnave und so viele andere gewesen waren und dessen neue Verfechter unter dem Kaiserreich Madame de Stael und Benjamin Constant wurden. Als die gesetzmäßige Monarchie nach dem Sturze Na-poleons in Frankreich wieder eingeführt war und das ehemalige Regime wiederherstellen wollte, traf sie auf die zugleich überlegte und mächtige Gegnerschaft der Klasse der Bourgeoisie, die von da ab wußte, was sie wollte und sogar in ihrer Mäßigung stark war; sie ver-

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teidigte Schritt für Schritt die unsterblichen und gesetz-lichen Errungenschaften der Revolution, die Unabhän-gigkeit der bürgerlichen Gesellschaft gegen die unsinni-gen Anmaßungen einer in die Macht der Jesuiten zu-rückgefallenen Kirche; die Aufrechterhaltung der Ab-schaffung aller Adelsvorrechte; die Gleichheit aller vor dem Gesetz; endlich das Recht des Volkes, nicht ohne seine Zustimmung besteuert zu werden, an der Regie-rung und Gesetzgebung des Landes teilzunehmen und die Regierungsakte zu überwachen durch eine regelmä-ßige Vertretung, die aus dem freien Stimmrecht aller aktiven Bürger, d. h. der besitzenden und erleuchteten, hervorzugehen hat. Weil die gesetzmäßige Monarchie diese wesentlichen Bedingungen des neuen Rechts nicht ganz annehmen wollte, fiel sie. 13. Die Julimonarchie hat endlich das wahre System der modernen Freiheit in seinem ganzen Umfang ver-wirklicht. Zweifellos gibt es Unvollkommenheiten; aber es sind das solche, die allen menschlichen Einrichtun-gen natürlicherweise anhaften. Diejenigen, welche man im konstitutionellen System vom Juli findet, müssen hauptsächlich der Unzulänglichkeit der Kenntnis und Praxis der Freiheit, nicht nur in den Massen, sondern sogar in der Bourgeoisie zugeschrieben werden, zum Teil vielleicht auch der politischen Unfähigkeit der Männer, welche die Macht in die Hände genommen haben. Diese Unvollkommenheiten sind also vorüber-gehend, sie müssen unter dem Einfluß fortschreitender Kultur wegfallen. Aber das System an sich ist voll-

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kommen: es gibt eine praktische Lösung aller Fragen, aller gesetzlichen Bestrebungen, aller wirklichen Be-dürfnisse der menschlichen Gesellschaft. Es beugt sich vor allem vor Gott, der Ursache alles Seins, der Quelle jeder Wahrheit, dem unsichtbaren Eingeber der guten Gedanken; aber wenn es ihn auch im Geiste anbetet, so will es doch nicht zulassen, daß untreue und fanatische Vertreter seiner unwandelbaren Autorität in seinem Namen die Welt mißhandeln und unterdrücken. Es gibt in der in allen Staatsschulen offi-ziell gelehrten Philosophie auch intelligente Menschen, die guten Willens sind, das Mittel, ihren Geist und ihr Herz bis zum Verständnis der ewigen Wahrheiten em-pordringen zu lassen, ohne von jetzt ab das Bedürfnis nach der Vermittlung der Priester zu haben. Die paten-tierten Lehrer des Staates nehmen die Stelle der Priester ein, die Universität wird gewissermaßen die Kirche des gebildeten Publikums. Aber das System lehrt gleichzei-tig eine aufgeklärte Achtung aller traditionell festge-setzten Kirchen, weil es sie als nützlich und sogar un-entbehrlich erkennt, und zwar wegen der Unwissenheit der Massen. Da es die Gewissensfreiheit achtet, be-schützt das System gleicherweise alle alten Kulte, unter der Voraussetzung, daß ihre Prinzipien, ihre Moral und ihre Praxis nicht in Widerspruch stehen zu den Prinzi-pien, der Moral und der Praxis des Staates. Das System anerkennt als Grundlage und unbedingte Voraussetzung der Freiheit, der Menschenwürde und der Sittlichkeit, die Lehre vom freien Willen, d. h. die

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unbedingte Freiwilligkeit der Bestimmungen des per-sönlichen Willens und die Verantwortlichkeit eines jeden für seine Handlungen; daraus ergibt sich für die Gesellschaft das Recht und die Gewalt, zu strafen. Das System anerkennt das persönliche und erbliche Eigentum und die Familie als die wahren Grundlagen und Voraussetzungen der Freiheit, der Würde und der Sittlichkeit der Menschen. Es achtet das Recht auf Ei-gentum in jedem, ohne ihm eine andere Grenze zu set-zen als das gleiche Recht der anderen, ohne andere Ein-schränkungen als die, welche von der Berücksichtigung der öffentlichen Nützlichkeit, vertreten vom Staat, dik-tiert werden. Nach ihm ist das Eigentum ein natürliches Recht, das dem Staate vorhergeht; es wird aber nur dann ein juridisches Recht, wenn es vom Staate als sol-ches geweiht und garantiert wird. Es ist also gerecht, daß der Staat dem Eigentümer die Hilfe aller leiht und ihm die Bedingungen auferlegt, die vom Interesse aller diktiert werden. Aber diese Einschränkungen und Be-dingungen müssen derart sein, daß sie bei allem Wech-sel, soweit das unbedingt nötig wird und nicht mehr, den Grund des natürlichen Rechtes des Eigentümers, in seinen verschiedenen Formen und Auswirkungen, un-angetastet lassen. Denn der Staat ist nicht die Vernei-nung, sondern im Gegenteil die Weihe und die rechtli-che Organisation aller natürlichen Rechte, woraus folgt, daß, wenn er sie in ihrem Wesen, in ihrem Grund an-griffe, er sich selbst zerstören würde. (Er garantiert im-mer, was er findet: den einen ihren Reichtum, den ande-

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ren ihre Armut; den einen die auf dem Eigentum beru-hende Freiheit, den anderen die Sklaverei, die unselige Folge ihres Elends; er zwingt die Elenden, immer zu arbeiten und sich töten zu lassen, damit jener Reichtum der Reichen zunehme und gesichert sei, welcher die Ur-sache ihres Elends und ihrer Sklaverei ist. Das ist die wahre Natur und die wahre Aufgabe des Staates.) Ebenso ist es mit der Familie, die übrigens durch ihr Prinzip, wie auch tatsächlich mit dem Prinzip und der Tatsache des persönlichen und erblichen Eigentums unlöslich verknüpft ist. Die Autorität des Gatten und Vaters ist ein natürliches Recht. Die durch den Staat vertretene Gesellschaft weiht es rechtlich. Aber gleich-zeitig steckt sie der natürlichen Macht desselben gewis-se Grenzen, um ein anderes natürliches Recht zu retten, das der individuellen Freiheit der untergeordneten Glie-der der Familie, d. h. der Mutter und der Kinder. Ge-rade dadurch, daß sie ihm diese Grenzen steckt, weiht sie es, verwandelt sie es in ein juridisches Recht und gibt der Gatten- und Vaterautorität Gesetzeskraft. Das System betrachtet die rechtliche Familie, begründet auf dieser zweifachen Autorität das rechtlich erbliche Ei-gentum, als wesentliche Grundlage jeder Moral, jeder menschlichen Kultur, des Staates. Es betrachtet den Staat als göttliche Einrichtung, in dem Sinne, daß er vom Beginn der Geschichte an, gegründet und allmählich entwickelt wurde durch seine objektive, göttliche Vernunft, die der Menschheit, als Ganzes be-trachtet, fest verbunden ist; die historischen Individuen,

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die, sei es zu seiner Gründung, sei es zu seiner Entwick-lung beigetragen haben, sind nichts anderes gewesen als die göttlich erleuchteten Vermittler. Es betrachtet den Staat als die unvermeidliche, ständige, einzige und un-bedingte Form des gemeinsamen Daseins der Men-schen, d. h. der Gesellschaft, als die höchste Vorausset-zung jeder Kultur, jedes menschlichen Fortschritts, der Gerechtigkeit, der Freiheit, des allgemeinen Wohlstan-des; kurz als die einzig mögliche Verwirklichung des Menschentums. (Und trotzdem ist es augenscheinlich, wie ich später zeigen werde, daß der Staat die schrei-endste Verneinung des Menschentums ist.) Als Vertreter der allgemeinen Vernunft, des all-gemeinen Wohles und des Rechts aller, als höchstes Organ der gemeinsamen Entwicklung der Gesellschaft, sowohl der materiellen als auch der geistigen und mora-lischen, muß der Staat gegenüber allen Individuen mit einer großen Autorität und einer furchtbaren Macht ausgerüstet sein. Es liegt aber im Prinzip des Staates, daß diese Autorität, diese Macht es versucht, ohne ihr Objekt und ihre Grundlage zu zerstören, das natürliche Recht der Menschen zu vernichten. Wenn der Staat die natürliche Freiheit jedes Individuums ändert und teil-weise begrenzt, so geschieht das nur, um sie durch die Garantie jener gemeinsamen Macht, deren einziger ge-setzlicher Vertreter er ist, zu verstärken, um sie zu wei-hen, zu zivilisieren und sie, mit einem Wort, in juridi-sche Freiheit umzuwandeln; die natürliche Freiheit ist ja die Freiheit der Wilden, die juridische Freiheit allein

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ist zivilisierter Menschen würdig. Der Staat ist also gewissermaßen die Kirche der modernen Zivilisation, die Advokaten sind seine Priester. Woraus ganz klar hervorgeht, daß die beste Regierung die der Advokaten ist. In der politischen und juridischen Freiheit, deren Ein-richtung das eigentliche Ziel des Staates ausmacht, ver-binden sich zwei fundamentale Prinzipien jeder menschlichen Gesellschaft, die unbedingt entgegenge-setzt erscheinen, daß sie viele auszuschließen erschei-nen, und die dennoch so unzertrennlich sind, daß das eine ohne das andere nicht existieren könnte: das Auto-ritätsprinzip und das der Freiheit. (Ja, sie verschmelzen im Staate derart gut, daß das erste immer das zweite zerstört und daß da, wo es dasselbe bestehen läßt, es zum Nutzen einer beliebigen Minderheit geschieht, aber nicht mehr als Freiheit, sondern als Vorrecht. Der Staat verwandelt also, was man übereingekommen ist, die natürliche Freiheit der Menschen zu nennen, in Sklaverei für alle und in ein Vorrecht für einige weni-ge.) Seit dem Anfang der Geschichte, während einer langen Folge von Jahrhunderten, ist es das Autoritätsprinzip, welches fast ausschließlich vorherrschte, so daß das Prinzip der Freiheit sehr lange kein anderes Mittel hat-te, sich zu zeigen, als die Revolte; diese Revolte ging am Ende des 18. Jahrhunderts bis zur vollständigen Verneinung des Autoritätsprinzips, was bekanntlich die Wiedererstehung dieses letzteren, seine von neuem aus-

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schließliche Herrschaft unter dem Kaiserreich und ge-mäßigter unter der gesetzmäßigen, wiederhergestellten Monarchie zur Folge hatte, bis es wiederum von einer Empörung des Freiheitsprinzips besiegt wurde. Aber dieses Mal versuchte die jetzt selbst gemäßigter und weiser (d.h. bourgeoise und nur bourgeoise) gewordene Freiheit nicht mehr die unmögliche Zerstörung der so heilsamen und so notwendigen Autorität des Staates; sie verbündete sich im Gegenteil mit ihm, um die Juli-monarchie, die Charte-vérité, zu gründen18. Der Staat als göttliche Einrichtung ist von Gottes Gna-den. Aber nicht so die Monarchie. Es war gerade der große Irrtum der Restauration, auf unbedingte Weise die monarchische Form und die Person des Monarchen mit dem Staate gleichsetzen zu wollen. Die Julimonar-chie war keine göttliche, sondern eine Nützlichkeitsein-richtung, die man der Republik vorzog, weil sie den Sitten Frankreichs angemessener war, und besonders, weil sie durch die große Unwissenheit des französi-schen Volkes notwendig geworden war. Deshalb war auch der schönste Ruhmestitel, mit dem sich der aus der Revolution von 1830 hervorgegangene König, Louis Philipp, überheben konnte, der: Die beste der Republi-ken, ein Titel, der ungefähr dem des „König Weltmann“ gleichkam, welchen man später dem König von Italien, Viktor Emmanuel, gab. Das göttliche, das gemeinsame Recht liegt also einzig im Staat, sei seine Form monarchisch oder republika-nisch. Die beiden Prinzipien, die ihn ausmachen, das

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der Autorität und das der Freiheit, haben jedes eine ge-trennte Organisation, vervollständigen sich gegenseitig und bilden im Staate ein organisches Ganzes. Die Autorität und die Macht des Staates, welche zur Aufrechterhaltung des Rechts und der öffentlichen Ordnung im Inneren und zur Verteidigung des Landes gegen die äußeren Feinde so notwendig ist, werden durch jene prachtvolle Zentralisation dargestellt (es sind dies die eigenen Worte des Herrn Thiers, die heute von Herrn Gambetta in die Tat umgesetzt werden; sie drü-cken die innere Überzeugung, um nicht zu sagen den Kult aller liberalen und autoritären Doktrinäre, ebenso der ungeheueren Mehrheit der französischen Republi-kaner aus), durch jene großartige politische, mili-tärische, administrative, gerichtliche, finanzielle, poli-zeiliche, öffentliche und sogar religiöse Maschine des Staates, welcher bürokratisch organisiert, durch die Revolution auf den Ruinen des ehemaligen Partikula-rismus der Provinzen gegründet wurde und die ganze Kraft der modernen Großmächte ausmacht. Die politische Freiheit wird im Staate durch eine ge-setzliche Körperschaft vertreten, die aus dem freien Wahlrecht des Landes hervorgeht und regelmäßig ein-berufen wird. Diese Körperschaft hat nicht nur die Auf-gabe, die Ausgaben zu regeln und als einzige rechtmä-ßige Vertreterin der nationalen Souveränität an der Ge-setzgebung teilzunehmen, sondern übt auch im Namen eben dieser Hoheit eine ständige Kontrolle über die Regierungsakte und einen allgemeinen, positiven

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Einfluß in allen inneren als auch äußeren Angelegen-heiten und Beziehungen des Landes aus. Die verschie-denen Arten der Organisation dieses Rechts hängen viel weniger vom Prinzip ab, als von einer Menge lokaler und wechselnder Umstände, von den Gebräuchen, dem Grade der Bildung, den politischen Voraussetzungen und Gewohnheiten eines Landes. Logisch gesprochen, dürfte es in einem einheitlichen und zentralisierten Lande, wie Frankreich zum Beispiel, nur eine einzige Kammer geben. Eine erste oder Ober-Kammer hat Da-seinsrecht nur in einem Lande, wo die adelige Aristo-kratie noch eine rechtlich und sozial getrennte Klasse bildet, wie in England oder auch in Ländern, wie in den Vereinigten Staaten und der Schweiz, wo die Provinzen (die Kantone, die Staaten) innerhalb der politischen Einheit eine selbständige Existenz sich erhalten haben; aber nicht in einem Lande wie Frankreich, wo die Gleichheit aller Bürger vor dem allgemeinen Gesetze proklamiert wurde und wo die Selbständigkeit der Pro-vinzen in einer Zentralisation aufgegangen ist, die kei-nen Schatten von Unabhängigkeit und Unterschied, sei es kollektiv oder individuell, zu läßt. Die Schaffung einer Pariser Kammer, die vom König ins Leben geru-fen wurde, erklärt sich in der Verfassung von 1830 nur als eine Vorsichtsmaßregel, welche die Nation gegen sich selbst ergreifen zu müssen glaubte, als eine Art Fessel, welche sie klugerweise ihrem eigenen zu revo-lutionären Temperament anlegte. (Daraus geht immer hervor, daß diese Oberkammer - Pairskammer, Senat -

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kein organisches Daseinsrecht hat, daß sie nicht im Lande wurzelte, das sie in keiner Weise vertritt; sie hat infolgedessen keine, weder materielle noch moralische Macht, die ihr eigen ist; sie ist nur da zum Vergnügen der ausführenden Macht, wie eine Nebenstelle der letz-teren. Sie ist ein sehr nützliches Instrument, um oft die Macht der eigentlichen Volkskammer, der sogenannten Vertretung der nationalen Freiheit, zu lähmen und zu vernichten; ein Instrument, um Despotismus unter ver-fassungsmäßigen Formen auszuüben, wie wir es in Preußen gesehen haben und wie wir es noch lange in Deutschland sehen werden. Sie kann aber der Macht diesen Dienst nur erweisen, wenn diese letztere durch sich selbst stark ist; sie fügt ihrer Kraft nichts hinzu, da sie selbst erst durch die (Regierungs-) Macht stark ist, ebenso wie die Bürokratie. Jedesmal wenn eine Revolu-tion ausbricht, so verschwindet sie auch wie ein Schat-ten.) Mit der anderen, so wichtigen Frage des beschränkten oder des allgemeinen Wahlrechts ist es genauso. Logi-scherweise könnte man für alle mündigen Bürger das Wahlrecht fordern, und es gibt keinen Zweifel darüber, daß, je mehr Bildung und Wohlstand in den Massen sich verbreiten werden (was zum Glück für die Ausbeu-ter nie eintreffen wird, solange die Herrschaft der be-vorrechteten Klassen dauern wird, oder allgemein so-lange die Staaten existieren werden), desto mehr auch dieses Recht sich ausbreiten wird. Aber in den prakti-schen Fragen, besonders in denen, welche die gute Re-

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gierung und den Wohlstand eines Landes betreffen, müssen die Erwägungen des formellen Rechts denen des öffentlichen Interesses nachstehen. Es ist klar, daß die unwissenden Massen zu leicht dem verderblichen Einfluß der Gaukler unterworfen sind. (Man betrachte den Einfluß der Priester und der Groß-grundbesitzer auf dem Lande, den der Advokaten und Staatsbeamten in den Städten19.) Sie haben kein anderes materielles Mittel, um den Cha-rakter, die wahren Gedanken und wirklichen Absichten der einzelnen (der Politiker aller Schattierungen) , die sich ihrem Votum empfehlen, kennenzulernen ; das Denken und Wollen der Massen ist fast immer das Denken und Wollen derjenigen, die irgendein Interesse haben, sie so oder so zu beeinflussen20. Andererseits hat das Proletariat, da es nichts besitzt und rein nichts zu verlieren hat und obgleich es einen gro-ßen Teil der Bevölkerung ausmacht, keinerlei Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Ordnung, und deshalb würde es keine guten Abgeordneten wählen können. Es zieht Demagogen immer den konservativen Männern vor. Um wirksam und ernst zu sein, muß die Vertretung eines Landes der getreue Ausdruck seines Denkens und Wollens sein. Dieses Denken und Wollen findet sich aber nur wirklich bewußt in den gebildeten und besit-zenden Klassen eines Landes, die allein fähig sind, durch ihr tiefes Denken alle Staatsinteressen zu erfas-sen, die alle an der Aufrechterhaltung der Gesetze und der öffentlichen Ruhe lebhaft Anteil nehmen. (Das ist

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vollkommen richtig, und niemand wird die politische Fähigkeit der Bourgeoisie in Zweifel stellen können. Es ist sicher, daß sie viel besser als das Proletariat weiß, was sie will und wünschen muß, aus zwei Gründen: zu-erst, weil sie viel gebildeter ist als dieses, weil sie viel mehr Muße und viel mehr Mittel aller Art hat, um die Leute, welche sie wählt, kennenzulernen; dann, und das ist gerade der Hauptgrund, weil ihr Ziel weder neu noch ungeheuer groß ist, wie das des Proletariats; es ist im Gegenteil ganz allgemein bekannt und vollständig durch die Geschichte wie auch durch alle Vorausset-zungen der gegenwärtigen Lage bestimmt: dieses Ziel ist die Aufrechterhaltung ihrer politischen und wirt-schaftlichen Herrschaft. Es ist so klargestellt, daß es sehr leicht ist, zu wissen und zu erraten, welcher der Kandidaten, die sich um das Votum der Bourgeoisie bewerben, fähig sein wird, ihr wohl zu dienen und wel-cher nicht. Es ist also sicher oder fast sicher, daß die Bourgeoisie immer nach den innersten Wünschen ihres Herzens vertreten sein wird. Was aber nicht weniger sicher ist, ist, daß diese vom bourgeoisen Gesichtspunkt aus ausgezeichnete Vertretung vom Gesichtspunkt der Volksinteressen verdammenswert sein muß. Da die bourgeoisen Interessen denen der Arbeitermassen un-bedingt entgegengesetzt sind, so ist gewiß, daß ein bür-gerliches Parlament nie etwas anderes wird tun können, als die Sklaverei des Volkes gesetzlich zu machen und alle Maßnahmen zu bewilligen, die darauf ausgehen, sein Elend und seine Unwissenheit zu verewigen. Man

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muß wirklich sehr naiv sein, um zu glauben, ein bürger-liches Parlament könne aus freien Stücken für eine geis-tige, materielle und politische Befreiung des Volkes stimmen. Hat man jemals in der Geschichte gesehen, daß eine politische Körperschaft, eine bevorrechtete Klasse sich aus Liebe zur Gerechtigkeit und zum Men-schentum aufgegeben und das Geringste von ihren Inte-ressen und sogenannten Rechten geopfert hat? Ich glaube schon gezeigt zu haben, daß sogar jene berühm-te Nacht vom 4. August, als der französische Adel e-delmütig seine Vorrechte auf dem Altare des Vaterlan-des opferte, nichts als eine erzwungene und späte Folge der furchtbaren Bauernerhebung war, bei der die Bau-ern überall die Adelsbriefe und Schlösser ihrer Herren verbrannten. Nein, die Klassen haben sich nie geopfert und werden es nie tun, weil das ihrer Natur, ihrem Da-seinsrecht zuwiderläuft, und nichts wird und kann ge-gen die Natur und das Recht geschehen. Derjenige, welcher von irgendeiner bevorrechteten Versammlung Maßnahmen und Gesetze für das Volk erwarten würde, wäre verrückt!) Aus allem, was soeben gesagt wurde, ergibt sich, daß es vollkommen rechtmäßig, weise und notwendig ist, in der Praxis das Wahlrecht zu beschränken. Das beste Mittel, es zu beschränken, ist aber die Aufstellung eines Wahlzensus, einer Art beweglicher politischer Leiter, die doppelten Nutzen hat: erstens schützt sie den Wahl-körper gegen das brutale Drängen der unwissenden Massen, zu gleicher Zeit erlaubt es ihm nicht, sich als

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aristokratischen und geschlossenen Körper zu bilden, indem er ihn immer all denen offenhält, die durch ihre Intelligenz, Arbeitsenergie und weises Sparen sich ein bewegliches oder unbewegliches Eigentum zu erwerben verstanden und die verlangte Höhe direkter Steuern bezahlten. Allerdings hat dieses System das Unge-schickte, daß es aus dem Wahlkörper eine ziemlich beträchtliche Anzahl von Fähigen ausschließt; um das auszugleichen, hatte man vorgeschlagen, auch die Tüchtigen zuzulassen. Aber außer der Schwierigkeit, die entstünde, wenn man bestimmen wollte, welches die wirklich Tüchtigen sind, sofern man nicht als Tüch-tige die anerkennt, welche ihr Gymnasiumsdiplom er-langt haben, gibt es noch eine viel richtigere Erwägung, die sich dieser Zuziehung der sogenannten Fähigen entgegenstellt. Um ein guter Wähler zu sein, genügt es nicht, intelligent und gebildet zu sein, ja sogar nicht einmal viel Talent zu haben, man muß noch vor allem moralisch sein. Wie aber zeigt sich die Sittlichkeit eines Menschen? Durch seine Fähigkeit, Eigentum zu erwer-ben, wenn er arm geboren ist, oder es zu erhalten oder zu vermehren, wenn er das Glück gehabt hat, es zu er-ben21. Die Grundlage der Moral ist die Familie; die Familie aber hat als Grundlage und wirkliche Voraussetzung das Eigentum; wonach es augenscheinlich ist, daß das Eigentum als Voraussetzung und Beweis des sittlichen Wertes eines Menschen betrachtet werden muß. Ein intelligenter, tatkräftiger und rechtschaffener Mensch

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wird nie verfehlen, dieses Eigentum zu erwerben, wel-ches die gesellschaftlich notwendige Voraussetzung der Achtung des Bürgers und Menschen ist, der Ausdruck seiner Manneskraft, das sichtbare Zeichen seiner Fä-higkeiten und zugleich seiner rechtschaffenen Anord-nungen und Absichten. Die Ausschließung der nicht besitzenden Tüchtigen ist also nicht nur tatsächlich, sondern auch im Prinzip eine vollständig rechtmäßige Maßregel. Sie ist ein Anreiz für alle wirklich recht-schaffenen und tüchtigen Menschen und eine gerechte Strafe für die, welche fähig waren, Eigentum zu erwer-ben, und es vernachlässigt oder verachtet, es zu tun. Diese Vernachlässigung und diese Verachtung können als Quelle nur die Faulheit, die Feigheit oder die Leicht-fertigkeit des Charakters, die Haltlosigkeit des Geistes haben. Das sind ganz gefährliche Menschen; je größer ihre Fähigkeiten sind, desto mehr sind sie verdam-menswert und desto strenger müssen sie gestraft wer-den; denn sie tragen Unordnung und Unsittlichkeit in die Gesellschaft. (Pilatus hatte recht, als er Jesus Chris-tus wegen seiner religiösen und politischen Ansichten festnehmen ließ; er hätte ihn als Müßiggänger und Landstreicher ins Gefängnis werfen sollen.) Begabte Menschen, die ihr Glück nicht machen, können zwei-felsohne sehr gefährliche Demagogen, aber nie nützli-che Bürger werden. Der so aufgebaute Staat ist die erste Voraussetzung oder die Grundlage und gleichzeitig das höchste Ziel

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aller menschlichen Kultur. Er ist ihr erhabenster Aus-druck auf dieser Erde. Außerhalb des Staates ist keine Kultur oder Humanisie-rung der Menschen möglich, wenn man sie vom indivi-duellen Gesichtspunkt als getrennt freie Wesen als auch vom kollektiven Gesichtspunkt als menschliche Gesell-schaft betrachtet. Jeder ist dem Staat Dank schuldig, da ja der Staat die höchste Voraussetzung des Menschen-tums eines jeden und aller ist. Der Staat stellt sich also jedem als der einzige Vertreter des Guten, des Heiles, der Gerechtigkeit aller dar. Er beschränkt die Freiheit eines jeden im Namen der Freiheit aller, die persönli-chen Interessen eines jeden im Namen des gemeinsa-men Interesses der ganzen Gesellschaft22. Im Namen jener Fiktion, die sich bald das Ge-samtinteresse, das Gesamtrecht, bald den gemeinsamen Willen und die gemeinsame Freiheit nennt, proklamie-ren die jakobinischen Absolutisten der Schule Jean Jacques Rousseaus und Robespierres die bedrohliche und grausame Theorie von dem absoluten Recht des Staates, während die monarchischen Absolutisten sie mit viel mehr logischer Konsequenz auf die Gnade Got-tes stützen. Die liberalen Doktrinäre, mindestens die unter ihnen, welche die liberalen Theorien ernst neh-men, gehen aus von dem Prinzip der individuellen Frei-heit und stellen sich sogleich - wie man weiß - in Ge-gensatz zu dem des Staates. Sie haben zuerst ausge-sprochen, daß die Regierung, d. h. der so oder so orga-nisierte Beamtenkörper, welcher eigens dazu berufen

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ist, die Arbeit des Staates auszuführen, ein notwendiges Übel sei, und daß die ganze Kultur darin bestände, im-mer mehr und mehr ihre Befugnisse und Rechte zu ver-mindern. Dennoch sehen wir, daß in der Praxis, jedes-mal wenn die Existenz des Staates ernstlich in Frage gestellt wird, die liberalen Doktrinäre sich als nicht weniger fanatische Anhänger des absoluten Rechts des Staates als die jakobinischen und monarchischen Ab-solutisten zeigen. Ihre Verehrung des Staates, ihren liberalen Grund-sätzen, scheinbar wenigstens, direkt entgegengesetzt, erklärt sich auf zweierlei Weise: Zuerst praktisch durch das Interesse ihrer Klasse: die ungeheuere Mehrheit der liberalen Doktrinäre gehört der Bourgeoisie an. Diese so große und beachtenswerte Klasse wünscht nicht mehr, als das Recht oder vielmehr das Vorrecht der vollkommensten Anarchie mit sich in Einklang zu brin-gen; ihre ganze soziale Ökonomie, die tatsächliche Grundlage ihrer politischen Existenz, hat bekanntlich kein anderes Gesetz als diese Anarchie, die in den so berühmt gewordenen Worten: »Laissez faire et laissez passer« ihren Ausdruck findet. Aber sie liebt diese A-narchie nur um ihretwillen und nur unter der Bedin-gung, daß die Massen, »zu unwissend, um daraus Nut-zen zu ziehen«, der strengsten Staatsdisziplin unterwor-fen bleiben. Denn wenn die Massen, überdrüssig für andere zu arbeiten, sich empörten, würde die ganze politische und soziale Existenz der Bourgeoisie zu-sammenbrechen. Deshalb sehen wir auch immer, daß,

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wenn die Arbeitermassen sich erheben, die begeisterts-ten liberalen Bourgeois plötzlich die versessensten An-hänger der Allmacht des Staates werden. Und da die Unruhe der Massen heute ein wachsendes und ständiges Übel wird, sehen wir die liberalen Bourgeois, sogar in den liberalsten Ländern, sich mehr und mehr zur Vereh-rung der absoluten Macht bekehren. Neben diesem praktischen Grund gibt es einen anderen von ganz theoretischer Natur, der die aufrichtigsten Liberalen gleichfalls immer wieder zur Verehrung des Staates zurückkehren läßt. Sie sind und nennen sich Liberale, weil sie die persönliche Freiheit als Grundlage und Ausgangspunkt ihrer Theorie nehmen, und gerade weil sie diesen Ausgangspunkt oder diese Grundlage haben, müssen sie, infolge einer verhängnisvollen Kon-sequenz, bei der Anerkennung des absoluten Rechtes des Staates ankommen. Die persönliche Freiheit ist nach ihnen keineswegs ein Werk, ein historisches Produkt der Gesellschaft. Sie behaupten, daß sie jeder Gesellschaft vorangehe und daß jeder Mensch sie mit seiner unsterblichen Seele als ein Geschenk Gottes mitbringe. Woraus hervorgeht, daß der Mensch nur außerhalb der Gesellschaft ganz er selbst, ein ganzes und gewissermaßen absolutes Wesen ist. Da er selbst vor und außerhalb der Gesellschaft frei ist, bildet er diese notwendigerweise durch einen Wil-lensakt und durch eine Art Vertrag, sei es instinktiv oder stillschweigend, sei es überlegt und förmlich. Mit einem Wort: In dieser Theorie sind es nicht die Indivi-

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duen, die durch die Gesellschaft geschaffen werden, es sind im Gegenteil sie, welche sie schaffen, gedrängt von irgendeiner äußeren Notwendigkeit, wie Arbeit oder Krieg. Man sieht, daß in dieser Theorie die eigentliche Gesell-schaft nicht existiert; die natürliche menschliche Ge-sellschaft, der tatsächliche Ausgangspunkt jeder menschlichen Kultur, das einzige Milieu, in welchem die Persönlichkeit und die Freiheit des Menschen wirk-lich entstehen und sich entwickeln können, ist ihr voll-ständig unbekannt. Sie anerkennt nur auf der einen Sei-te die durch sich selbst seienden Individuen, frei von sich selbst, und auf der anderen jene vertragsmäßige Gesellschaft, durch jene Individuen willkürlich gebildet und auf einen förmlichen oder stillschweigenden Ver-trag, d. h. auf den Staat, gegründet. (Sie wissen sehr gut, daß kein historischer Staat jemals einen Vertrag zur Grundlage hat und daß alle durch Gewalttätigkeit und Eroberung geschaffen wurden. Aber sie bedürfen eben dieser Fiktion vom freien Vertrag, der Grundlage des Staates, und sie bringen sich mit ihr ohne viele Um-stände in Übereinstimmung.) Die menschlichen Individuen, von denen die vertraglich zusammengeschlossenen den Staat bilden, erscheinen in dieser Theorie als ganz seltsame Wesen voller Wider-sprüche. Jedes mit einer unsterblichen Seele und einer Freiheit oder einem freien Willen, die ihnen nicht ge-nommen werden können, begabt, sind sie einerseits unendliche, absolute und als solche in sich und durch

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sich selbst vollkommene Wesen, die sich selbst genü-gen und niemanden nötig haben, selbst nicht die Stren-ge Gottes, weil sie, unsterblich und unendlich, selbst Götter sind. Andererseits sind sie sehr tierisch-materielle, schwache, unvollkommene und beschränkte Geschöpfe, ganz und gar abhängig von der äußeren Natur, die sie bestimmt, entwickelt und schließlich, früher oder später, auflöst. Vom ersten Standpunkt aus betrachtet, bedürfen sie so wenig der Gesellschaft, daß ihnen diese vielmehr ein Hindernis für die Vollkom-menheit ihres Wesens, für ihre volle Freiheit ist. Auch haben wir gesehen, wie seit dem Anfange des Christen-tums heilige und strenge Männer, welche die Unsterb-lichkeit und das Heil ihrer Seelen ernst nahmen, ihre gesellschaftlichen Bindungen zerbrochen und, jedem menschlichen Verkehr fliehend, in der Einsamkeit die Vollkommenheit, die Tugend, Gott gesucht haben. Mit vielem Recht und mit viel logischer Konsequenz haben sie die Gesellschaft als eine Quelle der Verderbtheit und die vollständige Vereinsamung der Seele als die Voraussetzung aller Tugenden angesehen. Wenn sie ihre Einsamkeit verließen, so geschah das nie aus Be-dürfnis, sondern aus Edelmut, aus ausschließlicher Nächstenliebe zu den Menschen, die fortfuhren, sich im Kreise der Gesellschaft zu verderben, die ihres Rates, ihrer Gebete und ihrer Leitung bedurften. Immer ge-schah das, um die anderen zu retten, nie um sich selbst zu retten und zu vervollkommnen. Im Gegenteil: sie wagten sogar den Verlust ihrer Seelen, wenn sie in die

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Gesellschaft zurückkehrten, welche sie als die Schule aller Verderbnisse mit Entsetzen geflohen hatten, wes-halb sie jedesmal, sofort nachdem sie ihr Werk vollen-det hatten, in die Wüste zurückkehrten, um sich dort, niemandem gegenüber als Gott allein, durch die unauf-hörliche Betrachtung ihres individuellen Wesens, ihrer einsamen Seele von neuem zu vervollkommnen. Das ist ein Beispiel, welches alle die befolgen sollten, die heute noch an die Unsterblichkeit der Seele, an die angeborene Freiheit oder den freien Willen glauben, sofern sie ihre Seelen retten und sie würdig auf das e-wige Leben vorbereiten wollen. Ich wiederhole es noch einmal: Die heiligen Einsiedler, die durch ihre Isolie-rung zu einer vollkommenen Schwachheit gelangten, handelten ganz logisch. Von dem Augenblick an, wo die Seele unsterblich, d. h. in ihrem Wesen unendlich, frei durch sich selbst ist, muß sie sich selbst genügen. Nur die vergänglichen, beschränkten und endlichen Wesen können sich gegenseitig vervollkommnen; das Unendliche vervollkommnet sich nicht. Wenn es auf etwas anderes trifft, das nicht es selbst ist, fühlt es sich im Gegenteil eingeschränkt, wovor es zu fliehen gilt, wo es gilt, alles zu ignorieren, was nicht es selbst ist. Strenggenommen, sagte ich, müßte die unsterbliche Seele sogar Gott entbehren können. Ein in sich selbst unendliches Wesen kann kein anderes, ihm ebenbürti-ges, anerkennen, noch weniger eines, das über ihm steht. Jedes Wesen, das ebenso unendlich wäre, wie es selbst und das ein anderes wäre, würde ihm eine Grenze

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setzen und damit aus ihm ein endliches und beschränk-tes Wesen machen. Wenn die unsterbliche Seele außer-halb ihrer selbst ein ebenso unendliches Wesen, wie sie selbst, anerkennt, anerkennt sie sich als endliches We-sen. Denn das Unendliche ist in Wirklichkeit nur das, was alles umfaßt, was nichts außerhalb läßt. Umso mehr kann und darf ein unendliches Wesen eines, das über ihm steht, nicht anerkennen. Das Unendliche läßt kein Relatives, kein Vergleichendes zu; jene Worte von höherer und niederer Unendlichkeit sind also Unsinn. Gott ist sicherlich eine Ungereimtheit. Die Theologie, die das Vorrecht hat, absurd zu sein und die Dinge glaubt, gerade weil sie albern sind, hat über die unsterb-lichen und deshalb unendlichen Menschenseelen die höhere, absolute Unendlichkeit Gottes gesetzt. Um sich zu verbessern, hat sie die Fiktion vom Teufel, der gera-de die Empörung eines unendlichen Wesens gegen die Existenz einer absoluten Unendlichkeit darstellt, ge-schaffen. Und ebenso wie der Teufel sich gegen die höhere Unendlichkeit Gottes empörte, ebenso haben die heiligen Einsiedler des Christentums, zu demütig, um sich gegen Gott zu empören, gegen die gleiche Unend-lichkeit der Menschen, gegen die Gesellschaft sich auf-gelehnt. Sie haben mit viel Recht erklärt, daß sie kein Bedürfnis hätten, sich zu retten und daß ihnen, da sie einmal un-endlich waren und durch ein seltsames Verhängnis ge-fallen seien, die Gesellschaft Gottes, die Betrachtung

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ihrer selbst in Gegenwart dieser absoluten Unendlich-keit, genüge. Ich sage es noch einmal: Das ist ein Beispiel, dem die folgen müssen, welche noch an die Unsterblichkeit der Seele glauben. Von diesem Standpunkt aus gesehen, kann ihnen die Gesellschaft nichts bieten als den siche-ren Untergang. Was gibt sie denn dem Menschen? Die materiellen Reichtümer vor allem, die nur durch ge-meinsame Arbeit in genügender Menge hervorgebracht werden können. Aber müssen diese Reichtümer für den, der an ein ewiges Dasein glaubt, nicht ein Gegenstand der Verachtung sein? Hat Jesus Christus nicht zu seinen Jüngern gesagt: »Raffet keine Schätze zusammen in dieser Welt, denn da wo eure Schätze sind, da ist euer Herz«, - und ein anderes Mal: »Ein Kamel wird viel leichter durch ein Nadelöhr gehen, als daß ein Reicher in das himmlische Reich eingehe.« (Ich denke immer an die Gesichter, welche die frommen und reichen pro-testantischen Bourgeois Englands, Amerikas, Deutsch-lands und der Schweiz machen müssen, wenn sie diese für sie so entscheidenden und unangenehmen Sätze lesen.) Jesus Christus hat recht: Zwischen der Gier nach mate-riellen Reichtümern und dem Heile unsterblicher See-len besteht unbedingte Unvereinbarkeit. Und ist es dann, sofern man wirklich an die Unsterblichkeit der Seele glaubt, nicht besser, auf die Bequemlichkeit und den Luxus, den die Gesellschaft bietet, zu verzichten und von Wurzeln zu leben, wie es die Einsiedler ge-

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macht haben, und dadurch seine Seele für die Ewigkeit zu retten, als sie um den Preis einiger Jahrzehnte mate-rieller Genüsse zu verlieren? Diese Erwägung ist so einfach, so augenscheinlich richtig, daß wir gezwungen sind, zu glauben, die frommen und reichen Bourgeois, Bankiers, Industriellen und Kaufleute, welche mit den bekannten Mitteln so ausgezeichnete Geschäfte ma-chen, und dabei immer die Worte des Evangeliums im Munde führen, rechneten keineswegs mit der Unsterb-lichkeit der Seele, daß sie dies großmütig dem Proleta-riat überließen, während sie sich bescheiden die er-bärmlichen materiellen Güter, die sie auf dieser Erde ansammeln, vorbehalten. Was gibt die Gesellschaft außer den materiellen Gütern noch? Sinnliche, menschliche, irdische Leiden, Zivilisa-tion und Kultur des Geistes, alles Dinge, welche vom menschlichen, vergänglichen und irdischen Standpunkt aus unermeßlich sind, die aber vor der Ewigkeit, vor der Unsterblichkeit, vor Gott gleich Null sind. Ist nicht die größte menschliche Weisheit vor Gott Torheit? Eine Legende der orientalischen Kirche erzählt, daß zwei heilige Einsiedler sich freiwillig einige Jahrzehnte lang auf eine wüste Insel zurückgezogen hätten, daß sogar der eine vom anderen sich trennte, daß sie Tag und Nacht im Gebete und in der Betrachtung verharr-ten, daß sie schließlich den Gebrauch der Sprache ver-loren; von ihrem ursprünglichen Wortschatz hatten sie nur drei oder vier Wörter bewahrt, die in ihrer Gesamt-heit keinen Sinn ergaben, welche aber vor Gott das er-

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habenste Trachten ihrer Seelen ausdrückten. Sie lebten natürlich von Wurzeln, wie die kräuterfressenden Tiere. Vom menschlichen Gesichtspunkt aus waren diese Männer Dummköpfe oder Narren, aber vom göttlichen, von dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele aus, haben sie sich als weit tiefere Denker gezeigt wie Gali-lei und Newton. Denn sie haben einige Jahrzehnte irdi-schen Glücks und weltlichen Geistes geopfert, um die ewige Seligkeit und den göttlichen Geist zu gewinnen. Es ist also klar, daß, sobald der Mensch mit einer un-sterblichen Seele, mit einer Unendlichkeit und einer dieser Seele fest verbundenen Freiheit begabt ist, er ein ausgesprochen antisoziales Wesen ist. Wenn er immer klug gewesen wäre, wenn er sich ausschließlich mit der Ewigkeit beschäftigt hätte, hätte er die Kraft gehabt, alle Güter, alle Leiden und Eitelkeiten dieser Welt zu verachten, wäre er nie herausgetreten aus jenem Zu-stande göttlicher Unwissenheit und Schwachheit und hätte nie eine Gesellschaft gebildet. Mit einem Wort: Adam und Eva hätten nie die Frucht vom Baume der Erkenntnis gegessen und wir alle hätten wie Tiere in jenem irdischen Paradies, das Gott ihnen als Auf-enthalt anwies, gelebt. Aber von dem Augenblick an, wo die Menschen erkennen, sich bilden, zu Menschen werden, denken, sprechen und die materiellen Güter genieß en wollten, haben sie notwendigerweise ihre Einsamkeit verlassen und sich in einer Gesellschaft vereinigen müssen. Denn je mehr sie innerlich unend-lich, unsterblich und frei sind, desto mehr sind sie äu-

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ßerlich beschränkt, sterblich, schwach und von der äu-ßeren Welt abhängig. Vom Gesichtspunkt ihrer irdischen Existenz aus be-trachtet, nicht ihrer eingebildeten, sondern ihrer tatsächlichen, bietet die Masse der Menschen einen derart entwürdigenden Anblick, so bar jeglicher Initia-tive, so bar des Willens und des Geistes, daß schon viel dazu gehört, um sich der Täuschung hinzugeben, man könne unter ihnen eine unsterbliche Seele und auch nur den Schatten eines irgendwie freien Willens finden. Sie erscheinen uns als durchaus vom Schicksal bestimmte Wesen: bestimmt vor allem durch die äußere Natur, durch die Gestaltung des Bodens und all die materiellen Voraussetzungen ihres Daseins; bestimmt durch die unzähligen politischen, religiösen und sozialen Bezie-hungen, durch Sitten, Gebräuche, Gesetze, durch eine ganze Welt von langsam von den vergangenen Jahr-hunderten ausgebildeten Gedanken und Vorurteilen, die sie bei ihrer Geburt in der Gesellschaft vorfinden, die sie niemals geschaffen haben; vielmehr sind sie zu-nächst ihre Geschöpfe und später ihre Werkzeuge. Un-ter tausend Menschen wird man kaum einen finden, von dem man - nicht absolut, sondern nur relativ - sagen kann, daß er von sich selbst aus wolle und denke. Die ungeheuere Mehrheit aller Menschen, nicht nur der unwissenden Massen, sondern ebensogut der höheren und bevorrechteten Klassen, will und denkt nur das, was jedermann um sie herum auch denkt und will; zweifellos glauben sie, daß sie selbständig wollen und

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denken, aber sie geben nur knechtisch, mechanisch, gewohnheitsmäßig mit ganz und gar unmerklichen und wertlosen Abänderungen die Gedanken und das Wollen der anderen wieder. Dieses Knechtische, dieses Ge-wohnheitsmäßige, diese unversiegbaren Quellen der Banalität und des Gemeinplatzes, dieses Fehlen einer Empörung des Willens und dieses Fehlen von Initiative in dem Denken der Menschen sind die Hauptursachen der traurigen Langsamkeit der geschichtlichen Entwick-lung der Menschheit. Uns Materialisten oder Realisten, die wir weder an eine unsterbliche Seele, noch an einen freien Willen glauben, erscheint diese Langsamkeit, so betrübend sie sein mag, als eine natürliche Sache. Von der Stufe des Affen ausgegangen, kommt der Mensch nur sehr schwer zum Bewußtsein seines Menschentums und zur Verwirklichung seiner Freiheit. Zunächst kann er weder dieses Bewußtsein, noch diese Freiheit haben; er kommt in die Welt als wildes Tier und als Sklave, und nur im Schöße der Gesellschaft, die notwendig vor der Entstehung seines Denkens, seiner Sprache und seines Willens da ist, wird er fortschreitend Mensch und frei; er kann das nur tun durch die gemeinsamen Anstrengungen aller ehemaligen und gegenwärtigen Glieder dieser Gesellschaft, die demnach die natürliche Grundlage und der Ausgangspunkt seines menschlichen Daseins ist. Daraus geht hervor, daß der Mensch seine individuelle Freiheit oder seine Persönlichkeit nur da-durch verwirklicht, daß er sich mit allen Individuen, welche ihn umgeben, vervollständigt, daß er dies nur

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kann durch die gemeinsame Arbeit und Kraft der Ge-sellschaft, außerhalb derer er zweifelsohne unter allen wilden Tieren, welche auf der Erde existieren, das dümmste und elendeste bleiben würde. Im System der Materialisten, das das allein natürliche und logische ist, schafft erst die Gesellschaft, weit entfernt davon, die Freiheit zu verringern und zu beschränken, die Freiheit der menschlichen Individuen. Sie ist die Wurzel, der Baum, die Freiheit ihre Frucht. Deshalb hat der Mensch zu jeder Zeit seine Freiheit nicht im Anfang, sondern am Ende der Geschichte zu suchen, und man kann sa-gen, daß die tatsächliche und vollständige Befreiung jedes Menschen das große Ziel, das erhabene Ende der Geschichte ist. Alles andere ist die Ansicht der Idealisten. In ihrem System, zeigt sich der Mensch zuerst als unsterbliches, freies Wesen, um als Sklave zu enden. Als unsterblicher und freier Geist, unendlich und vollkommen in sich selbst, bedarf er keiner Gesellschaft, woraus hervor-geht, daß, wenn er eine Gesellschaft bildet, dies nur geschehen kann durch eine Art Verlust oder weil er das Bewußtsein seiner Unsterblichkeit und seiner Freiheit verliert. Als widerspruchsvolles Wesen, innerlich als Geist, aber äußerlich abhängig, unvollkommen und ma-teriell, ist er gezwungen, sich mit anderen Menschen zu vereinigen, nicht seiner seelischen Bedürfnisse wegen, sondern zur Erhaltung seines Körpers. Die Gesellschaft bildet sich also nur durch eine Art Opfer von Interessen und Unabhängigkeit der Seele an die verächtlichen Be-

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dürfnisse des Leibes. Das ist ein wirklicher Verlust, eine wirkliche Knechtung des innerlich unsterblichen und freien Individuums, ein wenigstens teilweiser Ver-zicht auf seine ursprüngliche Freiheit. Man kennt die sakramentale Phrase, die in der Sprache der Anhänger des Staates und des Rechts, diesen Ver-lust und dieses Opfer, diesen ersten unheilvollen Schritt zur menschlichen Knechtschaft ausdrückt. Das Indivi-duum, welches im Naturzustande, d. h. bevor es Mit-glied irgendeiner Gesellschaft wurde, sich einer voll-ständigen Freiheit erfreute, bringt beim Eintritt in diese das Opfer eines Teils seiner Freiheit, damit ihm die Gesellschaft für den Rest garantiere. Wer eine Erklä-rung dieser Phrase fordert, dem antwortet man gewöhn-lich mit einer anderen: »Die Freiheit jedes menschli-chen Individuums darf keine anderen Grenzen haben als die aller anderen Individuen.« Anscheinend nichts richtiger als das? Und trotzdem enthält diese Theorie im Keim die ganze Theorie des Despotismus. Gemäß den Grundideen der Idealisten aller Schulen und im Gegensatz zu allen wirklichen Tatsachen, erscheint das menschliche Individuum als ein unbedingt freies Wesen solange und nur so lange, als es außerhalb der Gesellschaft bleibt, woraus hervor-geht, daß diese letztere, betrachtet und aufgefaßt einzig als rechtliche und politische Gesellschaft, d. h. als Staat, die Verneinung der Freiheit ist. Das ist das Ergebnis des Idealismus; es ist, wie man sieht, den Folgerungen des Materialismus direkt entgegengesetzt, der entsprechend

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dem, was in der tatsächlichen Welt vorgeht, die indivi-duelle Freiheit der Menschen in der Gesellschaft, als eine notwendige Konsequenz der Gesamtentwicklung der Menschheit, entstehen läßt. Die materialistische, realistische und kollektivistische Erklärung der Freiheit, welche derjenigen der Idealisten ganz entgegengesetzt ist, ist folgende : Nur in der Ge-sellschaft und nur durch die gemeinsame Tätigkeit der ganzen Gesellschaft wird der Mensch Mensch, kommt er zum Bewußtsein sowohl als auch zur Verwirklichung seines Menschentums ; nur durch die gemeinsame oder soziale Arbeit, welche allein imstande ist, die Ober-fläche der Erde in einen der Entwicklung der Mensch-heit günstigen Aufenthaltsort umzuwandeln, befreit er sich vom Joch der äußeren Natur; ohne diese materielle Befreiung kann es für niemand eine geistige und mora-lische geben. Nur durch Erziehung und Bildung kann er sich vom Joche seiner eigenen Natur freimachen, nur durch sie kann er die Triebe und Regungen seines eige-nen Körpers seinem mehr und mehr entwickelten Geis-te unterwerfen; sowohl die eine als auch die andere sind im höchsten Grade ausschließlich soziale Angelegen-heiten; außerhalb der Gesellschaft wäre der Mensch eben ewig ein wildes Tier oder ein Heiliger, was auf dasselbe hinausläuft. Endlich kann der isolierte Mensch kein Bewußtsein seiner Freiheit haben. Für den Men-schen bedeutet frei sein, von einem anderen Menschen, von allen ihn umgebenden Menschen als frei anerkannt, betrachtet und behandelt zu werden. Die Freiheit ist

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also keineswegs Sache der Isolierung, sondern der ge-genseitigen Anerkennung, keine Sache der Ab-geschlossenheit, sondern im Gegenteil der Vereinigung; die Freiheit jedes Menschen ist nichts anderes als die Spiegelung seines Menschentums oder seiner Men-schenrechte im Bewußtsein aller freien Menschen, sei-ner Brüder, seiner Genossen. Nur in Gesellschaft anderer Menschen kann ich mich als frei ansehen und fühlen. Einem Tiere niederer Gat-tung gegenüber bin ich weder frei noch Mensch, weil dieses Tier unfähig ist, mein Menschentum zu begreifen und deshalb auch anzuerkennen. Nur solange ich die Freiheit und das Menschentum aller Menschen, die mich umgeben, anerkenne, bin ich selbst Mensch und frei. Nur wenn ich ihren menschlichen Charakter aner-kenne, anerkenne ich auch den meinen. Ein Menschen-fresser, der seinen Gefangenen verspeist, ihn als wildes Tier behandelt, ist kein Mensch, sondern ein Tier. Ein Sklavenhalter ist kein Mensch, sondern ein Herr. Weil er das Menschentum seiner Sklaven nicht kennt, kennt er sein eigenes nicht. Die ganze antike Gesellschaft liefert uns dafür einen Beweis: Die Griechen, die Rö-mer fühlten sich nicht frei als Menschen, sie betrachte-ten sich nicht durch die Menschenrechte als solche; sie hielten sich unter dem besonderen Schutz ihrer nationa-len Götter für Privilegierte, für Griechen und Römer nur im Schöße ihres eigenen Vaterlandes, solange es unabhängig, ununterworfen und im Gegensatz zu ande-ren Ländern erobernd blieb; sie verwunderten sich kei-

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neswegs, noch glaubten sie das Recht und die Pflicht zu haben, sich zu empören, wenn sie, besiegt, selbst in Sklaverei gerieten. Es ist das große Verdienst des Christentums, das Men-schentum aller menschlichen Wesen, die Frauen inbe-griffen, die Gleichheit aller Menschen vor Gott verkün-det zu haben. Aber wie hat es dies verkündet? Für den Himmel, für das zukünftige Leben, nicht für das ge-genwärtige und wirkliche Leben, nicht für die Erde. Außerdem ist diese zukünftige Gleichheit noch eine Lüge, denn die Zahl der Auserwählten ist bekanntlich außerordentlich beschränkt. Über diesen Punkt sind die Theologen der verschiedensten christlichen Sekten ei-nig. Somit läuft die sogenannte christliche Gleichheit hinaus auf die schreiendste Bevorrechtigung einiger Tausender durch die göttliche Gnade Auserwählten gegenüber Millionen von Verdammten. Dann würde diese Gleichheit aller vor Gott, selbst wenn sie sich für jeden verwirklichen sollte, nichts anderes sein, als die gleiche Nichtigkeit und Sklaverei aller vor einem erha-benen Herrn. Ist nicht das Fundament des christlichen Kults und die erste Voraussetzung des Heils der Ver-zicht auf Menschenwürde und die Verachtung dieser Würde angesichts der göttlichen Größe? Ein Christ ist also kein Mensch, in dem Sinne, daß er kein Bewußt-sein seines Menschentums hat, und weil er, da er seine Menschenwürde nicht achtet, die Menschenwürde der anderen nicht achten kann; und weil er die anderen nicht achtet, kann er seine eigene nicht achten. Ein

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Christ kann ein Prophet sein, ein Heiliger, ein Priester, ein König, ein Feldherr, ein Minister, ein Beamter, der Vertreter irgendeiner Autorität, ein Gendarm, ein Hen-ker, ein Adeliger, ein ausbeutender Bourgeois oder ein knechtischer Proletarier, ein Bedrücker oder ein Be-drückter, ein Folternder oder ein Gefolterter, ein Herr oder ein Söldling, er hat aber nicht das Recht, sich Mensch zu heißen, weil der Mensch nur dann wahrhaft Mensch wird, wenn er das Menschentum und die Frei-heit aller achtet und liebt, und wenn seine Freiheit und sein Menschentum von allen geübt, geweckt und ge-schaffen wird. Nur dann bin ich wahrhaft frei, wenn alle Menschen, die mich umgeben, Männer und Frauen, ebenso frei sind wie ich. Die Freiheit der anderen, weit entfernt davon, eine Beschränkung oder die Verneinung meiner Freiheit zu sein, ist im Gegenteil ihre notwendige Vor-aussetzung und Bejahung. Nur durch die Freiheit anderer werde ich wahrhaft frei, derart, daß, je zahlreicher die freien Menschen sind, die mich umgeben und je tiefer und größer ihre Freiheit ist, desto weiter, tiefer und größer auch die meine wird. Es ist im Gegenteil die Sklaverei der Menschen, die mei-ner Freiheit eine Schranke setzt oder, was dasselbe ist, ihre Bestialität ist eine Verneinung meines Men-schentums, weil, um es noch einmal zu sagen, ich nur dann frei sein kann, wenn meine Freiheit, oder, was das gleiche heißen will, wenn meine Menschenwürde, mein Menschenrecht, das darin besteht, daß ich keinem ande-

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ren Menschen gehorche und meine Handlungen nur durch meine eigenen Überzeugungen bestimmen lasse, widergespiegelt in dem gleichmäßig freien Bewußtsein aller, mir durch allgemeine Anerkennung bestätigt wird. Meine auf diese Weise durch die Freiheit aller bestätig-te persönliche Freiheit erstreckt sich ins Unendliche. Man sieht, daß die Freiheit, so wie sie von den Materia-listen aufgefaßt wird, eine sehr positive, sehr vollstän-dige und vor allem eine äußerst soziale Sache ist, weil sie nur in der Gesellschaft und nur in der strengsten Gleichheit und Solidarität aller verwirklicht werden kann. Man kann bei ihr drei Entwicklungsmomente, drei Elemente unterscheiden, von denen das erste im höchsten Grade positiv und sozial ist; es ist die volle Entwicklung und der volle Genuß aller menschlichen Fähigkeiten und Kräfte eines jeden durch die Er-ziehung, durch wissenschaftliche Belehrung und mate-rielles Glück, alles Dinge, die dem einzelnen nur durch die gemeinsame materielle und geistige, Muskel- und Nervenarbeit der ganzen Gesellschaft gegeben werden können. Das zweite Element der Freiheit ist negativ. Es ist die Empörung des menschlichen Individuums gegen jede göttliche und menschliche, gegen jede kollektive und individuelle Autorität. Zunächst ist das die Empörung gegen die Tyrannei des obersten Phantoms der Theologie, gegen Gott. Es ist klar, daß, solange wir im Himmel einen Herrn haben, wir auf der Erde Sklaven sind. Unsere Vernunft und

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unser Wille würden gleichfalls vernichtet sein. Solange wir glauben, ihm absoluten Gehorsam schuldig zu sein (und einem Gott gegenüber gibt es keinen anderen Ge-horsam), müßten wir uns notwendig der Autorität seiner Mittler und Auserwählten ohne Widerstand und ohne die geringste Kritik unterwerfen, als da sind: Messien, Propheten, von Gott erleuchtete Gesetzgeber, Kaiser, Könige und alle ihre Beamten und Minister, geweihte Vertreter und Diener zweier großer Institutionen, die sich uns darstellen als von Gott selbst zur Leitung der Menschen eingesetzt: der Kirche und des Staates. Jede irdische oder menschliche Autorität rührt unmittelbar von der geistlichen oder göttlichen her. Die Autorität ist aber die Verneinung der Freiheit. Gott, oder vielmehr die Fiktion Gott, ist also die Heiligung und die geistige und moralische Ursache aller Sklaverei auf Erden, und die Freiheit der Menschen wird erst dann vollkommen sein, wenn sie die unheilvolle Fiktion von einem himm-lischen Herrn ganz und gar vernichtet haben wird. Weiter ist es demzufolge die Empörung eines jeden gegen die Tyrannei der Menschen, gegen die, sei es individuelle oder soziale Autorität, die der Staat dar-stellt und durch Gesetze ausübt. Hier gilt es aber auf-zumerken, und deshalb ist es nötig, eine ganz genaue Unterscheidung zwischen der offiziellen und deshalb tyrannischen Autorität der im Staate organisierten Ge-sellschaft und dem natürlichen Einfluß und der natürli-chen Wirkung der nicht offiziellen, sondern natürlichen Gesellschaft auf jedes ihrer Glieder zu machen.

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Die Empörung gegen diesen natürlichen Einfluß der Gesellschaft ist für den einzelnen viel schwieriger als die Empörung gegen die offiziell organisierte Gesell-schaft, gegen den Staat, obgleich sie oft ebenso unver-meidlich sein wird wie die gegen die letztere. Die oft erdrückende und verhängnisvolle soziale Tyrannei zeigt nicht jenen Charakter gebieterischer Willkür, eines ge-setzlichen und formellen Despotismus, der die Autorität des Staates auszeichnet. Sie legt sich nicht auf wie ein Gesetz, dem jedes Individuum gezwungen ist, sich zu unterwerfen, will es einer gerichtlichen Strafe entgehen. Ihre Wirkung ist sanfter, einnehmender, viel unmerkli-cher, aber um ebensoviel mächtiger als die der Autorität des Staates. Sie beherrscht die Menschen durch die Sit-ten und Gebräuche, durch die Menge der Ansichten, Vorurteile und Gewohnheiten, sowohl des materiellen Lebens, als auch des Geistes und des Herzens, die in ihrer Gesamtheit das ausmachen, was wir die öffentli-che Meinung nennen. Sie umringt den Menschen von seiner Geburt an, sie durchdringt und erfüllt ihn und bildet sogar die Grundlage seines eigenen, persönlichen Daseins, derart, daß jeder gewissermaßen sich selbst gegenüber verantwortlich ist, meist ohne es zu ahnen. Daraus geht hervor, daß der Mensch, um sich gegen den Einfluß, den die Gesellschaft natürlicherweise auf ihn ausübt, zu empören, zum Teil wenigstens gegen sich selbst revoltieren muß, denn mit allen seinen mate-riellen, geistigen und moralischen Strebungen und Nei-gungen ist er nichts als ein Produkt der Gesellschaft.

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Daher jene ungeheuere Macht, welche die Gesellschaft auf die Menschen ausübt. Vom Gesichtspunkt der unbedingten Moral aus, d. h. von dem der menschlichen Achtung, werde ich sofort sagen, was ich unter diesem Worte verstehe; diese Macht der Gesellschaft kann wohltätig, sie kann aber auch verderblich sein. Sie ist wohltätig, wenn sie auf die Entwicklung der Wissenschaft, des materiellen Wohlstandes, der Freiheit, der Gleichheit und der brü-derlichen Solidarität gerichtet ist, sie ist verderblich, wenn sie die entgegengesetzten Tendenzen hat. Ein Mensch, der in einer Gesellschaft von Rohlingen gebo-ren wird, bleibt mit sehr wenigen Ausnahmen ein Roh-ling; wenn er in einer von Priestern regierten Gesell-schaft geboren wird, wird er ein Idiot, ein Scheinheili-ger; in einer Räuberbande geboren, wird er wahrschein-lich ein Räuber; in der Bourgeoisie geboren, wird er ein Ausbeuter der Arbeit anderer sein; und wenn er das Unglück hat, geboren zu werden in der Gesellschaft der Halbgötter, welche diese Erde beherrschen, der Adeli-gen, Fürsten, Könige, wird er je nach dem Grade seiner Fähigkeiten, seiner Mittel und seiner Macht ein Veräch-ter, ein Knechter des Menschentums, ein Tyrann sein. In allen diesen Fällen wird das Individuum, um zu sei-nem Menschentum zu gelangen, sich unweigerlich ge-gen die Gesellschaft, die es entstehen sah, empören müssen. Aber ich wiederhole es, die Empörung des Individuums gegen die Gesellschaft ist eine weit schwierigere Sache

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als die gegen den Staat. Der Staat ist eine geschichtli-che, vorübergehende Einrichtung, eine verschwindende Form der Gesellschaft, wie die Kirche, deren jüngerer Bruder er ist, aber er hat keineswegs den schicksal-bestimmten und unwandelbaren Charakter der Gesell-schaft, die jeder Entwicklung des Menschentums vo-rangeht, und die, vollkommen die Allmacht der natürli-chen Gesetze, Wirkungen und Erscheinungen teilend, die Grundlage jeder menschlichen Existenz bildet. Der Mensch entsteht in der Gesellschaft, mindestens von dem Augenblick an, wo er den ersten Schritt zum Men-schentum tat, wo er angefangen hat, ein menschliches, d. h. ein sprechendes und mehr oder weniger denkendes Wesen zu sein, wie die Ameise in ihrem Ameisenhau-fen und wie die Biene im Bienenstock entsteht; erwählt sie nicht, er ist im Gegenteil ihr Produkt, er ist ebenso schicksalbestimmt den natürlichen Gesetzen, welche seine notwendige Entwicklung leiten, unterworfen, wie er allen anderen natürlichen Gesetzen gehorcht. Die Gesellschaft ist vor jedem Individuum da und überlebt es zugleich, wie die Natur; sie ist ewig wie die Natur, oder vielmehr: entstanden auf der Erde, wird sie ebenso lange dauern, wie unsere Erde besteht. Eine radikale Empörung gegen die Gesellschaft wäre für den Menschen demnach ebenso unmöglich wie ein Aufleh-nen gegen die Natur, da ja die menschliche Gesellschaft nichts anderes ist, als die letzte große Offenbarung oder Schöpfung der Natur auf dieser Erde; und ein Indivi-duum, das die Gesellschaft, d. h. die Natur im allge-

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meinen und im besonderen seine eigene in Frage stellen wollte, würde sich dadurch außerhalb aller Vorausset-zungen einer wirklichen Existenz stellen, würde sich stürzen in das Nichts, in die unbedingte Leere, in die tote Abstraktion, in Gott. Man kann deshalb auch nicht fragen, ob die Gesellschaft ein Glück oder ein Übel sei, ebenso wie es unmöglich ist, zu fragen, ob die Natur, das allumfassende, materielle, wirkliche, einzige, erha-bene und unbedingte Wesen, ein Glück oder ein Übel sei; sie ist mehr als das; sie ist eine ungeheuere positive und unnahbare Tatsache, jedem Bewußtsein, jeder Idee, jeder geistigen und moralischen Wertung voraus-gehend, sie ist die Grundlage, die Welt, in welcher, durch das Schicksal bestimmt, später sich das ent-wickelt, was wir das Glück und das Übel nennen. Mit dem Staate ist es nicht so; ich zögere nicht, zu sa-gen, daß der Staat das Übel ist, aber ein geschichtlich notwendiges, ebenso notwendig in der Vergangenheit wie es früher oder später seine vollständige Vernich-tung sein wird, ebenso notwendig wie die anfängliche tierische Natur und die theologischen Verirrungen der Menschen. Der Staat ist aber keineswegs die Gesell-schaft, er ist nur eine ebenso brutale wie abstrakte histo-rische Form der Gesellschaft. Er entsteht in allen Län-dern aus der Ehe der Willkür, der Räuberei und der Plünderung, aus dem Krieg und der Eroberung, kurz gesagt, mit den von der theologischen Phantasie der Völker nacheinander geschaffenen Göttern. Er war zu seinem Beginn und bleibt es heute noch: die göttliche

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Weihe der brutalen Gewalt und der triumphierenden Härte. Selbst in den am meisten demokratischen Län-dern, wie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika und der Schweiz, ist er die regelmäßige Form des Vor-rechts irgendeiner Minderheit und der tatsächlichen Knechtung der großen Mehrheit. Die Empörung gegen den Staat ist viel leichter, weil in der Natur des Staates etwas zur Rebellion Aufreizendes liegt. Der Staat ist die Autorität, die Macht, das Prahlen und die Verdummung mit der Gewalt. Nicht sanft setzt er sich fest, er sucht nicht zu überzeugen: wenn er sich einmischt, tut er dies sehr ungern, denn seine Natur besteht nicht darin, zu überzeugen, sondern darin, Ein-druck zu machen, zu erzwingen, soviel Mühe er sich auch geben mag, seine Natur als Verletzer des Willens der Menschen, als beständige Verneinung ihrer Freiheit, zu maskieren. Selbst wenn er das Gute befiehlt, verdirbt und beschmutzt er es, gerade weil er es befiehlt, weil jeder Befehl die gerechte Empörung der Freiheit her-ausfordert, weil das Gute, wenn es befohlen wird, vom Standpunkt der wahren Moral, der menschlichen Moral aus, nicht von dem der göttlichen, vom Gesichtspunkt der menschlichen Achtung und Freiheit aus, das Übel wird. Die Freiheit, die Sittlichkeit und Würde des Men-schen besteht gerade darin, daß er das Gute tut, nicht weil es ihm befohlen wird, sondern weil er es begreift, weil er es will und liebt. Die Gesellschaft drängt sich nicht formell, offiziell und autoritär auf, sie tut es auf natürlichem Wege, deshalb ist auch ihre Wirkung auf

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das Individuum unvergleichlich mächtiger als die des Staates. Sie schafft und formt alle Individuen, welche in ihrem Schoße entstehen und sich entwickeln. Langsam, vom ersten Tage ihres Seins bis zu ihrem Todestage, läßt sie ihre eigene materielle, geistige und moralische Natur durch sie hindurchgehen; sie individualisiert sich gewissermaßen in jedem von ihnen. Das wirkliche menschliche Individuum ist so wenig ein universelles und abstraktes Wesen, daß jedes, von dem Augenblick an, wo es sich im Schöße seiner Mutter bildet, bestimmt und umschränkt ist durch eine Menge von Ursachen und Wirkungen materieller, geographi-scher, klimatischer, ethnographischer, hygienischer und deshalb ökonomischer Natur, welche eigentlich die ausschließlich seiner Familie, seiner Klasse und seiner Rasse eigentümliche materielle Natur ausmachen, und ebenso wie die Neigungen und Fähigkeiten der Men-schen von der Gesamtheit aller jener äußeren oder phy-sischen Einflüsse abhängen, ebenso kommt jeder in die Welt mit einer persönlichen Natur oder einem persönli-chen Charakter, der durchaus materiell bestimmt ist. Außerdem bringt der Mensch, dank der relativ hohen Organisation seines Hirns, bei der Geburt, mit ver-schiedenen Graden allerdings, nicht angeborene Ideen und Gefühle, wie die Idealisten behaupten, sondern die zugleich materielle und formelle Fähigkeit mit, zu füh-len, zu denken, zu sprechen und zu wollen. Er bringt nur die Fähigkeit, Ideen zu formen und zu entwickeln, und wie ich eben sagte, eine Kraft ganz formeller Akti-

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vität, ohne jeden Inhalt, mit sich. Wer gibt ihm seinen ersten Inhalt? Die Gesellschaft. Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, wie die ersten Begriffe und Ideen sich gebildet haben, deren Mehrzahl in den primitiven Gesellschaften natürlich sehr unge-reimt waren. Alles, was wir mit voller Gewißheit sagen können, ist, daß sie vor allem nicht vereinzelt und frei-willig durch den auf geheimnisvolle Weise erleuchteten Geist gottbegnadeter Individuen geschaffen wurden, sondern durch die gemeinsame Arbeit, sehr oft allen Individuen, die Teile dieser Gesellschaft waren, unbe-wußt, deren hervorragendste Vertreter, die Männer von Genie, nur die treueste und glücklichste Ausprägung dessen haben geben können, alle Genies waren immer wie Voltaire: »Sie nahmen ihr Gut überall da, wo sie es fanden.« Es ist also die gemeinsame geistige Arbeit der Gesellschaft, welche die ersten Ideen geschaffen hat. Diese Ideen waren zuerst nichts als einfache und natür-liche, sehr unvollkommene Feststellungen natürlicher und sozialer Tatsachen und alles weniger als verständ-nisvoll aus diesen Tatsachen gezogene Schlüsse. Das war der Anfang aller menschlichen Vorstellungen, Ein-fälle und Gedanken. Der Inhalt dieser Gedanken, weit entfernt davon, durch freiwillige Tätigkeit des Men-schengeistes geschaffen worden zu sein, wurde ihm zuerst durch die wirkliche, äußere und innere Welt ge-geben. Der Geist des Menschen, d. h. die ganz und gar organische und deshalb materielle Arbeit oder Tätigkeit seines Hirns, hervorgerufen durch äußere und innere

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Eindrücke, die seine Nerven passieren, fügt dazu nur eine ganz formelle Tätigkeit, die darin besteht, diese Eindrücke von Dingen und Tatsachen zu vergleichen und in richtigen oder falschen Systemen zusammenzu-fassen. Auf diese Art entstanden die ersten Ideen. Durch die Sprache gewannen diese Ideen oder vielmehr diese Einfälle an Genauigkeit und setzten sich fest, in-dem sie von einem Individuum auf das andere übergin-gen; so daß die individuellen Einfälle eines jeden zu-sammenstießen, sich gegenseitig kontrollierten, be-stimmten und abänderten, um schließlich mehr oder weniger zu einem einzigen System zu verschmelzen und endlich das gemeinsame Bewußtsein, das gemein-same Denken der Gesellschaft zu bilden. Diese von der Tradition von einer Generation auf die andere übertra-genen Gedanken entwickeln sich immer mehr und mehr durch die Verstandesarbeit von Jahrhunderten, und bil-den das geistige und moralische Erbgut einer Gesell-schaft, einer Klasse, eines Volkes. Jede Generation findet an ihrer Wiege eine ganze Welt von Ideen, Einfällen und Empfindungen, welche sie als das Erbe der vergangenen Jahrhunderte empfängt. Die-se Welt stellt sich dem neugeborenen Menschen zuerst nicht in ihrer idealen Form, als System der Vorstellun-gen und Ideen, als Religion, als Lehre dar; das Kind wäre weder fähig, es aufzunehmen, noch in dieser Form zu begreifen; aber sie stellt sich ihm dar als eine leib-haftige und wirkliche Welt, in den Personen als auch in den Dingen, welche es umgeben, die zu seinen Sinnen,

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durch alles, was es hört und sieht, vom ersten Tage sei-ner Geburt an spricht. Denn die Ideen und Vorstellun-gen, welche zuerst nur die Produkte der wirklichen na-türlichen und sozialen Tatsachen waren, in dem Sinne, daß sie die Spiegelung, das Zurückwerfen im menschli-chen Gehirn waren und die sozusagen ideale Wie-dergabe dieser Tatsachen durch jenes absolut materielle Organ des menschlichen Gehirns, erwarben später, nachdem sie sich, wie ich eben beschrieben habe, fest-gesetzt hatten, in dem Bewußtsein, irgendeiner Gesell-schaft die Macht ihrerseits wieder Ursachen neuer, nicht eigentlich natürlicher, sondern sozialer Tatsachen zu werden. Schließlich formen sie, sehr langsam al-lerdings, das menschliche Dasein, die Gewohnheiten und Einrichtungen, kurz alle Beziehungen der Men-schen in der Gesellschaft um; durch ihre Ausprägung in den alltäglichsten Dingen des Lebens eines jeden, wer-den sie für alle fühlbar und greifbar, sogar für die Kin-der. Auf diese Weise durchdringen sie jede neue Gene-ration von ihrer zartesten Kindheit, bis sie zum Man-nesalter heranreift, wo eigentlich die Arbeit ihres eige-nen Denkens anhebt, notwendig begleitet von neuer Kritik, und in sich selbst wie in der Gesellschaft, die sie umgibt, findet sie eine ganze Welt festgelegter Gedan-ken und Vorstellungen, welche ihr als Ausgangspunkt dienen und ihr gewissermaßen den ersten Stoff für ihre eigene geistige und moralische Arbeit liefern. Dieserart sind die überlieferten und allgemeinen Vorstellungen, welche die Metaphysiker fälschlicherweise angeborene

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Ideen nennen, weil sie getäuscht werden durch die ganz und gar unempfindliche und unmerkbare Art, mit der diese Ideen, von außen kommend, in das Bewußtsein der Kinder eindringen und sich einprägen, bevor sie zum Bewußtsein ihrer selbst gekommen sind. Das sind die allgemeinen oder abstrakten Ideen über die Gottheit und die Seele, vollständig alberne Ideen, die aber unvermeidlich und schicksalbestimmt in der histo-rischen Entwicklung des menschlichen Geistes sind, welcher nur sehr langsam im Laufe vieler Jahrhunderte zur verstandesmäßigen und kritischen Erkenntnis seiner selbst gelangen kann, der immer vom Dummen aus-geht, um zur Wahrheit zu gelangen, von der Sklaverei, um die Freiheit zu erobern; gegen die, von der allge-meinen Unwissenheit und der Dummheit der Jahrhun-derte, wie von dem wohlverstandenen Interesse der bevorrechteten Klassen sanktionierten Ideen, kann man selbst heute sich nicht offen und verständlich ausspre-chen, ohne einen beträchtlichen Teil der Volksmassen zu revolutionieren und ohne Gefahr zu laufen, von bourgeoiser Scheinheiligkeit geschmäht zu werden. Neben diesen ganz abstrakten Ideen, und immer in sehr enger Verbindung mit ihnen, findet die Jugend in der Gesellschaft und, infolge des allmächtigen auf ihre Kindheit ausgeübten Einflusses in sich selbst eine Menge anderer viel bestimmterer Ideen und Vorstellun-gen, die das wirkliche Leben, ihr Alltagsleben, in höchstem Maße angehen. Das sind die Vorstellungen über die Natur, über den Menschen, über die Gerech-

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tigkeit, über die Rechte und Pflichten der Individuen und Klassen, über die sozialen Erfordernisse, über die Familie, das Eigentum, den Staat und viele andere noch, welche die gegenseitigen Beziehungen der Men-schen regeln. Alle diese Ideen, die sie schon zu Beginn ihres Lebens in den Dingen und Menschen verwirklicht sieht, die sich ihrem eigenen Geist durch Erziehung und Unterweisung, welche sie erhält, einprägen, bevor sie zum Bewußtsein ihrer selbst gelangt ist, findet sie spä-ter geweiht, erklärt, ausgelegt von den Theorien, welche das allgemeine Bewußtsein oder das gemeinsame Vor-urteil ausdrücken und von all den religiösen, politischen und ökonomischen Einrichtungen der Gesellschaft, de-ren Teil sie ist. Sie ist derart durchtränkt davon, daß sie, ob persönlich interessiert daran, sie zu verteidigen oder nicht, unfreiwillig durch alle ihre materiellen, geistigen und moralischen Gewohnheiten an ihr teilhat. Nicht über die allmähliche Wirkung, welche diese I-deen, die das kollektive Bewußtsein der Gesellschaft ausdrücken, auf die Masse der Menschen ausüben, muß man sich wundern, sondern im Gegenteil darüber, daß in dieser Masse sich Menschen finden, die den Gedan-ken, den Willen und den Mut haben, sie zu bekämpfen; denn der Druck der Gesellschaft auf das Individuum ist ein ungeheuerer, und es gibt keinen noch so starken Charakter, keine noch so mächtige Intelligenz, die sa-gen könnten, sie seien gesichert vor dem ebenso despo-tischen wie unwiderstehlichen Einfluß der Gesellschaft.

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Nichts beweist den sozialen Charakter des Menschen mehr als dieser Einfluß. Man kann sagen, daß das kol-lektive Bewußtsein irgendeiner Gesellschaft, ebenso-wohl verwirklicht in den großen öffentlichen Einrich-tungen wie in allen Einzelheiten des Privatlebens und allen ihren Theorien als Grundlage dienend, eine Art Milieu, eine Art geistiger und moralischer Atmosphäre bildet, welche schädlich, aber zugleich zur Existenz ihrer Glieder unbedingt nötig ist. Sie beherrscht sie, unterwirft sie zugleich, und verknüpft sie untereinander durch gewohnheitsmäßige, von ihr bestimmte Bezie-hungen; sie flößt jedem Sicherheit und Gewißheit ein und schafft für alle die erste Voraussetzung der Exis-tenz unter der großen Masse, die Banalität, den Ge-meinplatz, die Gewohnheit. Die große Mehrzahl der Menschen, nicht nur unter den Volksmassen, sondern auch in den privilegierten und gebildeten Klassen, und hier oft noch mehr als unter den Massen, fühlt sich nicht ruhig und zufrieden mit sich selbst, solange sie nicht in allen ihren Gedanken und Handlungen ihres Lebens treulich und blind der Tradition und der Gewohnheit folgt: »Unsere Väter haben so gedacht und gehandelt, wir müssen denken und handeln wie sie; warum sollen wir anders denken und tun als die anderen?« Diese Worte drücken die Phi-losophie, die Überzeugung und die Praxis von 99 Pro-zent der Menschheit aus, ohne jeden Unterschied aus allen Klassen der Gesellschaft genommen. Und wie ich

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schon sagte, hierin liegt das größte Hemmnis für den Fortschritt und die rasche Befreiung der Menschheit. Welches sind die Ursachen dieser erschreckenden Langsamkeit, die so nahe an Stagnation grenzt, und die, wie ich sagte, das größte Unglück der Menschheit bil-det? Diese Ursachen sind vielfacher Art. Unter ihnen ist zweifellos eine der größten die Unwissenheit der Mas-sen. Allgemein und systematisch jeder wissenschaftli-chen Erziehung beraubt, dank der väterlichen Sorge aller Regierungen und privilegierten Klassen, die es nützlich finden, sie so lange wie möglich in der Unwis-senheit, in der Pietät, im Glauben zu erhalten, drei Din-ge, die so ziemlich dasselbe ausdrücken, wissen sie auch nichts von dem Vorhandensein und dem Gebrauch jenes Werkzeugs geistiger Befreiung: der Kritik, ohne die es keine vollkommene moralische und soziale Re-volution geben kann. Die Massen, die ein Interesse dar-an haben, sich gegen die Ordnung der gesetzten Dinge zu empören, werden davon noch mehr oder weniger zu-rückgehalten durch die Religion ihrer Väter, dieser Vorkehrung der privilegierten Klassen. Die privilegierten Klassen, welche heute nichts mehr haben, weder Pietät noch Glauben, obgleich sie es be-haupten, werden ihrerseits durch ihr politisches und soziales Interesse zurückgehalten. Doch ist es unmög-lich, zu sagen, daß dies der einzige Grund ihrer leiden-schaftlichen Anhänglichkeit an die herrschenden Ideen sei. Welch geringe Meinung ich auch von dem gegen-wärtigen geistigen und moralischen Wert dieser Klas-

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sen habe, so kann ich doch nicht zulassen, daß das Inte-resse die einzige Triebkraft ihrer Gedanken und Taten sei. Zweifellos gibt es in jeder Klasse und in jeder Partei eine mehr oder weniger zahlreiche Gruppe von intelli-genten, kühnen und gewissenlosen Ausbeutern, welche man die starken Menschen nennt, die, frei von allen geistigen und moralischen Vorurteilen, sich aller Mittel bedienen, um ihr Ziel zu erreichen. Aber diese ausge-zeichneten Menschen bilden selbst in den verdorbens-ten Klassen nur eine kleine Minderheit; die Mehrzahl ist ebenso hammelhaft wie im Volke auch. Sie unter-wirft sich natürlich dem Einfluß ihrer Interessen, die ihr aus der Reaktion eine Daseinsbedingung schaffen. Es ist aber unmöglich, zuzugeben, daß sie bei der Reaktion nur einem egoistischen Gefühle folgen. Eine große Zahl von Menschen, selbst ziemlich verdorbene, könnte, wenn sie gemeinsam handelt, nicht so verdorben sein. Es gibt in jeder zahlreichen Gemeinschaft und mit grö-ßerem Recht in den traditionellen und historischen Ge-meinschaften, wie es die Klassen sind, und wären sie auch soweit gekommen, dem Interesse und dem Rechte aller unheilbringend und zuwiderlaufend zu sein, eine Moral, eine Religion, irgendeinen Glauben, die zwei-felsohne sehr wenig vernünftig, öfters äußerst lächer-lich und beschränkt sind, die aber die unentbehrliche moralische Voraussetzung ihres Daseins sind. Der allgemeine und fundamentale Irrtum aller Idealis-ten, der allerdings eine sehr logische Folge ihres ganzen

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Systems ist, ist der, die Grundlage der Moral im isolier-ten Individuum zu suchen, während sie sich nur finden kann und findet in den vereinigten Individuen. Um dies zu beweisen, müssen wir ein für allemal mit dem ver-einzelten oder absoluten Individuum der Idealisten auf-räumen. Dieses einsame und abstrakte Individuum ist eine Fikti-on, gleich der Gottes, beide sind gleichzeitig geschaf-fen, durch die glaubende Phantasie oder durch den kindlichen, nicht denkenden, nicht auf Erfahrung ge-gründeten und kritiklosen, phantasierenden Verstand der Völker, um später von den theologischen und meta-physischen Theorien der idealistischen Denker entwi-ckelt, erklärt und zum Dogma erhoben zu werden. Alle beide stellen ein Abstraktum dar, bar jedes Inhalts und mit der Wirklichkeit unvereinbar, und laufen hinaus auf das Nichts. Ich glaube die Unsittlichkeit der Gottes-Fiktion bewiesen zu haben, im Anhang (vgl. Anm. 1) werde ich später noch mehr ihre Ungereimtheit bewei-sen. Jetzt will ich die ebenso alberne wie unsittliche Fiktion von jenem absoluten oder abstrakten Menschen, welche die Moralisten der idealistischen Schule als Grundlage ihrer politischen und sozialen Theorien nehmen, analysieren. Es wird mir nicht schwerfallen, zu beweisen, daß das menschliche Individuum, welches sie preisen und lie-ben, ein vollkommen unsittliches Wesen ist. Es ist der personifizierte Egoismus, das antisoziale Wesen par excellence. Da es mit einer unsterblichen Seele begabt

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ist, ist es in sich unendlich und vollkommen, weshalb es auch niemanden, selbst Gott nicht, braucht, umso weni-ger aber andere Menschen. Logischerweise dürfte es auf keinen Fall die Existenz eines gleichen oder höhe-ren, ebenso unsterblichen und unendlichen, oder noch mehr unsterblichen und unendlichen Wesens ertragen, sei es neben oder über ihm. Es müßte der einzige Mensch auf Erden, was sage ich, es müßte das einzige Wesen der Welt sein. Denn das Unendliche, das etwas, was es auch sei, außerhalb seiner findet, findet eine Grenze, ist nicht mehr unendlich; zwei unendliche We-sen, die sich gegenüberstehen, heben sich auf. Warum haben die Theologen und Metaphysiker, die doch sonst so spitzfindige Logiker sind, diese Inkonse-quenz begangen und warum fahren sie fort, die Exis-tenz vieler gleich unsterblicher, d. h. unendlicher Men-schen zuzulassen und dazu noch die eines noch unsterb-licheren und unendlicheren Gottes? Sie sind dazu ge-zwungen worden durch die absolute Unmöglichkeit, die wirkliche Existenz, die Sterblichkeit und die wechsel-seitige Abhängigkeit der Millionen von menschlichen Individuen, die auf der Erde lebten und noch leben, zu leugnen. Das ist eine Tatsache, von der sie trotz ihres guten Willens nicht absehen können. Logischerweise hätten sie daraus folgern müssen, daß die Seelen nicht unsterblich sind, daß sie kein von der Existenz ihrer körperlichen und sterblichen Hüllen getrenntes Dasein haben, und daß die Menschen, wenn sie sich begrenzt und in gegenseitiger Abhängigkeit sehen, wenn sie au-

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ßerhalb ihrer selbst eine Unendlichkeit verschiedener Objekte wahrnehmen, wie alles, was ist, vergänglich, begrenzt und endlich sind. Wenn sie aber dies an-erkennen wollten, so müßten sie ja auf die Grundlagen ihrer idealistischen Theorien verzichten, sie müßten sich unter die Fahne des reinen Materialismus oder der prüfenden und exakten Wissenschaft stellen. Zu dem fordert sie auch die mächtige Stimme des Jahrhunderts auf. Sie bleiben taub gegen diese Stimme. Ihre Natur als Erleuchtete, Propheten, Doktrinäre und Priester, ihr durch die spitzfindigen Lügen der Metaphysik gedräng-ter Geist, der an die Dämmerung idealistischer Phantas-tereien gewöhnt ist, empören sich gegen die freien Fol-gerungen und den hellen Tag der einfachen Wahrheit. Sie verabscheuen ihn so, daß sie vorziehen, entweder den Widerspruch zu ertragen, den sie selbst durch jene Fiktion von der unsterblichen Seele schaffen, oder aber die Lösung in einem neuen Unsinn, in der Gottes-Fik-tion, zu suchen. Vom Gesichtspunkt der Theorie ist Gott wirklich nichts anderes als die letzte Zuflucht und der höchste Ausdruck aller Albernheiten und Wider-sprüche der Idealisten. In der Theologie, welche die kindliche und naive Metaphysik darstellt, erscheint er als die Grundlage und die erste Ursache des Unsinni-gen, aber in der eigentlichen Metaphysik, d. h. in der verfeinerten und rationalisierten Theologie, bildet er im Gegenteil die letzte Instanz, die letzte Zuflucht in dem Sinne, daß man alle Widersprüche, die unlösbar schei-

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nen, in Gott und durch Gott, d. h. durch das so viel wie möglich durch einen wissenschaftlichen Schein umhüll-te Absurde erklärt. Das Dasein eines persönlichen Got-tes und die Unsterblichkeit der Seele sind zwei unzer-trennliche Fiktionen, sind die beiden Pole des gleichen unbedingten Unsinns, von denen die eine die andere herausfordert und vergeblich ihre Erklärung, ihr Recht zu sein, in der anderen sucht. Ebenso wie der augen-scheinliche Widerspruch, der besteht zwischen der an-genommenen Unendlichkeit jedes Menschen und der konkreten Tatsache der Existenz vieler Menschen, also vieler unendlicher Wesen, eines außerhalb des anderen, die sich notwendig begrenzen; für ihre Sterblichkeit und für ihre Unsterblichkeit, für ihre natürliche und ihre unbedingte gegenseitige Abhängigkeit haben die Idea-listen nur eine einzige Antwort: Gott; wem diese Ant-wort nichts erklärt, wen sie nicht befriedigt, der ist um so schlimmer dran. Man kann ihm keine andere geben. Die Fiktion von der Unsterblichkeit der Seele und der der individuellen Moral, welche die notwendige Kon-sequenz der ersten ist, ist die Verneinung jeder Moral. In dieser Beziehung muß man den Theologen Recht widerfahren lassen, welche, viel konsequenter und viel logischer als die Metaphysiker, das leugnen, was man übereingekommen ist die unabhängige Moral zu nen-nen, indem sie mit viel Verstand erklären, daß, sobald man die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Got-tes zugibt, man auch erkennen müsse, daß es nur eine

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einzige Moral, das göttliche, geoffenbarte Gesetz, die religiöse Moral, d. h. die Beziehung der unsterblichen Seele mit Gott durch die Gnade Gottes gebe. Innerhalb dieser irrationalen, wunderbaren und mystischen Bezie-hung ist das einzig Heilige, das einzige Heil, außerhalb der Konsequenzen, die sich daraus für den Menschen ergeben, sind alle anderen Beziehungen gleich Null. Die göttliche Moral ist die Verneinung jeder menschli-chen Moral. Die göttliche Moral hat ihren vollkommenen Ausdruck gefunden in dem christlichen Grundsatz: »Du sollst Gott mehr lieben als dich selbst, und deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst«, was die Opferung sei-ner selbst und seines Nächsten für Gott in sich schließt. Die Opferung seiner selbst kann als Torheit betrachtet werden; die des Nächsten ist vom menschlichen Ge-sichtspunkt aus unbedingt unsittlich. Und warum bin ich zu einem unmenschlichen Opfer gezwungen? Zum Heile meiner Seele. Das ist das letzte Wort des Chris-tentums. Um Gott zu gefallen und um meine Seele zu retten, muß ich also meinen Nächsten opfern. Das ist der absolute Egoismus. Dieser im Katholizismus weder gemilderte, noch vernichtete, sondern nur maskierte Egoismus, maskiert durch die erzwungene Gemeinsam-keit und die autoritäre, hierarchische und despotische Einheit, erscheint in seiner ganzen zynischen Offenheit im Protestantismus, der eine Art »Rette sich wer kann«-Religion ist.

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Die Metaphysiker ihrerseits bemühen sich, diesen E-goismus zu beschönigen, der doch der feste und funda-mentale Grundsatz aller idealistischen Lehren ist, da-durch, daß sie sehr wenig, so wenig wie möglich, von den Beziehungen des Menschen zu Gott und viel von den gegenseitigen Beziehungen der Menschen spre-chen. Was von ihnen weder schön, noch offen, noch logisch ist; denn sobald man das Dasein Gottes zugibt, ist man gezwungen, die Notwendigkeit der Beziehun-gen des Menschen zu Gott anzuerkennen; man muß anerkennen, daß angesichts dieser Beziehungen zu dem absoluten und höchsten Wesen alle anderen Be-ziehungen notwendig geheuchelt sind. Oder aber ist Gott nicht Gott, oder verschlingt und zerstört seine Ge-genwart alles. Doch gehen wir weiter. Die Metaphysiker suchen also die Moral in den gegen-seitigen Beziehungen der Menschen, zu gleicher Zeit behaupten sie aber, daß sie eine unbedingt persönliche Tatsache sei, ein göttliches Gesetz, das, unabhängig von diesen Beziehungen zu anderen menschlichen Individu-en, in das Herz jedes Menschen geschrieben sei. Das ist der unlösbare Widerspruch, auf den die Theorie der Moral von den Idealisten gegründet ist. Von dem Au-genblick an, wo ich, vor meinen Beziehungen zur Ge-sellschaft und deshalb unabhängig von jedem Einfluß dieser Gesellschaft auf meine eigene Person, ein Sitten-gesetz, ganz einfach von Gott in mein Herz geschrie-ben, trage, ist dieses Sittengesetz meinem Dasein in der Gesellschaft notwendig fremd und gleichgültig, wenn

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nicht sogar feindlich; es kann nicht meine Beziehungen zu den Menschen betreffen, es kann nur meine Bezie-hungen zu Gott regeln, was die Theologie auch logi-scherweise bestätigt. Was vom Gesichtspunkt dieses Gesetzes aus die Menschen anlangt, so sind sie mir vollständig fremd. Das Sittengesetz hat sich ja gebildet und ist in mein Herz eingegraben worden außerhalb aller meiner Beziehungen zu ihnen, es kann mit ihnen nichts zu schaffen haben. Aber, wird man sagen, dieses Gesetz gebietet dir gera-de, die Menschen zu lieben, wie dich selbst, weil sie deinesgleichen sind und nichts tun, was du nicht wün-schest, was man dir tue; es gebietet dir ihnen gegenüber die Gleichheit, das moralische Gleichsein, die Gerech-tigkeit. Darauf antworte ich, daß, wenn es wahr ist, daß das Sittengesetz diesen Befehl enthält, ich daraus schließen muß, daß es nicht ausschließlich in meinem Herzen gebildet und geschrieben ist; es setzt notwendig die vorhergehende Existenz meiner Beziehungen zu anderen Menschen zu meinen Mitmenschen, voraus und deshalb schafft es diese Beziehungen nicht, son-dern findet sie schon auf natürlichem Wege da, es regelt sie nur und ist gewissermaßen ihre enthüllte Offenba-rung, ihre Erklärung, ihr Produkt. Daraus geht hervor, daß das Sittengesetz keine persönliche, sondern viel-mehr eine soziale Tatsache ist, eine Schöpfung der Ge-sellschaft. Wenn es anders wäre, würde das in mein Herz einge-schriebene Sittengesetz unsinnig sein; es würde meine

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Beziehungen zu Wesen regeln, mit denen ich keinerlei Beziehungen hätte und deren Dasein mir sogar unbe-kannt wäre. Darauf haben die Metaphysiker eine Antwort. Sie sa-gen, daß jedes menschliche Individuum es bei seiner Geburt mitbringt, von Gottes eigener Hand in sein Herz geschrieben, daß es aber zuerst nur in verborgenem Zustand sich in ihnen finde, in einem Zustand der Kraft, die nicht verwirklicht und dem Individuum selbst nicht offenbar ist; es kann sie nur dadurch verwirkli-chen und sich zum Bewußtsein bringen, daß es sich in der Gesellschaft von seinesgleichen entwickelt, daß der Mensch, kurz gesagt, zum Bewußtsein dieses Gesetzes, welches ihm angeboren ist, nur gelangt durch die Be-ziehungen zu anderen Menschen. Durch diese, wenn nicht verständige, so doch an-nehmbare, Erklärung sind wir wieder zurückgeführt auf die Lehre von den angeborenen Ideen, Gefühlen und Prinzipien. Man kennt diese Lehre; die menschliche Seele, unsterblich und unendlich in ihrem Wesen, aber körperlich bestimmt, begrenzt, schwerfällig und sozu-sagen geblendet und vernichtet in ihrer tatsächlichen Existenz, begreift in sich alle diese ewigen und göttli-chen Prinzipien, aber ohne vorher von sich selbst etwas zu wissen, ohne vorher das geringste von der Welt zu ahnen. Da sie unsterblich ist, muß sie notwendig ewig in der Vergangenheit sowohl wie in der Zukunft sein. Denn wenn sie einen Anfang gehabt, müßte sie unwei-gerlich auch ein Ende haben, wäre sie keineswegs un-

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sterblich. Was ist sie gewesen, was hat sie getan wäh-rend jener ganzen Ewigkeit, die sie hinter sich läßt? Gott weiß es; was sie selbst betrifft, so erinnert sie sich nicht daran, sie weiß nichts davon. Das ist ein großes Geheimnis, voll schreiender Widersprüche, die zu lösen man den größten Widerspruch, Gott, anrufen muß. Im-mer ist es so, daß sie, ohne es selbst zu ahnen, an einem unbekannten, geheimnisvollen Ort ihres Wesens alle göttlichen Prinzipien bewahrt. Aber verloren in ihrem sterblichen Leib, vertiert durch die ganz und gar mate-riellen Voraussetzungen ihres Entstehens und ihres Da-seins auf der Erde, hat sie nicht mehr die Fähigkeit, sie zu begreifen, nicht einmal die Kraft, sich ihrer zu erin-nern. Es ist so, wie wenn sie sie gar nicht hätte. Aber so begegnen sich in der Gesellschaft eine Menge mensch-licher Seelen, genauso unsterblich in ihrem Wesen und ganz genauso vertiert, erniedrigt und materialisiert in ihrer wirklichen Existenz. Zuerst erkennen sie sich so wenig, daß eine materialisierte Seele eine andere ver-speist. Die Menschenfresserei war bekanntlich die erste Tätigkeit des Menschengeschlechts. Dann fährt jede fort, erbitterte Kriege zu führen, jede bemüht sich, alle anderen zu unterjochen - es ist dies die lange Periode der Sklaverei, die heute weit davon entfernt ist, an ih-rem Ende angelangt zu sein. Weder in der Menschen-fresserei, noch in der Sklaverei findet man eine Spur göttlicher Prinzipien. Aber in diesem unaufhörlichen Kampf der Völker und Menschen untereinander, der die Geschichte ausmacht, und infolge der zahllosen Leiden,

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welche das klar vorauszusehende Resultat dieser Kämp-fe sind, wachen die Seelen allmählich auf, treten aus ihrer Erstarrung heraus, kehren zu sich selbst zurück, erkennen sich und vertiefen sich immer mehr in ihr Innerstes. Und die eine von der anderen angeregt und herausgefordert, beginnen sie jetzt sich zu erinnern, zu ahnen zunächst, um dann ganz klar die Prinzipien, wel-che Gott selbst von Ewigkeit her dort niedergelegt hat, zu begreifen und zu erfassen. Dieses Erwachen und dieses Erinnern findet nicht zu-erst in den unendlichsten und unsterblichsten Seelen statt, was ein Unsinn wäre, denn das Unendliche läßt kein Mehr und kein Weniger zu, deshalb ist auch die Seele des größten Idioten ebenso unsterblich und un-endlich wie die des größten Genies; sie finden statt in den am wenigsten materialisierten Seelen, die deshalb viel eher fähig sind, zu erwachen und sich zu erinnern. Das sind die Männer von Genie, die von Gott Erleuch-teten, die Seher, Gesetzgeber und Propheten. Wenn einmal diese großen und heiligen Männer, vom Geiste erleuchtet und angefeuert, ohne dessen Hilfe nichts Großes und Gutes auf dieser Erde geschieht, wenn sie einmal in sich selbst eine dieser göttlichen Wahrheiten, die jeder Mensch unbewußt in seiner Seele trägt, aufge-funden haben, wird es natürlich den mehr materialisier-ten Menschen viel leichter, dieselbe Entdeckung bei sich selbst zu machen. Und so kommt es, daß jede gro-ße Wahrheit, alle ewigen Prinzipien, die zuerst in der Geschichte als Offenbarungen Gottes verkündet wur-

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den, sich später zweifellos als göttlich erweisen, die aber trotzdem jeder in sich selbst wiederfinden und als die Grundlagen seines eigenen unendlichen Wesens oder seiner unsterblichen Seele anerkennen kann oder soll. Das erklärt, wie eine zuerst von einem einzigen Mann entdeckte Wahrheit, indem sie sich allmählich ausbreitet, ihre Anhänger findet, die zuerst wenig zahl-reich und gewöhnlich von der Menge und der offiziel-len Gesellschaft, ebenso wie der herrschenden, verfolgt werden; da sie sich aber, gerade wegen dieser Verfol-gung, immer mehr ausbreitet, ergreift sie früher oder später das gemeinsame Bewußtsein, und nachdem sie lange eine ausschließlich persönliche Wahrheit war, wird sie am Ende eine soziale; im Guten und Schlech-ten, in den öffentlichen und privaten Einrichtungen der Gesellschaft verwirklicht, wird daraus das Gesetz. Das ist die allgemeine Theorie der Moralisten der me-taphysischen Schule. Auf den ersten Blick ist sie, wie ich sagte, wohl annehmbar und scheint die verschie-densten Dinge zu versöhnen: Die göttliche Offenbarung mit dem menschlichen Verstand, die Unsterblichkeit und die absolute Unabhängigkeit der Individuen mit ihrer Sterblichkeit und ihrer unbedingten Abhängigkeit, den Individualismus und den Sozialismus. Aber bei der Prüfung dieser Theorie und ihrer nächsten Konsequen-zen wird es uns leichtfallen zu erkennen, daß das nur eine scheinbare Versöhnung ist, die unter der falschen Maske des Rationalismus und des Sozialismus den al-ten Triumph der göttlichen Absurdität über die mensch-

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liche Vernunft, des individuellen Egoismus über die soziale Solidarität feiert. Letzten Endes läuft sie auf die unbedingte Trennung und Vereinzelung der Individuen hinaus und damit auf die Verneinung jeder Moral. Trotz ihres Anspruches auf Rationalismus beginnt sie mit der Verneinung jeder Vernunft, mit dem Unsinn, mit der Fiktion des im Endlichen verlorenen Unendli-chen oder mit der Voraussetzung einer Seele, einer Menge unsterblicher, in sterblichen Körpern wohnen-den und eingekerkerten Seelen. Um diese Absurdität zu verbessern und zu erklären, ist sie gezwungen, zu einer anderen ihre Zuflucht zu nehmen, zur Absurdität par excellence, zu Gott, der eine Art unsterblicher, persön-licher, unwandelbarer, in einer vergänglichen Welt wohnender und eingekerkerter Seele ist, die aber trotz-dem ihre Allwissenheit und Allmacht behält. Wenn man ihr indiskrete Fragen stellt, welche sie natürlich nicht beantworten kann, weil der Unsinn sich weder auflöst noch erklärt, antwortet sie mit dem schreckli-chen Wort Gott, dem geheimnisvollen Absoluten das absolut nichts oder das Unmögliche bedeutet, nach ihr aber alles löst, alles erklärt. Das ist ihre Sache und ihr Recht, denn deswegen, als Erbin und als mehr oder weniger gehorsame Tochter der Theologie, nennt sie sich Metaphysik. Was wir hier zu betrachten haben, sind die moralischen Konsequenzen der Theorie. Stellen wir zunächst fest, daß trotz ihres sozialen Anscheins sie eine reine und ausschließliche individuelle Moral ist, wonach es uns

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nicht schwerfallen wird, zu beweisen, daß sie, weil sie diesen vorherrschenden Charakter hat, in der Tat die Verneinung jeder Moral ist. In dieser Theorie findet sich die unsterbliche und indi-viduelle Seele jedes Menschen, unendlich und absolut vollkommen durch ihr Wesen, und deshalb auch keines anderen Wesens, noch irgendwelcher Beziehungen zu anderen Wesen, um sich zu vervollkommnen, bedür-fend, zuerst wie eingekerkert und vernichtet in einem sterblichen Leib. In diesem Zustand des Vernichtet-seins, dessen Ursachen uns zweifellos ewig verborgen sein werden, weil der menschliche Geist unfähig ist, sie zu erklären, und weil ihre Erklärung nur in dem abso-luten Geheimnis, in Gott liegt; zurückversetzt in jenen Zustand der Körperlichkeit und unbedingten Abhängig-keit von der äußeren Welt, bedarf der Mensch der Ge-sellschaft, um aufzuwachen, um sich zu erinnern, um sich seiner selbst und der göttlichen Prinzipien bewußt zu werden, welche von Gott selbst von aller Ewigkeit her in seinen Schoß gelegt wurden und die eigentlich sein Wesen ausmachen. Das sind der sozialistische Charakter und die sozialistischen Teile dieser Theorie. Die Beziehungen von Mensch zu Mensch und vom ein-zelnen zu allen anderen, das soziale Leben mit einem Wort, erscheint hier nur als ein notwendiges Mittel der Entwicklung, als eine Übergangsbrücke, nicht als Ziel; das absolute und letzte Ziel jedes Individuums ist es selbst, außerhalb aller anderen menschlichen Individu-en; das ist es selbst, in Gegenwart der absoluten Indi-

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vidualität, vor Gott. Es bedurfte der Menschen, um aus seinem irdischen Nichts herauszukommen, um sich wiederzufinden, um sein unsterbliches Wesen zu er-fassen; wenn es aber einmal das wiedergefunden hat, schöpft es sein Leben nur mehr aus sich selbst, kehrt ihnen den Rücken und bleibt in der Betrachtung der mystischen Absurdität, in der Anbetung Gottes versun-ken. Wenn es dann noch Beziehungen zu den Menschen unterhält, so geschieht das nicht eines moralischen Be-dürfnisses wegen, und infolgedessen auch nicht aus Liebe zu ihnen, weil man liebt, was man braucht, und wer einen braucht; der Mensch, welcher sein unendli-ches und unsterbliches Wesen wiedergefunden hat, be-darf, da er in sich selbst vollkommen ist, niemanden, außer Gott, der durch ein Geheimnis, das nur die Meta-physiker verstehen, eine noch unendlichere Un-endlichkeit und eine noch unsterblichere Unsterb-lichkeit als die der Menschen zu besitzen scheint; von nun an durch die göttliche Allwissenheit und Allmacht getragen, kann das in sich gesammelte und freie Indivi-duum kein Bedürfnis nach anderen Menschen mehr haben. Wenn es also noch fortfährt, mit ihnen Bezie-hungen zu unterhalten, so kann das nur aus zwei Grün-den geschehen. Zunächst hat es, solange es von seinem sterblichen Körper umgeben ist, das Bedürfnis, zu es-sen, sich zu schützen, sich zu bekleiden, sich gegen die äußere Natur wie gegen die Angriffe der Menschen zu sichern, als zivilisierter Mensch hat es außerdem noch

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eine Menge materieller Dinge nötig, die den Wohlstand, die Behaglichkeit, den Luxus ausmachen und von denen mehrere unseren Vätern unbekannt wa-ren, heute aber jedem als von zwingendster Notwendig-keit erscheinen. Es hätte ganz gut dem Beispiel der Hei-ligen vergangener Jahrhunderte folgen und sich in ir-gendeiner Höhle abschließen und sich von Wurzeln nähren können. Aber wie es scheint, entspricht das nicht mehr dem Geschmack der modernen Heiligen, die ohne Zweifel glauben, die materielle Behaglichkeit sei zum Seelenheil notwendig. Es bedarf also aller dieser Dinge; diese Dinge können aber nur durch die gemein-same Arbeit der Menschen erzeugt werden: Die Arbeit eines einzelnen Menschen wäre außerstande, auch nur den millionsten Teil zu produzieren. Daraus ergibt sich, daß das im Besitze seiner unsterblichen Seele und seiner inneren, von der Gesellschaft unab-hängigen Freiheit sich befindliche Individuum, der mo-derne Heilige, materiell dieser Gesellschaft bedarf, oh-ne vom moralischen Gesichtspunkt aus das mindeste Bedürfnis nach ihr zu haben. Welchen Namen soll man aber diesen Beziehungen geben, die nur durch ausschließlich materielle Bedürf-nisse veranlaßt sind, die gleichzeitig von keinem mora-lischen Bedürfnis sanktioniert und gestützt sind? Es gibt augenscheinlich nur einen: Ausbeutung. Und in der Tat, in der metaphysischen Moral und in der bürgerli-chen Gesellschaft, welche bekanntlich diese Moral zur Grundlage hat, wird jeder notwendig ein Ausbeuter der

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Gesellschaft, d. h. aller, und der Staat unter seinen ver-schiedenen Formen, von dem demokratischen bis zur absolutesten Monarchie und bis zur auf das freieste Wahlrecht gegründeten demokratischen Republik, ist nichts anderes als der Regulator und der Bürge dieser gegenseitigen Ausbeutung. In der auf die bürgerliche Moral gegründeten Ge-sellschaft erscheint jedes Individuum durch den Zwang oder die Logik seiner Stellung als ein Ausbeuter der anderen, weil es materiell aller und moralisch nieman-des bedarf. Deshalb betrachtet jeder, wenn er die sozia-le Solidarität flieht, sie als eine der vollen Freiheit sei-ner Seele angelegte Fessel, während er sie als notwen-diges Mittel zur Unterhaltung seines Leibes sucht, er betrachtet sie nur vom Gesichtspunkt ihrer materiellen Nützlichkeit aus und bringt ihr, gibt ihr nur, was unbe-dingt nötig ist, nicht um das Recht, sondern um die Macht zu haben, sich dieser Nützlichkeit für sich selbst zu versichern. Jeder betrachtet sie mit einem Wort als Ausbeuter. Wenn aber alle gleichmäßig Ausbeuter sind, so muß es glückliche und unglückliche geben, weil jede Ausbeutung Ausgebeutete voraussetzt. Es gibt also Ausbeuter, die zu gleicher Zeit Macht haben und es in Wirklichkeit sind; und andere, die große Masse, das Volk, welches es nur an Macht und an Wollen ist, nicht aber in Wirklichkeit. Tatsächlich begreift die Masse die ewig Ausgebeuteten. Die metaphysische oder bourgeoi-se Moral läuft ja in der sozialen Ökonomie hinaus auf einen ewigen Krieg bis aufs Messer zwischen allen In-

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dividuen, auf einen erbitterten Krieg, in dem die meis-ten umkommen, um den Triumph und den Wohlstand der Minderheit sicherzustellen. Der zweite Grund, welcher ein Individuum, das zum vollkommenen Besitz seiner selbst gelangt ist, dazu führen kann, seine Beziehungen zu anderen Menschen fortzusetzen, ist der Wunsch, Gott zu gefallen, und die Pflicht, sein zweites Gebot zu erfüllen; das erste war, Gott mehr als sich selbst zu lieben, das zweite, die Menschen, die Nächsten zu lieben wie sich selbst und ihnen aus Liebe zu Gott alles Gute zu tun, was er wünscht, daß man ihm tue. Beachten wir die Worte: »Aus Liebe zu Gott«; sie drü-cken vollkommen den Charakter der einzigen mensch-lichen Liebe aus, die in der metaphysischen Moral möglich sein soll; sie besteht gerade darin, daß die Menschen sich nicht um ihrer selbst willen, aus eige-nem Bedürfnis heraus, lieben, sondern nur um dem höchsten Herrn zu gefallen. Übrigens muß es so sein, denn sobald man die Existenz eines Gottes und die Be-ziehungen des Menschen zu Gott zugibt, muß man, wie die Theologie, ihnen alle menschlichen Beziehungen unterordnen. Die Gottesidee absorbiert, zerstört alles, was nicht Gott ist und ersetzt alle menschlichen und irdischen Wirklichkeiten durch göttliche Fiktionen. In der metaphysischen Moral, sagte ich, kann der zum Bewußtsein seiner unsterblichen Seele und seiner per-sönlichen Freiheit vor Gott und in Gott gelangte Mensch die Menschen nicht lieben, weil er vom morali-

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schen Standpunkt aus ihrer nicht bedarf und weil man nur das heben kann, füge ich noch hinzu, was man braucht. Wenn man den Theologen und den Metaphysikern glaubt, so ist die erste Voraussetzung in den Beziehun-gen des Menschen zu Gott erfüllt, denn sie behaupten, daß der Mensch Gott nicht entbehren könne. Der Mensch kann und muß also Gott lieben, da er seiner ja in so hohem Maße bedarf. Was die zweite Vorausset-zung anlangt, die, daß man nichts lieben kann, was die-ser Liebe nicht bedarf, so findet man sie in den Bezie-hungen des Menschen zu Gott keineswegs verwirklicht. Es wäre ein Frevel, zu sagen, Gott bedürfe der Liebe des Menschen. Denn etwas nötig haben, heißt etwas entbehren, was zur Vollständigkeit des Daseins gehört, es ist das demnach ein Bekenntnis der Schwäche, ein Armutszeugnis. Gott, absolut vollkommen in sich selbst, bedarf niemandes und nichts. Da er der Liebe der Menschen nicht bedarf, kann er sie auch nicht lie-ben; und was man seine Liebe zu den Menschen nennt, ist nichts als eine unbedingte Zermalmung, ähnlich, aber natürlich viel schrecklicher als die, welche der mächtige Kaiser von Deutschland heute allen seinen Untertanen gegenüber ausübt. Die Liebe der Menschen zu Gott ähnelt auch viel derjenigen der Deutschen zu diesem heute so mächtig gewordenen Monarchen, daß wir nach Gott keine größere Macht als die seine ken-nen.

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Die wahre, wirkliche Liebe, als Ausdruck eines gegen-seitigen und gleichen Bedürfens, kann nur zwischen Gleichen bestehen. Die Liebe des Höheren zum Niede-ren ist Zerschmetterung, Bedrückung, Verachtung, ist der, über die auf die Erniedrigung der anderen, trium-phierende Egoismus und Hochmut, die triumphierende Eitelkeit. Die Liebe des Niederen zum Höheren bedeu-tet die Demütigung, die Schrecken und die Erwartungen des Sklaven, der von seinem Herrn das Glück oder das Unglück zu erwarten hat. Das ist der Charakter der sogenannten Liebe Gottes zu den Menschen und der Menschen zu Gott. Das ist der Despotismus des einen und die Sklaverei der anderen. Was bedeuten also jene Worte: Liebe die Menschen und tue ihnen Gutes aus Liebe zu Gott? Das heißt sie so behandeln, wie Gott wünscht, daß sie behandelt wer-den; wie will er sie behandelt wissen? Als Sklaven. Gott ist durch seine Natur gezwungen, sie so zu behan-deln. Da er selbst der absolute Herr ist, ist er gezwun-gen, sie als absolute Sklaven zu betrachten, und wenn er sie als solche betrachtet, so kann er sie auch nur als solche behandeln. Um sie zu befreien, gibt es nur ein Mittel, das wäre: abzudanken, sich selbst zu vernichten und zu verschwinden. Das hieße aber von seiner All-macht zuviel verlangen. Er kann wohl, wie es das E-vangelium erzählt, um die seltsame Liebe, welche er zu den Menschen empfindet, mit seiner ewigen Gerechtig-keit zu versöhnen, seinen einzigen Sohn opfern; aber abdanken, sich aus Liebe zu den Menschen vernichten,

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wird er nie, mindestens wenn man ihn nicht durch wis-senschaftliche Kritik dazu zwingt. Solange die leicht-gläubige Phantasie des Menschen ihm gestattet, zu exis-tieren, wird er immer der absolute Herrscher, der Herr von Sklaven sein. Es ist also klar, daß die Menschen wie Gott behandeln nichts anderes heißt, als sie wie Sklaven behandeln. Die Liebe der Menschen, wie Gott sie will, ist die Liebe ihrer Sklaverei. Ich, durch Gott als unsterblich und vollkommenes Individuum geschaffen, der ich mich gerade deshalb frei fühle, weil ich der Sklave Gottes bin, bedarf keines Menschen, um meine Seligkeit und meine vollkommenste geistige und mora-lische Existenz zu erlangen, sondern ich halte meine Beziehungen zu ihnen nur aufrecht, um Gott zu ge-horchen und liebe sie nur aus Liebe zu Gott, behandle sie wie Gott, ich will, daß sie Sklaven Gottes sind, wie ich auch. Wenn es dem höchsten Herrn gefällt, mich auszuerwählen, um seinem heiligen Willen auf der Erde Geltung zu verschaffen, so werde ich sie dazu zu zwin-gen wissen. Das ist der wahre Charakter dessen, was die Gottesanbeter aufrichtig und ernst ihre Menschen-liebe nennen. Es ist nicht so sehr die Ergebung derjeni-gen, die lieben, als das erzwungene Opfer derjenigen, welche die Objekte oder vielmehr die Opfer dieser Lie-be sind. Es ist nicht ihre Befreiung, es ist ihre Knech-tung zum größten Ruhm Gottes. Und auf diese Weise verwandelt sich die göttliche Autorität in menschliche, so gründet die Kirche den Staat.

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Nach dieser Theorie müßten alle Menschen Gott auf diese Weise dienen. Aber bekanntlich sind alle berufen, wenige aber auserwählt. Und dann, wenn alle gleich fähig wären, das zu erfüllen, d. h. wenn alle zum glei-chen Grad geistiger und moralischer Vollkommenheit, Heiligkeit und Freiheit in Gott gelangt wären, würde dieser Dienst überflüssig werden. Wenn es notwendig ist, so deshalb, weil die ungeheuere Mehrheit der menschlichen Individuen nicht bei diesem Punkt ange-kommen ist, woraus hervorgeht, daß diese noch unwis-sende und gottlose Masse, wie Gott es will, geliebt und behandelt werden muß, d. h. daß sie regiert und ge-knechtet werden muß von einer Minderheit von Heili-gen, welche Gott nie verfehlt, auf die eine oder andere Weise selbst auszuwählen und an den Platz zu stellen, an welchem sie diese Pflicht erfüllen können23. Die sakramentale Phrase für die Beherrschung der Volksmassen, die ohne Zweifel zu ihrem Heile ge-schieht, zum Heile ihrer Seelen, wenn auch nicht zudem ihrer Körper, ist in den theokratischen und aristokrati-schen Staaten für die Heiligen und Edlen und in den doktrinären, liberalen, ja sogar republikanischen und auf das allgemeine Stimmrecht gegründeten, für die Gebildeten und Reichen, dieselbe: »Alles für das Volk, nichts durch das Volk.« Was bedeutet, daß die Heili-gen, die Edlen oder die, sei es vom Gesichtspunkt der wissenschaftlich entwickelten Intelligenz oder dem des Reichtums aus, Bevorrechteten, dem Ideal oder Gott, sagen die einen, der Vernunft, der Gerechtigkeit und

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der wahren Freiheit sagen die anderen, viel näher sind als die Volksmassen und die heilige und edle Aufgabe haben, sie dazu zu führen. Während sie ihre Interessen opfern und ihre eigenen Geschäfte vernachlässigen, müssen sie sich dem Glück ihres jüngeren Bruders, des Volkes widmen. Das Regieren ist kein Vergnügen, es ist eine mühsame Pflicht: Man sucht in ihr weder die Befriedigung seines Ehrgeizes, seiner Eitelkeit, noch seiner persönlichen Habsucht, sondern nur die Gele-genheit, sich dem Glücke aller zu opfern. Zweifellos ist deshalb die Zahl der Bewerber um öffentliche Ämter so gering, deshalb nehmen Könige und Minister, große und kleine Beamte die Macht nur widerstrebenden Her-zens an. Das also sind in der nach der Theorie der Metaphysiker aufgefaßten Gesellschaft die beiden verschiedenen und sogar entgegengesetzten Arten von Beziehungen, die zwischen den Individuen bestehen können. Die erste ist die der Ausbeutung, die zweite die der Regierung. Wenn es wahr ist, daß regieren heißt, sich dem Wohle derjenigen opfern, die man regiert, ist diese zweite Be-ziehung in der Tat in vollem Widerspruch zur ersten, zu der der Ausbeutung. Aber hören wir zu. Nach der idea-listischen Theorie, sei sie theologisch oder me-taphysisch, können jene Worte: Das Wohl der Massen, weder ihr irdisches Wohlergehen, noch ihr zeitliches Glück bedeuten; was sind einige Jahrzehnte irdischen Lebens im Vergleich zur Ewigkeit. Man darf also die Massen nicht vom Gesichtspunkt dieser groben Glück-

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seligkeit aus, welche uns die materiellen Kräfte auf der Erde geben, regieren, sondern im Hinblick auf ihr ewi-ges Heil. Die materiellen Entbehrungen und Leiden können sogar als ein Mangel an Erziehung betrachtet werden, da es erwiesen ist, daß zu viele körperliche Genüsse die unsterbliche Seele töten. Dann aber ver-schwindet der Widerspruch: Ausbeuten und regieren ist ein und dasselbe, das eine ergänzt das andere und dient ihm schließlich als Mittel zum Zweck. Ausbeutung und Regieren, die erste gibt die Mittel zum Regieren und bildet die notwendige Grundlage wie das Ziel jeder Regierung, die ihrerseits wieder die Macht, auszubeuten, garantiert und durch Gesetze schützt; bei-de sind die unzertrennlichen Pole all dessen, was man Politik nennt. Seit dem Beginn der Geschichte haben sie eigentlich das wahre Leben der Staaten, theokrati-scher, aristokratischer, monarchischer und selbst demo-kratischer, ausgemacht. Früher und bis zur großen Re-volution am Ende des XVIII. Jahrhunderts war ihre enge Verbindung durch religiöse, biedere und ritterliche Fiktionen maskiert; aber seit die brutale Faust der Bour-geoisie all diese Schleier zerrissen, seit ihr revolutionä-rer Hauch all diese eitlen Einbildungen zerstörte, hinter denen die Kirche und der Staat, die Theokratie, die Monarchie und die Aristokratie so lange ihre histori-schen Schändlichkeiten vollführen konnten; seit die Bourgeoisie, müde, Amboß zu sein, ihrerseits Hammer wurde, kurz, seit sie den modernen Staat gründete, ist diese unselige Verbindung für alle eine enthüllte und

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sogar unbestrittene Wahrheit. Die Ausbeutung ist der sichtbare Körper, die Regierung ist die Seele des bour-geoisen Regimes. Und wie wir soeben gesehen haben, ist die eine wie die andere in dieser so engen Verbin-dung, sowohl vom theoretischen als auch vom prakti-schen Gesichtspunkt aus, der notwendige und getreue Ausdruck des metaphysischen Idealismus, die un-vermeidliche Folge jener bürgerlichen Doktrin, welche die Freiheit und die Moral der Individuen außerhalb der sozialen Solidarität sucht. Diese Doktrin läuft hinaus auf das ausbeutende Regieren einer kleinen Anzahl Glücklicher und Auserwählter, auf die Sklaverei der großen Mehrheit, für alle aber bedeutet sie die Vernei-nung jeder Sittlichkeit und Freiheit. Nachdem ich gezeigt habe, wie der Idealismus, ausge-hend von den unsinnigen Ideen von Gott, der Unsterb-lichkeit der Seelen, der angeborenen Freiheit der Indi-viduen und ihrer von der Gesellschaft unabhängigen Moral, naturnotwendig zur Weihe der Sklaverei und der Unsittlichkeit gelangt, muß ich jetzt zeigen, wie die wahre Wissenschaft, der Materialismus und der Sozia-lismus - dieser zweite Ausdruck ist ja nur die klare und vollkommene Entwicklung des ersten - gerade weil sie als Ausgangspunkt die materielle Natur und die natürli-che und ursprüngliche Sklaverei der Menschen nimmt und weil sie deshalb die Befreiung des Menschen nicht außerhalb, sondern im Schöße der Gesellschaft, nicht gegen sie, sondern durch sie suchen müssen, ebenso

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notwendig hinauslaufen auf die Errichtung der größten Freiheit der Individuen und der menschlichen Sittlich-keit.

1] Der Leser wird eine vollständigere Darstellung dieser drei Prin-zipien in dem Anhang dieses Buches finden, unter dem Titel: Phi-losophische Betrachtungen über das göttliche Phantom, über die wirkliche Welt und über den Menschen. (M. B.) [Nicht abge-druckt, Hg] 2] Ich nenne es „frevelhaft“, weil, wie ich in dem erwähnten An-hang erwiesen zu haben glaube, dieses Geheimnis die Weihe aller in der Welt der Menschen begangenen und noch stattfindenden Greuel war und ist, und ich nenne es „einzig“, weil alle anderen theologischen und metaphysischen Sinnlosigkeiten, die den Men-schengeist verdummen, nur die notwendigen Folgen dieses Ge-heimnisses sind. (M. B.) 3] Herr Stuart Mill ist vielleicht der einzige, dessen ernstgemeinten Idealismus zu bezweifeln erlaubt ist, aus zwei Gründen: erstens, weil er, wenn auch nicht ein unbedingter Schüler, so doch ein leidenschaftlicher Bewunderer, ein Anhänger der positiven Philo-sophie Auguste Comtes ist, welche, trotz ihrer vielen Ver-schweigungen, in Wirklichkeit atheistisch ist; zweitens, weil Herr Stuart Mill Engländer ist und in England sich als Atheist zu erklä-ren selbst heute noch bedeutet, sich außerhalb der Gesellschaft zu stellen. (M. B.) 4] Vor sechs oder sieben Jahren hörte ich Herrn Louis Blanc in London beinahe dieselbe Idee ausdrücken: »Die beste Regierungs-form«, sagte er zu mir, »wäre die, welche immer tugendhafte Män-ner von Genie an die Spitze der Regierung brächte.« (M. B.) 5] Ich fragte eines Tages Mazzini, welche Maßregeln man zur Befreiung des Volkes treffen würde, wenn seine siegende unitäre Republik endgültig errichtet wäre. »Die erste Maßregel«, sagte er mir, »wird die Gründung von Schulen für das Volk sein.« - Und

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was wird man dem Volk in diesen Schulen lehren? - »Die Pflichten der Menschen, Aufopferung und Hingabe.« - Aber woher werden Sie eine hinreichende Zahl Lehrer nehmen, um diese Dinge zu lehren, die keiner zu lehren das Recht und die Fähigkeit hat, wenn er nicht selbst das Beispiel davon gibt? Ist die Zahl der Menschen, die im Opfer und der Hingabe den höchsten Genuß finden, nicht ungemein gering? Diejenigen, die sich im Dienst einer großen Idee opfern, einer hohen Leidenschaft gehorchend und diese persönli-che Leidenschaft befriedigend, außerhalb welcher das Leben selbst jeden Wert in ihren Augen verliert, diese denken gewöhnlich an ganz etwas anderes, als aus ihrer Handlung eine Lehre zu machen; diejenigen aber, die eine Lehre daraus machen, vergessen meist, sie in die Tat umzusetzen, aus dem einfachen Grunde, weil die Lehre das Leben, die lebendige Freiwilligkeit der Aktion, tötet. Männer wie Mazzini, bei denen Lehre und Handlung eine bewun-derungswürdige Einheit bilden, sind sehr seltene Ausnahmen. Im Christentum gab es auch große heilige Männer, die alles, was sie sagten, wirklich taten oder sich wenigstens leidenschaftlich be-mühten, es zu tun, deren von Liebe überschäumende Herzen voll Verachtung für die Genüsse und Güter dieser Welt waren. Aber die ungeheure Mehrheit der katholischen, protestantischen Geistlichen, die berufsmäßig die Lehre der Keuschheit, Enthaltsamkeit und Entsagung predigten und predigen, widerrief allgemein ihre Lehre durch ihr Beispiel. Nicht grundlos, sondern nach mehrhun-dertjähriger Erfahrung bildeten sich bei den Völkern aller Länder Redensarten wie: ausschweifend wie ein Pfaffe, ein Feinschmecker wie ein Pfaffe, ehrgeizig wie ein Pfaffe, habgierig, selbstsüchtig und lüstern wie ein Pfaffe. Es steht also fest, daß die von der Kir-che geweihten Lehrer der christlichen Tugenden, die Geistlichen, in ihrer ungeheuren Mehrheit das Gegenteil von dem taten, was sie predigten. Dieses Zahlenverhältnis schon, die Allgemeinheit der Tatsache, zeigt, daß die Schuld nicht den einzelnen zu zuschreiben ist sondern der unmöglichen und in sich selbst widerspruchsvollen sozialen Lage zufällt, in der sich die einzelnen befinden. Die Lage der christlichen Geistlichen enthält einen doppelten Widerspruch.

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Zuerst die zwischen der Lehre der Abstinenz und Entsagung und den positiven Neigungen und Bedürfnissen der menschlichen Na-tur, die in einigen, stets sehr seltenen, individuellen Fällen durch den stetigen Einfluß einer mächtigen geistigen und moralischen Macht, die in gewissen Augenblicken kollektiver Überspannung gleichzeitig von sehr vielen Menschen vergessen oder vernachläs-sigt werden können, beständig zurückgehalten, unterdrückt und selbst völlig vernichtet werden können, die aber so tief in der Men-schennatur stecken, daß sie schließlich immer in ihre Rechte treten, so daß, wenn sie gehindert werden, sich auf regelmäßige und nor-male Weise zu äußern, sie zuletzt stets schädliche und ungeheuer-liche Befriedigung suchen. Dies ist ein Naturgesetz, das also un-ausweichlich, unwiderstehlich ist, und unter seinen verhängnisvol-len Einfluß fallen unvermeidlich alle christlichen Geistlichen und besonders die der römisch-katholischen Kirche. Dieses Gesetz kann die Lehrer der Schule, das heißt die Priester der modernen Kirche, nicht treffen, es sei denn, daß man auch sie zwinge, christ-liche Abstinenz und Entsagung zu predigen. Aber ein anderer Widerspruch ist beiden gemeinsam. Dieser liegt im Titel und der Stellung des Lehrers. Ein Lehrer als Herr, der befiehlt, unterdrückt und ausbeutet, ist eine sehr logische und ganz natürliche Persönlichkeit. Aber ein Lehrer, der sich den ihm nach seinem göttlichen oder menschlichen Vorrecht Untergebenen op-fert, ist ein widerspruchsvolles und ganz unmögliches Wesen. Das ist die Heuchelei selbst, die der Papst so gut verkörpert, der sich den letzten Diener der Diener Gottes nennt - und nach Christi Beispiel, zum Zeichen dessen, einmal jährlich die Füße von zwölf römischen Bettlern wäscht — und gleichzeitig sich als Stellvertreter Gottes, zum absoluten und unfehlbaren Herrn der Welt aufwirft. Brauche ich daran zu erin-nern, daß die Priester aller Kirchen, weit entfernt, sich den ihnen anvertrauten Herden zu opfern, dieselben stets opferten, aus-beuteten und im Herdenzustand erhielten, teils, um ihre eigenen persönlichen Leidenschaften zu befriedigen, teils, um der Allmacht der Kirche zu dienen? Dieselben Voraussetzungen und Ursachen

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bringen stets dieselben Wirkungen hervor. Ebenso wird es aber den göttlich erleuchteten und vom Staat bevorrechteten Lehrern der modernen Schule ergehen. Sie werden notwendigerweise, die ei-nen unbewußt, die andern mit voller Kenntnis der Sache, die Lehre vom Opfer des Volks für die Macht des Staats und zum Nutzen der bevorzugten Klassen lehren. Muß man also allen Unterricht aus der Gesellschaft beseitigen und alle Schulen abschaffen? Nein, durchaus nicht, man muß mit vol-len Händen Bildung in den Massen verbreiten und alle Kirchen, all diese dem Ruhm Gottes und der Versklavung der Menschen ge-widmeten Tempel in ebensoviel Schulen menschlicher Befreiung verwandeln. Aber verständigen wir uns zuerst : Schulen im eigent-lichen Sinn dürfen in einer normalen, auf die Gleichheit und die Achtung der menschlichen Freiheit gegründeten Gesellschaft nur für Kinder und nicht für Erwachsene dasein; damit sie Schulen der Befreiung und nicht der Knechtung werden, muß in ihnen vor allem die Fiktion von Gott, dem ewigen und absoluten Verknech-ter, beseitigt werden; Erziehung und Unterricht der Kinder müßten ganz auf die wissenschaftliche Entwicklung der Vernunft und nicht des Glaubens gegründet werden, auf die Entwicklung der persönli-chen Würde und Unabhängigkeit, nicht auf die der Frömmigkeit und des Gehorsams, auf den Kult der Wahrheit und Gerechtigkeit um jeden Preis, und vor allem auf die Achtung vor der Menschheit, welche in allem und jedem an Stelle der Verehrung Gottes treten muß. Das Autoritätsprinzip bildet bei der Kindererziehung den natürlichen Ausgangspunkt; es ist rechtmäßig, notwendig, wenn es auf Kinder in niedrigem Alter angewendet wird, deren Intelligenz noch in keiner Weise entwickelt ist. Da aber die Entwicklung jeder Sache, folglich auch die der Erziehung, die allmähliche Vernei-nung des Ausgangspunktes bildet, muß sich das Autoritätsprinzip gradweise mit dem Fortschritt der Erziehung und des Unterrichts der Kinder vermindern und ihrer wachsenden Freiheit Platz ma-chen. Jede vernünftige Erziehung ist im Grunde nichts anderes als diese fortschreitende Opferung der Autorität zum Nutzen der Frei-heit, da der Endzweck der Erziehung kein anderer sein soll als der,

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Menschen zu bilden, die frei sind und die Freiheit anderer achten und lieben. So muß der erste Schultag, wenn die Schule Kinder niedrigen Alters aufnimmt, die kaum einige Worte zu stammeln vermögen, der Tag der größten Autorität und beinahe vollständiger Abwesenheit der Freiheit sein, der letzte Schultag aber der der größten Freiheit und der absoluten Beseitigung jeder Spur des tierischen oder göttlichen Prinzips der Autorität. Das Autoritäts-prinzip wird, auf Erwachsene oder Ältere angewendet, eine Unge-heuerlichkeit, eine scharfe Verneinung der Menschlichkeit, eine Quelle geistiger und moralischer Sklaverei und Verderbtheit. Un-glücklicherweise ließen die väterlichen Regierungen die Volks-massen in so tiefer Unwissenheit dahinbrüten, daß es notwendig werden wird, nicht nur für die Kinder des Volkes, sondern auch für das Volk selbst Schulen zu gründen. Aber aus diesen Schulen müssen die geringsten Anwendungen oder Äußerungen des Autori-tätsprinzips unbedingt entfernt werden. Es werden nicht mehr Schulen sein, sondern Volksakademien, in denen nicht mehr von Schülern und Lehrern die Rede sein kann, in welche das Volk, wie es dies für nötig hält, frei kommt, freien Unterricht zu nehmen, und in denen es nach seiner eigenen Erfahrung seinerseits die Lehrer, die ihm unbekannte Kenntnisse bringen, in vielem unterweisen kann. Das wird also ein gegenseitiger Unterricht sein, ein Akt geistiger Brüderlichkeit zwischen der gebildeten Jugend und dem Volk. Die wahre Schule für das Volk und alle erwachsenen Leute ist das Leben. Die einzige große und allmächtige, gleichzeitig natürliche und vernünftige Autorität, die einzige, die wir achten können, wird die des kollektiven und Öffentlichen Geistes einer auf die Gleichheit und Solidarität und die Freiheit und die gegen-seitige menschliche Achtung all ihrer Mitglieder gegründeten Ge-sellschaft sein. Ja, das ist eine nicht göttliche, sondern eine ganz menschliche Autorität, vor der wir uns gern beugen, da wir sicher sind, daß sie die Menschen, statt sie zu knechten, befreien wird. Man kann sicher sein, daß sie tausendmal mächtiger sein wird als all die göttlichen, theologischen, metaphysischen, politischen und

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juridischen Autoritäten, die Kirche und Staat einsetzten, mächtiger als Strafgesetze, Kerkermeister und Henker. Die Macht des Kollektivgefühls oder der öffentlichen Meinung ist schon heute eine sehr ernste. Die zu Verbrechen Geneigten wagen selten, ihr zu trotzen, sie offen herauszufordern. Sie werden versu-chen, sie zu täuschen, aber sich wohl hüten, sie anzutasten, außer wenn sie sich wenigstens von irgendeiner Minderheit gestützt fühlen. Kein Mensch, für wie mächtig er sich auch halten mag, wird je die Kraft haben, die einstimmige Verachtung der Gesell-schaft auszuhalten; keiner kann leben, ohne nicht wenigstens sich von der Zustimmung und Achtung irgendeines Teils dieser Gesell-schaft gehalten zu fühlen. Es muß jemand von einer ungeheuren und sehr aufrichtigen Überzeugung getrieben werden, um den Mut zu finden, gegen alle zu reden und zu handeln, und nie wird ein egoistischer, verdorbener und feiger Mann diesen Mut haben. Nichts beweist besser die natürliche und unvermeidliche Solidari-tät, dieses alle Menschen verbindende Geselligkeitsgesetz, als dieser Umstand, den jeder von uns täglich an sich selbst und all seinen Bekannten beobachten kann. Wenn aber diese soziale Macht existiert, warum hat sie bis jetzt nicht genügt, die Menschen zu moralisieren, zu humanisieren? Die Antwort ist sehr einfach: weil diese Macht bis heute seihst nicht humanisiert wurde, und dies geschah nicht, weil das soziale Leben, dessen treuer Ausdruck sie immer ist, bekanntlich auf die Gottesverehrung und nicht auf die Achtung des Menschen gegründet ist, auf die Autorität und nicht auf die Freiheit, auf das Vorrecht und nicht auf die Gleich-heit, auf die Ausbeutung und nicht auf die Brüderlichkeit der Men-schen, auf Unrecht und Lüge und nicht auf Gerechtigkeit und Wahrheit. Ihr tatsächliches Wirken, das immer mit den humanitä-ren Theorien, die sie bekennt, im Widerspruch steht, übte folglich beständig einen bösen und verderbenden, keinen moralischen Einfluß aus. Sie unterdrückt nicht Laster und Verbrechen, sie schafft sie. Ihre Autorität ist folglich eine göttliche, unmenschliche Autorität, ihr Einfluß ist schlecht und verhängnisvoll. Sollen beide wohltätig und menschlich gemacht werden? Entfesselt die soziale

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Revolution! Macht, daß alle Bedürfnisse wirklich solidarisch wer-den, daß die materiellen und sozialen Interessen eines jeden seinen menschlichen Pflichten gleich werden! Hierzu gibt es nur ein ein-ziges Mittel: Zerstört alle Einrichtungen der Ungleichheit, gründet die wirtschaftliche und soziale Gleichheit aller, und auf dieser Grundlage wird sich die Freiheit, die Sittlichkeit und die solidari-sche Menschlichkeit aller erheben. Ich werde noch einmal auf diese Frage, die wichtigste des Sozialismus, zurückkommen. (M. B.) 6] Die Wissenschaft, die das Erbgut aller wird, wird sich gewis-sermaßen dem unmittelbaren und wirklichen Leben jedes einzel-nen vermählen. Sie wird an Nützlichkeit und Grazie gewinnen, was sie an Stolz, Ehrgeiz und doktrinärem Pedantismus verlieren wird. Dies wird gewiß nicht verhindern, daß Männer von Genie, die besser als die Mehrzahl ihrer Zeitgenossen für wis-senschaftliche Spekulationen befähigt sind, sich ausschließlicher als andere der Pflege der Wissenschaften widmen und der Menschheit große Dienste leisten werden, ohne anderen sozialen Einfluß, den eine überlegene Intelligenz immer auf ihre Umgebung ausübt, und ohne eine andere Belohnung zu suchen, als den hohen Genuß, den jeder hohe Geist in der Befriedigung einer edlen Lei-denschaft findet. (M. B.) 7] Man muß die allgemeine Erfahrung, auf die sich die ganze Wis-senschaft gründet, wohl unterscheiden von dem allgemeinen Glau-ben, auf den die Idealisten ihren Glauben stützen wollen; erstere ist die wirkliche Feststellung wirklicher Tatsachen, letztere nur eine Vermutung von Tatsachen, die niemand gesehen hat und die folg-lich mit der Erfahrung aller in Widerspruch stehen. (M.B.) 8] Die Idealisten, alle, die an die Geistigkeit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele glauben, müssen in sehr großer Verlegen-heit sein gegenüber den Unterschieden zwischen der Intelligenz der Rassen, Völker und Individuen. Wenn sie nicht annehmen wollen, daß die göttlichen Teilchen ungleichmäßig verteilt sind, wie wollen sie diese Verschiedenheit erklären? Es gibt leider eine viel zu große Zahl ganz dummer Menschen, die bis zum Idiotismus

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dumm sind. Haben diese etwa ein gleichzeitig göttliches und dummes Teilchen bei der Verteilung erhalten? Um aus dieser Ver-legenheit herauszukommen, müssen die Idealisten annehmen, daß alle menschlichen Seelen gleich sind, daß aber die Gefängnisse, in denen sie eingesperrt sind - die menschlichen Körper -, ungleich sind, teils mehr, teils weniger geeignet, der reinen Geistigkeit der Seele als Organ zu dienen. Eine Seele hätte z. B. sehr feine Organe zur Verfügung, eine andere sehr grobe. Aber das sind Un-terscheidungen, die der Idealismus zu machen nicht berechtigt ist, deren er sich nicht bedienen darf, ohne selbst der Inkonsequenz und dem größten Materialismus zu verfallen. Denn vor der absolu-ten Geistigkeit der Seele verschwinden alle körperlichen Unter-schiede, da alles Körperliche, Materielle indifferent, gleich und absolut grob erscheinen muß. Der die Seele vom Körper, die abso-lute Geistigkeit von der unbedingten Körperlichkeit trennende Abgrund ist unendlich; folglich müssen alle übrigen unerklärlichen und logisch unmöglichen Unterschiede, die jenseits des Abgrunds, in der Materie, existieren mögen, für die Seele als nicht existierend betrachtet werden und können und dürfen auf sie keinen Einfluß ausüben. Mit einem Wort, das absolut Geistige kann nicht von dem absolut Materiellen enthalten, umschlossen und noch weniger in irgendeinem Grade ausgedrückt werden. Von allen von der Unwis-senheit und ursprünglichen Dummheit der Menschen erzeugten groben und materialistischen Einbildungen -materialistisch in dem Sinn, den die Idealisten diesem Wort geben, das heißt brutal - ist die Einbildung einer in einen materiellen Körper gesperrten, nicht materiellen Seele gewiß die gröbste und krasseste, und nichts zeigt besser die Allmacht aller Vorurteile selbst über die besten Geister, als die wirklich beklagenswerte Tatsache, daß Männer von hoher Intelligenz noch heute davon reden können. (M. B.) 9] Ich weiß sehr wohl, daß man in den orientalischen theologischen und metaphysischen Systemen und besonders in denen Indiens, den Buddhismus einbegriffen, schon das Prinzip der Vernichtung der wirklichen Welt zum Nutzen des Ideals oder der absoluten Abstraktion findet. Aber es trägt hier noch nicht den Charakter

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freiwilliger und absichtlicher Verneinung, der dem Christentum eigen ist, weil zur Zeit der Entstehung jener Systeme die eigentlich menschliche Welt, die Welt des menschlichen Geistes und Willens, menschlicher Wissenschaft und Freiheit, sich noch nicht so entwi-ckelt hatten, wie dies später in der griechisch-römischen Kultur der Fall war. (M. B.) 10] Ich halte es für nützlich, an eine übrigens wohlbekannte und durchaus glaubwürdige Anekdote zu erinnern, die ein sehr wert-volles Licht auf den persönlichen Charakter dieses Wiederauf wärmers der katholischen Glaubenslehre und auf die religiöse Aufrichtigkeit jener Zeit wirft. Chateaubriand brachte seinem Ver-leger ein gegen den Glauben gerichtetes Werk. Der Buchhändler bemerkte, der Atheismus sei nicht mehr Mode, das lesende Publi-kum wolle nichts mehr davon wissen und verlange im Gegenteil religiöse Werke. Chateaubriand entfernte sich, brachte ihm aber einige Monate später sein Werk: „Der Geist des Christentums“ (M. B.) 1l] Von hier ab stellt der Text nicht mehr die Ansicht Bakunins dar, sondern die Lehre Victor Cousins und der eklektischen Schule. Bakunin hat einige Erläuterungen und in Klammern gesetzte Be-merkungen eingeschaltet. (Übers. /Herausg.) 12] Ich bitte den Leser um Verzeihung, wenn so viele grandiose und ungeheuerliche Sinnlosigkeiten, die eine neben der anderen, sich in so wenigen Worten zusammendrängen. Es ist die Logik der doktrinären Idealisten, nicht die meine. (M. B.) 13] Ist es nicht beachtenswert, daß man in allen Religionen die Einbildung findet, kein Sterblicher könne den Anblick eines Gottes in seinem unsterblichen Glanz ertragen, ohne auf der Stelle ver-nichtet, zerschmettert und verzehrt zu werden, so daß alle Götter, mitleidig mit dieser menschlichen Schwäche, sich den Menschen immer unter einer entlehnten Gestalt gezeigt haben, oft sogar unter der Gestalt eines Tieres, nie aber in ihrer wahren Herrlichkeit. Jehova hat ein einziges Mal, ich erinnere mich nicht welchem Propheten, seinen eigenen Rücken gezeigt und rief durch diese Darstellung von hinten eine solche Zerrüttung hervor, daß der arme

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Prophet zeitlebens den Boden stampfte. Es ist augenscheinlich, daß es in allen Religionen ein dunkles Gefühl für jene Wahrheit gibt, daß die Existenz Gottes nicht nur mit der Freiheit, der Würde und Vernunft des Menschen, sondern auch mit der Existenz des Men-schen und der Welt unvereinbar ist. (M. B.) 14] Die doktrinären Philosophen ebenso wie die Juristen und Öko-nomisten nehmen immer an, das Eigentum gehe dem Staat vorher, während es doch klar ist, daß die Rechtsidee vom Eigentum, eben-so wie das Familienrecht, historisch nur im Staat entstehen konnte, dessen erster Akt notwendig darin bestand, sie festzulegen. (M. B.) 15] Es ist zu beachten, daß nicht Bakunin, sondern Victor Cousin redet. (Der Übersetzer) 16] Der schreiende, empörende Unsinn aller Metaphysiker besteht gerade darin, daß sie immer die beiden Worte wissenschaftlich und göttlich zusammenstellen, wie wenn sie sich nicht gegenseitig aufheben würden. Die Theologen sind wahrlich viel gewissenhaf-ter, viel konsequenter und viel tiefer als sie. Sie wissen und wagen es laut zu sagen, daß, damit Gott ein wirkliches und wahres Wesen sei, es unbedingt notwendig ist, daß er über der menschlichen Vernunft stehe, der einzigen, die wir kennen und von der wir das Recht haben zu sprechen, daß er über dem stehe, was wir die Na-turgesetze nennen. Denn wenn er nichts wäre als diese Vernunft und diese Gesetze, wäre er in der Tat nichts als ein leerer, neuer Name für diese Vernunft und diese Gesetze: d. h. ein Unsinn oder eine Heuchelei und sehr oft beides. Es hat keinen Wert zu sagen, die menschliche Vernunft sei dieselbe wie die Gottes, nur im Men-schen beschränkt, in Gott absolut. Wenn die göttliche Vernunft absolut und die unsrige beschränkt ist, so steht die Gottes notwen-dig über der unsrigen, was nur heißen kann: die göttliche Vernunft umfaßt eine Unendlichkeit von Dingen, die unser armseliger menschlicher Verstand unfähig ist zu ergreifen, zu umfassen und noch weniger zu verstehen; diese Dinge stehen im Widerspruch zur menschlichen Logik, weil, wenn sie ihr nicht widersprechen würden, uns dann nichts hindern würde, sie zu verstehen, dann aber wäre die göttliche Vernunft der menschlichen nicht mehr

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überlegen. Man könnte gut einwerfen, daß dieser Unterschied und eine relative Überlegenheit sogar unter den Menschen vorhanden sei; die einen verstünden Dinge, welche die andern unfähig sind zu begreifen, ohne daß daraus hervorgehe, daß die Vernunft, mit der die einen begabt seien, von der, die den anderen zugeteilt sei, ver-schieden sei. Daraus geht nur hervor, daß sie bei einen weniger und bei anderen mehr entwickelt ist, sei es durch Unterweisung oder gar durch eine natürliche Anlage. Man wird doch da trotzdem nicht sagen, daß die Dinge,welche die Intelligenteren verstehen, der Vernunft der weniger Intelligenten entgegengesetzt sind. Wa-rum will man sich also auflehnen gegen die Idee eines Wesens, dessen Vernunft ihre absolute Entwicklung ewig vollendet hat? Ich antworte: Zuerst weil die beiden Begriffe „ewig vollendet“ und „Entwicklung“ sich ausschließen; und dann weil der Vergleich der ewig absoluten Vernunft Gottes mit der ewig beschränkten Ver-nunft der Menschen ein ganz anderer ist als der zwischen einer höher entwickelten, aber trotzdem beschränkten menschlichen Intelligenz und einer weniger entwickelten und deshalb noch be-schränkteren. Hier ist der Unterschied nur ganz relativ, ein größe-rer oder kleinerer Mengenunterschied, der keine Übereinstimmung zerstört. Die geringere menschliche Intelligenz kann und soll durch Weiterentwicklung bis zur Höhe der überlegenen menschlichen Intelligenz gelangen. Der Abstand, welcher die eine von der ande-ren trennt, kann sehr groß sein und erscheinen, aber da er begrenzt ist, kann er vermindert werden und zuletzt verschwinden. So ist es aber zwischen Gott und den Menschen nicht; ein unendlicher Ab-grund trennt sie. Vor dem Absoluten, vor der unendlichen Größe verschwinden und heben sich alle Unterschiede der begrenzten Größen auf; was relativ das Größte ist, wird ebenso klein wie das unendlich Kleine. Mit Gott verglichen ist das größte menschliche Genie ein ebenso großes Vieh als ein Idiot. Der Unterschied, wel-cher besteht zwischen der Vernunft Gottes und der des Menschen, ist demnach nicht ein quantitativer, — sondern ein qualitativer Unterschied. Die göttliche Vernunft ist qualitativ anders als die menschliche, und da sie unendlich höher steht und sich ihr als

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Gesetz auflegt, vernichtet und zermalmt sie dieselbe. Deshalb haben die Theologen gegen sämtliche Metaphysiker tausendmal recht, wenn sie sagen, daß, wenn die Existenz Gottes einmal zuge-geben sei, es notwendig ist, die Nichtigkeit der menschlichen Ver-nunft zu verkünden, daß was den größten menschlichen Genies Torheit ist, vor Gott Weisheit bedeutet: Credo quia absurdum. Wer nicht den Mut hat, diese so weisen, energischen und logischen Worte Tertullians auszusprechen, muß darauf verzichten, von Gott zu reden. Der Gott der Theologen ist ein übeltuendes Wesen, ein Feind der Menschheit, wie unser verstorbener Freund Proudhon sagte. Aber er ist ein wirkliches Wesen. Während der Gott der Metaphysiker ohne Fleisch und ohne Knochen, ohne Natur, ohne Willen, ohne Tätigkeit, und besonders ohne ein Körnchen Logik, der Schatten eines Schattens ist, ein Phantom, von dem man sagen könnte, daß es von den modernen Idealisten eigens dazu aufgerichtet wurde, um die Schandtaten des bourgeoisen Materialismus und die ver-zweiflungsvolle Armseligkeit ihres eigenen Denkens mit einem gefälligen Schleier zu verhüllen. Nichts zeigt so sehr die Ohnmacht, die Heuchelei und die Feigheit der modernen bourgeoisen Intelligenz, als daß sie mit rührender Einstimmigkeit diesen Gott der Metaphysik angenommen hat. (M. B.) 17] Gerade in dieser Lage befindet sich heute noch die Kirche und der Adel in Deutschland. Diejenigen, welche von Deutschland als einem feudalen Land sprechen, haben ebenso wenig recht, wie die, welche davon als einem modernen Staat reden: es ist weder feudal noch ganz modern. Es ist nicht mehr feudal, da der Adel seit lan-gem jede vom Staat getrennte Macht verloren hat, und zwar bis zur Erinnerung an seine ehemalige politische Unabhängigkeit. Die letzten Reste der Feudalität, vertreten durch die zahlreichen Herr-scher Deutschlands, Mitglieder des verstorbenen Deutschen Bun-des, werden bald verschwinden. Preußen ist sehr mächtig gewor-den und hat einen guten Appetit. Aus dem armen König von Han-nover hat es nur ein Frühstück gemacht, alle anderen zusammen

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werden ihm das Mittagessen liefern. Was den deutschen Adel anbelangt, so verlangt er ja nicht mehr, als geknechtet zu sein und zu dienen. Wenn man ihn so sieht, könnte man glauben, er hätte nie etwas anderes getan. Den Lakai in großen Häusern, fürstlichen Häusern, wenn man will, spielen, das ist seine Natur. Dazu hat er den Eifer, die Anmaßung, die Leidenschaft. Mit Umkehrung dieser bewundernswerten Anlagen verwaltet und regiert er ganz Deutsch-land. Nehmen Sie den Gothaer Kalender zur Hand und sehen Sie, wieviel Bourgeois es unter jener unzähligen Menge von Militär- und Zivilbeamten gibt, welche die Macht und den Stolz Deutsch-lands ausmachen? Kaum einen auf zwanzig oder dreißig. Wenn also der moderne Staat einen von den Bourgeois regierten Staat bedeutet, so ist Deutschland keineswegs modern. Im Hinblick auf Regierung ist es noch im 18. und 17. Jahrhundert. Es ist modern nur vom wirtschaftlichen Standpunkt aus; weil in Deutschland wie überall das bourgeoise Kapital regiert: der deutsche Adel stellt kein von der Bourgeoisie verschiedenes Wirtschafts-System mehr dar. Seine feudalen Beziehungen zum Land und zu den Landarbeitern sind stark erschüttert worden durch die denkwürdigen Reformen des Barons von Stein in Preußen und sind zum größten Teil durch die politischen Agitationen von 1830 und besonders durch den revolutionären Sturm von 1848 hinweggefegt worden. Nur in Mecklenburg sind sie, glaube ich, erhalten geblieben, sofern man einigen Majoraten, die noch in den Händen einiger großer fürst-licher Häuser sich befinden, Rechnung tragen will; sie werden nicht verfehlen, bald vor der erobernden Allmacht des bourgeoisen Kapitals zu verschwinden. Gegen diese Allmacht kann weder Graf Bismarck mit seiner ganzen teuflischen Geschicklichkeit, noch General Moltke mit seiner ganzen Strategie und nicht einmal sein Popanz-Kaiser mit seiner ganzen ritterlichen Armee aufkommen, noch weniger ankämpfen. Die Politik, welche sie verfolgen, wird der Entwicklung der bourgeoisen Interessen und der modernen Wirtschaft sicher günstig sein. Nur wird diese Politik nicht von den Bourgeois, sondern fast ausschließlich von den Adligen gemacht

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werden. Wenn man ein berühmtes Wort abändert, kann man diese Politik charakterisieren: Alles für die Bourgeoisie, nichts durch sie. Denn man darf sich von all den deutschen Parlamenten, die sowohl partikularistisch als auch föderalistisch sind, und zu denen die deutschen Bourgeois wählen, nicht irremachen lassen. Man muß die pedantische Nai-vität der deutschen Bourgeois besitzen, um diese Kinderspiele ernst zu nehmen. Es sind das ebenso viele Akademien, wo man sie schwätzen läßt, wenn sie nur bewilligen, was man ihnen zu bewil-ligen befiehlt; nie verfehlen sie zu bewilligen, was man will. Wenn sie sich aber einfallen lassen, widerspenstig zu werden, so macht man sich über sie lustig, wie Graf Bismarck es viele Jahre lang nacheinander mit dem preußischen Parlament machte. Den Bour-geois verhöhnen ist ein Vergnügen, das ein preußischer Junker sich nie versagt. Um zusammenzufassen: Die gegenwärtige Lage Deutschlands ist folgende: Es ist da der absolute despotische Staat, wie er sich nach dem Dreißigjährigen Kriege bildete, der sich zur Unterdrückung der Massen fast ausschließlich des Adels und des Klerus bedient und fortfährt, die Bourgeois zu verhöhnen, zu miß-handeln, lächerlich zu machen, der aber trotzdem ihre Geschäfte besorgt. Deshalb werden sich die deutschen Bourgeois, die übri-gens an Verhöhnungen gewöhnt sind, wohl hüten, sich gegen ihn aufzulehnen. (M. B.) 18] Louis Philipp, der Bürgerkönig, sagte bei seiner Thronbestei-gung: »La Charte sera desormais une verite«, d. h.: Die Verfassung wird von jetzt ab Wahrheit sein. (Der Übersetzer) 19] Wie gesagt bilden die vorstehenden Ausführungen V. Cousins Eklektizismus, während Bakunin seine Ansicht in den in Klam-mern gesetzten Worten ausspricht. (Der Übersetzer) 20] Ich gestehe, daß ich diese Meinung der liberalen Doktrinäre, die auch die vieler gemäßigter Republikaner ist, teile. Ich ziehe daraus nur die gerade entgegengesetzten Folgerungen, welche die einen wie die anderen daraus ableiten. Ich folgere daraus die Notwendig-keit der Abschaffung des Staates, als eine notwendigerweise das Volk bedrückende Einrichtung, sogar dann, wenn sie sich das

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allgemeine Wahlrecht zur Grundlage gibt. Für mich ist es klar, daß das allgemeine Stimmrecht, welches von Herrn Gambetta so sehr gepriesen wird — und zwar deswegen, weil Herr Gambetta der letzte erleuchtete und gläubige Vertreter der Advokaten und Bour-geois ist —, die zugleich größte und raffinierteste Aufweisung des politischen Gauklertums des Staates ist; es ist zweifelsohne ein gefährliches Werkzeug, das von Seiten desjenigen, der sich seiner bedient, große Geschicklichkeit verlangt, das aber, wenn man es versteht sich seiner zu bedienen, das sicherste Mittel ist, um die Masse an der Erbauung ihres eigenen Gefängnisses mitwirken zu lassen. Napoleon III. hat seine ganze Macht auf das allgemeine Wahlrecht gegründet, und nie hat es sein Vertrauen getäuscht. Bismarck hat daraus die Grundlage seines knutogermanischen Kaiserreichs gemacht. Ich werde noch ausführlicher auf diese Frage zurückkommen, die, wie ich sie auffasse, den hauptsächli-chen und entscheidenden Punkt ausmacht, der die revolutionären Sozialisten nicht nur von den radikalen Republikanern, sondern auch noch von allen Schulen der autoritären und doktrinären So-zialisten trennt. (M. B.) 21] Hier liegt der tiefste Grund des Gewissens und der ganzen bür-gerlichen Moral. Ich brauche nicht zu bemerken, wie sehr sie den Grundprinzipien des Christentums entgegengesetzt ist, das alle Güter dieser Welt verachtet (das Evangelium verachtet sie, nicht die Priester der Kirche) und verbietet, Schätze auf der Erde zu-sammenzuraffen, weil, so sagt es, »da wo eure Schätze sind, da ist euer Herz«; es befiehlt, die Vögel des Himmels nachzuahmen, die nicht arbeiten und sähen, die aber trotzdem leben. Ich bewundere immer die wunderbare Fähigkeit der Protestanten, diese Worte des Evangeliums in ihrer eigenen Sprache zu lesen und ihre Geschäfte so gut zu machen und sich trotz alledem als sehr aufrichtige Chris-ten zu betrachten. Aber gehen wir weiter. Man prüfe aufmerksam in allen ihren geringsten Einzelheiten die sozialen, öffentlichen als auch privaten Beziehungen, die Reden und Handlungen der Bour-geoisie aller Länder, und man wird tief und naiv jene Grundüber-zeugung eingewurzelt finden, daß der anständige, der sittliche

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Mensch der ist, welcher Eigentum zu erwerben, zu erhalten und zu vermehren versteht und daß nur der Besitzer achtenswert ist. Um in England das Recht zu haben, Gentleman genannt zu werden, bedarf es zweier Voraussetzungen: daß man in die Kirche geht, und vor allem, daß man Besitzer ist. Es gibt in der englischen Sprache einen sehr energischen, seltsamen und naiven Ausdruck: Dieser Mensch ist soviel wert, d. h. 5, 10, 100000 Pfund Sterling. Was die Engländer (und die Amerikaner) in ihrer brutalen Naivität sagen, denken alle Bourgeois der Welt. Die ungeheure Mehrheit der bourgeoisen Klasse in Europa, Amerika, Australien und in allen europäischen in der Welt zerstreuten Kolonien, denkt es so, daß sie die tiefe Unsittlichkeit und Unmenschlichkeit dieses Ge-dankens nicht einmal ahnt. Diese Naivität in der Verdorbenheit ist eine sehr ernsthafte Entschuldigung zugunsten der Bourgeoisie. Es ist eine gemeinsame Verderbnis, die sich wie ein absolutes Sitten-gesetz allen Individuen, welche dieser Klasse angehören, auf-zwingt; diese Klasse umfaßt heute alle Priester, Adligen, Künstler, Literaten, Gelehrten, Beamten, militärischen und zivilen Offiziere, liederlichen Artisten und Schriftsteller, Industrieritter und Kom-mis, sogar die Arbeiter, die sich bemühen, Bourgeois zu werden, kurz alle die, welche persönlich vorwärtskommen wollen und welche es müde sind, zusammen mit Millionen von Ausgebeuteten Amboß zu sein, die ihrerseits wollen und hoffen, Hammer zu wer-den - die ganze Welt einfach, das Proletariat ausgenommen. Dieser so allgemeine Gedanke ist eine wirklich große unmoralische Macht, die man im Grunde aller politischen und sozialen Akte der Bourgeoisie findet und die um so übler, unheilvoller wirkt, je mehr sie als das Maß und die Grundlage aller Sittlichkeit betrachtet wird. Sie erklärt, entschuldigt und rechtfertigt gewissermaßen alles bürgerliche Wüten und all die schändlichen Verbrechen, die die Bourgeois im Juni 1848 gegen das Proletariat begangen haben. Wenn sie, als sie die Vorrechte des Eigentums gegen die sozialisti-schen Arbeiter verteidigten, glaubten, nur ihre Interessen zu vertei-digen, hätten sie sich ohne Zweifel weniger wütend gezeigt, hätten aber in sich nicht diese Tatkraft, diesen Mut, diese unversöhnliche

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Leidenschaft und diese Einhelligkeit der Wut gefunden, welche sie 1848 siegen ließen. Sie fanden in sich jene ganze Kraft, weil sie ernstlich, tief davon überzeugt waren, daß sie bei der Verteidigung ihrer Interessen zugleich die geheiligten Grundlagen der Moral verteidigten, weil sehr ernstlich, mehr als sie vielleicht selbst wis-sen, das Eigentum ihr ganzer Gott ist, ihr einziger Gott, der in ihren Herzen seit lange den himmlischen Gott der Christen ersetzt; wie ehemals diese letzteren, so sind auch sie fähig, für ihn das Martyrium und den Tod zu erleiden. Der unversöhnliche und ver-zweifelte Krieg, den sie führen und führen werden für die Vertei-digung des Eigentums, ist also nicht nur ein Interessenkrieg, er ist im vollen Umfang des Wortes ein religiöser Krieg, und man kennt ja die Schrecken, die Schändlichkeiten, deren die religiösen Kriege fähig sind. Das Eigentum ist ein Gott; dieser Gott hat schon seine Theologie (die sich die Staatspolitik und das juristische Recht nennt) und notwendigerweise auch seine Moral; der gerechteste Ausdruck dieser Moral ist gerade der Ausdruck: »Dieser Mensch ist soviel wert.« Der Eigentums-Gott hat auch seine Metaphysik. Es ist die Wissen-schaft der bürgerlichen Ökonomisten. Wie jede Metaphysik ist sie eine Art Halbdunkel, ein Vergleich zwischen Lüge und Wahrheit, aber immer zum Nutzen der ersteren. Sie sucht der Lüge einen Schein von Wahrheit zu geben und läßt die Wahrheit in der Lüge aufgehen. Die politische Ökonomie sucht das Eigentum durch die Arbeit zu sanktionieren und als Verwirklichung, als Frucht der Arbeit darzustellen. Wenn es ihr gelingt, das zu tun, so rettet sie das Eigentum und die bürgerliche Welt. Denn die Arbeit ist ge-heiligt, und alles, was auf die Arbeit gegründet ist, ist gut, gerecht, sittlich, menschlich, gesetzlich. Nur muß man einen sehr kräftigen Glauben haben, um diese Lehre aufzunehmen. Denn wir sehen die ungeheuere Mehrheit der Arbeiter jedes Eigentums beraubt; und was noch mehr ist, wir wissen nach dem Geständnis der Ökono-misten und durch ihre eigenen wissenschaftlichen Darlegungen, daß unter der heutigen wirtschaftlichen Organisation, deren leiden-schaftliche Verteidiger sie sind, die Massen nie zu Eigentum ge-

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langen können, daß ihre Arbeit sie deshalb nicht befreit und adelt, da ja, trotz aller dieser Arbeit, sie dazu verdammt sind, ewig au-ßerhalb des Eigentums, d. h. außerhalb der Sittlichkeit und Menschlichkeit zu bleiben. Andererseits sehen wir, daß die reichs-ten Besitzer und folglich die würdigsten, menschenfreundlichsten, sittlichsten und achtenswertesten Bürger, gerade die sind, welche am wenigsten oder gar nichts arbeiten. Darauf erwidert man, daß es heute unmöglich ist, reich zu bleiben, sein Vermögen zu erhal-ten und noch zu vermehren, ohne zu arbeiten. Gut, aber hören wir zu: es gibt Arbeit und Arbeit; es gibt produktive Arbeit und die Arbeit der Ausbeutung. Die erste ist die des Proletariats, die zweite die der Besitzer als Besitzer. Derjenige, welcher seine von den Händen anderer angebauten Güter bewirtschaftet, beutet die Arbeit anderer aus; derjenige, welcher seine Kapitalien, sei es in der In-dustrie, sei es im Handel, arbeiten läßt, beutet die Arbeit anderer aus. Die Banken, welche sich durch die tausend Kreditgeschäfte bereichern, die Börsenmänner, die an der Börse gewinnen, die Aktionäre, die fette Dividenden einstreichen, ohne einen Finger zu rühren; Napoleon III., der ein so reicher Besitzer geworden ist und alle seine Geschöpfe reich gemacht hat; Wilhelm I., der stolz auf seine Siege sich anschickt, dem armen Frankreich Milliarden im voraus wegzunehmen und der sich und seine Soldaten schon durch Plünderung bereichert; alle diese Leute sind Arbeiter, aber was für Arbeiter, guter Gott! Handwerksmäßige Ausbeuter, großzügige Arbeiter. Und außerdem sind die gewöhnlichen Diebe und Stra-ßenräuber viel wirklichere Arbeiter, da sie wenigstens, um sich zu bereichern, ihre eigenen Hände gebrauchen. Für den, der nicht blind sein will, ist es klar, daß die produktive Arbeit die Reichtümer schafft und dem Arbeiter Elend gibt; und daß nur die unproduktive, ausbeutende Arbeit das Eigentum her-vorbringt. Da aber das Eigentum die Moral ist, ist es offenbar, daß die Moral, wie die Bourgeois sie verstehen, in der Ausbeutung der Arbeit von anderen besteht. (M. B.)

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22] Das Folgende ist eine Anmerkung zu dem Inhalt des letzten Satzes, die sich aber ziemlich ausdehnt und schließlich unvollendet abbricht. (Der Übersetzer) 23] In der guten, alten Zeit, als der noch nicht erschütterte christli-che Glaube, hauptsächlich durch die römisch-katholische Kirche vertreten, in der höchsten Blüte stand, hatte Gott keinerlei Schwie-rigkeit, seine Auserwählten zu bezeichnen. Es war selbstverständ-lich, daß alle Herrscher, große und kleine, durch Gottes Gnade regierten, sofern sie nicht exkommuniziert waren, selbst der Adel gründete seine Vorrechte auf die Weihe der hl. Kirche. Der Protes-tantismus, der trotz seines Charakters, mächtig zur Zerstörung des Glaubens beigetragen hat, ließ wenigstens in dieser Beziehung die christliche Lehre unberührt, er wiederholte mit dem hl. Apostel Paulus: »Alle Autoritäten kommen von Gott.« Er hat sogar noch die Autorität des Herrschers verstärkt, indem er verkündete, sie käme direkt von Gott und hätte nicht das Bedürfnis nach der Ver-mittlung durch die Kirche, ja er ordnete ihr sogar die letztere unter. Aber seit die Philosophie des letzten Jahrhunderts, vereint mit der bürgerlichen Revolution, einen so tödlichen Stoß gegen den Glau-ben geführt und alle auf diesen Glauben gegründeten Einrichtun-gen umgestürzt hat, hat die Lehre von der Autorität Mühe gehabt, sich im Bewußtsein der Menschen wiederherzustellen. Die heuti-gen Herrscher fahren wohl fort, sich „von Gottes Gnaden“ zu nen-nen, aber diese Worte, die ehemals eine so lebenswahre, mächtige und tatsächliche Bedeutung hatten, werden jetzt von den gebilde-ten Klassen und sogar von einem Teil des Volkes als eine alte, hausbackene Phrase angesehen, die im Grunde gar nichts bedeutet. Napoleon III. hat sie zu erneuern versucht, indem er ihr die andere Phrase: »und durch den Willen des Volkes« hinzufügte, die da-durch entweder sich selbst oder die andere aufhebt, oder aber be-deutet, daß alles, was das Volk will, auch Gott will. Dann bleibt noch zu wissen übrig, was das Volk will und welches das Organ ist, das am treuesten diesen Willen ausdrückt. Die radikalen De-mokraten bilden sich ein, daß das immer die durch das allgemei-ne Wahlrecht gewählte Volksvertretung sei. Andere, noch radika-

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lere, fügen das Referendum, die sofortige Abstimmung des ganzen Volkes über jedes etwas wichtigere Gesetz hinzu. Alle, Konserva-tive, Liberale, Radikale und radikale Extremisten sind sich über den Punkt einig, daß das Volk regiert werden müsse, sei es, daß es seine Führer und Herren selbst wählt, sei es, daß sie ihm aufge-zwungen werden; es muß Führer und Herren haben. Bar jeder Intelligenz muß es sich von denen leiten lassen, die sie haben. Während man in den vergangenen Jahrhunderten naiverweise die Autorität im Namen Gottes forderte, fordert man sie heute doktri-när im Namen der Intelligenz; es sind nicht mehr die Priester einer geschmähten Religion, sondern die patentierten Priester der doktri-nären Intelligenz, welche die Macht beanspruchen, und das in einer Zeit, wo diese Intelligenz ganz augenscheinlich Bankrott macht. Denn niemals haben die gebildeten und gelehrten Menschen, und was man im allgemeinen die gebildeten Klassen nennt, eine solche moralische Verkommenheit, eine solche Feigheit, eine solche Selbstsucht und eine so vollständige Überzeugungslosigkeit ge-zeigt wie in unseren Tagen. Wegen der Feigheit sind sie trotz aller ihrer Wissenschaft so dumm geblieben und verstehen nichts als die Erhaltung dessen was ist und glauben närrischerweise den Gang der Geschichte durch brutale Gewalt und militärische Diktatur aufhalten zu können durch dieselbe militärische Diktatur, der sie heute so schmählich unterworfen sind. (Bakunin schrieb diese Worte im Frühjahr 1871 unter dem Ein-druck des deutsch-französischen Krieges und seiner Folgen. Der Übersetzer) Wie von jeher die Vertreter der Intelligenz und der göttlichen Au-torität, die Kirche und die Priester sich zur wirtschaftlichen Aus-beutung der Massen zusammengeschlossen haben, was auch die Hauptursache ihres Sturzes war, ebenso haben sich heute die Ver-treter der Intelligenz und der menschlichen Autorität, der Staat, die gelehrten Körperschaften und die gebildeten Klassen mit demsel-ben Werke grausamer und harter Ausbeutung in Übereinstimmung erklärt, um die letzte sittliche Kraft, das letzte Prestige erhalten zu können. Durch ihr eigenes Gewissen verdammt, fühlen sie sich

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entlarvt und gegen die Verachtung, welche sie, wie sie wissen, nur zu wohl verdienen, haben sie keine andere Zuflucht, als die grau-same Begründung der organisierten und bewaffneten Willkür. Diese auf drei abscheuliche Dinge: Bürokratie, Polizei und stehen-des Heer gegründete Organisation bildet heute den Staat, den sichtbaren Körper der Ausbeutenden und der doktrinären Intelli-genz der bevorrechteten Klassen. Im Gegensatz zu dieser modern-den und sterbenden Intelligenz entsteht in den Massen des Volkes eine neue, jung und kraftvoll, voll Zukunft und Leben, die ohne Zweifel noch nicht wissenschaftlich entwickelt ist, aber die neue Wissenschaft befreien wird von allen Dummheiten der Metaphysik und der Theologie. Diese Intelligenz wird keine patentierten Pro-fessoren, keine Propheten und keine Priester haben, sie wird in jedem und allem leuchten und weder eine neue Kirche, noch einen neuen Staat gründen, sie wird die letzten Spuren des unheilvollen und verfluchten Prinzips der göttlichen wie menschlichen Autorität zerstören und wird jedem seine volle Freiheit zurückgeben, sie wird die Gleichheit, die Solidarität und die Brüderlichkeit des Menschengeschlechtes verwirklichen. (M. B.)

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SOZIALREVOLUTIONÄRES PROGRAMM Katechismus der revolutionären Gesellschaft (1865/66)1

I. Ziel der Gesellschaft 1. Diese Gesellschaft hat als Ziel den Sieg des Prinzips der Revolution auf der Erde, folglich die radikale Auf-lösung aller gegenwärtig bestehenden religiösen, politi-schen, ökonomischen und sozialen Organisationen und Einrichtungen, und die Neubildung zunächst der euro-päischen, dann der universellen Gesellschaft auf den Grundlagen der Freiheit, der Vernunft, der Gerechtig-keit und der Arbeit. Ein solches Werk kann nicht von kurzer Dauer sein. Die Gesellschaft bildet sich also für eine unbestimmte Zeit und wird erst an dem Tage zu bestehen aufhören, an welchem der Sieg ihrer Grundsätze auf der Erde ihrer Existenzberechtigung ein Ende machen wird.

II. Revolutionärer Katechismus 1. Verneinung des Vorhandenseins eines wirklichen, außerweltlichen persönlichen Gottes und daher auch aller Offenbarung und alles göttlichen Eingreifens in die Angelegenheiten der Welt und der Menschheit. Ab-schaffen des Dienstes und des Kults der Gottheit.

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2. Indem wir den Gotteskult durch die Achtung und Liebe der Menschheit ersetzen, erklären wir:

die menschliche Vernunft als einziges Prüfungs-mittel der Wahrheit, das menschliche Gewissen als Grundlage der Gerechtigkeit, die individuelle und kollektive Freiheit als ein-zige Schöpferin der Ordnung in der Menschheit.

3. Die Freiheit ist das absolute Recht aller erwachsenen Männer und Frauen, für ihre Handlungen keine andere Bewilligung zu suchen als die ihres eigenen Gewissens und ihrer eigenen Vernunft, nur durch ihren eigenen Willen zu ihren Handlungen bestimmt zu werden, und folglich nur verantwortlich zu sein zunächst ihnen selbst gegenüber, dann gegenüber der Gesellschaft, der sie angehören, aber nur insoweit, als sie ihre freie Zu-stimmung dazu geben, ihr anzugehören. 4. Es ist nicht wahr, daß die Freiheit eines Individuums durch die Freiheit aller anderen begrenzt wird. Der Mensch ist nur in dem Grade wirklich frei, in welchem seine von dem freien Gewissen aller anderen frei aner-kannte und von ihm wie aus einem Spiegel zurückstrah-lende Freiheit in der Freiheit der anderen Bestätigung und Ausdehnung ins Unendliche hin findet. Der Mensch ist nur unter in gleicher Weise freien Menschen wirklich frei und da er nur in seiner Eigenschaft als Mensch frei ist, ist die Knechtschaft eines einzigen

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Menschen auf der Erde, als Verletzung des Prinzips der Menschheit selbst, eine Negierung der Freiheit aller. 5. Die Freiheit eines jeden kann also nur in der Gleich-heit aller verwirklicht werden. Die Verwirklichung der Freiheit in der rechtlichen und tatsächlichen Gleichheit ist die Gerechtigkeit. 6. Es gibt nur ein einziges Dogma, ein einziges Gesetz, eine einzige moralische Grundlage für die Menschen, die Freiheit. Die Freiheit seines Nächsten achten, ist die Pflicht; ihn lieben, ihm dienlich sein, ist die Tugend. 7. Absoluter Ausschluß jedes Prinzips von Autorität und Staatsraison. Die menschliche Gesellschaft, die im Uranfang eine natürliche Tatsache war, die vor der Freiheit und dem Erwachen des menschlichen Gedankens lag und die später eine religiöse Tatsache wurde, nach dem Prinzip der göttlichen und menschlichen Autorität organisiert, muß sich heute neubilden auf der Grundlage der Frei-heit, welche von jetzt ab das einzige bildende Prinzip ihrer politischen und ökonomischen Organisation wer-den muß. Die Ordnung in der Gesellschaft muß die Resultante der größtmöglichen Entwicklung aller lo-kalen, kollektiven und individuellen Freiheiten sein. 8. Die politische und ökonomische Organisation des sozialen Lebens darf folglich nicht mehr wie heute von

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oben nach unten und vom Mittelpunkt zum Umkreis ausgehen, nach dem Prinzip der Einheit und der er-zwungenen Zentralisation, sondern von unten nach o-ben und von der Peripherie zum Zentrum nach dem Prinzip der freien Assoziation und Föderation. 9. Politische Organisation. Es ist unmöglich, eine kon-krete, allgemeine und verbindliche Regel für die innere Entwicklung und die politische Organisation der Natio-nen festzusetzen, da die Existenz jeder einzelnen Nation einer Menge verschiedener historischer, geographischer und ökonomischer Bedingungen untergeordnet ist, die nie erlauben, ein Organisationsmuster aufzustellen, das für alle gleich gut und annehmbar wäre. Ein solches absolut jedes praktischen Nutzens entbehrende Unter-nehmen wäre übrigens ein Eingriff in den Reichtum und die Spontaneität des Lebens, das sich in der unend-lichen Verschiedenheit gefällt, und, was noch mehr bedeutet, es wäre dem Prinzip der Freiheit selbst entge-gen. Es gibt aber doch wesentliche, absolute Bedingun-gen, außerhalb welcher die praktische Verwirklichung und die Organisation der Freiheit immer unmöglich sein wird. Diese Bedingungen sind: a) Die radikale Abschaffung jeder offiziellen Religion und jeder privilegierten oder auch nur vom Staat ge-schützten, bezahlten und unterhaltenen Kirche. Absolu-te Gewissens- und Propagandafreiheit für jeden mit unbegrenzter Möglichkeit für jeden, seinen Göttern,

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welche immer es seien, soviel Tempel als er will, zu errichten und die Priester seiner Religion zu bezahlen und zu unterhalten. b) Die als religiöse Körperschaften betrachteten Kir-chen werden keines der den produktiven Assoziationen zuteil werdenden Rechte genießen, sie können weder erben noch Güter in Gemeinschaft besitzen, mit Aus-nahme ihrer Häuser oder Gebetsanstalten und dürfen sich nie mit Kindererziehung beschäftigen, da ihr einzi-ger Lebenszweck die systematische Leugnung der Mo-ral, der Freiheit und lukrative Zauberei ist. c) Abschaffung der Monarchie. Republik. d) Abschaffung der Klassen, Rangstufen, Privilegien und Unterschiede aller Art. Absolute Gleichheit der politischen Rechte für alle Männer und Frauen. Allge-meines Stimmrecht. e) Abschaffung, Auflösung und moralischer, poli-tischer, gerichtlicher, bürokratischer und finanzieller Bankrott des bevormundenden, überragenden, zentra-listischen Staates, der das Doppelspiel und andere Ich der Kirche und als solches dauernde Ursache der Ver-armung, Verdummung und Versklavung der Völker ist. Als natürliche Folge die Abschaffung aller Staatsuni-versitäten, indem die Sorge für den öffentlichen Unter-richt ausschließlich den Gemeinden und freien Assozia-

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tionen angehören soll; Abschaffung des staatlichen Richtertums, indem alle Richter vom Volke gewählt werden sollen; Abschaffung der gegenwärtig in Europa gültigen Gesetzbücher für Straf- und bürgerliches Recht, weil sie alle auf gleiche Weise vom Kult Gottes, des Staates, der religiös oder politisch geheiligten Fami-lie und des Eigentums inspiriert dem menschlichen Recht zuwider sind und weil das Gesetzbuch der Frei-heit nur durch die Freiheit selbst geschaffen werden kann. Abschaffung der Banken und aller anderen Kre-diteinrichtungen des Staates. Abschaffung jeder zentra-len Verwaltung, der Bürokratie, der stehenden Heere und der Staatspolizei. f) Unmittelbare und direkte Wahl aller öffentlichen, gerichtlichen und zivilen Funktionäre, sowie aller nati-onalen, provinziellen und kommunalen Vertreter oder Räte durch das Volk, das heißt durch das allgemeine Stimmrecht aller, der erwachsenen Männer und Frauen. g) Innere Reorganisation jedes Landes mit der ab-soluten Freiheit der Individuen, produktiven Asso-ziationen und Gemeinden als Ausgangspunkt und Grundlage. h) Individuelle Rechte. (1.) Das Recht jedes einzelnen, männlichen oder weiblichen Wesens, von der Stunde seiner Geburt bis zu seiner Großjährigkeit vollständig unterhalten, bewacht, beschützt, erzogen und unterrich-

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tet zu werden in allen öffentlichen Schulen, den unte-ren, mittleren und höheren, industriellen, Kunst und Wissenschaft lehrenden, auf Kosten der Gesellschaft. (2.) Gleiches Recht eines jeden auf Beratung und im Ausmaß des Möglichen auf Hilfe durch die Gesell-schaft im Beginn seiner Laufbahn, die jeder Mün-diggewordene frei wählen wird; hierauf wird die Ge-sellschaft, die ihn für absolut frei erklärte, keinerlei weitere Überwachung der Autorität über ihn ausüben und jede weitere Verantwortlichkeit ihm gegenüber ablehnen, indem sie ihm nur die Respektierung und im Fall der Not den Schutz seiner Freiheit schuldet. (5.) Die Freiheit jedes mündigen Individuums, Mann oder Frau, muß absolut und vollständig sein; Freiheit, zu gehen und zu kommen, laut jede Meinung auszuspre-chen, faul oder fleißig, unmoralisch oder moralisch zu sein, mit einem Wort: über die eigene Person und den eigenen Besitz nach Belieben zu verfügen, ohne jemand Rechenschaft abzulegen: Freiheit, ehrlich zu leben durch eigene Arbeit oder durch schimpfliche Ausbeu-tung der Wohltätigkeit oder des privaten Vertrauens, sobald beide freiwillig sind und nur von Erwachsenen gespendet werden. (4.) Unbegrenzte Freiheit jeder Art von Propaganda durch Reden, die Presse, in öffentli-chen und privaten Versammlungen, ohne einen anderen Zügel für diese Freiheit als die heilbringende natürli-che Macht der öffentlichen Meinung. Absolute Freiheit für Vereinigungen, ohne solche auszunehmen, die nach ihrem Ziel unmoralisch sein oder zu sein scheinen wer-

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den, und selbst solche, deren Ziel die Korruption und die Zerstörung der individuellen und öffentlichen Frei-heit sein würde. (5.) Die Freiheit kann und soll sich nur durch die Freiheit verteidigen, und es ist ein gefährli-cher Widersinn, sie zu beeinträchtigen unter dem durch den Schein blendenden Vorwand, sie zu beschützen, und da die Moral keine andere Quelle, keinen anderen Ansporn, keine andere Ursache und kein anderes Ziel hat als die Freiheit, und da sie selbst nichts ist als die Freiheit, so wendeten sich alle der Freiheit zum Schutz der Moral auferlegten Einschränkungen immer zum Schaden der Moral. Die Psychologie, die Statistik und die ganze Geschichte beweisen uns, daß die individuel-le und soziale Immoralität immer die Folge schlechter öffentlicher und privater Erziehung war und des Feh-lens und der Entartung der öffentlichen Meinung, die nur durch die Freiheit allein existiert, sich entwickelt und sich moralisiert und vor allem die Folge einer feh-lerhaften Organisation der Gesellschaft. Die Erfahrung lehrt uns, sagt der berühmte belgische Statistiker Quete-let, daß die Gesellschaft stets die Verbrechen vorberei-tet und daß die Verbrecher nur die notwendigen Werk-zeuge sind, welche sie ausführen! Es ist also unnütz, der sozialen Immoralität die Strenge einer in die indivi-duelle Freiheit eingreifenden Gesetzgebung entgegen-zustellen. Die Erfahrung lehrt uns im Gegenteil, daß das autoritäre Repressivsystem, weit entfernt davon, Über-tretungen Stillstand zu gebieten, sie in den von ihnen betroffenen Ländern nur immer tiefer und weiter entwi-

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ckelt hat, und daß die öffentliche und private Moral immer sank und stieg in dem Maße der Schmälerung oder Erweiterung der persönlichen Freiheit, und daß wir folglich, um die gegenwärtige Gesellschaft moralisch zu machen, zuerst damit beginnen müssen, mit Stumpf und Stiel diese ganze auf Ungleichheit, Vorrechte, gött-liche Autorität und Verachtung der Menschheit gegrün-dete politische und soziale Organisation zu zerstören, und wenn wir sie auf den Grundlagen der vollständigs-ten Gleichheit, Gerechtigkeit, der Arbeit und einer ver-nunftgemäßen, nur von der Achtung des Menschen inspirierten Erziehung neugebildet haben, müssen wir ihr als Schutz die öffentliche Meinung geben und als Seele die absoluteste Freiheit. (6.) Jedoch soll die Ge-sellschaft nicht völlig waffenlos bleiben gegen schma-rotzende, bösartige und schädliche Personen. Da die Arbeit die Grundlage aller politischen Rechte sein soll, so kann die Gesellschaft, die Gemeinde, die Provinz oder die Nation, jede in ihrem eigenen Bereich, diese Rechte großjähriger Personen entziehen, die, ohne inva-lid, krank oder alt zu sein, auf Kosten öffentlicher oder privater Wohltätigkeit leben, mit der Verpflichtung der Wiedereinsetzung in diese Rechte, sobald sie wieder von ihrer eigenen Arbeit zu leben beginnen. (7.) Da die Freiheit jedes menschlichen Wesens unveräußerlich ist, wird die Gesellschaft nie dulden, daß irgend jemand juridisch seine Freiheit veräußere oder daß er über sie einem anderen gegenüber durch Kontrakte anders ver-füge, als auf dem Fuß der vollständigen Gleichheit und

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Gegenseitigkeit. Sie wird aber nicht verhindern können, daß ein Mann oder eine Frau, die jedes Gefühls persön-licher Würde bar sind, ohne Kontrakt sich einer anderen Person gegenüber in Beziehungen freiwilliger Knecht-schaft begeben, aber sie wird solche als von priva-ter Wohltätigkeit lebende betrachten und sie folglich vom Genuß der politischen Rechte für die ganze Dauer dieser Knechtschaft ausschließen. (8.) Alle Personen, die ihre politischen Rechte verloren haben, werden gleichfalls des Rechtes beraubt, ihre Kinder zu erziehen und zu behalten. (9.) Im Fall der Untreue gegen frei eingegangene Verpflichtungen, oder im Fall offenen oder bewiesenen Angriffs gegen das Eigentum, die Per-son und vor allem gegen die Freiheit eines Bürgers, eines einheimischen oder ausländischen, wendet die Gesellschaft gegen den einheimischen oder ausländi-schen Delinquenten die von ihren Gesetzen bestimmte Strafe an. (10.) Absolute Abschaffung aller entwürdi-genden und grausamen Strafen, körperlicher Züchti-gung und der Todesstrafe, soweit das Gesetz sie billigt und ausführt. Abschaffung aller Strafen von unbe-stimmter oder zu langer Dauer, die keine Hoffnung, keine wirkliche Möglichkeit der Rehabilitierung zulas-sen, da das Verbrechen als Krankheit angesehen werden muß und die Bestrafung eher als eine Heilung statt als eine Gegenforderung der Gesellschaft. (11.) Jeder, von den Gesetzen einer Gesellschaft, der Gemeinde, der Provinz oder der Nation Verurteilte, wird das Recht behalten, sich der ihm aufgelegten Strafe nicht zu un-

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terwerfen, wenn er erklärt, daß er zu dieser Gesellschaft nicht mehr gehören will. In einem solchen Fall wird aber jene ihrerseits das Recht haben, ihn aus ihrem Schoß auszustoßen und ihn als außerhalb ihrer Garantie und ihres Schutzes stehend zu erklären. (12.) Der Wi-derspenstige, der so unter das Naturgesetz, Auge um Auge, Zahn um Zahn zurückgefallen ist, wenigstens auf dem von dieser Gesellschaft eingenommenen Terrain, kann ausgeraubt, mißhandelt, selbst getötet werden, ohne daß die Gesellschaft sich darum kümmern würde. Jeder kann sich seiner entledigen wie eines schädlichen Tieres, nie aber darf er ihn knechten, ihn als Sklaven verwenden. i) Rechte der Assoziationen. - Die kooperativen Arbei-terassoziationen sind ein neues Ereignis in der Ge-schichte; wir sind heute bei ihrer Geburt anwesend und können zur Stunde die ungeheuere Entwicklung, die sie ohne jeden Zweifel nehmen werden und die in der Zu-kunft daraus entstehenden neuen politischen und sozia-len Verhältnisse nur vorausahnen, aber nicht näher bestimmen. Es ist möglich und selbst sehr wahrschein-lich, daß sie eines Tages die Grenzen der Gemeinden, Provinzen und selbst der gegenwärtigen Staaten über-schreitend, der ganzen menschlichen Gesellschaft eine neue Verfassung geben werden, indem dieselbe nicht mehr in Nationen, sondern in verschiedene industrielle Gruppen geteilt sein würde, nach den Bedürfnissen der Produktion und nicht nach denen der Politik organisiert. Dies geht die Zukunft an. Was uns betrifft, können wir

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heute nur dieses absolute Prinzip aufstellen: Welches auch ihr Ziel sei, alle Assoziationen, wie alle Indi-viduen, müssen absolute Freiheit genießen. Weder die Gesellschaft, noch irgendein Teil derselben: Gemeinde, Provinz oder Nation, hat das Recht, freie Personen zu hindern, sich mit irgendeinem Ziel frei zu assoziieren, mit einem religiösen, politischen, wissenschaftlichen, industriellen, künstlerischen Ziel oder selbst mit dem Ziel der gegenseitigen Korruption und der Ausbeutung der Harmlosen und Dummen, vorausgesetzt, daß diese nicht minderjährig sind. Die Bekämpfung der Scharla-tane und verderblicher Assoziationen ist einzig Sache der öffentlichen Meinung. Aber die Gesellschaft hat die Pflicht und das Recht, die soziale Garantie, die juridi-sche Anerkennung und die politischen und bürgerlichen Rechte jeder Assoziation als Kollektivkörper zu ver-weigern, die durch ihr Ziel, ihre Vorschriften und Statu-ten den Grundprinzipien ihrer Verfassung zuwiderlau-fen würde und deren sämtliche Mitglieder sich nicht auf dem Fuß vollständiger Gleichheit und Gegenseitigkeit befinden, ohne daß sie jedoch die Mitglieder selbst nur wegen der Tatsache ihrer Teilnahme an nicht durch die soziale Garantie regularisierten Assoziationen dieser Garantie und Rechte berauben könnte. Der Unterschied zwischen den regulären und den irregulären Assoziatio-nen wird also dieser sein: Die juridisch als Kollektiv-körper anerkannten Assoziationen werden auf Grund dieses Umstandes das Recht haben, vor der sozialen Justiz gegen Personen, Mitglieder oder Nichtmitglieder

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und gegen alle anderen regulären Assoziationen im Fall der Verfehlung gegen Verpflichtungen ihnen gegenüber Klagen einbringen zu können. Die juridisch nicht aner-kannten Assoziationen werden als Kollektivkörper die-ses Recht nicht haben, aber sie sind in dieser Hinsicht auch keiner juridischen Verantwortung unterworfen, da all ihre Verpflichtungen in den Augen einer Gesell-schaft, die ihre kollektive Existenz nicht sanktioniert hat, nichtig sein müssen, wodurch aber keines ihrer Mitglieder von individuell eingegangenen Verpflich-tungen befreit wird, j) Die Teilung eines Landes in Regionen, Provinzen, Distrikte und Gemeinden, oder in Departements und Gemeinden, wie in Frankreich, wird natürlich von der Lage, den historischen Gewohnheiten, den gegenwärti-gen Bedürfnissen und der besonderen Lage eines jeden Landes abhängen. Hier sind nur zwei gemeinsame und obligatorische Grundsätze nötig für jedes Land, das ernstlich seine Freiheit organisieren will. Erstens muß jede Organisation von unten nach oben vorschreiten, von der Gemeinde zur zentralen Einheit des Landes, zum Staat, auf dem Wege der Föderation. Zweitens muß zwischen den Gemeinden und dem Staat wenigstens ein autonomer Vermittler bestehen: das Departement, die Region oder die Provinz. Sonst wäre die Gemeinde, in beschränktem Sinn dieses Wortes genommen, immer zu schwach, um dem gleichmäßig und despotisch zentrali-sierenden Druck des Staates zu widerstehen, wodurch notwendigerweise jedes Land zum despotischen Re-

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gime der französischen Monarchie gebracht würde, wie wir dies zweimal am Beispiel von Frankreich gesehen haben, da der Despotismus seine Wurzel immer viel mehr in der zentralisierenden Organisation des Staates hatte als in der natürlich stets despotischen Veranla-gung der Könige. k) Die Grundlage der politischen Organisation eines Landes muß die absolut autonome Gemeinde sein, die immer von der Mehrzahl der Stimmen aller großjähri-gen Einwohner, Männer und Frauen mit gleichem Recht, vertreten wird. Keine Macht hat das Recht, sich in ihr inneres Leben, ihre Handlungen und ihre Verwal-tung einzumengen. Sie ernennt und setzt ab durch Wahl alle Funktionäre, Verwalter und Richter und verwaltet ohne jede Kontrolle das Gemeindeeigentum und ihr Finanzwesen. Jede Gemeinde wird das unbestreitbare Recht besitzen, von jeder höheren Bestätigung unab-hängig ihre eigene Gesetzgebung und Verfassung zu schaffen. Um aber in die provinzielle Föderation einzu-treten und einen integrierenden Bestandteil einer Pro-vinz zu bilden, muß sie unbedingt ihre eigene Verfas-sung den Grundprinzipien der Provinzialverfassung anpassen und sie vom Parlament dieser Provinz sank-tionieren lassen. Sie muß sich auch den Urteilen des Provinzialgerichts unterwerfen und den durch Abstim-mung des Provinzialparlaments sanktionierten, ihr von der Provinzialregierung befohlenen Maßnahmen. Sonst würde sie aus der Solidarität, Garantie und Ge-

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meinschaft ausgeschlossen (und) außerhalb des Geset-zes der Provinz (gestellt). 1) Die Provinz darf nichts als eine freie Föderation der autonomen Gemeinden sein. Das Provinzialparlament, bestehend, sei es aus einer einzigen Kammer von Ver-tretern aller Gemeinden, sei es aus zwei Kammern be-stehend aus den Vertretern der Gemeinden und den Vertretern der ganzen Provinzbevölkerung, unabhängig von den Gemeinden, dieses Provinzialparlament, das sich in die innere Verwaltung der Gemeinden nicht ein-mischen würde, muß die Grundsätze der Provin-zialverfassung aufstellen, die für alle Gemeinden, die an dem Provinzparlament teilnehmen wollen, obligato-risch sein müssen. Diese Grundsätze, die den Gegens-tand dieses Katechismus bilden, sind rekapituliert im Artikel 11. Auf Grundlage dieser Prinzipien wird das Parlament die Provinzialgesetzgebung zusammenstel-len, betreffend die Pflichten und Rechte der Personen, Assoziationen und Gemeinden und die Strafen bei Ü-bertretung derselben, wobei die Gemeindegesetzgebun-gen das Recht behalten, in sekundären Punkten von der Provinzialgesetzgebung abzuweichen, nie aber in Be-zug auf die Grundlage, das Streben nach wirklicher, lebendiger Einheit, nicht nach Einförmigkeit, und mit dem Vertrauen, daß eine noch intimere Einheit herge-stellt werden wird durch die Erfahrung, die Zeit, die Entwicklung des gemeinsamen Lebens, die eigene Ein-sicht und Bedürfnis se der Gemeinden, durch die Frei-heit mit einem Wort, nie durch Zwang oder Gewalt der

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Provinzialmacht; denn selbst Wahrheit und Gerechtig-keit werden, wenn sie mit Gewalt aufgezwungen wer-den, Unbill und Lüge. Das Provinzialparlament wird die Verfassungsurkunde der Föderation der Gemeinden aufsetzen, ihre Rechte und Pflichten für sich und ge-genüber dem Parlament, dem Gericht und der Regie-rung der Provinz. Es stimmt über Gesetze, Verfügungen und Maßregeln ab, die durch die Bedürfnisse der gan-zen Provinz geboten sind oder auf Beschlüsse des nati-onalen Parlaments zurückgehen, ohne je die Provin-zialautonomie und die Gemeindeautonomie aus dem Auge zu verlieren. Ohne sich in die innere Verwaltung der Gemeinden einzumischen, setzt es deren Quote für die nationalen und provinziellen Steuern fest. Die Ge-meinde selbst verteilt diese Leistung unter allen arbeits-fähigen und erwachsenen Einwohnern. - Das Parlament kontrolliert endlich die Handlungen, billigt oder ver-wirft die Vorschläge der Provinzialregierung, die natür-lich immer einer Wahl entspringt. Das gleichfalls ge-wählte Provinzialgericht urteilt ohne Appell über alle Fälle zwischen Personen und Gemeinden, Assoziatio-nen und Gemeinden unter sich, und es urteilt in erster Instanz über alle Fälle zwischen Gemeinden und der Regierung oder dem Provinzialparlament. m) Die Nation darf nichts sein als eine Föderation au-tonomer Provinzen. Das nationale Parlament, beste-hend, sei es aus einer Kammer, den Vertretern aller Provinzen, sei es aus zwei Kammern, den Provinzial-vertretern und den Vertretern der ganzen nationalen

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Bevölkerung ohne Rücksicht auf die Provinzen, dieses nationale Parlament, das sich in die Verwaltung und das innere politische Leben der Provinzen nicht einmischt, wird die Grundprinzipien der nationalen Verfassung festsetzen, die für alle Provinzen, die am nationalen Pakt teilnehmen wollen, obligatorisch sind. Diese Grundsätze sind in Artikel 11 rekapituliert. Auf Grund-lage derselben wird das nationale Parlament die natio-nale Verfassungsurkunde aufsetzen, von der die provin-ziellen Verfassungen in sekundären Punkten, nie in den Grundsätzen, abweichen können. Es wird die Verfas-sungsurkunde der Föderation der Provinzen aufsetzen, alle von den Bedürfnissen der ganzen Nation gebotenen Gesetze, Verfügungen und Maßregeln votieren, die nationalen Steuern bestimmen und auf die Provinzen verteilen, denen die Aufgabe bleibt, sie auf die Ge-meinden zu verteilen. Es wird endlich alle Handlungen der ausführenden nationalen Regierung, die immer auf Zeit gewählt wird, kontrollieren und ihre Vorschläge annehmen oder verwerfen. Es schließt Bündnisse zwi-schen Nationen, entscheidet über Frieden und Krieg und besitzt allein das Recht für eine stets beschränkte Zeitdauer, die Aufstellung einer nationalen Armee zu verfügen. Die Regierung wird nur das Ausfüh-rungsorgan seines Willens sein. Das Nationalgericht urteilt ohne Appell über alle Fälle von Personen, Asso-ziationen und Gemeinden, gegen die Provinz und in allen Streitsachen zwischen Provinzen. In Streitfällen zwischen Provinzen und dem Staat, die auch dem Urteil

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dieses Gerichts unterliegen, können die Provinzen an das internationale Gericht appellieren, wenn ein solches einmal bestehen wird. n) Die internationale Föderation wird alle Nationen umfassen, die sich auf den bisher und in folgenden hier entwickelten Grundlagen vereinigt haben. Es ist wahr-scheinlich und sehr wünschenswert, daß, wenn die Stunde der großen Revolution von neuem schlägt, alle dem Banner der Volksbefreiung folgenden Nationen sich die Hand reichen zu einer dauernden und intimen Allianz gegen die Koalition der Länder, welche sich den Befehlen der Reaktion unterstellen werden. Diese Allianz wird zuerst eine beschränkte Föderation bilden, gewissermaßen den Keim der universellen Föderation der Völker, der in der Zukunft die ganze Erde umfassen soll. Die internationale Föderation der revolutionären Völker mit einem Parlament, einem Gericht, und einem leitenden Komitee, die alle international sind, wird na-türlich auf den Grundsätzen der Revolution selbst be-gründet sein. Auf die internationale Politik angewendet, sind diese Grundsätze die folgenden: (1.) Jedes Land, jede Nation, jedes Volk, klein oder groß, schwach oder stark, jede Region, Provinz oder Gemeinde besitzen das absolute Recht, über ihr Schicksal zu verfügen, ihre eigene Existenz zu bestimmen, ihre Bündnisse zu wäh-len, sich zu vereinigen und zu trennen, nach ihrem Wil-len und Bedürfnis, ohne Rücksicht auf die sogenannten historischen Rechte und auf die politischen, kommer-ziellen oder strategierten Notwendigkeiten der Staaten.

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- Wenn die Vereinigung der Teile zu einem Ganzen wahr, fruchtbar und stark sein soll, muß sie absolut frei sein. Sie darf einzig und allein das Resultat der lokalen, inneren Notwendigkeiten und der gegenseitigen Anzie-hung der Teile sein, über welche Notwendigkeiten und Anziehung die Teile selbst die einzigen Richter sind. (2.) Absolute Abschaffung des sogenannten histo-rischen Rechts und des schrecklichen Rechts der Erobe-rung, da sie dem Prinzip der Freiheit zuwiderlaufen. (3.) Absolute Negierung der Politik der Vergrößerung, des Ruhms und der Macht des Staates - einer Politik, die aus jedem Land eine Festung macht, die den ganzen Rest der Menschheit von sich ausschließt und es da-durch zwingt, sich gewissermaßen als die ganze Menschheit zu betrachten, sich absolut selbst zu genü-gen, sich in sich selbst zu organisieren als eine von der ganzen menschlichen Solidarität unabhängige Welt und sein Wohlbefinden und seinen Ruhm in dem Übel zu suchen, das es den anderen Nationen antut. Ein er-oberndes Land ist notwendigerweise ein im Innern ver-sklavtes Land. (4.) Ruhm und Größe einer Nation be-stehen einzig in der Entwicklung ihrer Menschlichkeit. Ihre Kraft, Einheit, die Wucht ihrer inneren Lebenskraft werden allein an dem Grad ihrer Freiheit gemessen. - Wenn man die Freiheit als Grundlage nimmt, gelangt man notwendigerweise zur Einheit; von der Einheit aber gelangt man schwer oder überhaupt nicht zur Frei-heit. Wenn man zu ihr gelangt, so geschieht es nur

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durch Zerstörung einer innerhalb der Freiheit zustande gekommenen Einheit. (5.) Wohlstand und Freiheit der Nationen, wie jedes einzelnen, sind absolut solidarisch - daher absolute Handels-, Geschäfts- und Verkehrsfreiheit zwischen allen föderierten Ländern. Abschaffung der Grenzen, Pässe und Zollstätten. Jeder Bürger eines föderierten Landes muß alle bürgerlichen Rechte in allen derselben Föderation angehörenden Ländern genießen und das Bürgerrecht und alle politischen Rechte leicht erwerben können. (6.) Da die Freiheit aller, von Personen und Kollektivitäten, solidarisch ist, kann keine Nation, Pro-vinz, Gemeinde und Assoziation unterdrückt werden, ohne daß alle anderen in ihrer Freiheit bedroht wären und sich bedroht fühlten. Jeder für alle und alle für je-den - dies muß der heilige Grundsatz der internationa-len Föderation sein. (7.) Keines der föderierten Länder darf eine stehende Armee behalten, noch Einrichtungen, die den Soldat vom Bürger trennen. — Urheberinnen von Ruin, Korruption, Verdummung und Tyrannei im Inneren sind die stehenden Armeen und der Soldatenbe-ruf noch eine Bedrohung des Wohlstands und der Un-abhängigkeit aller anderen Länder. Jeder gesunde Bür-ger muß im Notfall Soldat werden zur Verteidigung seines Heims oder der Freiheit. Die nationale Rüstung muß in jedem Lande nach Gemeinden und Provinzen organisiert werden, ungefähr wie in den Vereinigten Staaten von Amerika und in der Schweiz. (8.) Das in-ternationale Parlament, bestehend aus einer einzigen

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Kammer, den Vertretern aller Nationen, oder aus zwei Kammern, jenen Vertretern und den direkten Vertretern der ganzen Bevölkerung der internationalen Föderation ohne Unterschied der Nationalität, dieses föderale Par-lament wird den internationalen Pakt aufsetzen und die föderale Gesetzgebung feststellen, die es allein berufen ist, nach den Zeiterfordernissen zu entwickeln und ab-zuändern. Das internationale Gericht hat keine andere Mission, als in letzter Instanz zwischen Staaten und deren Provinzen Recht zu sprechen. Die etwaigen Dif-ferenzen zwischen föderierten Staaten können nur in erster und letzter Instanz vom internationalen Parla-ment gerichtet werden, das auch ohne Appell in allen Fragen gemeinsamer Politik entscheidet und für den Fall des Krieges, im Namen der ganzen revolutionären Föderation, gegen die reaktionäre Koalition. (9.) Kein föderierter Staat darf je gegen einen anderen föderierten Staat Krieg führen. Wenn das internationale Parlament sein Urteil gesprochen hat, muß sich der verurteilte Staat unterwerfen. Tut er dies nicht, so müssen alle an-deren Staaten der Föderation ihren Verkehr mit ihm abbrechen, ihn außerhalb des föderalen Gesetzes, der Solidarität und der föderalen Gemeinschaft stellen und im Fall eines Angriffs auf sie sich solidarisch gegen ihn rüsten. (10.) Alle zur revolutionären Föderation gehö-renden Staaten müssen an jedem Kriege eines derselben gegen einen nicht föderierten Staat tätigen Anteil neh-men. Vor einer Kriegserklärung muß jedes föderierte Land das internationale Parlament verständigen und

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darf den Krieg nur erklären, wenn das Parlament findet, daß eine hinreichende Kriegsursache vorliegt. In die-sem Fall nimmt das ausführende föderale Direktorium die Sache des beleidigten Staates auf und verlangt im Namen der ganzen revolutionären Föderation von dem angreifenden fremden Staate prompte Genugtuung. Ist dagegen das Parlament der Ansicht, daß kein Angriff und keine wirkliche Beleidigung bestehe, wird es dem sich beklagenden Staat raten, keinen Krieg anzufangen und ihm mitteilen, daß, wenn er doch einen Krieg be-ginne, er ihn ganz allein führen müsse. (11.) Man muß hoffen, daß im Lauf der Zeit die föderierten Staaten auf den ruinösen Luxus besonderer Vertretungen verzichten und sich mit einer föderalen diplomatischen Vertretung begnügen werden. (12.) Die beschränkte internationale revolutionäre Föderation wird den Völkern, die ihr später beitreten wollen, immer offenstehen auf Grund-lage der Ideen und der militanten und aktiven Solidari-tät der Revolution, wie sie hier auseinandergesetzt sind - stets aber nur, ohne je betreffs dieser Grundsätze je-mand die geringste Konzession zu machen. Folglich können nur die Völker in die Föderation aufgenommen werden, die alle Prinzipien angenommen haben, wie sie in Artikel 11 rekapituliert sind. 10. Soziale Organisation. Ohne politische Gleichheit gibt es keine wirkliche politische Freiheit, aber die poli-tische Gleichheit wird nur dann möglich sein, wenn die ökonomische und soziale Gleichheit bestehen wird.

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a) Die Gleichheit bedeutet nicht die Gleichmachung der individuellen Verschiedenheiten, noch die intellektuel-le, moralische und physische Identität der Individuen. Diese Verschiedenheit von Fähigkeiten und Kräften, diese Unterschiede von Rassen, Nationen, Geschlecht, Alter unter den Menschen sind durchaus keine sozialen Übel, sondern bilden im Gegenteil den Reichtum der Menschheit. Die ökonomische und soziale Gleichheit bedingt ebenso wenig die Gleichmachung des persönli-chen Vermögens, insoweit es das Produkt der Fähig-keit, produktiven Energie und Sparsamkeit jedes ein-zelnen ist. b) Die Gleichheit und die Gerechtigkeit verlangen nur: eine solche Gesellschaftseinrichtung, daß jedes menschliche Wesen, wenn es auf die Welt kommt, dort, soweit dies nicht von der Natur, sondern von der Ge-sellschaft abhängt, die gleichen Mittel findet, zur Ent-wicklung seiner Kindheit und Jugend, bis es erwachsen ist, zunächst für seine Erziehung und seinen Unterricht und später zur Übung in den verschiedenen Kräften, die die Natur in jeden für die Arbeit gelegt hat. - Diese Gleichheit des Ausgangspunkts, welche die Gerechtig-keit für jeden erfordert, wird unmöglich sein, solange das Erbrecht bestehenbleibt. c) Die Gerechtigkeit sowie die Menschenwürde ver-langen, daß jeder einzig und allein der Sohn seiner Werke sei. Wir weisen mit Entrüstung das Dogma der Erbsünde, der erblichen Schande und Verantwortlich-keit zurück. Mit derselben Folgerichtigkeit müssen wir

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die fiktive Erblichkeit der Tugend, der Ehren und der Rechte zurückweisen, auch die des Vermögens. Der Erbe irgendeines Vermögens ist nicht mehr ganz der Sohn seiner Werke und ist in Bezug auf den Ausgangs-punkt ein Bevorrechteter. d) Abschaffung des Erbrechts. Solange dieses Recht besteht, werden die erblichen Unterschiede der Klassen, Stellungen, des Vermögens, werden mit einem Wort die soziale Ungleichheit und das Privileg, wenn nicht recht-lich, wenigstens tatsächlich weiter bestehen. — Die faktische Ungleichheit bringt aber nach einem der Ge-sellschaft eigenen Gesetz immer die Ungleichheit der Rechte mit sich; die soziale Ungleichheit wird notwen-dig zur politischen Ungleichheit. Und ohne politische Gleichheit gibt es, wie wir sagten, keine Freiheit im allgemeinen, menschlichen, wirklich demokratischen Sinn des Wortes; die Gesellschaft würde stets in zwei ungleiche Teile zerfallen, deren einer, der ungeheuer große, die ganze Volksmasse umfassende von dem an-deren unterdrückt und ausgebeutet würde. Folglich ist das Erbrecht dem Sieg der Freiheit entgegengesetzt, und wenn die Gesellschaft frei werden will, muß sie es abschaffen. e) Sie muß es abschaffen, weil dieses Recht, da es auf einer Fiktion beruht, dem Prinzip der Freiheit selbst zuwiderläuft. - Alle persönlichen, politischen und sozia-len Rechte haften an der wirklichen und lebenden Per-son. Nach dem Tode gibt es nur den fiktiven Willen einer Person, die nicht mehr existiert und die im Namen

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des Todes die Lebenden bedrückt. Wenn der Tote auf die Durchführung seines Willens hält, möge er kommen und ihn selbst ausführen, wenn er kann; er hat aber nicht das Recht zu verlangen, daß die Gesellschaft ihre ganze Macht und ihr Recht in den Dienst seiner Nicht-existenz stellt. f) Der legitime und ernste Zweck des Erbrechts war stets der, den kommenden Generationen die Mittel, sich zu entwickeln und Männer zu werden, zu sichern. Folg-lich wird nur der Fonds für Erziehung und öffentlichen Unterricht das Recht haben, zu erben, mit der Ver-pflichtung, für die gleiche Erhaltung, Erziehung und Unterricht aller Kinder von der Geburt bis zur Mündig-keit und ihrer vollständigen Freiwerdung zu sorgen. Auf diese Weise werden alle Eltern in gleichem Maße über das Schicksal ihrer Kinder beruhigt sein, und da die Gleichheit aller eine Grundbedingung der Moralität eines jeden und da jedes Vorrecht eine Quelle der Im-moralität ist, so werden alle Eltern, deren Liebe zu ih-ren Kindern vernünftig ist und nicht ihrer Eitelkeit dient, sondern ihrer Menschenwürde, selbst wenn sie ihren Kindern ein sie in eine privilegierte Lage brin-gendes Erbteil hinterlassen könnten, für sie das Regime der vollständigsten Gleichheit vorziehen. g) Nach Beseitigung der aus dem Erbrecht resul-tierenden wird noch immer, obgleich bedeutend ver-mindert, jene Ungleichheit zurückbleiben, die sich aus der Verschiedenheit der Fähigkeiten, Kräfte und der produktiven Energie der einzelnen ergibt - einer Ver-

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schiedenheit, die ihrerseits, ohne je ganz zu verschwin-den, sich beständig immer mehr verringern wird unter dem Einfluß einer auf Gleichheit begründeten Erzie-hung und sozialen Organisation, und die übrigens, wenn einmal das Erbrecht abgeschafft ist, nie mehr auf kommenden Generationen lasten würde. h) Die Arbeit ist die Grundlage der Menschenwürde und des Menschenrechts. Denn nur durch eine freie und intelligente Arbeit schafft der Mensch, seinerseits Schöpfer der äußeren Welt und seiner eigenen Bestiali-tät sein Menschsein und sein Recht abgewinnend, die zivilisierte Welt. Die Unehre, die in der antiken Welt und der feudalen Gesellschaft an die Idee der Arbeit geheftet wurde und die ihr zum großen Teil noch heute anhängt, trotz aller Phrasen über ihre Würde, die wir täglich wiederholen hören, diese stupide Verachtung der Arbeit, hat zwei Quellen: erstens die so charakteristische Überzeugung des Altertums, die selbst heute noch geheime Anhänger besitzt, daß, um irgendeinem Teil der menschlichen Ge-sellschaft die Mittel zu geben, sich durch Wissenschaft, Kunst, Rechtserkenntnis und Rechtsdurchführung zu humanisieren, es notwendig sei, daß ein anderer, natür-lich viel zahlreicherer Teil, sich der Arbeit widme, als Sklave. Dieses Grundprinzip der antiken Zivilisation war die Ursache ihres Ruins. Die Stadtgemeinde, durch den privilegierten Müßiggang der Bürger korrumpiert und desorganisiert, andererseits untergraben durch die unbemerkbare und langsame, aber dauernde Tätigkeit

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dieser enterbten Sklavenwelt, die trotz der Sklaverei durch die heilsame Wirkung der Arbeit, selbst der er-zwungenen, moralisiert und in ihrer primitiven Kraft bewahrt war, - dieses antike Stadtwesen fiel unter den Schlägen der barbarischen Völker, denen diese Sklaven durch ihre Geburt zum großen Teil angehört hatten. — Das Christentum, diese Religion der Sklaven2, zerstörte später nur die antike Ungleichheit, um eine neue Un-gleichheit zu schaffen: das Privileg der göttlichen Gna-de und der Auserwählten durch Gott, welches (im Ver-ein mit) der durch das Recht der Eroberung notwendig entstandenen Ungleichheit von neuem die menschliche Gesellschaft in zwei Lager trennte, die Kanaille und den Adel, die Hörigen und die Herren; diese letzteren erhielten das edle Handwerk der Waffen und des Regie-rens, während den Leibeigenen nur die Arbeit blieb, die nicht nur als entwürdigend galt, sondern auch als fluch-beladen. Dieselbe Ursache brachte unvermeidlich die-selbe Wirkung hervor; die Welt des Adels, entnervt und demoralisiert durch das Privileg des Müßiggangs, fiel 1789 unter den Schlägen der Hörigen, empörter Arbei-ter, einig und mächtig. Dann wurde die Freiheit der Arbeit proklamiert, ihre Rehabilitation dem Recht nach. Aber nur dem Recht nach, denn in der Tat selbst bleibt die Arbeit noch entehrt und geknechtet. Die erste Quel-le dieser Knechtung, die im Dogma der politischen Un-gleichheit der Menschen bestanden hatte, war durch die große Revolution verstopft worden; daher muß man die gegenwärtige Verachtung der Arbeit der zweiten Quelle

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zuschreiben, die keine andere ist, als die Trennung zwi-schen geistiger Arbeit und Handarbeit, die sich heraus-bildete und noch heute in voller Kraft besteht; sie re-produziert in neuer Form die antike Ungleichheit und teilt von neuem die soziale Welt in zwei Lager: die jetzt nicht mehr durch das Gesetz, sondern durch das Kapital privilegierte Minderheit und die Mehrheit der gezwun-genen Arbeiter, gezwungen nicht mehr durch das unbil-lige Recht des gesetzlichen Vorrechts, sondern durch den Hunger. In der Tat ist heute die Würde der Arbeit schon theoretisch anerkannt, und die öffentliche Mei-nung gibt zu, daß es eine Schande ist, zu leben, ohne zu arbeiten. Nur aber, weil die menschliche Arbeit, in ihrer Gesamtheit betrachtet, in zwei Teile zerfällt, deren ei-ner, ganz geistig und ausschließlich als edel bezeichnet, die Wissenschaften, Künste, den Gedanken, die Auf-fassung, die Erfindung, die Berechnung, das Regieren und die allgemeine und die subalterne Leitung der Ar-beiterkräfte umfaßt, der andere dagegen nur die manu-elle Ausführung, die sich durch das ökonomische und soziale Gesetz der Arbeitsteilung auf eine rein mecha-nische Tätigkeit, ohne Geist und Idee, beschränkt hat - unter diesen Verhältnissen haben sich die Bevorrechte-ten des Kapitals, eingeschlossen die durch ihre persön-lichen Fähigkeiten dazu am wenigsten berufenen, der ersteren Arbeitskategorie bemächtigt und überlassen die zweite dem Volk. Daraus ergeben sich drei große Übel: eines für die Bevorrechteten des Kapitals, das zweite für die Volksmassen und das dritte, das aus den beiden

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ersteren hervorgeht, für die Produktion, den Wohlstand, die Gerechtigkeit und die geistige und moralische Ent-wicklung der ganzen Gesellschaft. Das Übel, an dem die privilegierten Klassen leiden, ist das folgende: in-dem sie bei der Verteilung der sozialen Funktionen den bequemen Teil übernehmen, nehmen sie einen immer unbedeutenderen Platz in der geistigen und moralischen Welt ein. Es ist ganz richtig, daß ein gewisser Grad von Muße absolut notwendig ist zur Entwicklung des Geis-tes, der Wissenschaft und der Kunst; aber solche Muße muß verdient sein, sie muß der gesunden Ermü-dung durch tägliche Arbeit folgen, eine gerechte Erho-lung, die nur von der größeren oder geringeren Energie, Fähigkeit und gutem Willen des einzelnen abhinge und sozial allen auf gleiche Weise zur Verfügung stände. Jede privilegierte freie Zeit dagegen stärkt keineswegs den Geist, sondern entnervt, demoralisiert und tötet ihn. Die ganze Geschichte beweist uns, mit einigen sel-tenen Ausnahmen, daß die durch Vermögen und Rang privilegierten Klassen stets die in geistiger Beziehung am wenigsten produktiven waren, und die größten Entdeckungen in Wissenschaft, Kunst und Industrie wurden meist von Männern gemacht, die in ihrer Ju-gend gezwungen waren, mit harter Arbeit ihr Brot zu verdienen. Die menschliche Natur ist so angelegt, daß die Möglichkeit des Schlechten unfehlbar und immer die Wirklichkeit des Schlechten hervor bringt und daß die Moralität des einzelnen viel mehr von seinen Le-bensverhältnissen und seinem Milieu abhängt als von

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seinem eigenen Willen. In dieser Hinsicht, wie in jeder anderen, ist das Gesetz der sozialen Solidarität unerbitt-lich, so daß man, um die Menschen moralischer zu ma-chen, sich nicht so sehr um ihr Gewissen kümmern muß, als um ihre sozialen Existenzbedingungen, und es gibt für die Gesellschaft wie für den einzelnen keinen anderen Erwecker der Moral als die Freiheit inmitten der vollsten Gleichheit. Man setze den aufrichtigsten Demokraten auf einen Thron; wenn er ihn nicht sofort verläßt, wird er unfehlbar eine Kanaille werden. Ein als Aristokrat Geborener, der nicht durch einen glücklichen Zufall seinen Rang verachtet und haßt und sich nicht des Adels schämt, wird unvermeidlich eitel und nichtig sein, nach der Vergangenheit seufzend, nutzlos in der Gegenwart und leidenschaftlicher Gegner der Zukunft. Ebenso wird der Bourgeois, das verwöhnte Kind des Kapitals und der privilegierten Muße, seine freie Zeit zu Müßiggang, Korruption, Ausschweifung verwenden oder sich ihrer als schreckliche Waffe bedienen, um die Arbeiterklassen noch mehr zu knechten, und er wird schließlich gegen sich eine Revolution hervorrufen, die schrecklicher sein wird als die von 1793. Das Übel, an dem das Volk leidet, ist noch leichter zu bestimmen: es arbeitet für andere, und seine Arbeit oh-ne Freiheit, Muße und Geist wird dadurch herabgewür-digt, erniedrigt, erdrückt und tötet es. Es ist gezwungen, für andere zu arbeiten, denn, im Elend geboren, ohne Erziehung und vernünftigen Unterricht, moralisch ver-sklavt durch religiöse Einflüsse, sieht es sich waffenlos,

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diskreditiert, ohne Initiative und eigenen Willen ins Leben geworfen. Vom Hunger von der zartesten Jugend an gezwungen, ein trauriges Brot zu verdienen, muß es seine physische Kraft, seine Arbeit zu den härtesten Bedingungen verkaufen und denkt weder daran, noch hat es die materielle Möglichkeit, andere Bedingungen zu verlangen. Vom Elend zur Verzweiflung getrieben, empört es sich manchmal, aber ohne die Einheit und Kraft, die der Gedanke verleiht, schlecht geführt, meist von seinen Führern verraten und verkauft, beinahe im-mer in Unwissenheit, gegen welches seiner Leiden es sich wenden soll, in den meisten Fällen seinen Schlag nach einer falschen Richtung führend, hat es, bis jetzt wenigstens, in seinen Empörungen Mißerfolg gehabt und fiel, müde des unfruchtbaren Kampfes, immer wie-der in die alte Knechtschaft zurück. Diese Knechtschaft wird so lange dauern, als das Kapital, außerhalb der ge-meinsamen Tätigkeit der Arbeiterkräfte stehend, diesel-ben ausbeuten wird und so lange, als der Unterricht, der in einer gut organisierten Gesellschaft auf alle gleich verteilt sein sollte, nur die Intelligenz einer privilegier-ten Klasse entwickelt und so dieser den ganzen geisti-gen Teil der Arbeit überträgt und dem Volke nur die rohe Verwendung seiner geknechteten physischen Kräf-te überläßt, die immer verurteilt sind, Ideen auszufüh-ren, die nicht die ihrigen sind. Durch diese ungerechte und verhängnisvolle Entartung wird die Arbeit des Volkes eine rein mechanische, der eines Arbeitstiers

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ähnliche, und ist entehrt, verachtet und als natürliche Folge jedes Rechts beraubt. Daraus ergibt sich für die Gesellschaft in politischer, geistiger und moralischer Hinsicht ein ungeheueres Übel. Die das Monopol der Wissenschaft genießende Minorität ist als Wirkung dieses Vorrechts selbst an Geist und Herz getroffen bis zum Grade, daß sie vor Wissen dumm wird; denn nichts ist so schädlich und unfruchtbar wie patentierte und privilegierte Intelligenz. Andererseits das Volk, vollständig von Wissenschaft entblößt, niedergedrückt von der täglichen mechani-schen Arbeit, die es eher verdummt als daß sie seine natürliche Intelligenz entwickelte, des Lichtes beraubt, das ihm den Weg zu seiner Befreiung zeigen könnte - das Volk, es müht sich vergebens ab in seiner Zwangs-arbeit, und da es stets die numerische Kraft für sich hat, bringt es stets die Existenz der Gesellschaft selbst in Gefahr. Daher ist es notwendig, daß die ungerechte Teilung von geistiger und Handarbeit anders arrangiert werde. Die ökonomische Produktivität der Gesellschaft leidet selbst bedeutend darunter; Intellekt, von körperlicher Tätigkeit getrennt, wird nervös, vertrocknet, entartet, während Körperkraft, vom Geist getrennt, verdummt, und in diesem Zustand künstlicher Trennung produziert keiner der beiden Teile die Hälfte dessen, was er produ-zieren kann und muß, wenn in neuer sozialer Synthese vereint, beide nur eine einzige produktive Tätigkeit bilden werden. Wenn der Mann der Wissenschaft arbei-

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ten und der Mann der Arbeit denken wird, wird intelli-gente und freie Arbeit als schönster Ruhmestitel für den Menschen gelten, als Grundlage seiner Würde, seines Rechts, als Offenbarung seiner Menschenkraft auf der Erde - und die Menschheit wird konstituiert sein. k) Die intelligente und freie Arbeit wird notwen-digerweise assoziierte Arbeit sein. Es wird jedem frei-stehen, sich zur Arbeit zu assoziieren oder nicht, aber es besteht kein Zweifel, daß, mit Ausnahme von Arbeiten der Einbildungskraft, deren Natur die Konzentrierung der Intelligenz des einzelnen in sich selbst erfordert, in allen industriellen und selbst wissenschaftlichen und künstlerischen Unternehmungen, deren Natur assoziier-te Arbeit zuläßt, alle die Assoziation vorziehen werden aus dem einfachen Grunde, weil dieselbe auf wunderba-re Weise die Produktivität eines jeden vervielfältigt, und weil jeder als Mitglied und Mitarbeiter einer Pro-duktivassoziation in kürzerer Zeit und mit viel weniger Mühe viel mehr verdienen wird. Wenn die freien Pro-duktivassoziationen, nicht mehr Sklaven, sondern ihrer-seits Herren und Besitzer des ihnen erforderlichen Ka-pitals, in ihren Reihen als Mitarbeiter neben den durch den allgemeinen Unterricht befreiten Arbeiterkräften, alle spezialen Intelligenzen besitzen werden, die jede Unternehmung erfordert, wenn sie, sich untereinander verbindend, immer frei, nach ihren Bedürfnissen, nach ihrer Art und Weise, früher oder später alle nationalen Grenzen überschreitend, eine ungeheuere ökonomische Föderation bilden werden, mit einem Parlament, das

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durch die ebenso umfassenden wie genauen und detail-lierten Daten einer Weltstatistik, wie sie heute noch nicht existieren kann, informiert, Angebot und Nach-frage kombinierend, die Produktion der Weltindustrie leiten, bestimmen und zwischen den verschiedenen Ländern verteilen kann, so daß es nie oder beinahe nie mehr Handelskrisen, Industriekrisen, gezwungenen Stillstand, Unglücksfälle und Not, verlorenes Kapital gäbe - dann wird die menschliche Arbeit, die Befreiung eines jeden und aller, die Welt regenerieren. 1) Grund und Boden mit allem natürlichen Reichtum sind das Eigentum aller, werden aber nur im Besitz derjenigen sein, die sie bebauen. m) Die Frau, die vom Mann verschieden ist, aber ihm nicht nachsteht, intelligent, arbeitsam und frei wie der Mann, wird ihm gleich erklärt in allen politischen und sozialen Rechten wie in allen solchen Funktionen und Pflichten. n) Abschaffung nicht der natürlichen Familie, aber der legalen, auf dem bürgerüchen Recht und dem Eigentum begründeten Familie. Die religiöse und die Zivilehe werden durch die freie Ehe ersetzt. Zwei großjährige Personen verschiedenen Geschlechts haben das Recht, sich nach eigenem Willen, ihren gegenseitigen Interes-sen und ihren Herzensbedürfnissen zu vereinigen und zu trennen, ohne daß die Gesellschaft das Recht hätte, ihre Vereinigung zu verhindern oder dieselbe gegen ihren Willen aufrechtzuerhalten. Da das Erbrecht abge-schafft und die Erziehung aller Kinder von der Gesell-

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schaft gesichert ist, verschwinden alle bis jetzt für die politische und bürgerliche Weihe der Unwiderruflich-keit der Ehe vorgebrachten Ursachen, und die Vereini-gung der beiden Geschlechter muß ihrer vollen Freiheit überlassen werden, die hier wie überall und immer die unerläßliche Bedingung aufrichtiger Moralität ist. - In der freien Ehe müssen Mann und Frau gleichfalls abso-lute Freiheit genießen. Weder die Gewalt der Leiden-schaft, noch in der Vergangenheit freiwillig eingeräum-te Rechte dürfen als Entschuldigung eines Angriffs des einen Teils gegen die Freiheit des anderen dienen - und jedes solche Attentat würde als Verbrechen betrachtet werden. o) Sobald eine Frau ein Kind im Schoß trägt, bis zur Geburt desselben, hat sie ein Recht auf eine Unterstüt-zung durch die Gesellschaft, die nicht auf Rechnung der Frau, sondern auf die des Kindes gezahlt wird. Jede Mutter, die ihre Kinder nähren und erziehen will, wird gleichfalls von der Gesellschaft alle Kosten ihres Un-terhalts und ihrer den Kindern gewidmeten Bemühun-gen erhalten. p) Die Eltern werden das Recht besitzen, ihre Kinder bei sich zu behalten und sich mit ihrer Erziehung zu beschäftigen unter der Vormundschaft und obersten Kontrolle der Gesellschaft, die stets das Recht und die Pflicht hat, die Kinder von den Eltern zu trennen, so-bald diese durch ihr Beispiel, ihre Lehren oder brutale, unmenschliche Behandlung die Kinder demoralisieren oder ihre Entwicklung schädigen könnten,

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q) Die Kinder gehören weder ihren Eltern, noch der Gesellschaft, sie gehören sich selbst und ihrer künftigen Freiheit. Als Kinder, bis zum Alter ihres Freiwerdens, sind sie nur im möglichen Zustand der Freiheit und müssen sich daher unter dem Regime der Autorität be-finden. Die Eltern sind ihre natürlichen Vormünder, allerdings, aber ihr legaler und oberster Vormund ist die Gesellschaft, welche das Recht und die Pflicht hat, sich mit ihnen zu beschäftigen, weil ihre eigene Zu-kunft von der intellektuellen und moralischen Leitung abhängt, die man den Kindern geben wird, und weil sie den Erwachsenen die Freiheit nur unter der Bedingung geben kann, daß sie die Erziehung der Minderjährigen überwacht, r) Die Schule soll die Kirche ersetzen, mit dem un-geheueren Unterschied, daß, während die Kirche bei ihrer religiösen Erziehungstätigkeit nur das Ziel hat, das Regime der menschlichen Unmündigkeit und der soge-nannten göttlichen Autorität zu verewigen, Erziehung und Unterricht der Schule im Gegenteil nur den Zweck der wirklichen Befreiung der Kinder nach Erreichung ihrer Mündigkeit haben, so daß Erziehung und Unter-richt nichts anderes sein werden, als die allmähliche fortschreitende Initiation zur Freiheit durch die dreifa-che Entwicklung der physischen Kräfte, des Geistes und des Willens der Kinder. Vernunft, Wahrheit, Ge-rechtigkeit, Achtung des Menschen, Bewußtsein der eigenen Würde, die solidarisch und untrennbar von der Menschenwürde der anderen ist, Liebe der Freiheit für

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sich und alle anderen, Kult der Arbeit als Grundlage und Bedingung jedes Rechts, Verachtung für Unver-nunft, Lüge, Ungerechtigkeit, Feigheit, Sklaverei und Müßiggang, dies sollen die Grundlagen der öffentlichen Erziehung sein. Sie soll zuerst Menschen bilden, dann Arbeitsspezialisten und Bürger, und wenn sie mit dem Alter der Kinder fortschreitet, muß natürlich die Autori-tät immer mehr der Freiheit Platz machen, damit die herangewachsenen Jünglinge, wenn sie vom Gesetz freigemacht sind, vergessen haben mögen, wie sie in ihrer Kindheit durch etwas anderes als die Freiheit ge-leitet und beherrscht wurden. - Die Achtung des Men-schen, dieser Keim der Freiheit, muß auch bei den strengsten und absolutesten Handlungen der Autorität vorhanden sein. Die ganze moralische Erziehung liegt darin: Flößt diese Achtung den Kindern ein, und ihr habt Menschen aus ihnen gemacht. Nach Beendigung des elementaren und mittleren Unter-richts werden die Kinder, nach ihren Fähigkeiten und Neigungen, beraten, aufgeklärt, aber nicht gezwungen von ihren Vorgesetzten, eine höhere oder eine Spezial-schule wählen. Zugleich muß jeder theoretisch und praktisch den ihm am meisten zusagenden Industrie-zweig studieren und lernen, und er erhält die in seiner Lehrzeit verdiente Summe bei seiner Großjährigkeit, s) Der großjährig gewordene Jüngling wird freierklärt und ist absoluter Herr seiner Handlungen. Als Gegen-leistung für die während seiner Kindheit von der Ge-sellschaft auf ihn verwendete Sorgfalt wird die Gesell-

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schaft drei Dinge von ihm verlangen: daß er frei bleibe, daß er von seiner Arbeit lebe und daß er die Freiheit anderer achte. Und da die Verbrechen und Laster, an denen die gegenwärtige Gesellschaft leidet, einzig und allein das Produkt einer schlechten sozialen Organisati-on sind, kann man die Gewißheit haben, daß bei einer auf die Vernunft, die Gerechtigkeit, die Freiheit, die Achtung des Menschen und die vollständigste Gleich-heit gegründeten Organisation und Erziehung der Ge-sellschaft das Gute die Regel werden wird und das Böse eine krankhafte Ausnahme, die sich immer mehr unter dem allvermögenden Einfluß der moralisierten öffentli-chen Meinung vermindern wird. t) Alte Leute, Arbeitsunfähige und Kranke, mit Sorgfalt und Achtung umgeben und alle politischen und sozialen Rechte genießend, werden auf Kosten der Gesellschaft reichlich gepflegt und unterhalten werden.

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III. Zusammenfassung der Grundideen dieses Katechismus

a) Verneinung Gottes. b) Achtungder Menschheit muß den Kult der Gottheit ersetzen. Die menschliche Vernunft wird als einziges Kriterium der Wahrheit anerkannt, das menschliche Gewissen als Grundlage der Gerechtigkeit und die indi-viduelle und kollektive Freiheit als Quelle und einzige Grundlage der Ordnung in der Menschheit. c) Die Freiheit des einzelnen kann nur in der Gleich-heit aller verwirklicht werden. Die Verwirklichung der Freiheit in der Gleichheit ist die Gerechtigkeit. d) Absoluter Ausschluß des Prinzips der Autorität und Staatsraison. Die Freiheit muß das einzige konstituie-rende Prinzip der ganzen sozialen Organisation, der politischen sowie der ökonomischen sein. Die Ordnung in der Gesellschaft muß das Gesamtergebnis der größt-möglichen Entwicklung aller lokalen, kollektiven und individuellen Freiheiten sein. Die ganze politische und ökonomische Organisation muß folglich nicht wie heute von oben nach unten und vom Zentrum zur Peripherie ausgehen nach dem Prinzip der Einheit, sondern von unten nach oben und von der Peripherie zum Zentrum nach dem Prinzip der freien Assoziation und Föderati-on. e) Politische Organisation. Abschaffung jeder vom Staat geschützten und bezahlten offiziellen Kirche. Ab-solute Gewissens- und Kultusfreiheit mit unbe-

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schränktem Recht eines jeden, seinen Göttern Tempel zu errichten und seine Priester zu bezahlen. Absolute Freiheit der religiösen Assoziationen, die übrigens kei-ne politischen und bürgerlichen Rechte besitzen und sich nicht mit der Erziehung von Kindern werden be-schäftigen können. Abschaffung und Bankrott des zent-ralisierenden und bevormundenden Staates. — Absolute Freiheit des einzelnen, Anerkennung der politischen Rechte nur derer, die von ihrer Arbeit leben, unter der Bedingung, daß sie die Freiheit der anderen achten. Allgemeines Stimmrecht, unbegrenzte Presse-, Propa-ganda-, Rede- und Versammlungsfreiheit (für öf-fentliche und private Versammlungen). Absolute As-soziationsfreiheit, wobei aber die juridische Anerken-nung nur denen zuteil wird, die durch ihren Zweck und ihre innere Einrichtung sich nicht in Gegensatz zu den Grundprinzipien der Gesellschaft stellen. Absolute Au-tonomie der Gemeinde mit dem Recht der Verwaltung und selbst der inneren Gesetzgebung, sobald dieselben den der Provinzialverfassung zugrunde liegenden Prin-zipien entsprechen, falls die Gemeinde zur Föderation gehören und die Provinzialgarantie genießen will. Die Provinz soll nur die Föderation der Gemeinden sein. - Autonomie der Provinz gegenüber der Nation mit dem Recht der Verwaltung und inneren Gesetzgebung, so-bald dieselben den Grundprinzipien der Nationalverfas-sung entsprechen, falls die Provinz zur Föderation ge-hören und die Nationalgarantie genießen will. - Die Nation soll nur die Föderation der Provinzen sein, die

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freien Willens zu ihr gehören wollen; sie hat die Pflicht, die Autonomie jeder Provinz zu achten, aber das Recht zu verlangen, daß die Verfassung und besondere Ge-setzgebung einer Provinz, die zur Föderation gehören und die Nationalgarantie genießen will, der nationalen Verfassung und Gesetzgebung in den wesentlichen Punkten entsprechen, daß in Sachen der gegenseitigen Beziehungen der Provinzen und der allgemeinen Inte-ressen der Nation jede Provinz die von dem National-parlament votierten und ihr von der Nationalregierung mitgeteilten Dekrete ausführe, und daß jede Provinz sich den Entscheidungen des Nationalgerichts füge, vorbehaltlich des Appells an das internationale Gericht, wenn dieses bestehen wird. Bei Verweigerung des Ge-horsams in einem dieser drei Fälle wird die Provinz außerhalb des Gesetzes und außerhalb der nationalen Solidarität gestellt und im Fall eines Angriffs ihrerseits gegen eine der föderierten Provinzen wird sie von der nationalen Armee zur Raison gebracht werden. Abschaffung des sogenannten historischen Rechts, des Rechts der Eroberung und jeder auf Arrondierung, Ver-größerung, Ruhm und äußere Macht des Staates abzie-lenden Politik. Wohlstand und Freiheit aller Nationen sind solidarisch, und jede muß ihre Macht in ihrer Frei-heit suchen. Die nationale Unabhängigkeit ist ein nati-onales, unveräußerliches Recht wie die des einzelnen; auf Grund dieser Tatsache muß sie heilig sein, aber nicht auf Grund des historischen Rechts. Daraus, daß ein Land mit einem anderen durch Jahrhunderte verei-

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nigt war, auch wenn dies freiwillig geschehen, folgt nicht, daß es diese Vereinigung weiterhin dulden muß, wenn es nicht mehr will; denn die vergangenen Genera-tionen haben nie das Recht, die Freiheit der gegen-wärtigen und künftigen Generationen zuveräußern. Jede Nation, Provinz und Gemeinde wird also das ab-solute Recht haben, über sich selbst zu verfügen, sich mit anderen zu alliieren oder die früheren und gegen-wärtigen Allianzen zu brechen und neue einzugehen, ohne daß ein anderes Land das Recht und das Interesse hätte, sie daran zu hindern. Jede Gewalttätigkeit auf diesem Gebiet muß von der ganzen nationalen Födera-tion unterdrückt werden, denn jeder Angriff gegen die Freiheit eines einzigen Landes ist eine Beleidigung, eine Bedrohung, ein indirekter Angriff gegen die Frei-heit aller Nationen. - Schließlich internationale Födera-tion und revolutionäre Solidarität der freien Völker gegen die reaktionäre Koalition der noch versklavten Länder. f) Soziale Organisation. - Die politische Gleichheit ist unmöglich ohne ökonomische Gleichheit. - Die öko-nomische Gleichheit und soziale Gerechtigkeit sind unmöglich, solange nicht in der Gesellschaft für jedes ins Leben tretende menschliche Wesen vollständige Gleichheit des Ausgangspunkts besteht, gebildet durch Gleichheit der Mittel für Unterhalt, Erziehung und Un-terricht und später für Betätigung der verschiedenen Fähigkeiten und Kräfte, welche die Natur in jeden ein-zelnen gelegt hat. Abschaffung des Erbrechts. Der Fond

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für öffentliche Erziehung wird allein das Recht besitzen, zu erben, da er zu seinen Lasten den Unterhalt, die Be-aufsichtigung, Erziehung und den Unterricht der Kinder von der Geburt bis zu ihrer Mündigkeit hat. - Da Arbeit allein Produkte hervorbringt, muß jeder arbeiten, um zu leben, oder er wird als Dieb betrachtet werden. Intelli-gente und freie Arbeit, die Grundlage der Menschen-würde und aller politischen Rechte, und die Einzelarbeit verschmelzen täglich mehr in der assoziierten Arbeit. - Grund und Boden, das Eigentum, aller, werden nur im Besitz derer sein, die sie bebauen. Gleichheit von Mann und Weib in allen politischen und sozialen Rechten. Abschaffung der auf dem bürgerlichen Recht und dem Eigentum begründeten legalen Familie. Freie Ehe. Die Kinder gehören weder den Eltern noch der Gesell-schaft.. Die oberste Vormundschaft der Kinder, ihre Er-ziehung und ihr Unterricht gehörender Gesellschaft. -Die Schule wird die Kirche ersetzen. Ihr Ziel: die Schaffung des freien Menschen. Abschaffung der Ge-fängnisse und des Henkers. - Achtung und Sorgfalt für die Alten, die Arbeitsunfähigen und die Kranken. 12. Revolutionäre Politik. Unsere Grundüberzeugung ist, daß, da die Freiheiten aller Nationen solidarisch sind, die besonderen Revolutionen der einzelnen Län-der es auch sein müssen, daß es von jetzt ab in Europa wie auf der ganzen zivilisierten Welt nicht mehr Revo-lutionen gibt, sondern nur die universelle Revolution, sowie es nur noch eine einzige europäische und Welt-reaktion gibt, dass folglich alle besonderen Interessen,

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alle nationalen Eitelkeiten, Ansprüche, Eifersüchte-leien und Feindseligkeiten heute verschmelzen müssen in dem einzigen gemeinsamen und universellen Inter-esse der Revolution, welche die Freiheit und die Unab-hängigkeit jeder Nation durch die Solidarität aller Na-tionen sichern wird; daß ferner die heilige Allianz der Weltreaktion und die Verschwörung der Könige, des Klerus, des Adels und des bourgeoisen Feudalismus, gestützt auf ungeheuere Budgets, stehende Heere, eine enorme Bürokratie, die über all die schrecklichen Mittel verfügen, die ihnen die moderne Zentralisation gibt mit ihrer Gewohnheit, sozusagen der Routine ihres Vor-gehens und dem Recht zu konspirieren und all und je-des auf ein Gesetz gestützt zu tun, daß all dies eine un-geheuere, drohende, vernichtende Tatsache ist und daß zu deren Bekämpfung, um ihr eine ebenso mächtige Tatsache entgegenzustellen, um sie zu besiegen und zu zerstören, nicht weniger gehört als die gleichzeitige revolutionäre Allianz und Aktion aller Völker der zivi-lisierten Welt. Gegen diese Weltreaktion kann die iso-lierte Revolution keines Volks Erfolg haben, sie wäre eine Torheit, folglich ein Fehler für dieses Volk selbst und ein Verrat, ein Verbrechen gegen alle anderen. Von jetzt ab muß die Erhebung jedes Volks nicht in Hin-blick auf sich selbst, sondern in Hinblick auf die ganze Welt geschehen. Damit aber eine Nation sich derart im Namen der ganzen Welt erhebe, muß sie das Programm der ganzen Welt haben, ein hinreichend breites, tiefes, wahres, mit einem Wort hinreichend menschliches

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Programm, so daß es die Interessen aller umfaßt und die Leidenschaften der ganzen Volksmassen Europas, ohne Unterschied der Nationalität, elektrisiert - ein sol-ches Programm kann nur das der demokratischen und sozialen Revolution sein. a) Das Ziel der demokratischen und sozialen Revolution kann in zwei Worten definiert werden: Politisch ist es die Abschaffung des historischen Rechts, des Rechts der Eroberung und des diplomatischen Rechts. Es ist die vollständige Befreiung der Personen und Assoziati-onen vom Joch der göttlichen und menschlichen Auto-rität - die absolute Zerstörung aller erzwungenen Verei-nigungen und Zusammenfügungen von Gemeinden zu Provinzen, von Provinzen und eroberten Ländern zum Staat. Es ist endlich die radikale Auflösung des zentra-listischen, bevormundenden, autoritären Staates mit allen militärischen, bürokratischen, regierenden, ver-waltenden, gerichtlichen und bürgerlichen Einrichtun-gen. Es ist mit einem Wort die Rückgabe der Freiheit an alle, Personen, Kollektivkörper, Assoziationen, Ge-meinden, Provinzen, Regionen und Nationen und die gegenseitige Garantie dieser Freiheit durch die Föde-ration. Sozial ist es die Bekräftigung der politischen Gleichheit durch die ökonomische Gleichheit. Im Beginn der Laufbahn eines jeden liegt die Gleichheit des Aus-gangspunkts, eine nicht von der Natur gegebene, son-dern soziale Gleichheit für jeden, d. h. Gleichheit der Mittel für Unterhalt, Erziehung und Unterricht für jedes

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Kind beider Geschlechter bis zum Alter seiner Mündig-keit3.

1] Dieser Titel stammt nicht von Bakunin selbst, ist jedoch in Wortlaut und Sinn der Darstellung zu entnehmen. 2] Der von Punkt 10 ab und noch einige Seiten lang von Mrocz-kowski abgeschriebene Text ist in diesem Satz durch Unlesbarkeit des Originals oder Versehen, etwas unklar; ich versuche den Sinn herzustellen. (N.) 3] Inmitten dieses Resümees bricht der Text ab.

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LEBENSBERICHT AUS DEN BRIEFEN (1860 UND 1861)

Irkutsk, den 8. Dezember 1860 Freund Herzen!1 Dein Briefchen traf mich gerade an, als ich mit meiner Widerlegung für die „Glocke“2 zu Ende war. Es wäre überflüssig, Dir von der tiefen, stürmischen Freude zu erzählen, die mich beim Anblick Deiner teuren Schrift-züge ergriff. Aber es hat mich auch in anderer Hinsicht ermutigt, indem es die Hoffnung in mir erweckte, daß meine Worte bei Dir Glauben finden würden. Dies ist mein dritter Brief an Dich; den ersten, mindestens zwanzig Bogen groß, hast Du nicht erhalten, den zwei-ten nahm Dein Bekannter mit, vor drei Wochen etwa. Ich hoffe, daß er zu Dir gelangen wird, wenn nicht frü-her, so wenigstens zugleich mit diesem. Er ist nicht vollendet, aber ich werde Dir bald den Schluß schicken, gut, daß ich jetzt einen Weg zu Dir gefunden habe. Die-se drei Briefe haben zum Hauptgegenstand Murawjew Amurski3, den Du seit einiger Zeit aus irgendwelcher sonderbaren Verblendung grausam und ungerecht anzu-greifen begonnen hast. Indessen wiederhole ich Dir zum drittenmal, daß unter allen, die in Rußland Kraft und Macht besitzen, Murawjew der einzige ist, den wir,

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ohne uns im geringsten Zwang anzutun, bedingungslos und im vollen Sinne des Wortes für den Unseren erklä-ren können und müssen, abgesehen davon, daß Deine Angriffe jeden Grundes entbehren und vollkommen gegen die Wahrheit verstoßen. Murawjew ist unser nach seinen Gefühlen, Gedanken, allen seinen früheren Handlungen, Streben, Wünschen und festen Absichten. Wie konntest Du ihn so verken-nen, es ist eine wahre Schande! Wüßtest Du, wie er die „Glocke“ liebt und wie ihn jeder Fehlgriff, der ihn kompromittiert, betrübt, welche Sympathie und Ach-tung er für Dich hat, wie es ihm bitter war, die unver-dienten Beschuldigungen und Verleumdungen von Dir zu hören, die gerade damals laut wurden, als sich von allen Seiten Neid und niederträchtige Intrigen unter Anführung unseres Philippe Egalite, des Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch selbst, gegen ihn erhoben. Nun verläßt er Sibirien und sein Amt, geht nach dem Auslande und er will Dich unbedingt sehen. Du wirst ihn kennenlernen und sagen, daß er in jeder Beziehung, was Herz, Geist, Charakter und Energie betrifft, ein vollkommener Mensch ist. Er gehört fest zu uns, er ist der Beste, der Stärkste unter uns, in ihm liegt Rußlands Zukunft. Er hat sich entschlossen, auf einige Zeit den Dienst zu quittieren, trotzdem man ihm das Ministerium des Inneren anbieten will. Er ist fest entschlossen, nichts anzunehmen, bis sich das Regierungssystem nicht radikal ändert, bis man nicht sein Programm an-nimmt.

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Sein Programm ist in kurzen Worten folgendes: 1. Die vollständige und bedingungslose Bauern-befreiung mit Landzuteilung. 2. Öffentliches Gerichtsverfahren, Einführung von Schwurgerichten, dem alle Beamten, hohe wie niedere, wegen administrativer Vergehen unterworfen werden sollen. 3. Volksunterricht auf breitester Basis. 4. Selbstverwaltung des Volkes, Abschaffung der Bü-rokratie und möglichst große Dezentralisation Buß-lands. Für Petersburg aber will er keine Konstitution und kein Parlament, sondern eine eiserne Diktatur in Anbetracht der bevorstehenden Befreiung der Slaven, von dem wieder zu vereinigenden Polen ausgehend, und in Anbetracht des zu führenden Kampfes auf Leben und Tod mit Österreich und der Türkei. Das ist das Programm dieses ernsten Staatsmannes, der bewiesen hat, daß er seine Pläne auszuführen imstande ist. Ich stehe für Murawjews Aufrichtigkeit, weil ich ihn, als meinen besten Freund, gut kenne. Wie ist nun mir zu-mute, mir, euerem Freunde, dem Freunde der „Glocke“, deren Ehre und Ansehen in Bußland, mir, glaubet es, nicht minder teuer ist, als euch selbst, wie ist mir nun zumute, zu sehen, wie ihr, betrogen und verblendet, Lüge und Verleumdung gegen den einzigen Menschen in Bußland verbreitet, der wert ist, daß wir alle wie ein Fels für ihn stehen! Nun höre, Herzen, solltest Du mir Glauben schenken, so drucke meine Widerlegung in der „Glocke“ nicht.

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Du wirst auch ohne sie verstehen, Murawjew vollkom-mene Genugtuung zu geben, die Du einem Menschen wie ihm geben mußt, und zwar sans rétinences et sans équivoques, mit Vorsicht, um ihn nicht zu sehr vor der Begierung zu kompromittieren. Solltest Du mir aber nicht völlig oder nur zur Hälfte glauben, so daß in Dei-ner Seele Zweifel zurückbleiben, so fordere ich von Dir im Namen dessen, was uns verband und noch verbindet, daß Du meine ganze Widerlegung ohne Kürzungen veröffentlichen sollst und, falls Du es für unentbehrlich erachtest, nun gut, auch mit meiner Unterschrift. Es gibt Fälle, wo man die Vorsicht und alle anderen Bücksich-ten zum Teufel schicken muß. Ich weiß, daß die Veröf-fentlichung meiner Antwort mit großen Unbequemlich-keiten verbunden ist. Erstens kann sie mich noch auf einige Jahre in Sibirien festschmieden, zweitens wird sie Murawjew vorzeitig bei der Begierung, uns alle in der Person Petraschewskis vor dem russischen Publi-kum, endlich die „Glocke“ selbst kompromittieren, die sich so roh, so abgeschmackt, so selbstmörderisch irrt. Trotz alledem fordere ich die Veröffentlichung, wenn Dir weder Dein Herz, noch Dein Geist ein anderes Mit-tel eingibt, Murawjew vollkommene Genugtuung zu geben. So macht man es doch in Ehrensachen, wo eine Handlung von der einen oder anderen Seite unumgäng-lich unangenehme, oft peinliche Folgen für beide Seiten nach sich zieht, was weder der einen noch der anderen Seite das Recht gibt, diese Folgen von sich abzuwälzen. Du hast den Angriff veröffentlicht, veröffentliche nun

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auch die Widerlegung oder erkenne laut an, daß Du niederträchtig betrogen, Dich in einer unverzeihlichen Weise geirrt hast. Das erwarte ich von Deinem Gerech-tigkeitsgefühl, von Deinem Edelsinn, endlich von Dei-ner Ergebenheit für die allgemeine Sache. Zwar bist Du unser Richter, Herzen, aber erinnere Dich dabei, daß wir auch Deine Richter sind. Zwischen uns besteht eine Solidarität von gegenseitiger Verantwortlichkeit, die weder Du noch wir zu zerreißen vermögen. Doch genug von diesem Einzelfalle, wir wollen nun im allgemeinen über die Lage der „Glocke“ sprechen. Von allen Seiten hört man, daß sie in letzter Zeit viel von ihrem Einfluß eingebüßt habe. Eine der Ursachen dieses Verfalls sind zweifelsohne die falschen Korrespondenzen ; zwei, drei solche Fehlgriffe wie die in bezug auf Murawjew und Ostsibirien genügen, um euer Unternehmen scheitern zu lassen. Ihr müsset große Vorsicht in der Wahl der Korrespondenten beobachten. Man sagt, daß es in Ruß-land jetzt taut, aber unter dem Eise findet sich genug Mist, und Mist stinkt. Das echt russische Leben, die echt russischen kleinlichen Intrigen und Lei-denschaften, der echt heimische stinkende Kot, der Bo-densatz von niederträchtigen Interessen und kleinlicher unerbittlicher Eitelkeit, Frivolität, Neid, Haß, Hohlheit, lebloser Herzens Starrheit und hochherziger Phrasen, kleinlicher Handlungen und geräuschvoller Worte, das alles strebt jetzt an die Oberfläche, und da bis jetzt kein anderes freies Organ als euere „Glocke“ vorhanden ist, so strebt alles dahin. Sich unter der Maske des Libera-

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lismus und des Demokratismus zu verbergen, ist heut-zutage nicht schwierig - wem sind nicht edle Worte und Phrasen bekannt! Sie sind so billig, so schad- und ge-fahrlos geworden, man hört sie an allen Ecken, sogar in Sibirien oft zu rechter und unrechter Zeit, daß man sich wirklich schämen muß, sie selbst zu äußern. Regie-rungsliberalismus, Regierungsdemokratismus, nur Worte, Worte und nochmals Worte, hinter denen jedoch eine so abscheuliche kleinliche Wirklichkeit steckt, daß es einem übel wird. Worte in Rußland wirken auf mich wie ein Brechmittel - je effektvoller und stärker sie sind, umso übler wird mir. Man muß nur demjenigen glauben, der dafür bürgen kann, daß sein Wort zur Tat werden wird; was die übrigen betrifft, so möchte ich folgenderweise handeln: Je schöner einer die Worte drechselt, einen um so höheren Galgen würde ich ihm errichten. Sind denn viele von eueren Korrespondenten zu jener edlen Tat fähig und bereit, zu welcher, wie es scheint, ihre hochherzigen Phrasen sie verpflichten? — Ihr aber hört auf sie. Ihr habt eine schwierige, fast un-ausführbare Pflicht auf euch genommen: in London über Leute zu urteilen, die in Rußland tätig sind. Solan-ge es sich nur um euch bekannte, aus der Zeit Nikolais stammende Kleinmichels, Orlows, Sakrewskis, Panins etc. etc. handelte, war es euch leicht, jetzt aber erschei-nen auf der Arena euch sehr wenig bekannte, oder ganz unbekannte Leute. Und so müsset ihr nach den euch aus Rußland mitgeteilten Tatsachen ein Urteil über sie fäl-len. Wer bürgt euch für ihre Richtigkeit? Müßtet ihr

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denn nicht in Rußland einige gleichgesinnte, mit prakti-schen Talenten und Sinn begabte Leute haben, die das Land kennen, deren Gewissenhaftigkeit und Gerechtig-keit ihr ebenso sicher wäret, wie euerer eigenen, und welche die euch gemachten Mitteilungen prüften und bestätigten? Sonst werdet ihr immer betrogen werden und allen Einfluß in Rußland verlieren. Unter der schreibenden Brüderschaft, ja, sogar aus den Überbleib-seln unserer früheren Kreise ist es doch nicht leicht, solche Leute zu finden. Die meisten sind erstarrt und erlahmt und sie leben und schwatzen gleich Toten unter Toten. Ein sonderbares Schauspiel stellt jetzt das russische Leben, das offizielle wie das nichtoffizielle, dar! Es ist ein Schattenreich, in welchem nur Zerrbilder von le-benden Menschen sich bewegen, sprechen, scheinbar denken und handeln, in der Tat aber gar nicht leben. Sie besitzen die Rhetorik aller Leidenschaften, aber keine einzige Leidenschaft, keine Wirklichkeit, keinen allge-meinen vorherrschenden Charakter, keine Charaktere, Literatur, Schriftstellerei und leeres Geschwätz, aber kein Tropfen Leben und Handeln - für nichts hegen sie ein wirkliches Interesse. Wie soll man mit ihnen spre-chen wollen, wenn man von vornherein weiß, daß aus all den Worten nie eine Tat wird. Die Literatur ist jetzt in ihrem Elemente, sie fühlt sich wie ein Fisch im Was-ser. Die Panajews, sie triumphieren, und die kritzelnde Bruderschaft, sie schlägt sich leidenschaftlich in die hohle Brust, und aus der Brust ertönt ein helltönender

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Klang, weil sie kein Herz birgt; in den Köpfen polierter Windbruch mit fertigen Kategorien und Worten und kein lebendiges, schaffendes Gehirn, in den Armen keine Kraft, in den Adern kein Blut, lauter Schatten, beredsame, hohltönende Schatten, so daß man unter ihnen selbst zum Schatten wird. Sie führen jetzt einen Kleinhandel mit geringem Kapital, das sie aus Stankje-witsch, Bjelinskis, Granowskis und Deinen Werken zusammengeschlagen haben. Sie schlafen, träumen laut, die Händeschwingend, und erst dann erwachen sie zum Bewußtsein der Wirklichkeit, wenn ihre Person, ihre Eitelkeit im Spiele ist, die einzige wirkliche Lei-denschaft der sogenannten anständigen Leute - ebenso wie in den übrigen Schichten des russischen Publikums die Leidenschaft für die Tasche vorherrscht. Können wir denn von Schatten Wunder erwarten? Und Rußland kann nur durch Wunder des Geistes, der Leidenschaft und des Willens gerettet werden. Ich erwarte gar nichts von den bekannten Namen in der Literatur, ich glaube jedoch an die schlummernde Kraft des Volkes, ich glaube an den Mittelstand, nicht an den Kauf-mannsstand - er ist sogar morscher als der Adel -, son-dern an den faktischen, offiziell nicht anerkannten Mit-telstand, der sich fortwährend aus den Freigelassenen, den Commis, Kleinbürgern, Popensöhnen bildet, in ihnen hat sich noch der russische scharfsichtige Verstand und der russische verwegene Unterneh-mungsgeist erhalten; auch glaube ich, daß der Adel selbst vieles in sich birgt.. .4.

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Schrecklich wird die russische Revolution sein, und dennoch muß man sie notgedrungen herbeiwünschen, weil sie einzig und allein imstande sein wird, uns aus dieser verderben bringenden Lethargie zu wirklichen Leidenschaften und zu wirklichen Interessen zu erwe-cken. Sie wird vielleicht lebendige Leute hervorbrin-gen, die Mehrzahl der jetzt bekannten Leute aber ist nur des Beiles würdig. Das ist meine Überzeugung. Ja, ich frage sogar, sind viele von uns unversehrt da-vongekommen? Tätigkeit ermüdet, verzehrt die Leute, aber die russische alltägliche Abgeschmacktheit, sie reibt sie auf und zerstampft sie. Turgenjew, Kawelin, Korsch, sind sie lebendige Menschen? Euere übrigen Freunde und Bekannten kenne ich nicht, aber ich frage, ob sich in ihnen noch Leben erhalten hat. Man ver-spricht mir, daß ich diesen Frühling die Erlaubnis erhal-ten werde, nach Rußland zu gehen, ich will dort Men-schen suchen. Für mich bildet dies das Hauptinteresse. Hier habe ich außer Murawjew noch einen Menschen kennengelernt, den jungen General Nikolai Pawlo-witsch Ignatiew, Sohn des St. Petersburger Ge-neralgouverneurs, und, wenn ich mich nicht irre, ein Bekannter von Dir, Herzen. Er kehrt jetzt aus China zurück, wo er Wunder verrichtete: Vor den Augen der englischen und französischen Gesandten, Lord Elgin und Baron Groß, und ihrer Heere verstand er die glän-zendste, die erste Rolle zu spielen und Rußland die größten Vorteile zu verschaffen, unvergleichlich größe-re, als die Franzosen und Engländer sie errangen. Aus

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den Zeitungen werdet ihr den von ihm abgeschlossenen Vertrag erfahren, aber was ihr nicht erfahren werdet, das ist die beispiellose Barbarei der englischen, beson-ders aber der französischen Heere in China. Die erste-ren begnügten sich meistenteils mit Raub, und sie be-stehen vorzügüch aus Spahis, die letzteren jedoch, echte Franzosen, notzüchtigten Frauen und ersäuften oder töteten sie darauf und schnitten ihnen die Beine ab. Daraus zog die russische Scharfsichtigkeit und die rus-sische Disziplin Nutzen: an der Spitze von 19 Kosaken erschien Ignatiew als Retter Chinas, und jetzt haben wir bereits festen Fuß am Stillen Ozean gefaßt. Doch keh-ren wir zu Ignatiew zurück. Er ist ein junger Mann, etwa dreißig Jahre alt, durchaus sympathisch und nach den von ihm geäußerten Gedanken und Gefühlen, nach seinem ganzen Wesen kühn, entschlossen, energisch und im höchsten Grade fällig. Er ist ehrgeizig, aber ein edler, heißer Patriot, der für Rußland demokratische Reformen und nach außen hin eine slawische Politik fordert, kurz, mit geringen Unterschieden dasselbe wie Murawjew, sie einigten sich und werden gemein-schaftlich handeln. Da habt ihr Leute, mit denen be-ständige Beziehungen anzuknüpfen euch zunutze käme. Sie räsonnieren nicht, sie schreiben wenig, dafür wissen sie viel und, was in Rußland selten ist, sie schaffen viel. Was soll ich euch, Freunde, nun über mich berichten? Ich beabsichtige euch in Bälde ein ausführliches Jour-nal meiner faits und gestes seit unserer letzten Tren-nung in der Avenue Marigny zu schicken, jetzt aber

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will ich nur einige Worte über meine gegenwärtige La-ge sagen. Nachdem ich ein Jahr in Sachsen, zuerst in Dresden, dann in Königstein, etwa ein Jahr in Prag, ungefähr fünf Monate in Olmütz, beständig in Ketten, in Olmütz sogar an die Wand geschmiedet, zugebracht, wurde ich nach Rußland transportiert. In Deutschland und Österreich waren meine Antworten in den Ver-hören sehr kurz: »Meine Prinzipien kennen Sie, ich habe sie nicht verhehlt und sie laut geäußert: ich wünschte die Einheit des demokratisierten Deutsch-lands, die Befreiung der Slawen, die Zerstörung aller künstlich zusammengefügten Reiche, vor allem die Zerstörung des österreichischen Kaiserreiches. Ich bin mit der Waffe in der Hand ergriffen worden, Sie haben genug Beweismaterial, um mich zu richten. Und ich werde auf keine Frage weiter antworten.« Im Mai 1851 wurde ich nach Rußland in die Peter-Pauls-Festung, in das Alexejewsche Ravelin, gebracht, wo ich drei Jahre verbrachte. Etwa zwei Monate nach meiner Ankunft erschien bei mir der Graf Orlow im Namen des Kaisers: »Der Kaiser hat mich zu Ihnen geschickt und mir aufgetragen, Ihnen folgendes zu sa-gen: „Sage ihm, daß er mir wie ein geistlicher Sohn an seinen geistlichen Vater schreiben soll“, - wollen Sie also schreiben?« Ich dachte etwas nach und überlegte, daß ich vor der Jury, bei öffentlicher Gerichtsverhand-lung, meiner Rolle bis zu Ende treu bleiben müßte; aber zwischen vier Wänden, in der Gewalt eines Bären, dür-fe ich, ohne mich zu schämen, die Formen mildern, und

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daher ersuchte ich um einen Monat Frist, willigte dann ein und verfaßte in der Tat eine Art Beichte, etwa in der Art von Dichtung und Wahrheit. Meine Handlungen waren übrigens so offene, daß ich nichts zu verhehlen brauchte. Nachdem ich dem Kaiser in gebührenden Ausdrücken für seine leutselige Aufmerksamkeit gedankt, fügte ich hinzu: »Majestät, Sie wollen, daß ich Ihnen meine Beichte niederschreibe, gut, ich werde sie schreiben, aber Sie wissen doch, daß bei einer Beichte niemand für fremde Sünden Buße tun muß. Nach meinem Schiff-bruch büeb mir nur ein Schatz, die Ehre und das Be-wußtsein, daß ich niemanden verraten, der mir vertraut hatte, und daher will ich niemanden bei Namen nen-nen.« Darauf schilderte ich ihm a quelques exceptions prés mein ganzes Leben im Auslande mit allen Plänen, Eindrücken und Gefühlen, wobei es nicht ohne viele belehrende Bemerkungen über seine innere und äußere Politik abging. Mein Brief, erstens im Bewußtsein meiner scheinbar aussichtslosen Lage und zweitens in Anbetracht des energischen Charakters Nikolais verfaßt, war sehr ent-schieden und kühn, und darum eben gefiel er ihm. Und wenn ich ihm wirklich für etwas dankbar bin, so ist es dafür, daß er nach Empfang meines Schreibens mir keine Fragen mehr stellte. Nachdem ich drei Jahre in der Peter-Pauls-Festung zu-gebracht, wurde ich bei Beginn des Krieges im Jahre 1854 nach Schlüsselburg gebracht, wo ich weitere drei

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Jahre saß. Ich bekam den Mundbrand und alle Zähne fielen mir aus. Schrecklich ist die lebenslängliche Ge-fangenschaft, das Leben ohne Ziel, ohne Hoffnung, ohne Interesse hinschleppen zu müssen! Sich täglich sagen zu müssen: »Heute bin ich dümmer geworden, und morgen werde ich noch mehr verdummen.« Wegen des schrecklichen Zahnschmerzes, der wochenlang an-hielt und wenigstens zweimal im Monat wiederkehrte, konnte ich weder bei Tag noch Nacht schlafen, und was ich auch tat, was ich auch las, sogar während des Schla-fes wurde ich von einem beunruhigenden Schmerzge-fühl in Herz und Leber und von dem sentiment fixe gepeinigt: ich sei ein Sklave, tot, Kadaver. Doch verlor ich den Mut nicht; wäre in mir das religiöse Gefühl noch vorhanden gewesen, so wäre es in der Festung ganz lieh vernichtet worden. Ich wünschte nur eines: unversöhnlich und unverändert zu bleiben, ohne resig-niert zu werden, ohne mich soweit zu erniedrigen, daß ich in irgendwelcher Selbsttäuschung Trost suchte: ich wünschte nur eines, bis an mein Ende ganz und voll das heilige Gefühl des Aufruhrs zu bewahren. Nikolai starb und ich begann lebhafter zu hoffen, es kam die Krönung und mit ihr die Amnestie, aber Ale-xander Nikolajewitsch strich mich eigenhändig aus der ihm vorgelegten Liste, und als einen Monat darauf mei-ne Mutter ihn um Vergebung für mich anflehte, sagte er: »Sachez, Madame, que tant que votre fils vivra, il ne pourra jamais être libre.« Darauf kam ich mit dem zu mir gekommenen Bruder Alexej über ein, mich noch

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einen Monat zu gedulden, und er verpflichtete sich, sollte ich bis dahin die Freiheit nicht bekommen haben, mir Gift zukommen zu lassen. Aber der Monat ging zu Ende - und man meldete mir, daß ich zwischen der Fes-tungshaft und der Verbannung nach Sibirien wählen dürfe. Selbstverständlich wählte ich das letztere. Es hatte den Meinen nicht wenig Mühe gekostet, dies vom Kaiser zu erwirken. Mit der Hartnäckigkeit eines Schafbocks schlug er mehrere Angriffe zurück; einmal kam er zu dem Fürsten Gortschakow (Minister des Äu-ßeren) heraus mit meinem Brief in der Hand (nämlich mit dem, den ich im Jahre 1851 an Nikolai geschrieben hatte) und sagte zu ihm: »Mais je ne vois pas le moindre repentir dans cette lettre« - der Dummkopf wollte repentir! Endlich kam ich im März 1857 aus Schlüsselburg heraus, brachte eine Woche in der dritten Abteilung und mit Allerhöchster Erlaubnis vierund-zwanzig Stunden bei den Meinen auf dem Lande zu, und im April wurde ich nach Tomsk gebracht. Dort verbrachte ich etwa zwei Jahre, lernte eine liebe polni-sche Familie kennen, deren Oberhaupt Xaveri Wassil-jewitsch Kwiatkowski bei den Goldgruben beschäftigt ist. Eine Werst von der Stadt lebten sie in einem kleinen Häuschen auf dem Landsitze, oder wie man es in Sibi-rien nennt, „Saimka“ Astangowo ruhig und altvaterisch. Ich begann täglich dahin zu gehen und schlug vor, bei-den Töchtern die französische und eine andere Sprache zu lehren, befreundete mich mit meiner Frau, gewann ihr völliges Vertrauen, verliebte mich leidenschaftlich

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in sie, auch sie gewann mich lieb und so heiratete ich sie und bin bereits zwei Jahre verheiratet und vollkom-men glücklich. Es ist so gut, nicht für sich selbst, sondern für einen anderen zu leben, besonders wenn dieser andere eine liebe Frau ist - und ich habe mich ihr ganz ergeben, sie aber teilt mit Herz und Sinn mein ganzes Streben. Sie ist eine Polin, doch keine Katholikin ihren Überzeu-gungen nach, daher ist sie auch von jedem polnischen Patriotismus frei, sie ist eine slawische Patriotin. Der Generalgouverneur von Westsibirien, Hasford, hat ohne mein Wissen für mich die Allerhöchste Erlaubnis er-wirkt, in den Zivildienst zu treten, der erste Schritt zu meiner Befreiung aus Sibirien, aber ich konnte mich nicht entschließen, davon Gebrauch zu machen, da ich dachte, daß ich meine Beinheit und Unschuld verlieren würde, sobald ich die Kokarde anhefte; ich bemühte mich um die Erlaubnis, nach Ostsibirien zu übersiedeln, und mit Mühe erwirkte ich sie. Man fürchtete Muraw-jews Sympathien für mich, der nach Tomsk kam, mich aufzusuchen und mir seine Achtung offen vor allen ausdrückte. Lange wollte man nicht einwilligen, endlich tat man es doch. Im März 1859 siedelte ich nach Irkutsk über und trat in den Dienst der damals eben gebildeten Amurgesellschaft; im nächsten Sommer darauf bereiste ich ganz Transbaikalien, und anfangs 1860 trat ich aus der Gesellschaft aus, da ich mich überzeugt hatte, daß daraus nichts Rechtes werden würde. Jetzt suche ich eine Stelle in den Goldbergwerken bei Benardaki; bis

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jetzt sind meine Bemühungen noch nicht von vollem Erfolg gekrönt, ich möchte mich aber ohne die Unter-stützung meiner Brüder behelfen. Sie sind nicht reich, überdies haben sie, ohne die Lösung der Bauernfrage in Petersburg abzuwarten, faktisch ihre Bauern mit Land-zuteilung befreit und lassen alles durch Lohnarbeiter verrichten, was mit großen Ausgaben verbunden ist. Wie dem auch sei, ich lebe hier in ziemlich knappen Verhältnissen, hoffe aber, daß sie sich bald bessern werden. Es ist schon Zeit, nach Rußland zu gehen. Bis jetzt waren alle Bemühungen Murawjews, mir das Recht der Bückkehr zu erwirken, erfolglos. Timaschew und Dolgoruki halten mich, gestützt auf sibirische De-nunziationen, für einen gefährlichen und unverbesserli-chen Menschen. Übrigens ist Murawjew überzeugt, daß es ihm gelingen werde, mich diesen Frühling zu befrei-en. Jetzt hoffe ich sehr auf Erfolg, und es ist für mich zur wahren Notwendigkeit geworden, nach Rußland zu gehen. Ich bin nicht zur Ruhe geboren, ich rastete wider Willen so lange Jahre, es ist Zeit, sich jetzt an die Ar-beit zu machen. Meine Tätigkeit in Sibirien beschränkte sich auf Propaganda unter den Polen, eine übrigens ziemlich erfolgreiche Propaganda; es ist mir gelungen, die Besten und Bedeutendsten unter ihnen zu überzeu-gen, daß es für die Polen unmöglich sei, ihr Leben vom russischen loszureißen, sowie daß es für sie notwendig sei, sich mit Rußland zu versöhnen; es ist mir gelungen, auch Murawjew von der Notwendigkeit der Dezentrali-

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sation des Reiches, von der Vernünftigkeit und dem Heile einer slawischen föderativen Politik zu überzeu-gen. Jetzt muß ich nach Rußland, um Leute zu suchen, mit den alten wieder bekannt zu werden und neue zu entde-cken, Rußland selbst näher kennenzulernen und mich zu bemühen, vorauszusehen, was man von ihm erwar-ten kann und was nicht. Es wäre sonderbar, wenn die innere, von der Bauernfrage angeregte Bewegung, so-wie die äußere, scheinbar von Napoleon, in Wirklich-keit aber von der durchaus noch nicht erloschenen Be-volution geschaffene, zu deren Werkzeugen Napoleon gehörte, ich sage, es wäre sonderbar, wenn dies alles zusammen Bußland nicht erschüttern sollte. Wir wollen hoffen, solange eine Möglichkeit dazu vorhanden ist - bis dahin adieu, Freunde.

Euer ergebener M. Bakunin

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Im folgenden Briefe schicke ich euch einen Brief an meinen Freund Reichel und werde mein Porträt beile-gen. Zweifelsohne werdet ihr mir antworten wollen. In die-sem Falle bitte ich euch, mir eure Briefe mit sicheren Reisenden nach Petersburg zu schicken, oder auf den Namen Nikolai Pawlowitsch Ignatiews, oder...

San Franzisko, den 15./3. Oktober 1861 Freunde! Es ist mir gelungen, aus Sibirien zu flüchten und nach langer Wanderschaft am Amur, an den Ufern der Tata-rischen Meerenge und in Japan, kam ich heute in San Franzisko an. Aber diese Wanderungen haben meine ohnedies geringen Geldmittel erschöpft, so daß ich, hätte ich nicht einen guten Menschen gefunden, der mir bis nach New York 250 Dollars lieh, in großer Verle-genheit wäre. Bis zu Euch ist es weit, hier habe ich we-der Freunde noch Bekannte, in New York werde ich etwa am 18./30. November sein. Ihr werdet diesen Brief nach meiner Berechnung etwa am 15. November erhal-ten, so daß Euere Antwort Ende dieses Monats nach New York gelangen kann. Ich hoffe, daß man Euch aus Rußland Geld für mich geschickt hat. Wie dem auch sei, ich bitte Euch, mir nach New York 500 Dollar, wie es mir scheint, 100 Pfund Sterling, zu schicken, die mir zur Deckung meiner Reiseausgaben nach London nötig

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sind. Ich würde dann etwa am 10./22. Dezember bei Euch sein. Noch eine Bitte: Sobald Ihr diesen Brief erhalten habt, benachrichtigt unverzüglich durch Euere Freunde in Rußland meine Brüder (Twer oder Gouver-nement Twer, Stadt Torshok, Dorf Prjamuchino, Niko-lai Alexandrowitsch Bakunin), daß ich glücklich in San Franzisko angekommen bin und Mitte Dezember nach London kommen werde. Meine Frau ist zweifelsohne bei den Unseren auf dem Lande, und sobald sie Euere Nachricht erhält, wird sie sich in Begleitung eines mei-ner Brüder oder jemand anderen nach London begeben. Noch eine Bitte: Mietet mir in Euerer Nahe ein billiges Eckchen und schreibt mir nach New York, wohin ich mich in London wenden soll. Wenn sich das Eckchen zu eng erweisen sollte, so werde ich schon sehen, nach Ankunft meiner Frau ein anderes zu mieten. Meine Ad-resse in New York ist: Mr. Bakounin - „Howard Hou-se“, Low Broadway and Courtland. Fügt Euerem Briefe ein Zettelchen an mich bei, in der Art einer Nachricht von Euerem Bankier mit der Angabe der mir geschick-ten Summe, sowie des Namens des New Yorker Ban-kiers, durch den ich diese zu bekommen habe. Freunde! Mein ganzes Sein sehnt sich nach Euch, und sobald ich nur angekommen bin, werde ich mich an die Arbeit machen; ich werde bei Euch der polnisch-slawischen Frage dienen, die seit 1846 meine idée fixe und in den Jahren 1848 bis 1849 meine praktische Spe-zialität war. Die Zerstörung, die völlige Zerstörung der österreichischen Monarchie wird mein letztes Wort

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sein, ich sage nicht meine letzte Tat, das wäre zu ehr-geizig. Um dieser großen Idee zu dienen, bin ich bereit, Pauken Schläger zu werden, mich sogar zum Profoß herabzuwürdigen, und wenn es mir gelingen sollte, sie nur um ein Haarbreit vorwärtszubringen, werde ich zufrieden sein. Und dann wird die herrliche freie slawi-sche Föderation ans Tageslicht treten - der einzige Aus-gang für Rußland -, die Ukraine; Polen und überhaupt für alle slawischen Völker. Heute mußte ich mich mit dunklen Gerüchten be-gnügen. Man räsonierte über die Erneuerung der bluti-gen Zusammenstöße zwischen dem Volke und dem Militär im Königreich Polen und sogar über eine offene Verschwörung in Rußland gegen das Leben des Zaren und seiner Familie. Vielleicht werde ich morgen etwas Bestimmtes erfahren. Auch der Kampf zwischen den Nordstaaten und Süd-amerika interessiert mich in hohem Grade. Selbstver-ständlich neigen alle meine Sympathien zum Norden, aber ach! der Süden scheint bis jetzt kräftiger, klüger, einiger als der Norden zu handeln und er hat in allen Zusammenstößen unzweifelhaft die Oberhand behalten. Zwar fing der Süden beizeiten vor drei Jahren an, zum Kampf zu rüsten, während die Nordstaaten einfach ü-berrumpelt wurden. Die unglaublichen Erfolge glück-licher und in seltenen Fällen ganz ehrlicher Spe-kulationen, die Abgeschmacktheit der herzlosen mate-riellen Wohlfahrt und die zu wohlfeile Befriedigung der schrecklichen kindischen nationalen Eitelkeit scheinen

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sie sehr stark demoralisiert zu haben, und vielleicht wird dieser Kampf insofern heilbringend sein, daß er dem amerikanischen Volke die verlorene Seele zurück-gibt. Übrigens, das ist mein erster Eindruck. Vielleicht, wenn ich einen tieferen Einblick tue, werde ich meine Mei-nung ändern. Nur werde ich wohl keine Zeit haben, mich lange umzusehen. In San Franzisko werde ich nur fünf Tage zubringen und nach meiner Ankunft in New York nach Boston und Cambridge zu meinem alten Bekannten, Professor Agacis gehen, bei dem ich einige Empfehlungsschreiben nehmen und mit dem ich auf einige Tage nach Washington fahren werde. Auf solche Weise werde ich wenigstens etwas verstehen und erfah-ren. Bei meiner Durchreise hierher gelang es mir, ein gutes Werk zu verrichten, welches Euch zweifelsohne erfreuen wird: Da ich weiß, mit welcher Gier man in Sibirien die „Glocke“ und den „Polarstern“ liest und mit was für Schwierigkeiten sie dorthin bezogen wer-den, kam ich mit drei Kaufleuten, einem Deutschen in Schanghai, einem Amerikaner in Japan und einem in Nikolajewsk an der Amurmündung überein, daß sie alles in Kommission nehmen, was wir ihnen aus Lon-don schicken werden, um es an die Marineoffiziere und Kiachtaer Kaufleute, deren Zahl am Amur und am Stil-len Ozean sich jährlich vergrößern wird, zu verkaufen. Auf solche Weise werden wir hundert bis dreihundert Exemplare verkaufen können, eine in kaufmännischer

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Beziehung nicht große, aber in politischer sehr wichtige Zahl. Doch es ist Zeit, den Brief zu schließen und zu Bette zu gehen. Freunde, auf baldiges Wiedersehen! Schreibet an Reichel, daß ich wieder auferstehe und daß meine Freundschaft für ihn unveränderlich ist.

Euer M. Bakunin

1] A. Herzen, bekannter russ. Sozialrevolutionär, der seit 1847 im Auslande lebte. 2] »Glocke« (Kolokol), von Herzen in London herausgegebenes Wochenblatt von großem Einfluß auf die russische öffentliche Meinung. 3] Murawjew Amurski, reformerisch eingestellter Generalgouver-neur in Sibirien; mit Bakunin verwandt. 4] Mit diesen Worten endigt der erste Bogen des Briefes, darauf folgt ein mit 2 numerierter zweiter von anderem Format, der am Anfang fast -wörtlich den Schluß des ersten Bogens wiedergibt, so daß dieser Anfang ausgelassen werden konnte. (Übersetzer.)

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TEXTNACHWEISE Orthographie, Interpunktion und veraltete Sprachformen wurden z. T. modernisiert; Eigenarten Bakunins wurden zugunsten der Kon-sequenz jedoch nicht geopfert. 1. Die Reaktion in Deutschland Die - deutsch geschriebene - Abhandlung erschien unter dem Pseudonym Jules Elysard in: Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, 5. Jahrgang (1842), Nr. 247ff. (Oktober), S. 985-1002. 2. Gott und der Staat Diese grundlegende Schrift wurde dem von Erwin Rholfs besorg-ten Band I, S. 94-199, der dt. Gesamtausgabe von Bakunins Wer-ken entnommen, die unter dem Titel „Michael Bakunin, Gesam-melte Werke“, Berlin 1921-24 in 5 Bänden herausgegeben wurde. Dort fehlt der anderweitig nachgewiesene und auch im Schlußwort (S. 307) von Rholfs erwähnte Titel „Gott und der Staat“. 3. Das Sozialrevolutionäre Programm entstammt dem 3., von Max Nettlau betreuten, 1924 (Berlin) veröffentlichtem Band der dt. Gesamtausgabe. Das hier abgedruckte Dokument findet sich dort S. 8-29. Ein Gesamttitel fehlt diesen Skizzen. Der vom Herausge-ber der vorliegenden Auswahl verwendete Titel setzt sich in Wort und Begriff aus Prägungen Bakunins zusammen. 4. Briefe Die vorgelegten Briefe enthält die Brief- und Doku-mentensammlung „Michail Bakunins Social-politischer Brief-wechsel mit Alexander Iw. Herzen und Ogarjow“, hrsg. von Mi-chail Dragomanow, Stuttgart 1895, auf Seite 29-41 (Bf.-Nr. 6 und 7).

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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS M. B. = Michail Bakunin N. = Nettlau GuS = Gott und der Staat Reaktion = Die Reaktion in Deutschland Übers. = vgl. Textnachweise