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 S eit den späten 1960er Jahren ist das Werk von Bob Dylan in sei- nem lyrischen Gehalt, seiner kom- positorischen Eigenart und seiner öffentlichen Inszenierung Gegen- stand zahlloser Analysen und Inter- pretationen gewesen. Ob auf dem Gebiet der Ästhetik, der Literatur- wisse nscha ft oder der soziol ogisch en Medientheorie, seine Texte, Kom- positionen und Aufführungen sind zur Quelle weit gefächerter interna- tionaler Debatten über das Verhält- nis von Popmusik und moderner Kunst geworden. Wie kein zweiter Sänger und Songwriter der Popge- neration hat Bob Dylan die einge- spielten Grenzziehungen zwischen  bloßer Unter haltun gsmus ik und autonomer Kunst infrage gestellt. Zwar wird er im Allgemeinen als ei- ne zentrale Repräsentationsfigur der Rockmusik betrachtet, aber sei- ne Songs sind zu komplex, seine Aufführungspraxis ist zu reflexiv, als dass er nicht zugleich auch von vielen Interpreten als ein Künstler mit eigenständigen Kunstintentio- nen angesehen würde. Die These liegt dah er nahe, dass sich im We rke Dylans die subversive Verwandlung der Rockmusik in eine besondere Form der autonomen Kunst voll- zieht. Zur widersprüchlichen Wirkungsgeschichte Dylans Werk hat eine besonders komplexe und auch widersprüch- liche Wirkungsgeschichte hinter sich. Von Anfang an war es auf Deutungen angewiesen, zitierte sie förmlich herbei und stieß sie nicht weniger zurück. Im Gegensatz zu anderen Produkten der Popbranche machen Dylan-Songs Auslegungen und Interpretationen notwendig – und das, obwohl sie sich auch als ein Ereignis begreifen, das »in den Wind geschrieben« wird, das heißt als ein unwiederholbares Live-Ge- schehen, dem eine Repräsentanz in der Schrift fehlt. Die interpretatorische Auseinan- dersetzung mit Bob Dylan setzt be- reits in den ersten Jahren seines öf- fentlichen Auftretens ein. Zwischen 1963 und 1966 sind Dylans Lieder vorrangig Gegenstand eines ästheti- schen und ideologischen Grund- satzstreits, der in verschiedenen Facetten um das Verhältnis von Po- litik und Kunst, Authentizität und Showbusiness kreist, um die ver- meintliche oder wirkliche Zugehö- rigkeit zur Folkbewegung und um deren »Verrat« durch Liebeslieder, moderne Lyrik und den Schritt zum elektr ische n Rock (McG regor 1990). Seit den 1970er Jahren lassen sich etwa fünf Linien der Dylan-Litera- tur unterscheiden: Biografien, Titel, die sich mit der Lyrik auseinander- setzen und deren »politische Bot- schaften« sowie historische Kontex- te verfolgen, Bücher, die Dylan pri- Forschung aktuell 48 Forschung Frankfurt 1/2006 Zwischen Kulturindustrie und autonomer Kunst Das Subversive im Werk Bob Dylans Ob als Dichter, Musiker oder Per- former – Bob Dy- lan ist bis heute ein Rätsel geblie- ben. Er gilt als »Mann der Mas- ken«, der sich in immer neuen An- läufen selbst er- findet und sich so allen festen Zu- schreibungen ent- zieht. Wie kaum ein zweiter Songwriter der Popgeneration hat Bob Dylan es mit sei- nem musikalischen Œuvre vermocht, die eingespielten Grenzziehungen zwi- schen Unterhaltungsmusik und ernst- hafter Kunst infrage zu stellen.

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  • Seit den spten 1960er Jahren istdas Werk von Bob Dylan in sei-nem lyrischen Gehalt, seiner kom-positorischen Eigenart und seinerffentlichen Inszenierung Gegen-stand zahlloser Analysen und Inter-pretationen gewesen. Ob auf demGebiet der sthetik, der Literatur-wissenschaft oder der soziologischenMedientheorie, seine Texte, Kom-positionen und Auffhrungen sindzur Quelle weit gefcherter interna-tionaler Debatten ber das Verhlt-nis von Popmusik und modernerKunst geworden. Wie kein zweiterSnger und Songwriter der Popge-neration hat Bob Dylan die einge-spielten Grenzziehungen zwischenbloer Unterhaltungsmusik undautonomer Kunst infrage gestellt.Zwar wird er im Allgemeinen als ei-ne zentrale Reprsentationsfigurder Rockmusik betrachtet, aber sei-ne Songs sind zu komplex, seineAuffhrungspraxis ist zu reflexiv,als dass er nicht zugleich auch vonvielen Interpreten als ein Knstlermit eigenstndigen Kunstintentio-

    nen angesehen wrde. Die Theseliegt daher nahe, dass sich im Werke Dylans die subversive Verwandlungder Rockmusik in eine besondereForm der autonomen Kunst voll-zieht.

    Zur widersprchlichenWirkungsgeschichte

    Dylans Werk hat eine besonderskomplexe und auch widersprch-liche Wirkungsgeschichte hintersich. Von Anfang an war es aufDeutungen angewiesen, zitierte siefrmlich herbei und stie sie nichtweniger zurck. Im Gegensatz zuanderen Produkten der Popbranchemachen Dylan-Songs Auslegungenund Interpretationen notwendig und das, obwohl sie sich auch alsein Ereignis begreifen, das in denWind geschrieben wird, das heitals ein unwiederholbares Live-Ge-schehen, dem eine Reprsentanz inder Schrift fehlt.

    Die interpretatorische Auseinan-dersetzung mit Bob Dylan setzt be-reits in den ersten Jahren seines f-fentlichen Auftretens ein. Zwischen1963 und 1966 sind Dylans Liedervorrangig Gegenstand eines stheti-schen und ideologischen Grund-satzstreits, der in verschiedenenFacetten um das Verhltnis von Po-litik und Kunst, Authentizitt undShowbusiness kreist, um die ver-meintliche oder wirkliche Zugeh-rigkeit zur Folkbewegung und umderen Verrat durch Liebeslieder,moderne Lyrik und den Schritt zumelektrischen Rock (McGregor 1990).Seit den 1970er Jahren lassen sichetwa fnf Linien der Dylan-Litera-tur unterscheiden: Biografien, Titel,die sich mit der Lyrik auseinander-setzen und deren politische Bot-schaften sowie historische Kontex-te verfolgen, Bcher, die Dylan pri-

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    Zwischen Kulturindustrie und autonomer KunstDas Subversive im Werk Bob Dylans

    Ob als Dichter,Musiker oder Per-former Bob Dy-lan ist bis heuteein Rtsel geblie-ben. Er gilt alsMann der Mas-ken, der sich inimmer neuen An-lufen selbst er-findet und sich soallen festen Zu-schreibungen ent-zieht.

    Wie kaum ein zweiter Songwriter derPopgeneration hat Bob Dylan es mit sei-nem musikalischen uvre vermocht,die eingespielten Grenzziehungen zwi-schen Unterhaltungsmusik und ernst-hafter Kunst infrage zu stellen.

  • eine Unterwanderung der her-kmmlichen Unterscheidung zu-stande bringt. Dylan bearbeitetsein aus der Massenkultur stam-mendes Material sprachlich, mu-

    sikalisch und gestalterisch so,dass er den Gegensatz zwischenPopkultur und Kunst unter-wandert.

    Dylan vermag es durch eineneigentmlichen, immer wiederverwirrenden Gestus der Ver-weigerung , mit eingespieltenKlassifikationen spielerisch um-zugehen und dadurch einenneuen Typus des autonomenKnstlers in der Kulturindustriezu schaffen.

    mr als Live-Musiker wahrnehmen,und solche, die seine musikalischeEntwicklung anhand der Plattenal-ben und CDs nachzeichnen.

    Schlielich lassen sich davonnoch einmal solche Texte unter-scheiden, die sich mit Einzelaspek-ten des Dylanschen Werks beschf-tigen, seiner Stimme, seinem Frau-en- und Mnnerbild, seinem Ver-hltnis zu Christentum und Juden-tum, seiner Verwurzelung in deramerikanischen Musikkultur undseiner Wirkungs- und Rezeptions-geschichte.

    Nach unserer Kenntnis gibt esbislang nur ein einziges greresWerk eines Musikwissenschaftlerszu Bob Dylan: A Darker Shade OfPale. A Backdrop To Bob Dylanvon Wilfried Mellers. Der Autorvon Bchern ber Bach, Beethovenund die Beatles geht dort auf spe-zifische Fragen der amerikanischenMusikhistorie ein; so weist er dasFortwirken dieser Tradition inDylans Werk als auch dessen Unab-hngigkeit von ihr nach, liefert eineReihe von bedeutenden Details zuDylans musikalischem und poeti-schem Schaffen und analysiert vorallem seine Songs als eine Form derautonomen Musik unter den Be-dingungen der Popkultur. Die Au-tonomie-These findet sich der Sa-che nach auch in dem von seinenIntuitionen her wegweisendenBuch von Greil Marcus. Marcussieht die sthetische AutonomieDylans in seinem Verhltnis zuramerikanischen Tradition: in demknstlerischen Anspruch nmlich,mit dem er sich von der Liedkulturder Vergangenheit, ob Folk, Bluesoder Country, unterscheidet es istgerade dieses musikalische Autono-miebestreben, an dem sich fr Mar-cus der Protest gegen Dylan in denJahren 1964 bis 1966 entzndet.Stephen Scobie, der wichtige Er-kenntnisse zum literarischen Gehaltvon Dylans Werk beisteuert, beob-achtet den vernderten Stellenwertder Lyrik im Sptwerk: Gegenberder Orientierung an komplexersymbolistischer Poesie in den1960er Jahren entsteht zuneh-mend und in den 1990er Jahrenauf allen Ebenen ein allegorischesVerfahren, durch das Dylan sprach-liches Alltagsmaterial, Redewen-dungen, Klischees und Binsenweis-heiten kombiniert, die durch ebendiese Kombination bedeutungslosgemacht werden. Dementspre-

    chend bringt Dylan in dieser Phasenach Scobie nicht mehr unmittel-bar Erfahrungsgehalte zum Aus-druck, sondern platziert sie nurnoch indirekt in den Leerstellenseiner Texte, also zwischen denFormeln und Allgemeinpltzen.

    Die Arbeiten, die primr um dieTexte kreisen, zeigen sich zumeistvon einem bildungsethischenInteresse geleitet. Sie versuchen,Dylan aus der Popsphre herauszu-lsen und fr die Hochkultur zuvereinnahmen. So erscheint etwaDylans Rezeption der symbolisti-schen Poesie (Rimbaud, Verlaine)in den 1960er Jahren als Grn-dungsakt par excellence, durch dener seine primitiven Anfnge inder Folk- und Protestbewegung zu-gunsten der Artikulation genuinknstlerischer Ansprche hintersich zu lassen versucht. MichaelGrays Wort ber The LonesomeDeath Of Hattie Carroll als rheto-ric, not art bringt diese Einstel-lung, die dezidiert den Songwritergegenber dem Snger favorisiert,auf den Punkt. Zu ihr gehrt wieein Leitmotiv, Dylan alljhrlich frden Literaturnobelpreis vorzuschla-gen. Die Position steht spiegelver-kehrt zu der lteren Sichtweise, frdie allein der frhe, politische Pro-testsnger der authentische Dylanist, whrend sich dessen spteresWerk dem Kommerz und ebenauch brgerlichen Kunstvorstel-lungen ergeben habe (Lieder-schmitt 1992).

    Unterwanderung der herkmmlichen Grenze von Kunst und Popkultur

    Die subversive Rolle, die das WerkDylans heute in dem Sinne spielt,dass es die herkmmliche Unter-scheidung von autonomer Kunstund Popkultur unterwandert, lsstsich anhand von drei im Folgendenvertieften Themenfeldern veran-schaulichen, die sein Schaffen undWirken von Anfang an bestimmen: Wie kaum ein zweiter Songwri-

    ter seiner Generation hat Dylanes vermocht, in seinen Liedernden spezifischen Erfahrungsge-halt seiner Zeit poetisch und mu-sikalisch zu artikulieren.

    Es ist die besondere Art dersprachlichen, musikalischen undinszenatorischen Bearbeitungdes vorliegenden, weitgehendaus der Massenkultur stammen-den Materials, durch die Dylan

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    Bob Dylan verkr-pert bis heute den Typus des empha-tischen Singer-Songwriters.

    Bringing It All Back Home: Das Album aus dem Jahr 1965markiert den Beginn von Bob Dylans Folk-Rock-Revolution,hier das Cover der offiziellen Tonbandausgabe aus dem Jahr1972. Whrend desillusionierte Songs wie SubterraneanHomesick Blues oder Maggies Farm als elektrisch aufge-heizte Rocknummern daherkommen, ist die zweite Albumseiterein akustisch. Sie endet mit einem Klassiker, dem bittersenIts All Over Now, Baby Blue.

  • Unter dem Titel Bringing It All Back Home Zumkritischen Gehalt von Bob Dylans Werk wird vom 11.bis 13. Mai in Frankfurt ein Bob Dylan-Kongress ver-anstaltet. Eingeladen sind weltweit renommierte Ex-perten aus verschiedenen Disziplinen, wie StephenScobie, Betsy Bowden und Michael Gray. Weitere Bei-trge kommen unter anderem von Jean-Martin Btt-

    ner, Susan Neiman, Heinrich Detering, Klaus Thewe-leit und von den Initiatoren Axel Honneth, PeterKemper und Richard Klein selbst. Die Tagung behan-delt eingehend drei Themenbereiche: Rockmusik alsgeschichtliche Erfahrung, Kulturindustrie als autono-me Kunst und Verweigerung als Messianismus.

    Veranstalter sind das Institut fr Sozialforschung,die Redaktion der Fachzeitschrift Musik & sthetiksowie der Hessische Rundfunk (hr2), der neben einerPodiumsdiskussion ber Dylan in Deutschland in ei-ner Groen Bob Dylan-Nacht mit Gesprchen, Fil-men und Konzerten ganz unterschiedliche Annhe-rungen an den Singer-Songwriter versucht. In der Po-diumsdiskussion unter dem Titel Dont Look Backnehmen unter anderem Pop-Experten wie GnterAmendt, Diedrich Diederichsen und Siegfried Schmidt-Joos teil. Anstelle eines affirmativen Weihefestspielssucht die Dylan-Nacht im Sendesaal des HessischenRundfunks unter dem Motto Dylan On The Edgeunorthodoxe Annherungen an ein gefeiertes Idol.

    Dass der Kongress seinen Ort in der Universitt, ei-nem Kino und einem Sendesaal des Rundfunks hat,verweist auf einen programmatischen Anspruch. DieVeranstaltung versucht, eine Brcke zwischen Uni-versitt und Lebenswelt, zwischen strenger Wissen-schaft, Popkultur und Medien zu schlagen. Zu diesemZwecke versammelt sie nicht nur Literatur-, Musik-und Sozialwissenschaftler, sondern auch Philosophen,Musiker, Literaten und Journalisten. Die Veranstalterversprechen sich von diesem Symposion eine inter-disziplinre, sowohl die sthetik als auch die Musik-theorie und Kultursoziologie einbeziehende Ausei-nandersetzung mit der Frage, ob sich im Werk vonBob Dylan paradigmatisch eine Tendenz der Transfor-mation von Rockmusik in autonome Kunst abzeich-net. Da die klassische, bis heute vorherrschende Ent-gegensetzung von Kulturindustrie und modernerKunst in den Schriften von Adorno und Horkheimeram Institut fr Sozialforschung entstanden ist, scheintFrankfurt der angemessene Ort, um einen solcheninternationalen Kongress durchzufhren.

    Informationen im Internet:

    www.ifs.uni-frankfurt.de/veranstaltungen/2005/dylan_prog.htm

    www.hr2.de

    Frankfurter Bob Dylan-Symposion Bringing It All Back Home Zum kritischen Gehalt von Bob Dylans Werk

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    klassische Musik lebenspraktischund lebensgeschichtlich verwurzeltzu sein. Die Musik von Beethoven,Wagner oder Schnberg fordert vonvornherein eine viel grere Dis-tanz gegenber dem eigenen biogra-fischen Selbstverstndnis als Pop-musik. Gleichzeitig galt Popmusiklange Zeit als geschichtslos. Ihr wur-de ein rein biografischer Sinn zuge-schrieben, der allein an die Phaseder Adoleszenz gebunden schien

    sie kenne, so heit es, Wechsel,Trends und Moden, aber kein histo-risches Bewusstsein. In ihr scheintes nur um Aktionen und Vollzgein purer Prsenz zu gehen, die vonekstatischen Gefhlen und physi-schen Vibrationen begleitet werden.

    Daher wird auch die Popmusikselbst als transzendenzlos und denMechanismen der Kulturindus-trie unterworfen verstanden. Diefrhen musikwissenschaftlichen Pu-

    Rockmusik alsgeschichtliche Erfahrung

    Die These John Deweys, nach derdie Kunst der synthetisierenden Ar-tikulation zeitgeschichtlich prgen-den Erfahrungen dient, spielt einezentrale Rolle bei dem Versuch, dielebensgeschichtliche und histori-sche Dimension am Werk Dylansherauszuarbeiten. Zunchst einmalscheint Popmusik viel strker als

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    blikationen ber Rock habenzwar versucht, diesen Sachverhaltin gezielt antiakademischer Gesteins Positive zu wenden, ihn aber alsFaktum nicht einen Moment langangezweifelt. Es scheint, dass geradeDylan dazu ntigt, diesen Stand-punkt insofern zu revidieren, alsseine Musik eigene Formen von Ge-schichtlichkeit, von Gedchtnis-und Erinnerungsbildung entwickelt.

    Es lsst sich so zunchst die Fra-ge stellen, in welchem Sinne sichDylans Musik als Artikulation einesspezifischen Lebenszusammen-hangs verstndlich machen liee:Wie ist der konventionelle Topos zubegreifen, Dylan sei Ausdruck,Sprachrohr und Projektionsflcheeiner Generation, wenn seineKonzerte doch eine stndige ge-schichtliche Arbeit am eigenenSongrepertoire vollziehen? Offen-kundig geht es nicht blo um dieFunktion von Musik im Alltag, son-dern mehr noch um ihre lebensge-schichtliche, lebenszeitliche Bedeu-tung. Und dies betrifft nicht bloPsychologisches oder Politi-sches, sondern stets auch konkretemusikalische Mittel und Phnome-ne. Sodann wre zu fragen, ob dieGeschichtlichkeit, die Bob Dylan inseinen Songs entwickelt hat, nichteine Form von Universalitt im Ver-hltnis zur populren amerikani-schen Musik zur Folge hat: eineUniversalitt nmlich, die sozusa-gen den Raum zur Zeit hin trans-zendiert, das heit, die geschichtlichwird, indem sie einzelne, lokaleTraditionsstrnge hinter sich lsstund den gesamten Radius der Lied-kultur dieses Landes ausschreitet.

    Kulturindustrie als autonome Kunst

    Mit sthetischer Autonomie ver-binden wir heute mehr oder min-der feste Vorstellungen ber die Ei-genarten eines knstlerischenWerks: der schriftlichen Reprsen-tanz, der klaren Differenz von Kom-position und Interpretation, ein sicheher ausschlieendes Verhltnisvon sthetischer Qualitt und sozia-ler Wirkung. Dass all dies fr Dylanzumindest nicht direkt zutrifft, liegtauf der Hand, verdankt sich seineMusik doch, wie Rock- und Pop-musik berhaupt, primr mndli-chen Traditionen auf der einen Sei-te und der modernen Reprodukti-onstechnik auf der anderen. So istsie von vornherein ein Element

    dessen, was Adorno Kulturindus-trie genannt und der Sphre derAutonomie des Kunstwerks entge-gengesetzt hat.

    In einem Brief an Walter Benja-min vom 18. Mrz 1936 klagtAdorno allerdings gegen diesen eineDialektik von autonomem Werkund Reproduktionstechnik ein: Erinsistiert darauf, dass der Verfall derAura und die damit einhergehendeZerstreuung der Wahrnehmungs-formen, die Benjamin erst beimFilm beobachten will, sich bereitsdurch die Erfllung des eigenenautonomen Formgesetzes dergroen Kunst vollzieht. Dannheit es: Les extrmes me tou-chent, so gut wie Sie: aber nurwenn der Dialektik des Unterstendie des Obersten quivalent ist,nicht dieses einfach verfllt. Beidetragen die Wundmale des Kapitalis-mus, beide enthalten Elemente derVernderung.

    Nun denkt Adorno aber dieDialektik des Untersten und desObersten allein vom Obersten her.In vielen Analysen zeigt er, dassnoch die esoterischste autonomeKunst von den Mechanismen derkapitalistischen Massenkultur nichtunabhngig sein kann. Hingegenhat er sich fr die umgekehrte Fra-gestellung, ob es nicht auch in denProdukten der Massenkultur Mg-lichkeiten eines autonomen knstle-rischen Gestaltens gibt, nie interes-

    siert, obwohl sein gegenber Benja-min vorgetragener Ansatz sie ent-hlt und zulsst. Der Dialektik desObersten sollte aber wohl auch diedes Untersten adquat sein. In die-sem Sinne eines vernderten Auto-nomiebegriffs gewinnt die MusikDylans als ein von der Kulturindus-trie ausgehendes Produkt eine beson-

    No Direction Home: Die Doppel-CD, hier das Cover des Booklets, enthlt selteneund unverffentlichte Aufnahmen Dylans aus den Jahre 1961 bis 1966, die wh-rend der Dreharbeiten zu Martin Scorseses Film entdeckt wurden.

    Szene aus Pat Garrett & Billy the Kid: Ursprnglich sollteDylan nur eine Reihe von Songs fr den Sam Peckinpah-Filmschreiben, doch dann bernahm er auch die Nebenrolle desrtselhaften Alias Mitglied in Billys Band aus Gesetzlosen.Mit Knockin On Heavens Door enthlt der Film einen derbis heute grten Dylan-Hits.

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    Begierde zu vergttern: Je mehres erhht und vergrert wird, umso wertvoller auch der eigene Ein-satz und die Opferbereitschaft. Die-ser Mechanismus trifft in herausra-gender Weise auf die Rockmusik-kultur zu. Snger und Musikerwerden zu Idolen, fr die Fansalles zu tun imstande sind. Abertendenziell mssen alle Erwartun-gen, die sie haben, enttuscht wer-den. Dass die Stars dem Ansinnen,ihren Verehrern eine hhere Weltzu erffnen, nicht entsprechen kn-nen, fhrt zu einer hochgradigenAmbivalenz in der Verehrung selbst:Diese kann jederzeit in rasendeEntwertung, Verkleinerung oderHass umschlagen.

    Dass diese Problematik bei Dylanvirulent wird, hat zwei Grnde.Erstens hat er die Verehrung seinerPerson stets, zuweilen phobisch, be-kmpft und sich jeder Zuschreibungvon auen verweigert. Zweitens istdurch die Art, wie er mit den eige-nen Liedern auf der Bhne umgeht,ein Reflexionsniveau in die Rock-musik hineingetragen worden, dasErwartungen notwendigerweiseund systematisch zerstrt. Im einenFall wird ein Masken- und auchPossenspiel inszeniert, das die Per-son vor der Dynamik kollektiverIdentifikationen zu schtzen suchtund die Devise It aint me babegegenber dem Publikum wie einenBannstrahl einsetzt. Im anderenFall ist es der Autonomieanspruchdes Knstlers, der darauf besteht,mit den eigenen Liedern und Stil-modellen kreativ zu arbeiten, ihnenVernderungs- und Verfremdungs-prozesse zuzumuten, statt einfachnur zu reproduzieren, was bereitsauf kuflichen Konserven vorliegt.Insofern verlangt Bob Dylan vonseinem Publikum, sich auf das Er-eignis einzulassen, das hier undjetzt stattfindet und es nicht vorabmit Bedeutungen zu berformen,die lngst festgelegt sind.

    Michael Gray, Song& Dance Man III.The Art Of Bob Dylan, London/New York 2000.

    Richard Klein, DieHerausforderungBob Dylan, in:Merkur. DeutscheZeitschrift fr euro-pisches Denken,

    November 2002.Richard Klein,Dylan in Manches-ter 1966. sthe-tisch-politischeHintergrnde einesEklats, in: Musik &sthetik, Juli 2003.Walter Lieder-schmitt, Bob Dylan alles in allem,Trier 1992.

    Greil Marcus, Base-ment Blues. BobDylan und das alte,unheimliche Ame-rika, Hamburg2001.

    Craig McGregor(Hrsg.), Bob Dylan.The Early Years. ARetrospective, NewYork 1990.

    Wilfried Mellers, ADarker Shade OfPale. A BackdropTo Bob Dylan, Lon-don 1984.

    Stephen Scobies,The Captains To-wer. Bob Dylanund die Lyrik, in:Parking Meter,April 1999.

    Literatur

    dere Bedeutung; sie betrifft Fragender Inszenierung der musikalischenPrsentation nicht minder als solchedes Verhltnisses von Musik undLyrik, vor allem aber auch eine ein-gehende Analyse von Dylans Stim-me, seinem Gesang. Die reiche Dis-kussion des Phnomens der Stim-

    me in der neueren Literatur- undMedienwissenschaft kann hier vieleAnregungen bieten.

    Verweigerung als Messianismus

    Es liegt in der Struktur des mensch-lichen Begehrens, das Objekt der

    Martin Scorseses Film No Direction Home Bob Dylan aus dem Jahr 2005 giltschon jetzt als die ultimative Rockn Roll-Odysee. Er erzhlt mit einer Flle bis-her unverffentlichten Materials die Geschichte einer Reise von Bob Dylans Wurzelnin Minnesota ber das New Yorker Greenwich Village bis zu seinem turbulenten Auf-stieg als Popstar ab Mitte der Sechziger. Das Foto der DVD und der CD No Direc-tion Home ist identisch und zeigt einen stoischen und zugleich erschpften Snger.Es vermittelt wie viele Dylan-Songs den diffusen Eindruck, als nehme die Leerekein Ende.

    Die Autoren

    Prof. Dr. Axel Honneth, 56, ist Professorfr Sozialphilosophie an der UniversittFrankfurt und geschftsfhrender Direk-tor des Instituts fr Sozialforschung. Erbeschftigt sich seit seinem 16. Lebens-jahr mit dem Werk Bob Dylans.

    Dr. Richard Klein, 52, ist Musikwissen-schaftler in kritischem Anschluss anAdorno; er lehrt an der PdagogischenHochschule in Freiburg und bereitet ge-rade die Verffentlichung eines Buchsber Bob Dylan vor.