beitrag von david kunze
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Wofür ist das Individuum in einer Gesellschaft verantwortlich und was kann der Einzelne
leisten?
Am 8.Mai 1945 um 23.01 Uhr tritt die, am Vortag unterzeichnete, bedingungslose Kapitulation der
Wehrmacht in Kraft. Der Zweite Weltkrieg in Europa ist damit zu Ende. Die sechs Jahre währende
Verheerung, die Deutschland über die Welt gebracht hat, ist zu Ende. Was folgt, ist bekannt: Deutschland
wird erst besetzt und später geteilt. Den Deutschen haftet teilweise bis heute das Stigma der Schuldigen,
der Kriegstreiber an. Aber ist das legitim? Natürlich zweifelt niemand an, dass der Krieg von Deutschland
gewollt und begonnen wurde. Deutschland hat sich den Ausbruch und die Folgen des Zweiten Weltkriegs
zu verantworten. Aber hat sich damit auch jeder Deutsche schuldig gemacht? Hätte jeder Deutsche,
nachdem er erkannt hat, was die wahren Ziele des Hitlerregimes waren, opponieren müssen, Widerstand
leisten müssen? Denn trug und trägt nicht jeder Verantwortung für die Vorgänge in seiner Gesellschaft?
Wofür ist der Einzelne dann verantwortlich? Und wenn, was kann der Einzelne leisten? Was kann man von
ihm erwarten?
Um diese Fragen zu beantworten, ist es nötig bei den Grundlagen zu beginnen. Was ist eine Gesellschaft?
Letztlich nur das Produkt von Individuen. Individuen, die Normen, Werte und Konventionen teilen und
sich zu einer Gesellschaft zusammenschließen. Damit trägt jeder Einzelne zu dieser Gesellschaft bei und
kann auf diese Weise auch das Handeln der Gesellschaft beeinflussen. Desweiteren ist die Gesellschaft auf
den Einzelnen angewiesen, wenden sich zu viele von ihr ab, verneinen ihre Mitgliedsschaft und Teilhabe
an der Gesellschaft, so hört die Gesellschaft auf zu existieren. Aus diesen Erkenntnissen leitet sich eine
Verantwortlichkeit für die Gesellschaft ab. Der Schöpfer ist für seine Schöpfung verantwortlich, zumal er
das Handeln seiner Gesellschaft beeinflussen kann. Es lässt sich also eine grundlegend feststellen, dass
der Einzelne über seine Handlungen hinaus auch für die Gesellschaft an sich verantwortlich ist, aber in
welchem Maße?
Es erscheint wenig sinnvoll einen einfachen Arbeiter dafür verantwortlich zu machen, dass seine
Gesellschaft, oder sein Staat mit einem anderen Staat einen Geheimbund gegen einen dritten Staat
geschlossen hat, der diesem schadet. Und wahrscheinlich würde auch der geschädigte Staat nicht auf die
Idee kommen, unseren Arbeiter dafür zur Verantwortung zu ziehen. Dabei ist er doch Mitglied der
Gesellschaft, die sich dafür verantworten muss, und vielleicht hat er sogar die Regierung gewählt, die
dieses Bündnis geschlossen hat. Bricht jedoch der 17-jährige Sohn des Arbeiters ins Nachbarhaus ein, so
wird auch er von der Gesellschaft zur Rechenschaft gezogen, obwohl er das Verbrechen gar nicht
begangen hat. Man beschuldigt ihn seiner Verantwortung für den Sohn und seiner Verantwortung
gegenüber der Gesellschaft nicht gerecht geworden zu sein, hat er doch einen Jungen erzogen, der den
Mitgliedern der Gesellschaft schadet. Wo aber liegt der Unterschied in den Ereignissen?
Bei der näheren Betrachtung der Ereignisse wird schnell klar, dass es der entscheidende Unterschied
zwischen diesen, die direkte Möglichkeit des Einzelnen Einfluss zu nehmen ist, die den Grad der
Verantwortung für den Einzelnen bestimmt. Es liegt schlichtweg außerhalb der Möglichkeiten unseres
Arbeiters das Geheimabkommen zu verändern oder gar zu verhindern. Natürlich kann er bei Wahlen, die
Politik seines Landes in gewissem Maße beeinflussen. Sollte er die Regierung, die den Vertrag zu
geschlossen hat selbst gewählt haben, so ist er noch marginal mehr für ihr Handeln verantwortlich.
Letztlich kann eine Regierung jedoch in weitestgehend frei handeln und muss sich nicht ständig bei
unserem Arbeiter rückversichern. Auf das Handeln seines Sohnes der Regel in Zusammenarbeit mit einem
Parlament oder einer anderen, das Volk vertretende Institution, kann und muss er als Vater aber sehr
wohl Einfluss nehmen. Bei unserem Abkommen sind die verhandelnden Politiker die entscheidenden
Einflussnehmer auf den Vertrag. Beim Sohn sind es die Erziehungsberechtigten, die den entscheidenden
Einfluss ausüben und deshalb zur Verantwortung gezogen werden können.
Um festzustellen wofür ein einzelnes Individuum innerhalb einer Gesellschaft verantwortlich und
verantwortbar ist, gilt es also die Möglichkeiten des Einzelnen auf etwas bestimmtes Einfluss zu nehmen
zu überprüfen. Je besser diese Möglichkeiten, desto größer ist der Grad an Verantwortlichkeit.
Verallgemeinert gilt desweiteren: Je größer der Einfluss bzw. die Möglichkeiten des Einzelnen innerhalb
der Gesellschaft, desto größer auch die Verantwortung für die gesamte Gesellschaft.
Der oder die Politiker, die unseren Vertrag abschließen, müssen sich dabei nicht nur über die persönlichen
Konsequenzen dieser Handlung im Klaren sein, sondern auch über die eventuelle weitreichenden Folgen
für die gesamte Gesellschaft, so beispielsweise auch unseren Arbeiter, der vielleicht in der Konsequenz
seinen Arbeitsplatz verliert, weil die Firma aus dem geschädigten Land stammte und nun das Land
unseres Arbeiters verlässt.
Belässt man es bei dieser Kategorie, muss man jedoch alle „kleineren“ Kollaborateure des NS-Regimes, die
aber nicht genug Einfluss besessen haben, um tatsächlich etwas zu ändern zwangsläufig freisprechen,
schließlich konnten sie die meisten Entscheidungen des Regimes ja kaum beeinflussen. Auch der gänzlich
„normale“ Deutsche wäre absolute frei von jeder Schuld zu sprechen, denn die Möglichkeit zu politischer
Partizipation bestand für ihn nach 1933 nicht mehr. Dennoch ist es definitiv unbestreitbar, dass auch
kleinere NS-Funktionäre mit ihrem Handeln Schuld auf sich geladen haben. Es müssen also weitere
Faktoren die Verantwortlichkeiten existieren.
Da ist zunächst ein Teilfaktor der Einflussmöglichkeiten: Wissen oder Informationen. Wer nichts weiß,
kann nichts ändern und nicht zur Verantwortung gezogen werden. Wenn unser Arbeiter von dem
Geheimabkommen gar nichts weiß(was dessen Name ja nahelegt), so kann er es auch nicht verhindern.
Dennoch ist Nichtwissen keine Möglichkeit sich jeder Verantwortung zu entziehen, in dem man sich von
allem isoliert, denn es ist die Pflicht jedes Gesellschaftsmitglied sich über die Vorgänge und Entwicklung
innerhalb seiner Gesellschaft zumindest grundlegend zu informieren und aus diesem Wissen auch die
eventuellen Konsequenzen zu ziehen. Der Vater kann sich nicht der Verantwortung mit dem Vorwand, er
habe doch von nichts gewusst und konnte doch nichts ahnen, entziehen, denn es ist seine Pflicht sich über
seinen Sohn zu informieren. Um die persönlichen Möglichkeiten gesellschaftliche Vorgänge zu
beeinflussen voll auszuschöpfen ist es also nötig sich über diese soweit es möglich ist zu informieren.
Wissen schafft hierbei allerdings nicht nur Möglichkeiten, sondern bringt auch gleichzeitig Pflichten mit
sich. Wissen verpflichtet. Wer Notiz von einer negativen Entwicklung nimmt, hat die Pflicht
Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung für sich und für die Gesellschaft und gemäß seinen
Möglichkeiten zu handeln.
Damit wäre der gemeine Deutsche doch nicht mehr für die Verbrechen des Nationalsozialismus
verantwortlich zu machen, er konnte sich nicht mehr politisch partizipieren und selbst wenn, er das
gekonnt hätte, von den meisten Verbrechen hat er doch auch gar nichts gewusst, wieso erklärt man ihn
nun trotzdem zum Schuldigen?
Nun, zur persönlichen Verantwortung jedes Einzelnen gegenüber der Gesellschaft gehört auch das
aufmerksam machen auf eben diese Verantwortlichkeiten und das Informieren der Einzelnen um ihm
überhaupt erst zu ermöglichen, Verantwortung zu übernehmen. So hat der Onkel des Sohns in gewisser
Weise Mitschuld am Schicksal desselben, wenn er Vorzeichen für das bevorstehende Verbrechen
gesehen, dessen Vater aber darüber nicht unterrichtet hat und ihm damit die Chance genommen hat
seiner Verantwortung gerecht zu werden. Ähnlich liegt der Fall, wenn wir annehmen, dass unser Arbeiter
zufällig etwas über das Geheimabkommen und seine Folgen, dass sein Staat umsetzen will, erfahren hat.
Dann ist es nicht nur seine Pflicht, gemäß seiner Einflussmöglichkeiten zu handeln, sondern auch die
anderen Mitglieder der Gesellschaft zu informieren, ansonsten ist er tatsächlich in gewisser Weise für das
Abkommen verantwortlich zu machen. Das folgt in diesem Fall nicht nur aus der Verantwortlichkeit jedes
Einzelnen etwas gegen Missstände und Fehlentwicklungen zu tun, es gilt hier die Einflusspotenziale, die
Möglichkeiten der Einzelnen zusammenzuführen. So würde eine einzelne Protestnote an die Regierung
gegen ihre Pläne, wohl wenig Folgen haben, die Demonstration eines Einzelnen ignoriert werden, gehen
jedoch Tausende Briefe ein, demonstrieren Tausende gegen die Politik der Regierung, übernehmen ihre
Verantwortung, nutzen ihren Einfluss, so kann die Politik das nicht ignorieren.(Zumal öffentliche
Bekanntheit des „Geheim“-Abkommen selbiges ohnehin ad absurdum führen würde.) Individuen können
also ihre Einflussmöglichkeiten kombinieren, um einer Verantwortung gerecht zu werden und es ist die
Pflicht eines jeden von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Bemerkt der Einzelne also einen
Missstand, gegen den er allein nichts auszurichten vermag, so ist es seine Pflicht andere aufzuklären, um
der Bedrohung der Gesellschaft mit „vereinten“ Kräften beizukommen. Wichtig bei einer solchen
Aufklärung ist allerdings, dass der Einzelne die Möglichkeit hat, selbst zu dem Schluss zu kommen, dass
ein Missstand vorliegt, dass etwas getan werden muss. Daraus folgt, dass andere möglichst objektiv
aufgeklärt werden und nicht zu einer bestimmten Handlung gedrängt werden dürfen. Andernfalls könnten
vermeintliche Verantwortlichkeiten Einzelner zu Instrumentalisierung selbiger verwendet werden, was
unbedingt zu vermeiden ist.
Die Verantwortung des Einzelnen für die Gesellschaft ist also abhängig von seiner persönlichen
Informationslage, ein Uninformierter kann keine Verantwortung übernehmen, abhängig von seinen
persönlichen Einflussmöglichkeiten, wobei gilt, dass der Grad an Verantwortlichkeit mit der Größe der
persönlichen Einflussmöglichkeiten zunimmt. Vom Einzelnen kann man erwarten, dass er soweit es seine
Möglichkeiten zulassen Verantwortung übernimmt und durch Aufklärung seiner Mitmenschen auch
diesen die Möglichkeit gibt, Verantwortung zu übernehmen. Dabei gilt, dass Einzelne ihre Kräfte vereinen
können und damit trotz ihres möglicherweise geringen persönlichen Einfluss in der Gemeinschaft, ein
hohes Maß an Verantwortung übernehmen können, viel Einfluss geltend machen können. Damit kann
eine Gesellschaft von Individuen Verantwortung für eine Gesellschaft von Individuen übernehmen.
Mit diesen Erkenntnissen ist es nun möglich die Schuldfrage der Deutschen zu beantworten. Direkt an den
Verbrechen in jedweder Form Beteiligte sind natürlich auch für dieselben verantwortlich. Weiterhin sind
Menschen, die tatsächlich von den Verbrechen wussten und nicht handelten, nicht protestierten,
niemanden aufklärten ebenso definitiv schuldig. Nicht nur schuldig gegenüber denen, die unter den
Untaten zu leiden hatten, sondern auch gegenüber jedem einzelnem Mitglied ihrer Gesellschaft, dem sie
ein Wahrnehmen seiner Verantwortung damit verwehrten. Aber auch die Bürger, die keine Kenntnis von
konkreten Verbrechen hatten, sind nicht schuldlos, denn zur Informiertheit gehört, wie schon erwähnt
auch die Reflektion über die Umwelt, das Erkennen, nachvollziehen von Entwicklungen und die Zeichen
der Zeit waren eindeutig. Die Zeichen standen auf Unrecht, auf Krieg, auf Willkür, Verbrechen. Zogen
Menschen eben diesen Schluss aus ihrer Reflektion, traten dem zu erwartenden aber nicht ihren
Möglichkeiten entsprechend entgegen, so luden sie Schuld auf sich. Die hingegen, die sich ihrer
Verantwortung stellten, ihren Möglichkeiten entsprechend Widerstand leisteten und sei es nur, dass sie
andere aufklärten, in ihrer Fabrik die Produktion verschleppten, passiven Widerstand leisteten, sind von
Schuld frei zu sprechen.
Damit ist klar, dass nicht jeder Deutsche prinzipiell schuldbelastet ist, allerdings ist auch festzuhalten, dass
sich ein beträchtlicher Teil der Deutschen in unterschiedlich starkem Maß schuldig gemacht hat. Dennoch
ist niemand schuldig, nur weil er zu einer bestimmten Gruppe gehört. Schuldig machen, kann sich nur,
wer handelt oder eben nicht handelt, wenn es zu handeln gilt.