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Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, LXXIX. Jahrgang, Heft 3 (2012) © Franz Steiner Verlag Stuttgart Bericht „DIALEKT 2.0 & WBOE 100 7. KONGRESS DER INTERNATIONALEN GESELLSCHAFT FÜR DIALEKTOLOGIE UND GEOLINGUISTIK 23.–28. Juli 2012, Wien Vom 23. bis 28. Juli 2012 fand in Wien der 7. Kongress der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie und Geolinguistik (SIDG) statt. Über 130 Vorträge, davon sieben Plenarvorträge, und drei Workshops boten Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus 35 verschiedenen Ländern Gelegenheit, sich zu aktueller Forschung und neuen Erkenntnissen in Themenbereichen wie Dialektologie, Variationslinguistik und Geolinguistik sowie damit verbundenen kulturwissen- schaftlichen Fragestellungen auszutauschen. Unter der organisatorischen Leitung von EVELINE WANDL-VOGT übernahm das Institut für Österreichische Dialekt- und Namenlexika (DINAMLEX) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften die Rolle des Gastgebers; das Institut konnte im Rahmen des Kongresses zudem das Jubiläum zum 100-jährigen Bestehen dialektlexikograscher Forschung in Österreich feiern. Als Einstieg in den Kongress waren drei halbtägige Workshops zu unterschiedlichen Themen zusammengestellt worden. In einem der Workshops erörterten die Referentinnen EVELINE WANDL-VOGT (Österreichische Akademie der Wissenschaften, DINAMLEX), MARIA-PILAR PEREA (Universitat de Barcelona) und CHITSUKO FUKUSHIMA (Universität Niigata) Status quo, Entwicklungen und Chancen der Dialektlexikograe im Zeitalter der „Cyberscience“. Diskutiert wurden Visualisierungsmöglich- keiten, Möglichkeiten korpusbasierter und georeferenzierter Lexikograe sowie neue Wege der Publikation. Ziel war es hier, Gelegenheit zur internationalen Vernetzung dialektlexikograscher Wörterbuchprojekte zu geben, aber auch die gegenwärtige Lage der Dialektlexikograe zu erör- tern beziehungsweise Lösungsansätze zu aktuellen Problemen (unter anderem Diskussionen zu Projektlaufzeiten und Publikationsformaten) zu entwickeln. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren dazu eingeladen, ihre eigenen Projekte im Workshop vorzustellen. Der Geograf WOLFGANG KAINZ (Universität Wien) gab eine Einführung in Geoinformations- systeme (GIS) für Linguistinnen und Linguisten. Geograsche Informationssysteme werden seit den 1960er-Jahren für die Erfassung von raumbezogenen Daten verwendet; eine Verknüpfung mit sprachwissenschaftlichen Daten bietet neue Möglichkeiten der Analyse und Visualisierung und eröffnet Geolinguistinnen und Geolinguisten ein breites Betätigungsfeld. Der Workshop stellte die Entstehung und Entwicklung von GIS dar und beschäftigte sich mit theoretischen Grundlagen von Datenverwaltung und Analyse. Anhand ausgewählter Beispiele wurden schließlich praktische Funktionen von GIS demonstriert. Zur Vielfalt des Angebotes trug ein dritter Workshop bei, in dem man sich unter der Lei- tung von JÜRGEN SCHÖPF (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phonogrammarchiv) und PAUL TRILSBEEK (Max Planck Institut für Psycholinguistik, Nijmegen) mit der Erfassung, Archivierung und Verarbeitung linguistischer Audiodaten beschäftigte. Hierzu wurden zeitge- mäße Techniken und Tools vorgestellt. Hinsichtlich der Archivierung wurden die in Nijmegen entwickelte Software Arbil und die am Phonogrammarchiv der OEAW verwendeten Verfahren erläutert. Bei der Datenanalyse konzentrierte man sich auf frei verfügbare Anwendungen wie ELAN oder Praat. In einem praktischen Teil hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops schließ- lich die Möglichkeit, die besprochene Software auszuprobieren. Urheberrechtlich geschtztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

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Page 1: Bericht - steiner-verlag.de · Anhand ausgewählter Beispiele wurden schließlich praktische Funktionen von GIS demonstriert. Zur Vielfalt des Angebotes trug ein dritter Workshop

Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, LXXIX. Jahrgang, Heft 3 (2012)© Franz Steiner Verlag Stuttgart

Bericht

„DIALEKT 2.0 & WBOE100“7. KONGRESS DER INTERNATIONALEN GESELLSCHAFT FÜR DIALEKTOLOGIE

UND GEOLINGUISTIK23.–28. Juli 2012, Wien

Vom 23. bis 28. Juli 2012 fand in Wien der 7. Kongress der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie und Geolinguistik (SIDG) statt. Über 130 Vorträge, davon sieben Plenarvorträge, und drei Workshops boten Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus 35 verschiedenen Ländern Gelegenheit, sich zu aktueller Forschung und neuen Erkenntnissen in Themenbereichen wie Dialektologie, Variationslinguistik und Geolinguistik sowie damit verbundenen kulturwissen-schaftlichen Fragestellungen auszutauschen.

Unter der organisatorischen Leitung von EVELINE WANDL-VOGT übernahm das Institut für Österreichische Dialekt- und Namenlexika (DINAMLEX) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften die Rolle des Gastgebers; das Institut konnte im Rahmen des Kongresses zudem das Jubiläum zum 100-jährigen Bestehen dialektlexikografi scher Forschung in Österreich feiern.

Als Einstieg in den Kongress waren drei halbtägige Workshops zu unterschiedlichen Themen zusammengestellt worden.

In einem der Workshops erörterten die Referentinnen EVELINE WANDL-VOGT (Österreichische Akademie der Wissenschaften, DINAMLEX), MARIA-PILAR PEREA (Universitat de Barcelona) und CHITSUKO FUKUSHIMA (Universität Niigata) Status quo, Entwicklungen und Chancen der Dialektlexikografi e im Zeitalter der „Cyberscience“. Diskutiert wurden Visualisierungsmöglich-keiten, Möglichkeiten korpusbasierter und georeferenzierter Lexikografi e sowie neue Wege der Publikation. Ziel war es hier, Gelegenheit zur internationalen Vernetzung dialektlexikografi scher Wörterbuchprojekte zu geben, aber auch die gegenwärtige Lage der Dialektlexikografi e zu erör-tern beziehungsweise Lösungsansätze zu aktuellen Problemen (unter anderem Diskussionen zu Projektlaufzeiten und Publikationsformaten) zu entwickeln. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren dazu eingeladen, ihre eigenen Projekte im Workshop vorzustellen.

Der Geograf WOLFGANG KAINZ (Universität Wien) gab eine Einführung in Geoinformations-systeme (GIS) für Linguistinnen und Linguisten. Geografi sche Informationssysteme werden seit den 1960er-Jahren für die Erfassung von raumbezogenen Daten verwendet; eine Verknüpfung mit sprachwissenschaftlichen Daten bietet neue Möglichkeiten der Analyse und Visualisierung und eröffnet Geolinguistinnen und Geolinguisten ein breites Betätigungsfeld. Der Workshop stellte die Entstehung und Entwicklung von GIS dar und beschäftigte sich mit theoretischen Grundlagen von Datenverwaltung und Analyse. Anhand ausgewählter Beispiele wurden schließlich praktische Funktionen von GIS demonstriert.

Zur Vielfalt des Angebotes trug ein dritter Workshop bei, in dem man sich unter der Lei-tung von JÜRGEN SCHÖPF (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phonogrammarchiv) und PAUL TRILSBEEK (Max Planck Institut für Psycholinguistik, Nijmegen) mit der Erfassung, Archivierung und Verarbeitung linguistischer Audiodaten beschäftigte. Hierzu wurden zeitge-mäße Techniken und Tools vorgestellt. Hinsichtlich der Archivierung wurden die in Nijmegen entwickelte Software Arbil und die am Phonogrammarchiv der OEAW verwendeten Verfahren erläutert. Bei der Datenanalyse konzentrierte man sich auf frei verfügbare Anwendungen wie ELAN oder Praat.

In einem praktischen Teil hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops schließ-lich die Möglichkeit, die besprochene Software auszuprobieren.

Urheberrechtlich geschutztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

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Eine inhaltliche Schwerpunktsetzung des Kongresses erfolgte durch die Auswahl der Plenar-vorträge: Hierzu konnten sieben renommierte Wissenschafter aus Europa, den USA und Japan gewonnen werden.

Den Eröffnungsvortrag hielt DIRK GEERAERTS (KU Leuven), der sich Inhalten der Dialektolo-gie vom Standpunkt der Kognitiven Linguistik aus näherte. GEERAERTSʼ Vortrag „Lexical lectal variation from a cognitive linguistics point of view“ präsentierte Methodologie und Ergebnisse einer Forschungsgruppe an der KU Leuven, die sich mit „cognitive sociolinguistics“ beschäftigt. Dabei zeigte GEERAERTS, inwieweit Studien zur Sprachvariation für die Kognitive Linguistik relevant sein können und wie umgekehrt Erkenntnisse der Kognitiven Linguistik die Variations-linguistik bereichern können.

Zunächst kontrastierte GEERAERTS die Kognitive Linguistik mit den Paradigmen des Struktura-lismus und des Generativismus; wie GEERAERTS meint, müsse der Ansatz der Kognitiven Linguistik – weil gebrauchsbasiert – auch unvermeidlicherweise zu einer Berücksichtigung von Variation im Gebrauch führen. Anschließend stellte GEERAERTS Inhalte der Kognitiven Soziolinguistik dar; hier strich er eine semasiologische, eine onomasiologische sowie eine psychologische Perspektive heraus.

In einem dritten Teil wurden Ergebnisse einer dialektologischen Fallstudie präsentiert, in der anhand von Material aus dem „Woordenboek van de Limburgse Dialecten“ untersucht wurde, ob beziehungsweise inwieweit Heterogenität im Lexikon von aus der Kognitiven Linguistik bekann-ten Konzepten wie „Salienz“ und „Vagheit“ bestimmt werden. Als bemerkenswerte Erkenntnis dieser Untersuchung darf angesehen werden, dass lexikalische Heterogenität und damit die lexikalische Struktur einer Dialektregion durch diese Größen nachweislich beeinfl usst werden. Es ist geplant, die Bedeutung weiterer Konzepte zu untersuchen.

TAKUICHIRO ONISHI (National Institute for Japanese Language and Linguistics) betitelte seinen Vortrag mit „Relationship between area and human lives in the dialect formation“.

ONISHI betonte die Wichtigkeit, Zusammenhänge zwischen Verteilungen dialektaler Merkmale im Raum und gesellschaftlicher Struktur herzustellen. Als Beispiel dienten ONISHI die sogenann-ten honorifi cs (Morpheme und Lexeme zur höfl ichen Anrede), die primär in Regionen gebraucht werden, in denen Kleinfamilien vorherrschen. Hauptaugenmerk legte ONISHI auf Phänomene des Sprachwandels: Hier war die japanische Dialektologie bisher davon ausgegangen, dass sich Sprachwandel allmählich von sozialen und kulturellen Zentren in periphere Regionen ausbreitet.

Da für die Jahre zwischen 1970 und 1980 umfangreiches Datenmaterial zu den japanischen Dialekten vorliegt, kann Sprachwandel einerseits anhand von apparent-time-Studien (Fokus auf generationsspezifi schen Differenzen in synchroner Sicht), andererseits auch mittels real-time-Analysen (Untersuchung von Veränderungen in Echtzeit) untersucht werden.

Sowohl apparent-time-Sprachkarten als auch Untersuchungen zum Sprachwandel in real time zeigen nun bei manchen sprachlichen Merkmalen keinerlei Veränderungen; hingegen breiten sich manche Sprachwandelphänomene – entgegen früher vertretenen Ansichten – innerhalb kurzer Zeit aus. Werden neue areale Verteilungen sprachlicher Merkmale mit demografi schen Daten verglichen, ist mit wenigen Ausnahmen eine Übereinstimmung feststellbar. Daraus schließt ONISHI, dass sich Sprachwandel entlang von Grenzen ausbreitet, welche durch menschliche Gemeinschaften vorgeben sind.

Der Zusammenhang zwischen Raum und sprechenden Menschen wurde auch im Plenarvortrag von HANS GOEBL (Universität Salzburg) thematisiert. GOEBL gab eine Einführung in Probleme und Methoden der Dialektometrie, dargestellt anhand romanistischer und anglistischer Beispiele.

Ausgehend von der Grundannahme, dass ein geografi scher Raum durch Menschen nach bestimmten Regeln und Prinzipien lektal bewirtschaftet wird, versucht die seit dem Jahr 1973 bestehende Dialektometrie durch Synthese einer Summe von geolinguistischen Einzeldaten, zugrunde liegende Strukturen zu erkennen und sichtbar zu machen. Sprachdaten aus Sprach-atlanten werden in numerischen Verfahren quantitativ verarbeitet und in einem zweiten Schritt werden gewonnene numerische Resultate mittels spezieller bildgebender Verfahren visualisiert.

GOEBL erläuterte zunächst Methoden und Verfahren der in Salzburg betriebenen Dialektometrie: Nach erfolgter „Taxierung“ (Transfer der Sprachdaten in eine Datenmatrix) werden Ähnlich-keits- und Distanzmaße defi niert und angewendet beziehungsweise Ähnlichkeits- und Distanz-

Urheberrechtlich geschutztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

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matrizen erstellt. Dann zeigte GOEBL, wie das von EDGAR HAIMERL entwickelte Programm Visual DialectoMetry (VDM) zur visuellen Umsetzung der dialektometrischen Verfahren eingesetzt werden kann: Erstellt werden können unter anderem Ähnlichkeits-, Parameter-, Zwischenpunkt-, Korrelationskarten und Baumanalysen.

All dies präsentierte GOEBL auf höchst anschauliche Art und Weise, gestützt durch eine Fülle von Material aus langjähriger eigener Forschung.

Eine zentrale Rolle nahm der geografi sche Raum auch im Vortrag von THOMAS KREFELD (Ludwig-Maximilians-Universität München) ein.

KREFELD informierte über ein laufendes Projekt an der Universität München, im Rahmen dessen ein Online-Portal zur sprachlichen und ethnografi schen Dokumentation des Alpenraumes erstellt werden soll.

KREFELD verwies auf den Tatbestand, dass zusammenhängende Darstellungen mehrspra-chiger Sprachräume bisher ein weitgehendes Desiderat der Sprachgeografi e darstellen. Diese Forschungslücke soll nun ein sprachübergreifendes Projekt schließen, in dem der gesamte Al-penraum von Ligurien bis zum friaulisch-slowenischen Karst erfasst wird; dabei soll sich dieses Projekt Vorteile, die Neue Medien hinsichtlich Erhebung, Analyse und Visualisierung bieten, zunutze machen. Als Basis dienen bereits publizierte Sprachdaten aus Sprachatlanten, welche nun durch Daten, die mithilfe von Sozialer Software erhoben werden, ergänzt werden. Es ist geplant, die zusammengeführten Daten über eine interaktive Oberfl äche im Netz zugänglich zu machen, wobei moderne Methoden der Visualisierung eingesetzt und Tools, die Benutzerinnen und Benutzern eine ihren persönlichen Forschungsinteressen entsprechende Suche erlauben, zur Verfügung gestellt werden sollen.

In einem sehr anschaulichen Vortrag konnte KREFELD bereits die Visualisierung ausgewählter Daten (sowohl Appellativa als auch Toponyme im Grenzgebiet von Südtirol/Oberitalien, der Schweiz und Nordtirol) demonstrieren.

Ebenfalls für einen Hauptvortrag gewonnen werden konnte DENNIS PRESTON (Oklahoma State University): PRESTON demonstrierte anhand vieler anschaulicher Beispiele Trends und Entwick-lungen in der Perzeptiven Dialektologie.

Bewertungen von und Statuszuschreibungen zu Sprachen beziehungsweise Varietäten haben nicht nur Einfl uss auf Sprachproduktionsakte, sondern fi nden auch in der Wahrnehmung von Sprache ihren Niederschlag. Die Korrelation zwischen Phänomenen der Sprachbewertung und der Produktion beziehungsweise Perzeption konnte von PRESTON auf verständliche Weise her-ausgearbeitet werden.

Weiters wurde gezeigt, dass perzeptuelle Strategien von großer Wichtigkeit für die Erklärung elementarer Fragen der Variationslinguistik und des Sprachwandels sind. Als ein Beispiel zur Illustration diente PRESTON hierbei ein aktuelles Sprachwandelphänomen im Kurzvokalsystem des Nordamerikanischen Englisch, der sogenannte Northern Cities Shift: Überraschenderweise geht hier Sprachwandel in einer Region vor sich, in der Bewohner ihre Sprache mehrheitlich als besonders korrekt einschätzen. Umso bemerkenswerter ist, dass sich diese Menschen ihres Vokalwandels nicht bewusst sind. PRESTON interpretiert das Phänomen dahingehend, dass die übergroße linguistische Sicherheit der Sprecherinnen und Sprecher die Wahrnehmung von Ver-änderungen verhindert und damit Sprachwandel vorangetrieben wird.

CLIVE UPTON (University of Leeds) sprach in seinem Beitrag über die Möglichkeiten und Grenzen, die eine digitale lexikalische Erhebung der BBC, durchgeführt von 2005 bis 2007, bietet.

Britische Dialektwörterbücher sind mittlerweile zumeist online abrufbar – mit dem nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass verwandte lexikalische Einheiten auf spezielle Weise verlinkt werden können (UPTON strich hier besonders die SPEED-Initiative zum „English Dialect Dictio-nary“ von Wissenschaftlern der Universität Innsbruck hervor). Ihrer Natur gemäß versagen solche Wörterbücher allerdings, wenn sich das Interesse auf spontansprachlichen Wortgebrauch richtet; außerdem enthalten solche Wörterbücher keinerlei Variablen, die für eine soziodialektologische Untersuchung notwendig sind.

Einen Versuch, ungezwungenen Wortgebrauch zu erheben, stellt das Projekt „Voices“ der BBC dar: Zu 38 ausgewählten „Konzeptwörtern“ wurden persönliche Varianten ausgewählter

Urheberrechtlich geschutztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

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Freiwilliger (durchschnittlich 16.000 Antworten pro Konzept) zusammen mit Informationen zu Alter, Geschlecht und Ort (im Nachhinein kodiert) ermittelt. Schwierigkeiten sieht UPTON hier unter anderem in der Nicht-Vertrautheit von Laien mit stilistischen Attributen und im Verlust semantischer Nuancen. Hingegen bieten Informationen zu Alter und Geschlecht die Möglichkeit, tiefergehende Untersuchungen sozialer Konnotationen im Wortschatz durchzuführen. Informa-tionen zu geografi scher Verteilung machen dialektometrische Analysen möglich und legen es nahe, regionale Muster im Wortschatz anzunehmen; ausdrücklich warnte UPTON hier allerdings von vorschnellen Annahmen eindeutiger Dialektregionen.

MANFRED GLAUNINGER (Österreichische Akademie der Wissenschaften, DINAMLEX) the-matisierte in seinem Hauptvortrag schließlich die Variationspragmatik der deutschen Dialekte in Österreich.

Dabei handelt es sich bei „Variationspragmatik“ um einen Aspekt innerhalb einer von GLAU-NINGER in Entwicklung begriffener „Allgemeinen funktional dimensionierten Sprachvariations-theorie“.

Der Begriff „Funktion(alität)“ bezieht sich bei GLAUNINGER einerseits auf eine „kognitiv-kom-munikative Sphäre“, innerhalb derer pragma- beziehungsweise variationslinguistische Phänomene in ihrer Wechselwirkung beschrieben werden können. Zugrunde liegt die PEIRCE’sche Semiotik, integriert werden hier auch theoretische Ansätze wie „Kontextualisierung“ und „Speaker Design“.

Andererseits charakterisiert „Funktion(alität)“ auch eine systemtheoretische Dimension. GLAUNINGER wird hier klären, inwieweit die Annahmen selbstreferentieller Systeme, so geschehen bei MATURANA und LUHMANN, linguistisch verwertbar sind. Anknüpfungspunkte bieten sich hier möglicherweise an die Sprachdynamik-Theorie von SCHMIDT / HERRGEN (2011).

Nach Explikation des theoretischen Hintergrundes sprach GLAUNINGER über Aspekte dialek-taler beziehungsweise als Dialekt wahrgenommener Varietäten in Österreich vor variationsprag-matischen Hintergrund. Als Untersuchungsgegenstand bieten sich neben alltagssprachlicher Kommunikation und konzeptuell Mündlichem auch konzeptuell schriftliche Texte. GLAUNINGER konzentrierte sich insbesondere auf den bewussten Einsatz von dialektalen beziehungsweise dialektnahen Lexemen in der österreichischen Medienlandschaft – ein Phänomen, das vor allem in sogenannten Qualitätszeitungen zu beobachten ist – und demonstrierte dies anhand vielfältiger Beispiele. Die Inszenierung von Dialektalem in den Bereichen Werbung und Tourismus bietet sich GLAUNINGER für weitere Forschung an.

Die Fülle an weiteren Vorträgen wurde in 15 thematischen Sektionen organisiert. Passend zur inhaltlichen Ausrichtung des Veranstalterinstitutes lag ein Schwerpunkt auf der Präsentation dialektlexikografi scher Projekte und damit einhergehender Fragestellungen. In einer Vielzahl von Beiträgen wurden außerdem Wichtigkeit und Aktualität einer korpus- beziehungsweise datenbankgestützten Lexikografi e deutlich gemacht; neben Beiträgen, welche die Methodik des Aufbaus entsprechender Korpora und Datenbanken zum Inhalt hatten, wurde in anderen Vor-trägen adäquate Software präsentiert. Ebenso wurden aktuelle Sprachatlas-Projekte vorgestellt.

Zahlreiche Vorträge gaben einen Überblick zu Projekten und Arbeiten aus dem Bereich der Perzeptiven Dialektologie, über die bereits DENNIS PRESTON im Plenarvortrag einen eindrucks-vollen Überblick gegeben hatte; vermehrt beschreitet auch die Forschung im deutschsprachigen Raum diesen Weg. Der Ansatz, kognitive Aspekte vor variationslinguistischem Hintergrund zu untersuchen, wurde in weiteren Vorträgen vertieft. In einer umfangreichen Sektion wurden weiters aktuelle Fragestellungen der Soziolinguistik vorgetragen und diskutiert.

Weitere Beiträge beschäftigten sich mit geolinguistischen Aspekten in Onomastik beziehungs-weise Toponomastik, Dialektgrafi e, Sprachkontakt, Wissenschaftsgeschichte sowie Aspekten maschineller Sprachverarbeitung und Sprachsynthese. Systemische Analysen von Dialekten fanden überwiegend auf lexikalischer Ebene statt, ebenso gab es aber auch Vorträge zu dialektaler Phonetik/Phonologie, Morphologie und Syntax.

Studentische Beiträge und Poster wurden in eigenen Sektionen präsentiert, wobei die besten Beiträge hier jeweils in einer Publikumswahl ermittelt wurden. Für den besten studentischen Beitrag wurde MICHAEL RICCABONA (OEAW, DINAMLEX), für das beste Poster HELMUT W. KLUG (Universität Graz) ausgezeichnet.

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Abseits der Kongressvorträge kamen unter der Leitung von Präsident MARTIN HAASE Mitglieder-innen und Mitglieder der SIDG zu ihrer bereits 10. Ordentlichen Versammlung zusammen: Zur neuen Präsidentin der SIDG wurde MARIA-PILAR PEREA (Barcelona) gewählt; Vize-Präsidenten sind HANS GOEBL (Salzburg), CHITSUKO FUKUSHIMA (Niigata) und MANUELA NEVACI (Bukarest).

Wie bereits oben erwähnt, konnte das veranstaltende Institut für Österreichische Dialekt- und Namenlexika (DINAMLEX) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Rahmen der Konferenz das einhundertjährige Jubiläum des Bestehens dialektlexikografi scher Forschung in Ös-terreich begehen: Vor 100 Jahren war die Gründung einer Kanzlei zur Schaffung eines neuartigen Wörterbuchs bairischer Mundarten (zunächst in Zusammenarbeit mit einer Schwesternkanzlei in München) beschlossen worden; somit waren die Grundsteine für ein Wörterbuchprojekt gelegt, im Rahmen dessen seit dem Jahr 1962 unter dem Namen „Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ)“ publiziert wird und das noch immer das zentrale Arbeitsgebiet des heutigen Instituts für Österreichische Dialekt- und Namenlexika bildet. Aus dem Material indirekter und direkter Dialekterhebungen wurde ein in seinem Umfang einzigartiger Zettelkatalog bestehend aus etwa fünf Millionen Belegen erstellt, welcher – mittlerweile in Form einer digitalen Datenbank (DBÖ) vorliegend – die Grundlage für die Arbeit am Wörterbuch bildet.

Im feierlichen Rahmen eines Festakts gab zunächst PETER WIESINGER (Emeritus der Univer-sität Wien und ehemaliger Obmann der Wiener Wörterbuchkommission) einen Überblick über die ersten Jahrzehnte der Wörterbuch-Arbeit im Lichte der Wiener Dialektologischen Schule; INGEBORG GEYER (derzeitige Direktorin des DINAMLEX und leitende Redaktorin) komplettierte die Darstellung der Geschichte von Wörterbuch und Institut bis hin zur Gegenwart.

In einem zweiten Teil zeigte EVELINE WANDL-VOGT am Beispiel der Datenbank bairischer Mundarten in Österreich (DBÖ) zukünftige Arbeitsfelder, Möglichkeiten und Chancen daten-bankgestützter lexikografi scher Forschung auf.

Mittlerweile sind die ersten fünf Bände des WBÖ auch online verfügbar: HANS-PETER SCHIF-FERLE, Chefredaktor des Schweizerischen Idiotikons, wurde die Ehre zuteil, vor versammeltem Publikum eine Beta-Version des Online-Wörterbuchs freizuschalten.

An einem abschließenden Runden Tisch unter der Leitung von LUDWIG EICHINGER (IDS Mann-heim) diskutierten NORBERT BARTELME (TU Graz), GERHARD BUDIN (Universität Wien, OEAW), INGEBORG GEYER (DINAMLEX), MARC WILHELM KÜSTER (Offi ce des Publications, EU), ANTHONY ROWLEY (Bayerische Akademie der Wissenschaften) und CLIVE UPTON (University of Leeds) zum Thema „Dialectal dictionaries at a crossroads“. Im Mittelpunkt der Diskussion standen Aspekte wie interdisziplinäre Zusammenarbeit, Texttechnologie, Korpora und Benutzerschnittstellen.

Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie alle an der Organisation beteiligten Personen können auf einen gelungenen und fachlich bereichernden Kongress zurückblicken.

Wien MICHAEL RICCABONA

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