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Begabung und Gesellschaft Arne Böker Kenneth Horvath Hrsg. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Begabung und Begabtenförderung

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Begabung und Gesellschaft

Arne BökerKenneth Horvath Hrsg.

Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Begabung und Begabtenförderung

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Begabung und Gesellschaft

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Arne Böker · Kenneth Horvath (Hrsg.)

Begabung und GesellschaftSozialwissenschaftliche Perspektiven auf Begabung und Begabtenförderung

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HerausgeberArne BökerHannover, Deutschland

Kenneth HorvathLuzern, Schweiz

ISBN 978-3-658-21760-0 ISBN 978-3-658-21761-7 (eBook)https://doi.org/10.1007/978-3-658-21761-7

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhalt

Einleitung

Arne Böker & Kenneth Horvath

Ausgangspunkte und Perspektiven einer

sozialwissenschaftlichen Begabungsforschung .................................................... 7

Teil 1 – Begabung als soziales Konstrukt

Timo Hoyer

„Einem Kind, das Talent hat, wird nichts schwer.“

Das Begabungsmotiv in der erzählenden Schulliteratur ..................................... 29

Florian Heßdörfer

Begabung als Gabe.

Zwang und Freiheit im Begabungsdiskurs um 1900........................................... 53

Tobias Peter

Talent. Zu einem Schlüsselbegriff zeitgenössischer Bildung ............................. 71

Eva Wegrzyn

„Also ich bin Einzelkind.“

Zur subjektiven Konstruktion von Hochbegabung ............................................. 95

Simon Egbert

(Hoch-)Begabung messen?

Programmatische Überlegungen aus testsoziologischer Perspektive ................ 117

Alexandra Janetzko

Über „Talentschmieden“ und „geborene Sieger“.

Eine praxeografische Analyse von Talentkonstruktionen im

Leistungssport ................................................................................................... 139

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6 Inhalt

Teil 2 – Begabtenförderung und die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit

Leslie Margolin

Gifted Education and the Matthew Effect......................................................... 165

Arne Böker

Begabtenförderung als Krisenintervention.

Die Rechtfertigung von Begabtenförderung durch die Studienstiftung

des Deutschen Volkes ....................................................................................... 183

Annegret Staiger

Whiteness as Giftedness.

Racial Formation at an Urban High School ...................................................... 207

Kenneth Horvath

„Wir können fördern, wir können fordern, aber begaben können wir nicht.“

Pädagogische Begabungsunterscheidungen im Kontext sozialer

Ungleichheiten .................................................................................................. 239

Markus Riefling & Christine Koop

‚Elitekind‘ und ‚Kopftuchmädchen‘.

Perspektiven der Begabungsförderung im Lichte der Rationalen Pädagogik ... 263

Autor_innen ...................................................................................................... 285

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Ausgangspunkte und Perspektiven einer

sozialwissenschaftlichen Begabungsforschung

Arne Böker & Kenneth Horvath

1 Begabung als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung

Nimmt man die von Émile Durkheim (1984) formulierte Forderung ernst, Sozia-

les nur durch Soziales zu erklären, stellt der Begriff der Begabung für die Sozial-

wissenschaften eine fundamentale Provokation dar. In seinem Alltagsgebrauch

scheint er auf all das zu verweisen, was ein Individuum in seiner Einzigartigkeit,

seinen Talenten, Vorlieben und Bedürfnissen ausmacht – jenseits gesellschaft-

licher Prägungen und Verhältnisse. Entsprechend waren die Themen Begabung

und Begabtenförderung lange Zeit weitgehend pädagogischen, bildungspoli-

tischen und psychologischen Auseinandersetzungen vorbehalten. In sozialwis-

senschaftlichen Diskussionszusammenhängen waren sie von marginaler Bedeu-

tung oder wurden als für eine soziologische Auseinandersetzung irrelevant ein-

gestuft. So schreibt etwa Hans Joas (2007: 242) in seinem „Lehrbuch der Sozio-

logie“:

„Von diesen »institutionalisierten« oder »strukturierten« sozialen Ungleichheiten,

verstanden als auf Dauer gestellte, gesellschaftlich verankerte Besser- oder Schlech-

terstellungen einzelner Menschen, Gruppen von Menschen, aber auch ganzer Gesell-

schaften, sind individuelle und physische Verschiedenartigkeiten (Größe, Ge-

schlecht, Augenfarbe, Begabungen) und soziale Differenzierungen (z.B. nach Beruf

oder Religion) ebenso zu unterscheiden wie eher »zufällige« Begünstigungen (z.B.

durch einen Lottogewinn).“ [Hervorh. durch Böker & Horvath]

Die Sicht, dass eine Kategorie wie „Geschlecht“ (oder auch etwa „Behinde-

rung“) auf individuelle, quasi-natürliche Eigenheiten verweise, wirkt mittler-

weile antiquiert bis überkommen: Mit großem theoretischen und empirischen

Aufwand haben Sozialwissenschaftler_innen über die letzten Jahrzehnte den

durch und durch gesellschaftlichen Charakter dieser Kategorien herausgearbeitet.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018A. Böker und K. Horvath (Hrsg.), Begabung und Gesellschaft,https://doi.org/10.1007/978-3-658-21761-7_1

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8 Arne Böker & Kenneth Horvath

Für den Fall von Begabung und speziell von Hochbegabung hat eine solche

Neubewertung und Neukonstruktion als Gegenstand sozialwissenschaftlicher

Auseinandersetzung bislang nur vereinzelt oder in Ansätzen stattgefunden.

Die Marginalisierung des Gegenstands Begabung in den Sozialwissen-

schaften markiert ein dreifaches Problem. Zum ersten fehlt es aktuellen Bil-

dungsdiskursen an einer sozialwissenschaftlichen Fundierung, die erlauben wür-

de, Formen der Begabtenförderung im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen

Grundlagen und Implikationen zu kontextualisieren – sie systematisch zu breite-

ren gesellschaftlichen Entwicklungsdynamiken, zu wirtschaftlichen und sozialen

Ordnungen in verschiedenen gesellschaftlichen Teilfeldern oder auch zu politi-

schen Verhältnissen und deren Veränderungsdynamiken in Bezug zu setzen.

Zweitens fehlt, umgekehrt, den Sozialwissenschaften ein wesentlicher Baustein

für die Analyse sozialer Gefüge: Immerhin sind Begabung und Begabtenför-

derung zentrale Elemente gegenwärtiger pädagogischer und politischer Diskurse

und Praktiken. Sie dienen der strukturell und institutionell verankerten Definition

und Bewältigung komplexer Handlungssituationen auf verschiedenen Skalen

gesellschaftlicher Wirklichkeit. Drittens fehlt den Sozialwissenschaften aber

auch ein wesentlicher Ansatzpunkt zum Austausch mit, zur Abgrenzung von und

zum Anschluss an bedeutende Teile aktueller bildungswissenschaftlicher Debat-

ten.

Unser Band will vor diesem Hintergrund die Diskussion darüber eröffnen,

wie Begabung sinnvoll als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung kon-

struiert werden kann. Die Beiträge wollen die Potenziale und Herausforderungen

sozialwissenschaftlicher Annäherung an Begabung und Begabtenförderung auf-

zeigen. Geht man von dem Anspruch aus, Soziales durch Soziales zu erklären,

ergibt sich dabei als erste Herausforderung fast zwangsläufig, den sozialen Cha-

rakter von Begabung theoretisch und empirisch zu fassen und so über Perspekti-

ven hinauszugehen, wie sie auch heute noch weit verbreitet sind – beispielsweise

in der Anlage-Umwelt-Debatte, in der individuelle und soziale Faktoren als strikt

getrennt und unterscheidbar (wenn auch aufeinander bezogen) gedacht werden.

Begabung wird in diesem Band entsprechend weniger als quasi-natürliche Ei-

genschaft denn als politisches Projekt, als Element pädagogischer Diskurse, als

Technologie der Subjektivierung und der Steuerung von Bildungssystemen oder

auch als Komponente komplexer Rechtfertigungs- und Erklärungsordnungen in

den Blick genommen. Vorweggeschickt werden muss: Mit einer solchen Be-

stimmung als sozialwissenschaftlichem Gegenstand geht zwangsläufig eine „Ir-

ritation“ gesellschaftlich etablierter Deutungs- und Problematisierungsweisen

einher. Um auf Durkheims „Regeln der soziologischen Methode“ zurückzu-

kommen, ist eine solche Irritation unumgänglich. Sie ergibt sich aus der Not-

wendigkeit, mit den Vorbegriffen unseres Alltagsdenkens, die immer auch Vor-

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Ausgangspunkte und Perspektiven einer sozialwissenschaftlichen Begabungsforschung 9

urteile sind, zu brechen – mit dem Ziel, neue Formen von Analyse, Kritik und

Dialog zu ermöglichen.

Der überwiegende Teil der in diesem Band veröffentlichten Beiträge sind

aus einem Workshop hervorgegangen, der im Juli 2016 an der Universität Hil-

desheim stattgefunden hat.1 Darüber hinaus konnten wir mit Leslie Margolin und

Annegret Staiger zwei ausgewiesene internationale Expert_innen für unser Pro-

jekt gewinnen. Bevor wir die Beiträge im Einzelnen präsentieren (Kapitel 5)

besprechen wir im Folgenden zunächst Aspekte aktueller bildungspolitischer

Konstellationen, die eine sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bega-

bung und Begabtenförderung dringend geboten scheinen lassen (Kapitel 2). In

Kapitel 3 diskutieren wir in aller Kürze einige Eigenheiten der „traditionellen“

Begabungsforschung, die sich über die Jahre merkbar ausdifferenziert hat und

heute ein vielfältiges und von Spannungen markiertes Forschungsfeld darstellt.

Auf dieser Grundlage identifizieren wir einige Prinzipien und mögliche theore-

tische Ansatzpunkte für eine sozialwissenschaftliche Begabungsforschung (Ka-

pitel 4).

2 Begabtenförderung im Spannungsfeld von Egalität und Exzellenz

Dass die Themen (Hoch-)Begabung und Begabtenförderung gesellschaftliche

Relevanz haben, lässt sich kaum bezweifeln. In Deutschland hat sich etwa das

Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in den letzten Jahren

vermehrt dem Thema gewidmet. Begabtenförderung stellt neben Digitalisierung,

Integration und Nachhaltigkeit eines der zentralen Querschnittsthemen des

BMBF dar. Die Bedeutung der bildungspolitischen Leitidee der (Hoch-)Bega-

bung (Preuß 2012) zeigt sich nicht nur auf rhetorischer Ebene, sondern auch in

der Expansion von Begabtenförderungsprogrammen, die durch das BMBF finan-

ziert werden. So ist beispielsweise die Zahl der Stipendien für begabte Stu-

dierende im Zeitraum zwischen 2005 und 2015 von 13.400 auf 56.000 gestiegen.

Im gleichen Zeitraum hat sich die Anzahl der Stipendiat_innen von Begabten-

förderungswerken mehr als verdoppelt (von 13.515 auf 27.629)2. Die Haushalts-

mittel, welche das BMBF den Begabtenförderungswerken gewährt, stiegen zwi-

schen 2005 und 2016 von 80,5 auf 243,9 Millionen Euro3. Nicht zuletzt hat die

Einführung des Deutschlandstipendiums im Jahre 2010 maßgeblich zur Expan-

1 Für die Unterstützung während des Workshops und bei der Fertigstellung des Buches danken

wir Lina Wulf.

2 Vgl. www.bmbf.de/de/begabtenfoerderung-in-studium-und-beruf-73.html [abgerufen am 19. 02.2018].

3 Vgl. www.bmbf.de/de/diebegabtenfoerderungswerke-884.html [abgerufen am 19.02.2018].

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10 Arne Böker & Kenneth Horvath

sion der Begabtenförderungsprogramme beigetragen. Die Anzahl der Stipen-

diat_innen, die ein Deutschlandstipendium erhalten (25.528), nähert sich den

Förderzahlen der Begabtenförderungswerke (28.889) immer weiter an. Darüber

hinaus hat das BMBF im Jahr 2008 das Aufstiegsstipendium eingeführt, mit dem

es versucht, insbesondere begabte berufserfahrene Studierende zu fördern. Aktu-

ell erhalten 4.302 Studierende dieses Stipendium4.

Im schulischen Bereich wurden mit einem Ende 2016 lancierten, mit insge-

samt 125 Millionen dotierten Bund-Länder-Programm zur Förderung leistungs-

starker Schüler_innen ebenfalls deutliche Akzente gesetzt (KMK 2016). Dieses

Programm setzt eine lange Reihe von staatlichen Initiativen auf Länderebene

fort, die Begabtenförderung sowohl im Kindergarten als auch in der Grundschule

und den Sekundarschulen zu etablieren versuchen5. Während die Begabtenför-

derungsprogramme des BMBF vorrangig auf Exzellenz und Exklusivität abzie-

len, finden sich auf Landesebene auch Programme, die den inklusiven Charakter

von Begabungsförderung in den Mittelpunkt rücken. Beispielhaft sei hier das

Projekt „Hochbegabung inklusive“ (2011-2014) in Bremen angeführt, welches

durch eine Kooperation zweier Projektschulen, der Uni Bremen, der zuständigen

Senatorin für Bildung und der KARG-Stiftung entstanden ist. Neben der För-

derung hochbegabter Schüler_innen im inklusiven Unterricht wurde in den Pro-

jektschulen vor allem der Potenzialentfaltung aller Schüler_innen Aufmerksam-

keit geschenkt. Im Gegensatz dazu finden sich auf Landesebene auch viele Be-

gabtenförderungsprogramme, die einen exklusiven Charakter aufweisen – so

etwa die Hector Kinderakademien, die 2010 durch eine Zusammenarbeit der

Hector Stiftung II, dem Kultusministerium Baden-Württemberg, dem Deutschen

Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) und dem Hector-

Institut für Empirische Bildungsforschung (HIB) entstanden sind. Nach einer

Anmeldung durch Lehrer_innen sollen begabte Grundschulkinder durch Kurse

und Workshops ein zusätzliches Bildungsangebot zur Verfügung gestellt werden.

Die Hector Kinderakademien sind in Baden-Württemberg flächendeckend ver-

treten und ihr Angebot soll demnächst auch auf den vorschulischen Bereich

ausgeweitet werden.

Diese bildungspolitischen Initiativen müssen in einem Spannungsfeld gese-

hen werden, von dem das deutsche Bildungssystem gegenwärtig strukturell ge-

prägt ist: einer Tendenz zur sozialen Öffnung und einer gleichzeitig stattfinden-

den vertikalen Hierarchisierung (Krüger et al. 2011). Als Indizien einer sozialen

4 Vgl. www.bmbf.de/de/diebegabtenfoerderungswerke-881.html [abgerufen am 19.02.2018]. 5 Das Interesse an Begabtenförderung variiert stark zwischen den verschiedenen Bundesländern:

vgl. www.fachportal-hochbegabung.de/bundeslaender/uebersichtstabelle/ [abgerufen am

19.02.2018].

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Ausgangspunkte und Perspektiven einer sozialwissenschaftlichen Begabungsforschung 11

Öffnung können etwa die Einführung eines teilintegrierten Sekundarschulwesens

oder die Etablierung kompensatorischer Ganztagsbildung gelesen werden. Ex-

zellenzuniversitäten, private Kindergärten und Grundschulen, sowie die Einfüh-

rung von Prime-Gymnasien stehen symptomatisch für die vertikale Hierarchisie-

rung des Bildungssystems (ebd.: 327f.). Für die Begabtenförderungsprogramme

der letzten Jahre ist bezeichnend, dass sie die Gleichzeitigkeit dieser beiden Ent-

wicklungen zum Ausdruck bringen. Diese Gleichzeitigkeit von Exzellenz- und

Egalitätsbekundungen spiegelt eine fundamentale Spannung des Begabungsbe-

griffs wider, der sich im bildungspolitischen Diskurs zum einen in der Förderung

aller im Hinblick auf ihre individuellen Begabungen und zum anderen der Förde-

rung der Begabtesten, also derjenigen mit den größten und wichtigsten Bega-

bungsressourcen, manifestiert. Gerade die Offenheit und Unbestimmtheit des

Begabungsbegriffes ermöglicht eine Verbindung mit unterschiedlichen bildungs-

politischen Konzepten, wie Egalität und Exzellenz oder Inklusion und Exklusion.

Aus dieser, hier nur grob skizzierten, aktuellen Konstellation ergeben sich zwei

grundlegende Bereiche, in denen sich ein dringender Bedarf an sozialwissen-

schaftlicher Auseinandersetzung mit Begabung und Begabtenförderung abzeich-

net. Zum einen stellt sich die Frage nach den (bildungspolitischen, aber auch

pädagogischen und medialen) Diskursen der Begabung – nach ihrer Einbettung

in breitere politische und gesellschaftliche Konstellationen, den ihnen zugrunde-

liegenden politischen Rationalitäten und Gerechtigkeitsvorstellungen sowie den

in ihnen realisierten Begabungsverständnissen. Diesen Diskursen von Begabung

und Begabtenförderung und ihren je spezifischen Formen, Begabung zu kon-

struieren und so zum Gegenstand politischer und pädagogischer Praktiken zu

machen, ist der erste Teil dieses Sammelbands gewidmet.

Die zweite Kernfrage für sozialwissenschaftliche Auseinandersetzungen

ergibt sich aus der Gleichzeitigkeit von elitären und egalitären Ansprüchen und

betrifft das Problem der Reproduktion sozialer Ungleichheiten in der und durch

die Begabungs-/Begabtenförderung. Die ungleichen Chancen, in den Genuss von

Förderprogrammen zu kommen, sind über die letzten Jahre zu einem Schlüs-

selthema in der Begabungsforschung avanciert. Allerdings mangelt es nach wie

vor an schlüssigen Aufbereitungen und Erklärungen der komplexen Mechanis-

men, die hier im Spiel sind. Hier setzen die Beiträge des zweiten Teils dieses

Sammelbands an, der dem Problem des Wechselspiels von sozialen Ungleichheit

und Begabtenförderung gewidmet ist.

In ihrer Beschäftigung mit den Diskursen und Strukturen der Begabten-

förderung kommen die Sozialwissenschaften nicht drum herum, sich mit beste-

henden Formen der Begabungsforschung auseinanderzusetzen. Diese Auseinan-

dersetzung wird durch den Umstand verkompliziert, dass prominente Bega-

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12 Arne Böker & Kenneth Horvath

bungsforscher_innen selbst als Schlüsselakteure der zu analysierenden poli-

tischen und pädagogischen Entwicklungen aufgetreten sind. Ihre Arbeiten bieten

im Umkehrschluss aber auch einen Ansatzpunkt, von dem aus die Frage nach

den politischen Rationalitäten und pädagogischen Praktiken der Begabtenför-

derung aufgeworfen werden kann.

3 Schwerpunkte und Kontexte der traditionellen Begabungsforschung

Die Forschungsschwerpunkte und -zugänge der „traditionellen“ Begabungsfor-

schung haben sich im Laufe ihrer einhundertjährigen Geschichte entwickelt und

ausdifferenziert. Im Mittelpunkt stehen die Definition und Konzeption von Be-

gabung, das Wesen von Hochbegabung und die Merkmale von Hochbegabten,

sowie die Identifizierung und Förderung von Begabungen beziehungsweise

(Hoch-)Begabten. Die Begabungsforschung hat dabei im Lauf der Jahrzehnte

eine breite Palette an Theorien, Konzepten und Methoden zu den jeweiligen

Themenbereichen entwickelt.

Die Ursprünge heute etablierter Formen der Begabungsforschung liegen

zeitlich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und geografisch in den

westlichen Industrienationen. Neben der Pädagogik entwickelt zu dieser Zeit

insbesondere die Psychologie ein gesteigertes Forschungsinteresse an der Dif-

ferenzierung von Individuen hinsichtlich ihrer Begabungen. Die Entstehung der

Begabungsforschung und die Etablierung von Begabtenförderungsprogrammen

sind dabei eng miteinander verwoben. Viele Begabungsforscher_innen betonen

die Verknüpfung von Forschung, Diagnose und Förderung. An dieser Stelle sei

lediglich auf Lewis M. Terman (1926), Leta S. Hollingworth (1922) und William

Stern (1912) verwiesen, die ihre Forschungen mit der Durchführung von Begab-

tenförderungsprogrammen verbanden.

In der aktuellen Begabungsforschung existieren verschiedene Definitionen

von Begabung, die in der Regel auf überdurchschnittliche Leistungen oder Leis-

tungspotentiale von Individuen rekurrieren (Stamm 2009: 13). Ziegler verweist

aufgrund der Vielzahl von unterschiedlichen Begabungsdefinitionen auf „ein

nahezu babylonisches Sprachgewirr“ (Ziegler 2008: 15). Dieses Durcheinander

versucht er unter Rückgriff auf Feldhusens und Jarwans (1993) aufzulösen und

unterscheidet dabei grundsätzlich zwischen psychometrischen Definitionen (Fo-

kus auf Testergebnisse), Performanzdefinitionen (Fokus auf erbrachte Leistun-

gen), Etikettierungsdefinitionen (Fokus auf Zuschreibungen), spezifischen Ta-

lentdefinitionen (Fokus auf Leistungen in spezifischen Bereichen) und delphi-

schen Definitionen (Fokus auf Fremdzuschreibungen von Expert_innen). Neben

diesen Definitionen von Begabung finden sich auch Ansätze, die Begabung als

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Ausgangspunkte und Perspektiven einer sozialwissenschaftlichen Begabungsforschung 13

eine Tätigkeit im Sinne eines Begabens von Individuen verstehen (Roth 1952),

aber auch Definitionen, die Begabungen an die soziale Gruppe der Begabten

binden und dieser spezifische Eigenschaften zuschreiben (vgl. Terman 1926,

Rost 1993, Rost 2009, Heller 2008, Freeman 2010). Eine ähnliche Vielfalt findet

sich im Übrigen auch bei Modellen, die Begabung ursächlich erklären wollen.

Hier existieren neben monokausalen (z.B. Terman 1926, Rost 1993, Gardner

1983) auch multidimensionale Modelle (Renzulli 1978, Heller 2008, Ziegler

2008).

Seit der Entstehung der Begabungsforschung widmen sich Forscher_innen

der Frage, wie Begabte bzw. Begabungen identifiziert werden können. Hierbei

dominieren zwei Verfahren: die Überprüfung bereits erbrachter Leistungen und

die Messung der Intelligenz durch ein Testverfahren (Ziegler 2008: 60). In der

Psychometrie sind eine Vielzahl unterschiedlicher Tests und Testbatterien zur

Messung von Intelligenz entwickelt worden, die auch zur Identifizierung von

Begabten eingesetzt werden (Preckel 2010, Rost 2013). Darüber hinaus werden

zur Identifizierung von Begabten auch auf Nominierungen (Baudson 2010) oder

Checklisten (Perleth 2010) zurückgegriffen. In den letzten Jahren rückt zudem

die Forderung nach ‚kultursensiblen‘ Testverfahren in den Mittelpunkt (Riedl-

Cross & Borland 2013, Stamm 2007, Stamm 2009). Ziel ist es, mit diesen Me-

thoden schließlich auch Begabte aus Gruppen zu entdecken, die im Bildungs-

system einer strukturellen Benachteiligung ausgesetzt sind. Eine ähnliche Band-

breite lässt sich aktuell auch bei den Fördermethoden beobachten. Neben spezifi-

schen Fördermaßnahmen wie Akzeleration, Enrichment, Pull-out-Programmen,

Leistungsgruppierung und speziellen Curricula (Ziegler 2008, Ziegler 2010)

haben Begabungsforscher_innen komplexe Fördermodelle entwickelt, wie bei-

spielsweise das Schoolwide Enrichment Model (Renzulli 1978, Renzulli & Reis

2009) oder das PACE-Modell (Ziegler 2008). Darüber hinaus wird die För-

derung von Begabungen auch in der Sonderpädagogik (vgl. Hoyningen-Süess &

Gyseler 2006) und unter dem Stichwort der Inklusiven Begabungsfördrung (vgl.

Seitz et al. 2016, Solzbacher et al. 2015) diskutiert.

Eine intensive Auseinandersetzung von Sozialwissenschaftlicher_innen mit be-

stehenden Ansätzen der Begabungsforschung ist zum näheren Verständnis von

Begabung und Begabtenförderung unerlässlich. Gleichzeitig ist es notwendig,

die Arbeiten der Begabungsforscher_innen zu kontextualisieren und in Relation

zu anderen Diskursen, Phänomenen, Ereignissen und sozialen Akteuren zu set-

zen. Besonders interessant erscheint dafür ein Blick auf den Entstehungskontext

der Begabungsforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hier lassen sich bereits

verschiedene politische Rationalitäten, pädagogische Praktiken und grundsätz-

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14 Arne Böker & Kenneth Horvath

liche Spannungen identifizieren, die Begabungsforschung und Begabtenför-

derung bis heute prägen.

Das wissenschaftliche und praktische Engagement früher Begabungsfor-

scher_innen ist in Relation zu zwei politischen Bezugspunkten zu sehen. Erstens

sind sie untrennbar mit dem Bestreben verbunden, in Zeiten der Integration auch

armer Bevölkerungsteile gegen „Gleichmacherei“ und Nivellierung von Bil-

dungsangeboten vorzugehen; die Forderung nach gesonderten Bildungsangebo-

ten wird naturalisierend mit den Eigenheiten des als eigenen Typus entworfenen

„hochbegabten“ Kindes begründet (Margolin 1994). Zweitens war das Bestre-

ben, diesem neuen, als andersartig und speziell imaginierten Typus spezielle

Förderung zukommen zu lassen, eng an das gesellschaftspolitische Programm

der Eugenik gekoppelt, die vor dem Zweiten Weltkrieg zu einer breiten Bewe-

gung anwuchs und untrennbar mit dem Aufkommen moderner psychometrischer

Verfahren speziell der Intelligenzmessung verbunden ist (Knebel & Marquardt

2012). Das Hauptargument von Anhänger_innen der Vererbungstheorie zielte in

dieser Zeit (und zielt auch heute noch) auf die scheinbar ungleiche Verteilung

von Begabungen zwischen Individuen und sozialen Gruppen. Verfechter der

Vererbungstheorie gehen von der Annahme aus, dass diagnostizierte Begabun-

gen zwischen Bevölkerungsgruppen ungleich verteilt sind, und dass diese un-

gleiche Verteilung letztlich genetisch bedingt ist. Die Sarrazindebatte zeigt die

anhaltende Virulenz derartiger Problematisierungen auf (Haller & Niggeschmidt

2012).

Die Begabungsforschung der Nachkriegsjahrzehnte, die auch für aktuelle

sozialwissenschaftliche Perspektiven Referenzpunkte bietet, steht bis heute in

einem ambivalenten bis spannungsreichen Verhältnis zu ihren Anfängen. Klaren

Kontinuitäten stehen in einigen wichtigen Hinsichten prononcierte Brüche ge-

genüber. Als ein Beispiel für die nachhaltige Wirkung einzelner Forschungsar-

beiten mag die Terman-Studie dienen (Terman 1926) – eine Längsschnittstudie,

die über Jahrzehnte die Lebensverläufe einer vierstelligen Anzahl als hochbegabt

deklarierter Kinder verfolgte. Diese Studie hat es in methodologischen Debatten

schon früh zu eher zweifelhaftem Ruhm gebracht (Sorokin 1956), ist aber

nichtsdestotrotz bis heute Grundlage für zahlreiche als „wissenschaftlich belegt“

geltende Urteile über die Gruppe der „Hochbegabten“. Ganz allgemein kann in

den noch heute angewandten Diagnose- und Identifikationsprozeduren von

„Hochbegabten“ ein zentrales Erbe der ersten Begabungsforscher_innen gesehen

werden. Dies zeigt sich insbesondere in der anhaltenden Praxis des Intelligenz-

testens, welches wohl das gesellschaftlich einflussreichstes Erbe der frühen

Hochbegabungsforschung darstellt (Gould 1980).

Gleichzeitig verlor die politische Unterfütterung der ursprünglichen Bega-

bungsforschung nach dem Zweiten Weltkrieg an gesellschaftlicher Tragfähig-

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Ausgangspunkte und Perspektiven einer sozialwissenschaftlichen Begabungsforschung 15

keit. Nach 1945 wurde die Eugenik als Gerechtigkeitslogik nicht mehr als legi-

tim angesehen (Boltanski & Thévenot 2007). Zudem rückten parallel zum Auf-

bau nationaler Wohlfahrtsstaaten und der mit dieser verbundenen Bildungsex-

pansion Egalitätsbestrebungen ins Zentrum bildungspolitischer Diskurse (Dah-

rendorf 1965). In Deutschland kann in diesem Zusammenhang das Gutachten

„Begabung und Lernen“ als ein Wendepunkt in der akademischen Debatte be-

schrieben werden. Heinrich Roth und Kolleg_innen betonen darin „die wis-

senschaftliche Unbrauchbarkeit des Begriffs Begabung“ (Roth 1969: 19) und

kritisieren vehement die Vererbungstheorie. Sie richteten ihre Aufmerksamkeit

stattdessen auf den Begriff der Lernleistung und stellten im Rahmen des Gut-

achtens verschiedene Einflussfaktoren auf diese vor. Zur gleichen Zeit widmete

sich die schichtspezifische Sozialisationsforschung den familiären Ausgangsbe-

dingungen von Kindern (Rolff 1997). Auch die Vertreter_innen dieses For-

schungsprogramms verneinen die Determination von Begabungen durch geneti-

sche Vererbung. Heutzutage richtet sich der Fokus von Bildungsforscher_innen

vorrangig auf die rationale Bildungswahl, die Familie als Reproduktionsinstanz,

die institutionelle Diskriminierung und die ungleichheitsverstärkenden Effekte

von Bildungssystemen (Brake & Büchner 2012). Diese facettenreichen empiri-

schen Arbeiten zeigen eindrücklich wie Familien, Lehrer_innen, Schulen, insti-

tutionelle Settings und Bildungssysteme die Leistungen von Schüler_innen und

Student_innen beeinflussen.

In der Begabungsforschung werden vor diesem Hintergrund Bruchlinien

sichtbar, die bei näherer Betrachtung schon in der frühen Begabungsforschung

angelegt waren und sich letztlich auf Spannungen zwischen Eugenikbewegung

und Reformpädagogik als teilweise aufeinander bezogene, teilweise sich wider-

sprechende Grundlegungen einer Begabungsorientierung zurückführen lassen. In

aktuellen Diskussionen spiegeln sich diese als Widerstreit zwischen Exzellenz-

und Egalitätsorientierung, zwischen Begabtenförderung und Begabungsför-

derung oder zwischen Exklusion und Inklusion wider. Für die Entwicklung neuer

sozialwissenschaftlicher Perspektiven auf Begabung und Begabtenförderung

haben diese Konstellationen im Feld der Begabungsforschung wichtige Implika-

tionen. Einerseits lässt sich eine Rolle abstecken, die neben der schon in Ab-

schnitt 2 erwähnten Analyse von Diskursen und (Ungleichheits-)strukturen der

Begabtenförderung als dritten Wirkungsbereich die Notwendigkeit der Reflexion

der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der sozialen und politischen

Einbettung von Begabungsforschung selbst aufgreift. Eine solche reflexive Rolle

muss zwangsläufig mit dem Bestreben verbunden sein, disziplinenübergreifend

einen kritisch-analytischen Dialog herzustellen und zu prägen. Andererseits

kommt eine sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung nicht umhin, Bruchli-

nien zu benennen und originäre Begriffsverständnisse und Thematisierungsfor-

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16 Arne Böker & Kenneth Horvath

men zu entwickeln, die den Anforderungen einer gesellschafts- und sozialtheo-

retisch fundierten Epistemologie und Methodologie gerecht werden.

4 Prinzipien einer sozialwissenschaftlichen Begabungsforschung:

anti-essenzialistisch, relational, reflexiv

Die unmittelbare Motivation zu diesem Sammelband liegt zum einen in der Ak-

tualität und Expansion von Begabtenförderungsprogrammen in den letzten Jah-

ren. Zum anderen folgt sie aus der kritischen Auseinandersetzung mit der Ge-

schichte und aktuellen Trends der Begabungsforschung. Vor diesem Hintergrund

muss eine sozialwissenschaftliche Begabungsforschung fragen, weshalb sich

Begabtenförderungsprogramme in den letzten zehn Jahren rasant ausgebreitet

haben, den Kontext rekonstruieren, in dem Begabtenförderung entstanden ist und

welche Deutungen von Begabung sich in unterschiedlichen zeitlichen und räum-

lichen Kontexten herausgebildet haben. Sie fragt nach der sozialen Wirkmäch-

tigkeit des Begabungskonzeptes, nach dessen Einfluss auf Lebensentwürfe oder

auf die Arbeit von Professionellen. Zugleich fokussiert sie die Reproduktion

sozialer Ungleichheitsverhältnisse, die mit Begabtenförderungsprogrammen

verbunden sind. All diesen und weiteren Fragen gehen die Autor_innen dieses

Sammelbands nach.

Wir denken, dass sich eine produktive und innovative sozialwissenschaftli-

che Auseinandersetzung mit aktuellen Begabungsdispositiven an drei ganz abs-

trakt gehaltenen Prinzipien orientieren sollte. Das erste Prinzip verweist auf eine

anti-essenzialistische, das zweite auf eine relationale und das dritte auf eine re-

flexive Haltung von Sozialwissenschaftler_innen im Forschungsprozess. Diese

kurze Liste an Prinzipien ist natürlich weder abschließend noch vollständig. Vor

allem ist sie in ihrer Abstraktheit mit ganz verschiedenen sozialtheoretischen und

methodologischen Perspektiven zu verbinden. Diese Ausrichtung trägt letztlich

auch der Vielfalt der Sozialwissenschaften Rechnung, die sich in der theore-

tischen und methodischen Bandbreite in diesem Sammelband widerspiegelt.

Als erster gemeinsamer konzeptuelller Bezugspunkt und als erste grundle-

gende sozialtheoretische Anforderung kann das Bestreben gelten, einen anti-

essenzialistischen Begabungsbegriff zu entwickeln. Essenzialisierende Bega-

bungsbegriffe, die (Hoch-)Begabung als Syndrom fassen, das an Individuen

diagnostiziert werden kann, sind in der Begabtenförderung bis heute weit ver-

breitet. Ideengeschichtlich sind sie untrennbar mit den eugenischen Entwick-

lungslinien der Begabungsforschung verbunden. Mit der vehementen Kritik an

Vererbungstheorien in den Nachkriegsjahrzehnten wurden auch essenzialisie-

rende Begabungsvorstellungen zunehmend hinterfragt. Bekenntnisse, dass Bega-

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Ausgangspunkte und Perspektiven einer sozialwissenschaftlichen Begabungsforschung 17

bung ein Konstrukt sei, sind mittlerweile vorherrschend. Der allgemein zu kon-

statierenden Vagheit und Mehrdeutigkeit des Konstruktbegriffs entsprechend

(Hacking 1999), bleibt dabei im Einzelfall häufig unklar, was mit dem Kon-

struktcharakter von Begabung genau gemeint ist – das Spektrum an (implizten)

Begriffsverwendungen reicht von radikal konstruktivistischen über sozialkon-

struktivistische Verständnisse bis zur Auffassung, dass Begabung ein Konstrukt

im messtheoretischen Sinn ist. Unabhängig von dieser aktuellen Unterbestimmt-

heit der Konstruktdiagnose bzw. diese aktiv aufgreifend kann als erste Leitlinie

für eine sozialwissenschaftliche Begabungsperspektive gelten, dass sie den Kon-

struktcharakter und die Konstruktionsprozesse von Begabung auf mehreren Ebe-

nen gesellschaftlicher Wirklichkeit in den Blick nimmt: von bildungspolitischen

Problemkonstruktionen über pädagogische Klassifikationsprozesse hin zu bio-

grafischen Fremd- und Selbstentwürfen.

Als zweite abstrakte und allgemeine Vorgabe für eine sozialwissenschaftli-

che Begabungsforschung schlagen wir vor, Begabung aus einem relationalen

sozialtheoretischen Blickwinkel zu konzipieren (Emirbayer 1997; Löwenstein &

Emirbayer 2017). Eine relationale Sichtweise ist in gewissen Hinsichten als

Gegenstück zu essenzialisierenden und substanzialisierenden Sichtweisen zu

deuten. Eine relationale Sichtweise kann durch strukturalistische ebenso wie

durch pragmatistische Epistemologien und Methodologien motiviert sein (Diaz-

Bone 2017). Der Begriff der Relation kann dabei auf eine sozialräumliche Kon-

stellation verweisen (wie das beispielsweise in Bourdieus sozialen Verortung

von Begabungsvorstellungen passiert) oder aber eher im Sinne eines „trans-

aktionalen“ Verhältnisses gedeutet werden, das heißt als durch Wechselbezie-

hungen von Akteuren, Objekten und Institutionen geprägte Situationen (etwa,

wenn Begabung als Element konkreter pädagogischer Praxiszusammenhänge

untersucht wird).

Als dritte Vorgabe an eine zeitgemäße sozialwissenschaftliche Begabungs-

forschung kann der allgemeine Anspruch formuliert werden, reflexiv die Grund-

lagen und Effekte der eigenen Forschungspraxis in den Blick zu nehmen. Eine

solche Reflexivität ist eng mit der Forderung verbunden, die Performativität

wissenschaftlicher Wissensproduktion ernstzunehmen. Performativ ist Bega-

bungsforschung in einem doppelten Sinn (Diaz-Bone 2011). Erstens sind ihre

Forschungsprozesse stets aktive Formen der Hervorbringung ihres eigenen Ge-

genstands; Begabung muss als Objekt der Forschung erst definiert und fassbar

gemacht werden – Reflexivität zielt in diesem Kontext auf die (auch empirische)

Bewährung des jeweiligen Begabungsverständnisses in der Forschungspraxis.

Zweitens geht es darum, die Wirklichkeitseffekte der Wissensproduktion zu

berücksichtigen. Die Begabungsforschung war und ist in Begabungspolitik und -

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18 Arne Böker & Kenneth Horvath

förderung ebenso stark verwoben, wie beispielsweise die Wirtschaftswissen-

schaften immanent Teil aktueller Wirtschaftsordnungen sind (Callon 1998).

Eine antiessenzialistische, relationale und reflexive Begabungsforschung

kann an bestehende Arbeiten ansetzen, die ab den 1960er Jahren entstanden sind.

Als nach wie vor zentraler Bezugspunkt kann das von Bourdieu und Passeron in

der „Illusion der Chancengleichheit“ entwickelte Argument gelten, dass die

Funktion des Bildungssystems gerade darin bestehe, die sozialen und kulturellen

Privilegien der herrschenden Klasse zu reproduzieren (Bourdieu & Passeron

1971: 215). Bourdieu und Passeron verweisen unter anderem auf die Fähigkeit

des Bildungssystems, soziale Ungleichheiten zu legitimieren, indem „soziales

Privileg in Begabung“ (ebd.: 45) umgedeutet wird. Dieses Argument spitzt

Bourdieu in dem kurzen Aufsatz „Rassismus der Intelligenz“ zu, in dem er dazu

auffordert, über die Anlage-Umwelt-Debatte hinauszugehen. Stattdessen müsse

man „die sozialen Bedingungen des Auftretens einer solchen Fragestellung [An-

lage oder Umwelt?; Anmerkung durch Böker & Horvath] und des mit ihr einge-

führten Klassenrassismus“ (Bourdieu 1993: 253) analysieren. Vereinzelt haben

Forscher_innen aus der Kritischen Psychologie diese Frage aufgegriffen (Holz-

kamp 1992, Knebel & Marquardt 2012). Autor_innen der Bildungs- und Wissen-

schaftsgeschichte schließen zwar nicht direkt an Bourdieu an, widmen sich je-

doch den Entstehungsbedingungen und der Entwicklungsgeschichte von Bega-

bung, Begabungsforschung und Begabtenförderung (Scholtz 1987, Drewek

1989a, Drewek 1989b, Schmidt 1994, Tenorth 2001, Kunze 2001). Darüber

hinaus finden sich auch erste wichtige Beiträge aus der Historischen Er-

ziehungswissenschaft (Hoyer et al. 2013). Margolin (1994) widmet sich aus

soziologischer Perspektive der sozialen Konstruktion von Begabung und geht der

Frage nach, wie das Begabungskonzept und damit Begabtenförderung überhaupt

möglich werden konnte.

Darüber hinaus haben Sozialwissenschaftler_innen wiederholt die Repro-

duktion sozialer Ungleichheit durch Begabtenförderung untersucht. Es finden

sich hier eine Vielzahl von Studien, die die Beteiligungschancen von spezifi-

schen Begabtenförderungsprogrammen untersuchen (vgl. für Begabtenför-

derungswerke u.a. Ferber et al. 1970, Funke et al. 1986, Frohwieser et al. 2009,

Middendorff et al. 2009, Dusdal et al. 2012, Rokitte 2013), wenn sich auch nur

wenige Arbeiten finden lassen, die Mechansimen der Reproduktion sozialer

Ungleichheit durch Begabtenförderung näher ausführen und zu erklären versu-

chen (vgl. Margolin 1994, Stamm 2007, Horvath 2014; Staiger in diesem Band).

Aus der Philosophie gibt es mittlerweile einige wenige Abhandlungen zur Recht-

fertigung von Begabtenförderung (vgl. Giesinger 2008, Meyer & Streim 2013).

Der Einfluss der sozialen Kategorie der Begabung auf Selbstentwürfe und Sub-

jektivierungsprozesse ist bislang kaum in den Blick genommen worden. Einige

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Ausgangspunkte und Perspektiven einer sozialwissenschaftlichen Begabungsforschung 19

interessante Ausführungen finden sich jedoch bei Holzkamp (1992) und Hoyer et

al. (2014).

Diesen vielfältigen Ansatzpunkten zum Trotz eröffnet das Wiederaufleben

begabungsorientierter Bildungsprogramme ab den 1980er Jahren in zwei grund-

legenden Hinsichten ein bedeutendes Desiderat: Zum einen ist davon auszuge-

hen, dass das Phänomen „Begabung“ heute ein anderes ist als in den Zwischen-

und Nachkriegsjahren. Soziale Rahmenbedinungen wie die Ethnisierung von

Bildungsungleichheiten oder die Veränderung von Geschlechterverhältnissen

haben sich ebenso wie Vorstellungen von Begabung und Programme zu ihrer

Förderung verändert. Zum anderen bieten sich neue sozialwissenschaftliche

Theorie- und Diskursrahmen, die auf Begabungskontexte bislang kaum Anwen-

dung gefunden haben. An der Schnittstelle dieser beiden Desiderata ergibt sich

die Herausforderung, den abstrakten Prinzipien einer konstruktorientierten, rela-

tionalen und reflexiven Perspektive folgend, Begabung für konkrete Forschungs-

projekte als Gegenstand zu fassen.

In den Beiträgen dieses Sammelbands taucht Begabung entsprechend in un-

terschiedlichen Gewändern und in verschiedenen Formen auf. Begabung wird

gefasst als Element gesellschaftlicher Diskurse und als Komponente politischer

Projekte; Begabung wird aus gouvernmentalitätstheoretischer Sicht als Regie-

rungstechnologie gefasst und aus subjekttheoretischer Perspektive als Mecha-

nismus der Identitäts- und Selbstbildung; Begabung wird aus konventionentheo-

retischer Sicht als Logik der Rechtfertigung beschrieben und als soziale Klassifi-

kation, die als Handlungsressource dient; Begabung wird als Element eines Dis-

kriminierungszusammenhangs in den Blick genommen und als Ergebnis und

Objekt sozialer Praktiken.

5 Zu den Beiträgen in diesem Band

Der erste Teil unseres Sammelbands nimmt Begabung als soziales Konstrukt in

den Blick. Ausgehend von der Annahme, dass Begabung keine ontische Tat-

sache, sondern ein sozio-kulturelles Konstrukt ist, analysiert der Beitrag von

Timo Hoyer das Begabungsmotiv in der fiktionalen deutschsprachigen Literatur.

Begabung erweist sich dabei insbesondere in der Schulliteratur aus der zweiten

Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als

Schlüsselmotiv in der Charakterisierung meist scheiternder Schulkarrieren. Diese

zentrale Stellung verliert das Motiv in den folgenden Jahrzehnten. In der Ge-

genwartsliteratur taucht es in einschlägigen Werken in Gestalt von Hochbega-

bung wieder verstärkt auf, allerdings mit verändertem Diskurscharakter. Die

Institution der Schule wird nicht mehr entlang der binären Kategorien bega-

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20 Arne Böker & Kenneth Horvath

bungsförderlich / begabungsschädlich beschrieben, sie erscheint vielmehr als ein

Ort des Zusammentreffens unterschiedlicher Begabungstypen und -interpreta-

tionen.

Florian Heßdörfer wendet sich in seinem Beitrag einer anderen Literatur-

gattung zu, die es erlauben soll, den Realisierungsimperativ, der Begabungsdis-

kursen immanent ist, zu rekonstruieren. Sein Zugang lässt sich als begriffsanaly-

tisch charakterisieren und fokussiert in Anlehnung an Marcel Mauss‘ Analyse

der Gabe die semantische Dimension des Gebens und Gegeben-Seins. Mit dieser

Bezugnahme wird eine markante Parallelität sichtbar: „den sozusagen freiwilli-

gen, anscheinend selbstlosen und spontanen, aber dennoch zwanghaften“ (Mauss

1968: 18) Charakter des Gaben- und Begabungskomplexes, der zum spezifischen

Aufforderungscharakter von Begabungsdiagnosen führt: „etwas daraus zu ma-

chen“. Diskursanalyse und Subjektivierungsperspektiven gehen so fließend in-

einander über. Was zunächst an der Avantgarde der Begabten erprobt wird, wei-

tet sich schließlich zum Normalfall aus und verdeutlicht die zugrunde liegende

Tendenz: Jede menschliche Fähigkeit erscheint schließlich in Gestalt einer Gabe,

die zwischen den Reichen der Natur und der Gesellschaft vermittelt.

Die gouvernmentalen Implikationen von Begabungsdispositiven werden

auch im Beitrag von Tobias Peter thematisch. Peter analysiert den Schlüsselbe-

griff des Talents anhand bildungspolitischer Dokumente und institutioneller

Selbstbeschreibungen des zeitgenössischen Bildungsdiskurses. Die Strategien

rekurrieren dabei auf die doppelte Bedeutung des Talentbegriffs: Er bezeichnet

sowohl die Person wie auch ihre spezifischen Begabungen. Jemand hat Talente,

und jemand ist ein Talent. Die eine Bedeutungsvariante betont die Seite der Ega-

lität: irgendwelche Talente hat jede_r; die andere die der Exzellenz: längst nicht

jeder ist ein Talent. Beide Dimensionen implizieren, dass bereits etwas da ist, aus

dem aber mehr werden kann und soll, wozu es allerdings gezielter Förderung

bedarf. Die daran gekoppelten Strategien der Inklusion und Exklusion legen das

pädagogische Subjekt unterschiedlich aus: Exzellenzstrategien orientieren auf

potentielle Führungskräfte, unterstellen eine vertikal differenzierte Verteilung

von Talenten und inkludieren nur die ‚Besten’. Egalitätsstrategien gehen von

unterschiedlichen Leistungsniveaus als Ausgangspunkt relationaler Optimierung

aus, setzen auf ein horizontales Talentverständnis und versuchen alle zu inklu-

dieren, die sich individuell fördern und fordern lassen.

In ihrem Beitrag lenkt Eva Wegrzyn den Fokus von den Begabungsdiskur-

sen auf die damit verknüpften Subjektivierungsprozesse und rekonstruiert, wie

Begabungsdiagnosen biografische Selbstentwürfe prägen. Ihr Fokus liegt auf den

Formen, in denen junge, als hochbegabt diagnostizierte Frauen in teilnarrativen

Interviews ihre Begabung biografisch konstruieren. Welche individuelle und

soziale Erfahrungsaufschichtung verdichtet sich in der sozialen Konstruktion

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Ausgangspunkte und Perspektiven einer sozialwissenschaftlichen Begabungsforschung 21

‚Hochbegabung‘? Welche Relevanzen setzen Subjekte in biografischen Ein-

gangserzählungen teilnarrativer Interviews? Hochbegabung wird dabei als Teil

eines sozial hergestellten Wissenskomplexes verstanden, welcher die Grundlage

objektiver gesellschaftlicher Institutionen und Strukturen sowie subjektiver

Handlungen, Routinen und Deutungen bildet. Theoretisch leitend sind für Weg-

rzyn daher die Perspektiven der subjektorientierten Soziologie und Wissensso-

ziologie, in denen die wechselseitige Bedingtheit von Mensch und Gesellschaft

in den Fokus rückt.

Der Beitrag von Simon Egbert verschiebt den Fokus von der Semantik der

Begabung und ihren Relationen zu gouvernmentalen Strategien und Subjektivie-

rungsprozessen zur Grundproblematik, wie und woran Begabung diagnostizier-

bar gemacht werden kann. Egbert plädiert für eine testsoziologische Perspektive,

die das psychometrische Ansätze ebenso berücksichtigt, wie sie sich von Latours

Actor-Network-Theorie inspirieren lässt. Sozialwissenschaftlich interessant sind

Begabungstests nicht nur wegen der sozialen Folgen, die sie zu evozieren im

Stande sind – insbesondere indem sie als Gatekeeper den Zugang zu bestimmten

sozialen Teilsystemen regulieren (z. B. Stipendien) –, sondern auch auf Grund

der Tatsache, dass sie als hybride Instrumente (Latour 2010) zu verstehen sind,

die freilich keinen a-sozialen Gegenstand der Begabung messen, sondern stets

die sozial eingebetteten und den eigenen Akteursinteressen entsprechenden Pro-

jektionen derselben.

Alexandra Janetzko greift in ihrem den ersten Teil des Bandes abschließen-

den und abrundenden Beitrag die Problematik des Diagnostizierens auf, lenkt

unsere Aufmerksamkeit aber auf ein gesellschaftliches Teilfeld, in dem die Rede

von quasi natürlichen Talenten und Begabungen unhinterfragt als selbstver-

ständlich gilt: den Leistungssport. Das Sichtbarmachen von Leistungsunterschie-

den im Wettkampf macht die im Vorfeld stattfindenden Selektionsmechanismen

bspw. bei Talentsichtungen, die allererst über die Möglichkeit einer Teilnahme

an den Wettkämpfen entscheiden, unsichtbar. Diese Auswahlprozesse nimmt

Janetzko aus einer praxistheoretischen Sicht in den Blick. Aus einer solchen

Perspektive werden Talentsichtungen als Bündel von ort- und zeitspezifischen

Praktiken beobachtet, die in Arrangements aus Teilnehmer_innen und Artefakten

vollzogen werden. Der analytische Fokus liegt einerseits auf den impliziten Kon-

zeptionen von Talent, die die Techniken des Sehens der Trainer_innen leiten und

die Selektion bestimmen, andererseits auf den Subjektivierungsprozessen, durch

die Athlet_innen als (Nicht-)Talente adressiert und anerkannt werden.

Der zweite Teil des Sammelbands rückt das vielfältige Wechselspiel von sozia-

len Ungleichheiten und Begabungsförderung in den Fokus. Leslie Margolin

deutet Begabungspädagogik in seinem Beitrag ausgehend von der Heuristik des

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22 Arne Böker & Kenneth Horvath

Matthäuseffekts: Wer hat, dem wird gegeben. Auf dieser Grundlage lassen sich

die Mechanismen, die wohlbekannten Ungleichheitsmustern der Begabungsför-

derung zugrunde liegen, analytisch fassen und zumindest ansatzweise erklären.

Die Reproduktion sozialer Privilegien in und durch Praktiken der Begabungsför-

derung basiert teilweise auf der Imagination von ‚begabten‘ Kindern als bedürf-

tige Kinder. Indem sie beharrlich die Probleme, die Unzufriedenheit und die

Sensibilität ‚hochbegabter‘ Kinder hervorstreicht, trägt die Begabungsforschung

zu dieser Konstellation wesentlich bei.

Arne Böker wendet sich in seinem Beitrag dem Feld der Begabtenförderung

im akademischen Bereich zu. Im Fokus der Betrachtung steht die Studienstiftung

des Deutschen Volkes. Böker fragt nach den Logiken der Rechtfertigung der

Begabtenförderung im Kontext sozialer Ungleichheitsordnungen zur Zeit der

Weimarer Republik. Auf Grundlage einer wissenssoziologischen Diskursanalyse

von Stellungnahmen der Mitglieder der Studienstiftung wird die Entstehung von

Rechtfertigungsstrategien nachgezeichnet, in deren Mittelpunkt das Konzept der

Volksgemeinschaft, der Aufstieg der Tüchtigen an der Hochschule und die Ver-

teidigung der akademischen Freiheit stehen. Böker verbindet seine konventio-

nentheoretische Argumentation mit der Frage der sozialen Trägerschaft dieser

Rechtfertigungsstrategien und verweist dabei auf die Rolle des deutschen Bil-

dungsbürgertums, das sich im fraglichen Zeitraum mit einem markanten Krisen-

phänomen konfrontiert sah.

Annegret Staiger schlägt in ihrem Beitrag die Brücke zwischen Rassismus-

und Begabungsordnungen. Sie argumentiert, dass Begabtenförderung in den

USA als politische Projekte zu sehen sind. Am Beispiel einer kalifornischen

High-School zeigt sie, wie ein als desegregativ gedachtes Projekt vermittelt über

Programme zur Begabungsförderung den besten Intentionen zum Trotz Segrega-

tionseffekte erzeugt. Staiger richtet dabei ihre Aufmerksamkeit auf verschiedene

Akteure, unter anderem den Schulleiter, die Lehrer_innen, sowie die Schü-

ler_innen inner- und außerhalb des Begabtenförderungsprogramms. Gerade die

vermeintliche „Farbblindheit“ der Begabungsförderung trägt dazu bei, rassiali-

sierte Ungleichheitsordnungen in schulischen Kontexten zu reproduzieren. Die-

ser Beitrag ist erstmals in der Zeitschrift „Social Problems“ im Jahre 2004 veröf-

fentlicht worden. Glücklicherweise ist es uns gelungen diesen erneut abdrucken

zu dürfen.

Der Frage, wie die Kategorie der Begabung in pädagogische Unterschei-

dungsprozesse einfließt, steht im Zentrum des Beitrags von Kenneth Horvath.

Ausgehend vom sozialtheoretischen Annahmen der Soziologie der Konventionen

argumentiert Horvath, dass pädagogische Unterscheidungen als Koordinations-

leistungen zu verstehen sind: Mit ungewissen Situationen und widersprüchlichen

Anforderungen konfrontiert, bringen Lehrkräfte in ihrer täglichen professionellen

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Ausgangspunkte und Perspektiven einer sozialwissenschaftlichen Begabungsforschung 23

Entscheidungspraxis verschiedene Klassifikations- und Evaluationsweisen in

Bezug zueinander. Die Kategorie der Begabung wird in diesem Kontext weniger

im Sinne einer Diagnose oder eindeutigen Kategorisierung eingesetzt, denn als

Markierung eines bestimmten Typus genutzt. Ungleichheitseffekte ergeben sich

dabei unter anderem aus den Formen, in denen Lehrkräfte auf ‚außerpädago-

gische‘ Wissensbestände zurückgreifen.

Im abschließenden Beitrag greifen Markus Riefling und Christine Koop die

Kritik auf, dass – wie im Bildungssystem insgesamt – auch in der Förderung von

besonders Begabten gesellschaftliche Ungleichheiten bestehen. Auf Basis von

Bourdieus Idee einer die Wirkungen der Ungleichheit reduzierenden Rationalen

Pädagogik, nimmt der Beitrag die Ungleichheiten in den Dimensionen sozioöko-

nomischer Status, Migration und Geschlecht in den Blick und erörtert drei wei-

terführende Perspektiven einer begabungsgerechten Bildungsteilhabe: die Stär-

kung der Frühen Bildung, eine inklusive statt separierende Pädagogik sowie den

Einbezug von Vorbildern. Der Beitrag macht deutlich, dass eine an Chancenge-

rechtigkeit interessierte Begabungsförderung sich neben pädagogischen und

psychologischen auch mit soziologischen Perspektiven auseinandersetzen sollte,

um auf Basis kritischer Analyse und Reflektion Anregungen und Konsequenzen

für die Förderpraxis abzuleiten.

Wir denken, dass die Beiträge dieses Sammelbands in ihrer Summe neue Per-

spektiven auf den Gegenstand ‚Begabung‘ ermöglichen. Perspektiven, die nicht

zuletzt aufgrund der engen Verwobenheit von Begabungsforschung und Förder-

praxis auch im Sinne neuer Formen von Reflexivität und kritisch-analytischer

Auseinandersetzung zu verstehen sind. Um dem programmatischen Charakter

dieses Sammelbands Ausdruck zu verleihen, sprechen wir von einer Sozialwis-

senschaftlichen Begabungsforschung, die produktiv an bestehende Stränge der

bildungswissenschaftlichen Theoriebildung anknüpft, diese bereichern und auf

dieser Grundlage neue Einsichten zu einem Schlüsselbereich bildungspolitischer

und pädagogischer Praxis eröffnen will.

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Ausgangspunkte und Perspektiven einer sozialwissenschaftlichen Begabungsforschung 25

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Teil I

Begabung als soziales Konstrukt

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„Einem Kind, das Talent hat, wird nichts schwer.“

Das Begabungsmotiv in der erzählenden Schulliteratur

Timo Hoyer

1 Einleitung: Begabung als Interpretation und Artefakt

Es ist gar nicht so einfach, der herkömmlichen, aber näher betrachtet irrtümli-

chen Meinung entgegenzutreten, wonach Begabung eine Gegebenheit ist, deren

Vorhandensein man unmittelbar beobachten, testen oder messen könne. Hinter

dieser Ansicht stehen eine lange Denktradition und eingeübte soziale Praktiken.

Von alters her werden die Ausdrücke Begabung und Talent überwiegend es-

sentialistisch und naturalistisch verstanden, im Sinne der gott- bzw. natur-

gegebenen Quelle außerordentlicher Leistungen (vgl. Hoyer et al. 2013). Bega-

bungskritiker wie Geoff Colvin halten dies für eine Mythologisierung von Leis-

tungsstärke, deren Quelle letztendlich ins Unverfügbare entrückt werde, oftmals

in der Absicht, die gesellschaftliche Bevorzugung einer exklusiven Gruppe

mutmaßlicher Leistungsträger zu legitimieren. „We still say they have a gift,

which is to say their greatness was given to them, for reasons no one can explain,

by someone or something apart from themselves (Colvin 2010: 5). In dem kri-

tisierten Denkmuster ist Begabung ein geheimnisvolles Etwas und zugleich eine

erfahrbare Tatsache, von der man annimmt, sie gebe sich in der empirischen

Wirklichkeit entweder von sich aus zu erkennen oder sie sei dort, mit etwas Ge-

schick, zu entdecken. Nun gehört Begabung allerdings nicht zu den Gegen-

ständen der Erfahrungswelt, die, nach Merleau-Ponty (1966), sinnlich wahr-

nehmbare Konstanten aufweisen: Form, Größe, Farbe, Töne etc. Weil Begabung

nichts dergleichen besitzt, ist sie kein Ding an sich und – im Vokabular des Phä-

nomenologen – schon gar kein „Sehding“. Deshalb ist es ungenau, wenn davon

gesprochen wird, man könne eine Begabung erkennen, und es ist geradewegs

falsch, zu sagen, dass sie sich zeige. Was man erkennt und was sich „zeigt“, sind

Indikatoren – hohe Lerngeschwindigkeit, frühzeitiges Interesse, ausgewählte

Intelligenzleistungen usw. –, die als Indizien für Begabung angesehen und inter-

pretiert werden.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018A. Böker und K. Horvath (Hrsg.), Begabung und Gesellschaft,https://doi.org/10.1007/978-3-658-21761-7_2