benjamin destruktiver charakter gs iv

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Denkbilder Mitternacht geworden. Andere Gedanken erfüllen mich als von denen ich sprach. Nicht Gedanken; Bilder, Erinnerungen. Erinne- rungen an die Städte, in denen ich so vieles gefunden habe: Riga, Neapel, München, Danzig, Moskau, Florenz, Basel, Paris; Er- innerungen an die Münchener Prachträume Rosenthais, an den Danziger Stockturm, wo der verstorbene Hans Rhaue hauste, an den muffigen Bücherkeller von Süßengut, Berlin N; Erinnerungen an die Stuben, wo diese Bücher gestanden haben, meine Stu- dentenbude in München, mein Berner Zimmer, an die Einsam- keit von Iseltwald am Brienzer See und schließlich mein Knaben- zimmer, aus dem nur noch vier oder fünf der mehreren tausend Bände, die sich um mich zu türmen beginnen, stammen. Glück des Sammlers, Glück des Privatmanns! Hinter niemandem hat man weniger gesucht und keiner befand sich wohler dabei als er, der in der Spitzwegmaske sein verrufenes Dasein weiterführen konnte. Denn in seinem Innern haben ja Geister, mindestens Geisterchen, sich angesiedelt, die es bewirken, daß für den Sammler, ich ver- stehe den rechten, den Sammler wie er sein soll, der Besitz das allertiefste Verhältnis ist, das man zu Dingen überhaupt haben kann: nicht daß sie in ihm lebendig wären, er selber ist es, der in ihnen wohnt. So habe ich eines seiner Gehäuse, dessen Bausteine Bücher sind, vor Ihnen aufgeführt und nun verschwindet er drin- nen, wie recht und billig. DER DESTRUKTIVE CHARAKTER Es könnte einem geschehen, daß er, beim Rückblick auf sein Leben, zu der Erkenntnis käme, fast alle tieferen Bindungen, die er in ihm erlitten habe, seien von Menschen ausgegangen, über deren »destruktiven Charakter« alle Leute sich einig waren. Er würde eines Tages, vielleicht zufällig, auf diese Tatsache stoßen, und je härter der Chock ist, der ihm so versetzt wird, desto größer sind damit seine Chancen für eine Darstellung des destruktiven Charakters. Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß.

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destruktiver charakter

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Page 1: Benjamin Destruktiver Charakter Gs IV

Denkbilder

Mitternacht geworden. Andere Gedanken erfüllen mich als von denen ich sprach. Nicht Gedanken; Bilder, Erinnerungen. Erinne-rungen an die Städte, in denen ich so vieles gefunden habe: Riga, Neapel, München, Danzig, Moskau, Florenz, Basel, Paris; Er-innerungen an die Münchener Prachträume Rosenthais, an den Danziger Stockturm, wo der verstorbene Hans Rhaue hauste, an den muffigen Bücherkeller von Süßengut, Berlin N; Erinnerungen an die Stuben, wo diese Bücher gestanden haben, meine Stu-dentenbude in München, mein Berner Zimmer, an die Einsam-keit von Iseltwald am Brienzer See und schließlich mein Knaben-zimmer, aus dem nur noch vier oder fünf der mehreren tausend Bände, die sich um mich zu türmen beginnen, stammen. Glück des Sammlers, Glück des Privatmanns! Hinter niemandem hat man weniger gesucht und keiner befand sich wohler dabei als er, der in der Spitzwegmaske sein verrufenes Dasein weiterführen konnte. Denn in seinem Innern haben ja Geister, mindestens Geisterchen, sich angesiedelt, die es bewirken, daß für den Sammler, ich ver-stehe den rechten, den Sammler wie er sein soll, der Besitz das allertiefste Verhältnis ist, das man zu Dingen überhaupt haben kann: nicht daß sie in ihm lebendig wären, er selber ist es, der in ihnen wohnt. So habe ich eines seiner Gehäuse, dessen Bausteine Bücher sind, vor Ihnen aufgeführt und nun verschwindet er drin-nen, wie recht und billig.

DER DESTRUKTIVE CHARAKTER

Es könnte einem geschehen, daß er, beim Rückblick auf sein Leben, zu der Erkenntnis käme, fast alle tieferen Bindungen, die er in ihm erlitten habe, seien von Menschen ausgegangen, über deren »destruktiven Charakter« alle Leute sich einig waren. Er würde eines Tages, vielleicht zufällig, auf diese Tatsache stoßen, und je härter der Chock ist, der ihm so versetzt wird, desto größer sind damit seine Chancen für eine Darstellung des destruktiven Charakters.

Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß.

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Der destruktive Charakter 397

Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Denn Zerstören verjüngt, weil es die Spuren unseres eigenen Alters aus dem Weg räumt; es heitert auf, weil jedes Wegschaffen dem Zerstörenden eine vollkommene Reduktion, ja Radizierung seines eignen Zu-stands bedeutet. Zu solchem apollinischen Zerstörerbilde führt erst recht die Einsicht, wie ungeheuer sich die Welt vereinfacht, wenn sie auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird. Dies ist das große Band, das alles Bestehende einträchtig umschlingt. Das ist ein Anbli<:k, der dem destruktiven Charakter ein Schauspiel tiefster Harmonie verschafft. Der destruktive Charakter ist immer frisch bei der Arbeit. Die Natur ist es, die ihm das Tempo vorschreibt, indirekt wenigstens: denn er muß ihr zuvorkommen. Sonst wird sie selber die Zer-störung übernehmen. Dem destruktiven Charakter schwebt kein Bild vor. Er hat wenig Bedürfnisse, und das wäre sein geringstes: zu wissen, was an Stelle des Zerstörten tritt. Zunächst, für einen Augenblick zumindest, der leere Raum, der Platz, wo das Ding gestanden, das Opfer gelebt hat. Es wird sich schon einer finden, der ihn braucht, ohne ihn einzunehmen. Der destruktive Charakter tut seine Arbeit, er vermeidet nur schöpferische. So wie der Schöpfer Einsamkeit sich sucht, muß der Zerstörende fortdauernd sich mit Leuten, mit Zeugen seiner Wirk-samkeit umgeben. Der destruktive Charakter ist ein Signal. So wie ein trigonometri-sches Zeichen von allen Seiten dem Winde, ist er von allen Seiten dem Gerede ausgesetzt. Dagegen ihn zu schützen, ist sinnlos. Der destruktive Charakter ist gar nicht dar an interessiert, ver-standen zu werden. Bemühungen in dieser Richtung betrachtet er als oberflächlich. Das Mißverstandenwerden kann ihm nichts an-haben. Im Gegenteil, er fordert es heraus, wie die Orakel, diese destruktiven Staatseinrichtungen, es herausgefordert haben. Das kleinbürgerlichste aller Phänomene, der Klatsch, kommt nur zu-stande, weil die Leute nicht mißverstanden werden wollen. Der destruktive Charakter läßt sich mißverstehen; er fördert den Klatsch nicht. Der destruktive Charakter ist der Feind des Etui-Menschen. Der Etui-Mensch sucht seine Bequemlichkeit, und das Gehäuse ist ihr Inbegriff. Das Innere des Gehäuses ist die mit Samt ausge-

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Denkbilder

schlagene Spur, die er in die Welt gedrückt hat. Der destruktive Charakter verwischt sogar die Spuren der Zerstörung. Der destruktive Charakter steht in der Front der Tra.ditionalisten. Einige überliefern die Dinge, indem sie sie unantastbar machen und konservieren, andere die Situationen, indem sie sie hand-lich machen und liquidieren. Diese nennt man die Destruktiven. Der destiuktive Charakter hat .das Bewußtsein des historischen Menschen, dessen Grundaffekt ein unbezwingliches Mißtrauen in den Gang der Dinge und die Bereitwilligkeit ist, mit der er jederzeit davon Notiz nimmt, daß alles schief gehen kann. Daher ist der destruktive Charakter die Zuverlässigkeit selbst. Der destruktive Charakter sieht nichts Dauerndes. Aber eben darum sieht er überall Wege. Wo andere auf Mauern oder Ge-birge stoßen, auch da sieht er einen Weg. Weil er aber überall einen Weg sieht, hat er auch überall aus dem Weg zu räumen. Nicht immer mit roher Gewalt, bisweilen mit veredelter. Weil er überall Wege sieht, steht er selber immer am Kreuzweg. Kein Augenblick kann wissen, was der nächste bringt. Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht. Der destruktive Charakter lebt nicht aus dem Gefühl, daß das Leben lebenswert sei, sondern daß der Selbstmord die Mühe nicht lohnt.

DER ENTHÜLLTE OSTERHASE ODER

KLEINE VERSTECK-LEHRE

Verstecken heißt: Spuren hinterlassen. Aber unsichtbare. Es ist die Kunst der leichten Hand. Rastelli konnte Sachen in der Luft verstecken. Je luftiger ein Versteck, desto geistreicher. Je freier es dem Blick nach allen Seiten preisgegeben, desto besser. Also beileibe nichts in Schubladen, Schränke, unter die Betten oder ins Klavier stecken. Fairneß am Ostermorgen: Alles so zu ventecken, daß es entdedu werden kann, ohne daß irgendein Gegenstand vom Fleck bewegt werden muß.

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Anmerkungen zu Seite 388-398

lich, einige Druckfehler (Chagrin statt dtagrain [sie] u. a.), vor allem aber ein Versehen im letzten Absatz zu berichtigen. Der Aufsatz hat zu schließen mit den Worten: ' ... und nun verschwindet er drinnen, wie recht und billig.< Was folgt, ist ein gestrichener Teil des Manuskripts, der durch einen bedauerlichen Irrtum an diese Stelle gelangt ist. Red.« Gerhard Seidel druckt in seiner Edition des Textes (s. Walter Benjamin, Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachigen Literatur, hg. von Gerhard Seidel, Leipzig 1970, 19) nicht nur die gegen Benjamins Willen in der »Literarischen Welt« abgedruckten Sätze - die allein im Lesartenver-zeichnis ihren Ort haben - ,monströserweise< noch einmal ab, er führt auch die Tatsache, daß in der Ausgabe der »Schriften« Benjamins von 1955 jene Sätze fehlen, der Text also Benjamins Willen entspricht, als Beispiel dafür an, daß »editorische Eingriffe vorgenommen wurden, die' schlechthin als Fälschungen bezeichnet werden müssen« (G. Seidel, a.a.O·,7 f.).

ÜBERLIEFERUNG JBA Die literarische Welt, 17· 7· 1931 (Jg. 7, Nr. 29), 3-5; 24· 7· 193 1

(Jg. 7, Nr. 30), 7 f.; Benjamin-Archiv, Dr 404-4°7. LESARTEN 391, 26 vom Sammler] handschriftlich korrigiert aus vom echten Sammler - 391,39-393, 1 es, wie in den] handschriftlich korri-giert aus es wie in dem - 393, 2 Sklavin,] handschriftlich korrigiert aus Sklavin - 396,23 billig.] Die folgenden Sätze sind in JBA handschrift-lich gestrichen: Glück des Sammlers, Glück des Einsamen. Ist nicht das die Beseligung, die über den Erinnerungen waltet, daß wir in ihnen mit dem Dasein allein sind, das sich stillschweigend um uns anordnet und daß selbst die Menschen, die darin auftauchen, dies zuverlässige, bünd-nishafte Schweigen annehmen. Der Sammler stillt sein Schicksal ... NACHWEISE 391,16 »Blauen Reiter«] s. Der blaue Reiter, hg. von Was-sily Kandinsky und Franz Mare, München 1912. - 391,16.17 »Sage von Tanaquil«] s. Johann Jaeob Bachofen, Die Sage von Tanaquil, Hei-dei berg 1870. - 391,4 Fabelbuch] s. Albert Ludwig Grimm, Fabel-Bibliothek für Kinder, oder die auserlesensten Fabeln alter und neuer Zeit, 3 Bde., Frankfurt, Grimma 1827. - 391, 11.12 »Linas Mährchen-buch«] s. Albert Ludwig Grimm, Linas Mährchenbuch, eine Weihnachts-gabe, Frankfurt, Grimma I 8 16.

396-398 DER DESTRUKTIVE CHARAKTER

In einem Brief Benjamins an Scholem heißt es: Mein nächster Umgang ist seit ungefähr einem Jahr Gustav Glück, Direktor der Auslands-abteilung der Reichskreditgesellscha/f, von dem Du eine Art Porträt-

Page 5: Benjamin Destruktiver Charakter Gs IV

Anmerkungen zu Seite 396-398 999

abriß - cum grano salis zu verstehen - in dem .Destruktiven Charak-ter« findest, den ich Dir übersandte. (Briefe, 542)

ÜBERLIEFERUNG JBA Frankfurter Zeitung, 20.11. 1931 (Jg.76, Nr. 863/4); Benjamin-

Archiv, Dr 419 a. M Notizen über den »destruktiven Charakter«, Niederschrifl:; Benja-

min-Archiv, Ms 674,19-21. Druckvorlage: JBA LESART 397,1 heiter] in JBA handschrifl:lich neben der Zeile gut auf-gelegt

Im folgenden wird M vollständig wiedergegeben.

Notizen über den .destruktiven Charakter« Es könnte einem geschehen, daß er, beim Rückblick auf sein Leben zu der Erkenntnis käme, fast alle tieferen Bindungen, die er in diesem Leben erlitten habe, seien von Menschen ausgegangen, über deren »de-struktiven Charakter« alle Leute sich einig waren. Er würde eines Tages, vielleicht zufällig, auf diese Tatsachen stoßen, und je härter der Chock ist, der ihm so versetzt· wird, desto größer sind damit seine Chancen für eine Darstellung des destruktiven Charakters. Räumen - unter diesem Kennwort könnte anschaulich die Aktion des destruktiven Charakters dargestellt werden. Schaffe Platz! ist das Kom-mandowort nach dem der destruktive Charakter sein Handeln einrich-tet. Es wird sich schon einer /inden, der ihn braucht, ohne ihn [ein-zunehmen]. Denn der destruktive Charakter zerstört nicht um seiner selbst willen: er ist Mandatar. Dieser destruktive Charakter ist kein Thersites[, er] ist jung und heiter. Vielmehr gibt es von ihm ein Gegenbild von geradezu apollinischer Schönheit: voller Jugend und Heiterkeit. Denn Zerstören verjüngt, weil es die Zeugen unseres eignen Alters aus dem Weg räumt, es heitert auf, weil jedes Wegschaffen dem Zerstörenden eine Aufklärung eine voll-kommene Reduktion wenn nicht Radizierung des eignen Zustands be-deutet. Zu solchem apollinischen Zerstörerbilde führt erst recht die Ein-sicht, wie ungeheuer sich die Welt vereinfacht, wenn sie auf ihre Zer-störungswürdigkeit geprüft wird. Die ist das große Band, das alles Bestehende einträchtig umschlingt. Das ist ein Anblick, der dem destruk-tiven Charakter lieb und tröstlich erscheint. (Demgegenüber der Auf-bauende: tagtäglich werden seine Daseinsbedingungen schwieriger, be-dingter und bedingter wird sein Wirken, sein Gleichgewicht, das ohne-hin nicht das stabile des destruktiven Charakters sondern das labile des schöpferischen ist, immer gefährdeter.) Der destruktive Charakter ist immer frisch bei der Arbeit. Die Natur

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IOOO Anmerkungen zu Seite 396-398

ist [esJ, die ihm das Tempo vorschreibt, indirekt wenigstens: denn er muß ihr zuvorkommen. Sonst wird sie selber die Zerstörung überneh-men. Dem destruktiven Charakter schwebt kein Bild vor. Er hat wenig Be-dürfnisse und das wäre sein geringstes: zu wissen, was an Stelle des Zerstörten tritt. Zunächst, für einen Augenblick zumindest der leere Raum: der Platz, wo das Ding gestanden, der Mann gelebt hat. Es wird sich schon einer /inden, der ihn braucht ohne ihn einzunehmen. Der destruktive Charakter hat nichts mit dem dekadenten und ebenso wenig mit dem dämonischen zu tun. Ihm kommt es nicht auf private Abenteuer an sondern nur auf die Gewißheit, daß er nicht einen Augen-blick ohne geschichtlichen Auftrag lebt. Der destruktive Charakter bringt sich nicht um. warum? Da ist nichts aus dem Weg zu räumen. Er ist im Indifferenzpunkt: sein Dasein ist Schöpfung und sein Tun Zerstörung. Der destruktive Charakter handelt in jeder Situation so als wenn es eine historische wäre. So wie ein trigonometrisches Zeichen auf einem Gipfel von allen Seiten dem Winde so ist der destruktive Charakter - und seine Taten erst -von allen Seiten dem Gerede ausgesetzt. Dagegen ihn zu schützen ist sinnlos. Einige machen die Dinge tradierbar (das sind vor allem die Sammler, konservative, konservierende Naturen), andere machen Situationen handlich, zitierbar sozusagen: das sind die destruktiven Charaktere. Der destruktive Charakter ist gar nicht daran interessiert verstanden zu werden. Bemühungen in dieser Richtung betrachtet er als oberfläch-lich. Das Mißverstandenwerden kann ihm nichts anhaben. Im Gegen-teil, er fordert es heraus wie die Orakel, diese destruktiven Staatsein-richtungen es herausgefordert haben. Das kleinbürgerlichste aller bür-gerlichen Phänomene, der Klatsch, kommt nur zustande, weil die Leute nicht mißverstanden werden wollen. Der destruktive Charakter läßt sich mißverstehen; er fördert den Klatsch nicht. Der destruktive Charakter ist der Feind des Etui-Menschen. Der Etui-Mensch sucht seine Bequemlichkeit und das Gehäuse ist ihr Inbegriff. Das Innere des Gehäuses ist die mit Sammet ausgeschlagne Spur, die er in die Welt gedrückt hat. Noch der schöpferische Mensch - jedenfalls der schöpferische Mensch unserer Tage - hat Anteil an der Bequemlich-keit solchen Daseins. Und daß er nicht beredet wird, daß er zumindesten als Schaffender und beim Prozeß des Schaffens privat bleibt, ist seine höchste Bequemlichkeit. Der zerstörende Akt ist immer ein öffentlicher. So wie der Schöpfer Einsamkeit sich sucht, muß der Zerstörende fort-dauernd sich mit Leuten, mit Zeugen umgeben. Nicht einen Augenblick ist der destruktive Charakter geneigt, nach

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Anmerkungen zu Seite 396-401 1001

einem »Sinn« des Lebens zu forschen. Wenn er ihm für einen Augen-blick Sinn geben könnte, und sei es auch nur den, der in der Zerstörung des zu Zerstörenden liegt, so ist ihm schon mehr geworden als er sich erhoffi hat. Der destruktive Charakter lebt nicht aus dem Gefühl, daß das Leben lebenswert sei sondern daß der Selbstmord die Mühe nicht lohnt. Der destruktive Charakter hat das Bewußtsein des historischen Men-schen, dessen Grundaffekt ein unbezwingliches Mißtrauen in den Gang der Dinge und die Bereitwilligkeit ist, mit der er jederzeit davon Notiz nimmt, daß alles schief gehen kann. Daher ist der destruktive Charak-ter die Zuverlässigkeit selbst. Der destruktive Charakter sieht nichts Dauerndes. Aber eben darum sieht er überall Wege. Wo andere auf Mauern oder Gebirge stoßen, auch da sieht er einen Weg. Für ihn ist keine Situation ohne Ausweg, daher kommt Selbstmord nicht für ihn in Frage. Weil er aber überall einen Weg sieht, hat er auch überall aus dem Weg zu räumen. Nicht immer mit roher Gewalt, bisweilen mit veredelter. Weil er überall Wege sieht, steht er selber immer am Kreuzweg: kein Augenblick kann wissen, was der nächste bringt. Er legt das Mächtige in Trümmer, nicht um der Trümmer sondern um des Weges willen, der sich durch sie hindurch-zieht. Der destruktive Charakter glaubt niemals »die "Wahl zu haben«. Er ist gewohnt, jedwede Situation nur nach dem Ausweg zu durchforschen, welchen sie ihm läßt. Er ist imstande, dem Leben jeden Augenblick es anzusehen, daß es »so nicht mehr weiter geht« - denn wirklich, im Innersten, Verborgnen geht es nicht so weiter sondern von einem Extrem ins andere.

398-400 DER ENTHÜLLTE OSTERHASE ODER KLEINE VERSTECK-LEHRE

ÜBERLIEFERUNG JBA Der enthüllte Osterhase oder Kleine Ostereier-Versteck-Lehre,

Der Uhu, Berlin, April 1932 (Jg. 8, Nr.7), 104f.; Benjamin-Ar-dllv, Dr 541 f. - Der Zusatz »Ostereier-« im Titel stammt von der Redaktion. Er ist in JBA handschriftlich eingeklammert und fehlt in Benjamins Verzeichnis meiner gedruckten Arbeiten (Benjamin-Ardllv, Ms 1834-1843).

400-401 AUSGRABEN UND ERINNERN

ÜBERLIEFERUNG M Niederschrift; Benjamin-Ardllv, Ms 929. LESART 4°1,5 sondern] konj. für und