chaussee der enthusiasten - strasse ins glück

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Wer Interesse an der Sammlung "Strasse ins Glück" von den Enthusiasten hat, der kann sich hier mit einer Leseprobe versorgen...

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Page 1: Chaussee der Enthusiasten - Strasse ins Glück

TRACKLIST(Live im RAW-Tempel, Berlin)

1. Ansage Dan Richter und Stephan Zeisig 2. Kirsten Fuchs – Techtel3. Robert Naumann – Wie ich mal frech war4. Jochen Schmidt – Zehn Minuten Zeit5. Stephan Zeisig – I don‘t know what you heard about me …6. Andreas Kampa – Geschäfte7. Dan Richter – Ja und überhaupt8. Stephan Zeisig – But I‘m a creep ...9. Kirsten Fuchs – Nach der Trennung10. Robert Naumann – Wie ich mal beinahe verhaftet worden wäre11. Dan Richter – In China ist auch nicht alles Geld was stinkt12. Andreas Kampa – Das Lächeln der Mona Lisa13. Absage Dan Richter und Stephan Zeisig14. Volker Strübing feat. Chaussee der Enthusiasten – Straße ins Glück

Gesamtspielzeit: 76 min

Die Chaussee der Enthusiasten kredenzt ihrem Publi-kum jeden Donnerstagabend in Berlin-Friedrichshain einen Teil des Glücks, das man ihm an anderen Tagen der Woche vorenthält. Und das seit 1999.

„... daredevil feats of literature without a net.” NEW YORK TIMES

ZUM ANHÖREN:- Kirsten Fuchs – Techtel- Robert Naumann – Wie ich mal frech war- Jochen Schmidt – Zehn Minuten Zeit- Stephan Zeisig – I don‘t know what you heard about me …- Andreas Kampa – Geschäfte- Dan Richter – Ja und überhaupt- Volker Strübing feat. Chaussee der Enthusiasten – Straße ins Glück (live)u.a.

14,90 Euro (D)ISBN 978-3-938424-42-1

www.enthusiasten.dewww.voland-quist.de

Die Chaussee der Enthusiasten (v.l.n.r.): Kirsten Fuchs, Andreas Kampa, Stephan Zeisig, Robert Naumann, Dan Richter und Jochen Schmidt. Jeden Donnerstagabend live zu erleben in Berlin-Friedrichshain.

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[Foto: Tim Jockel]

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Robert Naumann

Wie ich mal dachte, meine Tochter sei verrückt

Wir verstehen uns nicht mehr, meine Tochter Marie und ich. Seit sie ihre Zahnspange trägt, kann ich mit meinem kümmerlichen Restgehör nur noch erahnen, was sie da mühsam zwischen den Zahnspangen-klammern herausnuschelt. Unseren Gesprächen gibt das allerdings einen gewissen Pep, da wir nie wissen, in welche Richtung sie sich entwickeln werden und oft keine Ahnung haben, wovon der andere gerade redet. Neulich zum Beispiel.

»Papa, wäre es okay für dich, wenn ich ein Emu wäre? Ich ver-sprech dir auch, mich nicht zu ritzen«, hörte ich Marie sagen.

Noch nie in meinem Leben hatte ich derart nebulöse, rätselhafte und geheimnisumwitterte Sätze vernommen. Ich starrte meine Toch-ter an. Sie sah aus, als erwartete sie eine ernsthafte Antwort von mir. Ich musste ruhig bleiben. Sie war eindeutig verrückt geworden oder stand unter Drogen. Aber selbst wenn sie das war: dieser Wunsch, ein straußenähnlicher Laufvogel sein zu wollen, der sich nicht ritzt, erschien mir selbst für die Kombination drogensüchtige Irre immer noch reichlich absurd.

Egal, ich musste sehr behutsam mit ihr umgehen. Wie allen Ver-rückten war ihr selbst natürlich nicht bewusst, dass sie nicht mehr alle Waffeln im Eisen hatte. Ich musste auf ihre Wünsche eingehen, sonst wurde sie vielleicht gefährlich. Ihre Augen zumindest ähnelten denen des geistig umnachteten Friedrich Nietzsche im Endstadium seines Wahnsinns.

»Was hältst du denn von einem Schmetterling?«, fragte ich vorsich-tig. »Oder wenn es unbedingt ein großer Vogel sein muss, dann viel-leicht ein Storch oder ein Adler? Als Emu müsstest du nämlich nach Australien ziehen, und dann könnte Papa nicht mitkommen.«

Wie die meisten Verrückten glaubte sie offenbar nicht nur, sie selbst sei völlig gesund, sondern darüber hinaus, dass alle anderen bekloppt waren. Zumindest schaute sie mich an, als wäre ich voll-kommen übergeschnappt.

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»Hä?«, fragte sie entgeistert, war aber offenbar nicht weiter an ei-nem Dialog mit mir interessiert und machte auf dem Absatz kehrt.

Da sie sich in der Folge meist recht unauffällig benahm, soweit man das bei einem angehenden Teenager sagen kann, vergaß ich die Sache wieder. Bis sie mich dann eines Tages wieder darauf an-sprach:

»Papa, findest du, dass ich wie ein Emu aussehe?«Die Situation war mehr als heikel. Sie sah natürlich nicht aus wie

ein Emu. Aber da sie ja einer sein wollte, könnte es sie verletzen, wenn ich ihr die Wahrheit sagte. Und dann, ich wagte gar nicht daran zu denken, würde sie sich aus Kummer vielleicht doch ritzen. Aber ich beschloss, alles auf eine Karte zu setzen und sie mit der Wirklich-keit zu konfrontieren:

»Marie, du bist kein Emu, siehst nicht aus wie ein Emu und wirst nie ein Emu sein!«

»Emoooooo!«, sagte sie. Es war traurig. Sie versuchte verzweifelt, daran festzuhalten.»Nein«, erwiderte ich bestimmt, »bist du nicht. Außerdem heißt es

Emu. Straußenähnlicher Laufvogel mit drei Buchstaben – Emu.«Marie stöhnte genervt, und um uns weitere Missverständnisse zu

sparen, öffnete sie die Wikipediaseite, tippte »Emo« ein und empfahl mir, sie in Zukunft mit meiner grenzenlosen Ahnungslosigkeit zu ver-schonen. Es sei peinlich.

Nun weiß ich, was Emos sind. Ein jugendkulturelles Modephäno-men. »Ja«, hab ich Marie dann noch gesagt, »du siehst aus wie ein Emo.« Was sie darauf gesagt hat, hab ich dann schon wieder nicht verstanden. Sie brauche noch irgendwelche Chucks. Aber was das ist, werde ich auch noch herauskriegen.

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Andreas Kampa

Geschäfte

Weil meine Mutter immer schwerhöriger wird, schließt sie keine Ge-schäfte mehr ab ohne ihren Sohn. Ich wünschte, sie hätte noch einen anderen Sohn. Das habe ich ihr schon als Kind immer gesagt: »Mutti, du brauchst mehr Söhne.« Sie hat nicht auf mich gehört. Heute hört sie auf mich, obwohl sie nichts mehr hört. Als sie ihre Waschmaschi-ne kaufte, sagte sie zu mir: »Du musst mitkommen. Ich verstehe die Leute immer so schlecht.« Ich kam also mit und übersetzte die Aus-führungen der Verkäuferin ins Schwerhörige. Die Verkäuferin sagte Sätze wie: »Mit Miele kann man nichts falsch machen.« Ich übersetz-te: »MIT MIELE KANN MAN NICHTS FALSCH MACHEN.«

Vor ein paar Wochen geriet sie wieder in die Fänge einer Verkäu-ferin. Es ging um ein supergünstiges Angebot zum Festnetz-Telefonie-ren: keine Telekomgrundgebühr mehr und telefonieren so viel man will, für zehn Euro im Monat. Meine Mutter konnte kaum glauben, was sie da hörte. D.h. sie konnte kaum hören, was sie da glaubte. Sie sagte: »Nicht ohne meinen Sohn« und gab der Verkäuferin einen Termin zusammen mit ihrem Dolmetscher.

Eine geschlagene Stunde redete die Verkäuferin auf uns ein. Nur am Rande ging es um den Telefonanschluss. Hauptsächlich redete sie über Gott und die Welt: dass sie sich gerade erst selbstständig gemacht hätte, zusammen mit ihrem Mann; was sie auf dem Weg hierher alles so erlebt hätte; ihre politischen Ansichten, von denen sie wie selbstverständlich annahm, wir würden sie teilen. Ich teilte sie nicht, aber sie ließ mich nicht zu Wort kommen. Ein endloser Wort-schwall prasselte auf uns ein. Allmählich begriff ich, wie diese Frau zu ihren Geschäftsabschlüssen kam. Sie redete die Kunden mürbe, bis die irgendwann aus purer Verzweiflung unterschrieben, damit das alles ein Ende hatte. In solchen Momenten beneide ich meine Mutter um ihre Schwerhörigkeit.

Nachdem die Verkäuferin gegangen war, fasste ich das Gespräch zusammen. Ich übersetzte: »Das Angebot ist gut. Nimm es!«

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Seit Neuestem hat meine Mutter einen digitalen Kabelreceiver. Sie hatte ihn ohne mich zu fragen gekauft, weil er umsonst war. Jetzt ist sie sich nicht sicher, ob er wirklich nichts kostet. Sie versteht ja immer nur die Hälfte. Also rief ich bei der Kabelfirma an, die das Ding geschickt hatte. Sie sagten: »Ja, es kostet nichts, sofern man das kostenlose Pay-TV-Probe-Abo schriftlich abbestellt.«

Ich diktierte also meiner Mutter einen entsprechenden Brief und schloss den digitalen Kabelreceiver an den Fernseher an. Gestern kam ein Anruf von ihr. Sie sagte, sie hätte das Kabel-Gerät kaputt gemacht. In der Vorstellung meiner Mutter ist jedes Gerät, das nicht richtig funktioniert, kaputt. Sie hat eben noch nie einen Computer besessen. Das war schon bei dem Navigationsgerät so. Eines Tages rief sie ganz verzweifelt an und sagte: »Das teure Navi ist kaputt. Man kann nichts mehr machen.«

Ich sagte: »Bestimmt ist nur der Akku alle.«Sie sagte: »Nein. Das kann nicht sein. Ich hatte das Navi die ganze

Zeit angeschlossen.«Wie sich dann herausstellte, war der Akku alle. Jetzt also soll der

Kabelreceiver kaputt sein. Ich habe sowieso meine Zweifel, ob Mut-ter ihn je wird bedienen können. Sie ist ja auch von dem Handy überfordert. Neulich hat sie aus Versehen irgendwo draufgedrückt und den Tisch fotografiert. Ich sagte ihr: »Ja, das kann passieren, dass man beim Telefonieren den Tisch fotografiert.«

Das einzige neue Gerät, das meine Mutter gut bedienen kann, ist das Navi – denn das Navi bedient meine Mutter. Wenn es befiehlt: »Nach 100 Metern: Biegen Sie rechts ab!«, dann biegt meine Mutter nach 100 Metern rechts ab. Sie muss keine schwierigen Entscheidun-gen mehr treffen. Das Navigationsgerät ist der Sohn, den sich meine Mutter immer gewünscht hat.

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Jochen Schmidt

1999 – Chaussee der Enthusiasten

1999, langsam machte man sich klar, dass man aus der DDR stamm-te. Das Studium schleppte sich seit Jahren ins Ziel. Mein Freundes-kreis löste sich unmerklich auf, zehn Jahre lang hatten wir uns in unseren alten Wohnungen getroffen und Heimat gespielt, während draußen die Baukolonnen wüteten. Sollte man im Prenzlauer Berg als Indianer unter Zugezogenen leben, die nie kapieren würden, wo sie sich befanden, oder die Realität akzeptieren und Alkoholiker werden? Monologe von Helge Schneider und Bildchen von Fil oder Ol hielten einen am Laufen. Bei der Reformbühne Heim & Welt traten ein paar Jungs auf, die erstaunlich unpeinlich waren. Ahne traf den Ton, wie gerne hätte ich gewagt, ihn anzusprechen und zu sagen: Ich bin wie du! Aber das ging nicht, man musste sich erst einen Namen machen, sonst hätte diese Information für ihn keinen Wert gehabt. Mein Debüt am »Offenen Mikrophon« bei den Surf-poeten. Ob die Zuschauer reagieren würden? Sie lachten, und ich war gerettet, so schön würde es nie wieder. Eine eigene Lesebühne gründen? Zwei bis drei geeignete Texte hatte ich in Reserve, danach müsste ich mir Gedanken über meine Zukunft machen. Außer Dan Richter kannte ich uns nur vom Sehen: Andreas Gläser mit seinem weinroten BFC-T-Shirt, Andreas Rüttenauer, der irgendwie aus Bay-ern kam, Robert Naumann, von dem es hieß, er sei schon mal auf der Bühne eingeschlafen. Also nur sympathische Leute. Wir traten im Keller der »Tagung« in der Wühlischstraße auf, 10 cm Grundwas-ser, deshalb bewegte man sich auf Europaletten. Wollte ich hinter dem Tresen eine Kerze anzünden, versank ich bis zum Knie in ei-nem Wasserloch. Zum Tanzen war die Decke zu niedrig. Platz für 50 Zuschauer, es kamen 16. Ich war also jetzt ein Star, wovon mein Arbeitgeber und der Literaturbetrieb nichts ahnten. Mein Freundes-kreis auch nicht, keiner ließ sich überreden, für meine Darbietun-gen Eintritt zu zahlen. Friedrichshain war weit, das Leben kurz, ich sah ihnen ja auch nicht zu in ihrem Job.

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Aber ich hatte ja jetzt neue Freunde. Würden wir ein Jahr durch-halten? Vielleicht könnte man mal Ahne als Gast einladen? Ob wir seinen hohen Ansprüchen genügen würden?

Seitdem bin ich nicht mehr zum Durchatmen gekommen. Die Donnerstage rasten heran. Nach der Menstruation war vor der Mens-truation. Würde Andreas Gläser diesmal seine Schrift entziffern kön-nen? Ob Robert Naumann wieder einschläft? Die Zuschauer moch-ten das, er war wie sie. Überhaupt: Zuschauer! Jedes Mal kamen sie. Wir mussten also weitermachen. Die Woche über feilte ich an mei-nem Text. Bis ich es kaum erwarten konnte, ihn vorzulesen. Morgen würde er mir alt vorkommen, aber heute hielt ich ihn für das Beste, was ich je geschrieben hatte. Und jede Woche frage ich mich: Wann bin ich endlich dran?

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Stephan Zeisig

When you were young

Zwanzig müsste man noch mal sein

Mit zwanzig hatte man sein Leben noch vor sich. Da standen einem noch alle Wege offen. Zuletzt hast du dir solche Sprüche oft anhören müssen. Was du dazu zu sagen hast, wollte niemand wissen. Dabei hattest du dich nun seit mindestens zwölf Monaten eingehend mit dieser Thematik beschäftigt. Und deine Sicht auf die Dinge war wirk-lich am ehesten von Belang. Was daran toll sein sollte, zwanzig zu werden, das hatte sich dir nicht erschlossen. Mit zwanzig waren, das musste man doch erkennen, sofern man nicht total blind war, sofern man sich an die puren Fakten hielt, zunächst einmal zwanzig Jahre des Lebens vorbei. Würde man mit dreißig sterben, hatte man also zwei Drittel davon bereits gelebt. Und was brachten einem die un-zähligen Wege, wenn niemand den richtigen für einen aussuchte? Du musstest das selbst tun, dabei hattest du nie um mehrere Wege gebe-ten. Ein Trampelpfad, der sich bei allen anderen bereits bewährt hat-te, hätte dir vollkommen genügt. Du konntest dich schließlich schon beim Bäcker nicht für eine Brötchensorte entscheiden. Das war al-les einfacher gewesen, als du klein gewesen warst, also noch einmal zehn Jahre zuvor, vor dem Mauerfall. Da bist du einfach zum Bäcker gegangen und hast gesagt: »Ein Brötchen bitte!« Die Gegenfrage: »Welche Sorte denn?« existierte gar nicht, weil es nur eine Sorte gab. Tja, so war das damals eigentlich mit allen Dingen. Es gab keine Land-liebe Butter, Ravensberger Deutsche Markenbutter, Naturkind Sauer-rahmbutter, Goldblume Deutsche Markenbutter, Campina Buttergold, Frau Antje Beste Butter, Meggle Alpenbutter, Gut & Günstig Deutsche Markenbutter, es gab keine Butter von Mark Brandenburg, es gab ein-fach nur Butter. Es gab keine A&P Frische Vollmich, keine Almsana Frische Vollmilch, keine Bayernkrone Frische Landmilch, keine Land-liebe Landmilch, keine Naturkind Frische Landmilch, keine Milch von Mark Brandenburg, keine Norasan frische Vollmilch, keine Milch von

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Weihenstephan, es gab damals einfach nur Milch zu kaufen, an man-chen Tagen noch nicht mal das. Wenn du ein bisschen älter gewesen wärst, hätten dir andere die schwere Entscheidung abgenommen, ob für dich Abitur und Studium in Frage kämen bzw. den geeigneten Beruf für dich ausgesucht. Die DDR war Mama und Papa, die alles für einen entschieden. Als DDR-Bürger durfte man ein Leben lang Kind bleiben, und bekanntlich war man als Kind ja am glücklichsten. Leider waren diese Zeiten für dich vorbei, bevor du sie richtig zu schätzen gelernt hattest. Nein, der zwanzigste Geburtstag legte dir wahrlich keinen naiv-doofen Zukunftsoptimismus nahe, sondern verlangte von dir vielmehr endlich eine ehrliche Bilanzierung deines Lebens. In die-sem war wirklich alles schiefgelaufen, was schieflaufen konnte. Klar, du hattest das beste Abitur deines Jahrgangs, warst gesund, deine El-tern hatten dich nicht misshandelt, lebten nicht getrennt, hatten bei-de gut bezahlte Jobs und wählten trotzdem SPD, unterstützten dich, wo es nur ging, ermöglichten dir ein Austauschjahr in Austin. Aber was zählte das, wenn man das wichtigste Projekt seiner Biographie, den ersten Sex, in das nächste Lebensjahrzehnt würde verschieben müssen? Dies war umso demütigender für dich, als du dich bei deiner jüngeren Schwester davon hattest überzeugen können, dass sich das Durchschnittsalter fürs erste Mal immer weiter nach unten verschob. In Deutschland war man mittlerweile bei 14 Jahren angelangt. Als du dich mit 17 Jahren in deiner Verzweiflung mal hilfesuchend an die Bravo gewandt hattest, hatte dir Dr. Sommer ihren Trost versagt und geraten, doch lieber bei Domian im WDR anzurufen. Klar, du hattest früher als die meisten deiner Klasse mit Onanieren angefangen, aber dass das den fehlenden Sex aufwiegen könnte, darüber gibst selbst du dich keinen Illusionen hin.

Möglichkeiten hatte es ja gegeben. Aber du hattest sie einfach nicht zu nutzen gewusst. Jetzt, mit zwanzig, musst du dir eingeste-hen, dass du dein Leben verpfuscht hast. Hach, könntest du doch noch mal die Zeit zurückdrehen. Dann würdest du einiges anders machen. Einmal zum Beispiel noch mal 18 sein. Und dich diesmal nicht so ehrlich verhalten und Jenny, die bei dir zum ersten Mal übernachtet, erklären, dass du sie zwar gut findest, aber auch noch sehr an Melanie hängst. Oder lieber 17. Und diesmal nicht deinem

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besten Freund Sascha versprechen, dass du, sollte Melanie dich ir-gendwann mal anbaggern, auf keinen Fall mit ihr etwas anfangen würdest, weil er, Sascha, bereits in sie verknallt sei. Oder besser ver-sprechen und doch etwas mit ihr anfangen. Heimlich. Oder viel-leicht doch erst 16 Jahre. Da gab es doch diese eine Türkin aus der Neunten, die was von dir wollte. Hättest du damals gewusst, wo du heute stehst, du hättest dich nicht so geziert. Beim ersten Mal muss es ja nicht immer die Schönste sein. Gerade die grauen Mäuse geben sich im Bett doch sicherlich besonders Mühe, denn sie lechzen nach jeder Zuwendung, die ihnen zuteil wird. Dann wärst du zumindest den Druck los und könntest entspannt die nächsten Eroberungen in Angriff nehmen. Stattdessen rennst du wie ein geiler Bock durch die Gegend, und man sieht dir schon von Weitem an, dass du läufig bist. Dir dämmert mittlerweile auch, dass es vielleicht nicht die er-folgversprechendste Strategie ist, sich gegenüber Mädchen, auf die du stehst, besonders arrogant und abweisend zu verhalten. Warum gehst du sonst nach jedem Clubbesuch allein nach Hause? Am Tanz-stil kann es nicht liegen. Aber was ist dann die Alternative? Um die Mädchen werben, von denen du etwas willst? Aber dann würden sie ja merken, dass du sie gut findest. Dann hätten sie dich in der Hand. Das kann es ja nun auch nicht sein.

Das Deprimierende ist, dass trotz ausstehendem ersten Sex ei-gentlich nichts besser werden kann in deinem Leben. Zum ersten Mal verlieben wirst du dich nicht noch mal. Deinen Lieblingsfilm hast du schon gefunden. Und neue Musik gibt es für dich nicht mehr zu entdecken. Für große politische Ideen warst du immer schon zu rea-listisch. Was soll da noch kommen? Du wirst anfangen zu studieren, ein Studium, welches schön lange dauern wird, damit dir viel Zeit bleibt zu überlegen, was du danach machen könntest, obwohl du jetzt schon weißt, dass es eigentlich egal ist, weil du auf nichts dauer-haft Lust verspürst. Deinen Eltern wird deine Studienrichtung nichts sagen, weshalb sie sich nur dafür interessieren, welchen Beruf man denn eigentlich damit ausüben kann. Du wirst erklären: »Im Prinzip alles.« Und deine Eltern werden verstehen: »Im Prinzip nichts.« Nach 14 Semestern werden sich die Fragen deiner Verwandten häufen, wann du denn endlich dein Studium abzuschließen gedenkst. Du

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wirst antworten, das könnest du erst nach der Zwischenprüfung ein-schätzen. Nur deine Eltern werden sich diese Frage verkneifen, weil ihnen die Aussicht darauf, was nach deinem Studium aus dir wird, viel mehr Bauchschmerzen bereitet. Solange du an der Uni bist, wissen sie dich wenigstens halbtags unter Menschen. Die Abende verbringst du meistens alleine in deiner 1-Personen-WG. Du weißt bereits heute, mit zwanzig, dass alle anderen Menschen im Grunde scheiße sind, sobald man sie kennenlernt. Darum hast du dich auch nie irgendwo engagiert, warst du auch nie Teil einer Jugendbewe-gung, weil an jeder Bewegung leider auch immer andere Menschen beteiligt sind, Menschen, die nerven und andere Meinungen haben oder einen anderen Geschmack oder einen anderen Humor oder Menschen, die bereits Sex hatten. Vor allen Dingen Menschen, die nicht in der Lage sind, dich so zu schätzen, wie du es verdienst. Da-von gab es schon in der Schule viel zu viele. Bleibt dir da etwas an-deres übrig, als alle zu hassen? In den ersten Semestern wirst du noch hin- und wieder auf Studentenpartys gehen, doch Freunde wirst du dort auch nicht finden, weil du mit deinen klaren Meinungen an-eckst. Zum Beispiel mit Aussagen wie, dass Wessis nicht lustig sind; dass man den Zuzug von Westdeutschen in den Prenzlauer Berg be-grenzen sollte; dass Menschen, die Radio nur so nebenbei hören und Musik querbeet, scheiße sind; dass man Leute, die mit Handys tele-fonieren, gesellschaftlich ausgrenzen müsse, weil die jede kurzlebi-ge Modeerscheinung mitmachten; dass die Berliner Zeitung nur von dummen, politisch desinteressierten Ossis, die ein Haus in Hönow haben, gelesen wird; dass, wer bei Lidl einkauft, auch nicht besser sei als die Leute, die NPD wählen; dass es keinen Grund gebe, sich mit Mädchen zu unterhalten, mit denen man sich keinen Sex vorstellen könne, weil man sich dann ja auch gleich mit Jungen unterhalten könne; dass Frauen, die bereits ein Kind haben, im Grunde keine richtigen Frauen mehr seien oder dass es nicht nötig sei, zu allem eine differenzierte Meinung zu haben. Tocotronic haben dir bereits einen Song geschrieben: Alles was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben. Das ist natürlich leicht gesagt, wenn man sowieso nicht dazugehört. Du hast dir das zugehörige Album gekauft. Noch eins von ihnen wirst du dir aber nicht besorgen. Wenn man nach der vierten Platte einer

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Band nicht Schluss machte, dann wurde man wirklich langsam so wie der eigene Vater: alt! Gibt es heute eigentlich überhaupt etwas für dich, für das es sich lohnt weiterzuleben? Vielleicht die Hoffnung, so sehr abzustumpfen, dass in zehn Jahren dir Anerkennung durch andere und Sex nicht mehr so wichtig sein werden. Und natürlich die Aussicht auf einige weitere Tour-de-France-Siege von Jan Ullrich.

30 über Nacht

Mit dreißig sind die Weichen eigentlich gestellt. So heißt es doch im-mer, zumindest beruflich: Selbstverwirklichung oder Selbstaufgabe, Freiheit oder Sicherheit, Aufregung oder Ruhe, irgendwas mit Medien oder Festanstellung. Du hast dich fürs Lehrersein entschieden, die Parkeisenbahn Wuhlheide unter den Berufen. Tja, du hast so eini-ge Gelegenheiten versäumt, aus deinem Leben etwas Spannendes zu machen. Du hast tatenlos mit angesehen, wie Macaulay Culkin zum Kinderstar wurde, als du zehn warst; wie Franziska van Alm-sick olympische Medaillen erschwamm, als du vierzehn warst; wie Lars Windhorst Mitte der 90er zum Managerwunderkind aufstieg; als du dich in der Pubertät befandest; wie Patrice, mit dem du in der Schule warst, Ende der 90er als MTV-Moderator bekannt wurde und schließlich Anastacia ins Bett bekam; wie Benjamin von Stuckrad-Barre um die Jahrtausendwende mit schlechter Literatur massenhaft Bücher verkaufte; wie sich ab 2001 zahllose The-Bands die Klinke des Erfolges in die Hand gaben, obgleich du auch mal in der ers-ten Klasse ein paar Gitarrenstunden genommen hattest; wie 2005 einer deiner Kommilitonen, mit dem du 1998 zu studieren begon-nen hattest, Juniorprofessor wurde. Im Jahr 2005, mit 27, hättest du die Möglichkeit gehabt, dich umzubringen. Dann wärst du genauso alt gestorben wie Kurt Cobain. 2007 haben Tocotronic, die Helden deiner Jugend, ihr neuntes Album veröffentlicht. 2007 hast du dir das neunte Album von Tocotronic gekauft. Du besitzt jetzt genauso viele Alben von Tocotronic wie deine Mutter Alben von Sting. Für einen Selbstmord ist es jetzt zu spät. Das wäre längst nicht mehr der Ausdruck des Weltschmerzes eines verzweifelten jungen Menschen, sondern der späte Entschluss eines ewigen Zauderers. In der Todes-

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Kirsten Fuchs

Techtel

Ein paar Tage nachdem ich mit einem jungen Herren getechtelt habe, meldet er sich per E-Mail bei mir. Damit rechnet man ja nicht, wenn man getechtelt hat. Ein paar Küsse vorher, damit man sich besser dabei ausziehen kann, ein paar Küsse nachher, damit’s nicht lieblos ist, und dann ist doch manchmal auch alles gut so. Nicht dass ich das schon mal vorher so hatte, aber ich hab gehört, dass es das gibt. Noch dazu ist der junge Mann Italiener. Da rechnet man doch erst recht nicht damit, dass sich so einer meldet, wenn man getechtelt hat. Ich dachte, er kehrt zurück in sein Bergdorf, von dem er so geschwärmt hatte, und macht ne Kerbe in den Bettrahmen bei German Girls und dann freuen wir uns beide: er da, ich hier, dass uns jemand anzie-hend fand, der weit weg wohnt – da gibt’s kein Heckmeck.

Ich habe mich gefreut und geärgert über diese Mail. Es war vorher angenehm gewesen für mich, dass mein Herz mal nicht zu viel aus so wenig machen konnte. Als er sich meldete, sprang bei mir der übliche Blödsinn an: Er hat sich verliebt. Er ist ganz verrückt nach mir. Und egal wie sehr er sein Bergdorf liebt, er kommt trotzdem her und wir sehen mal. Und das wird ganz romatisch und toll. Und es könnte ja doch passen. Blablabla, rumpelte mir der ganze Mädchenblödsinn ins Herz. Es macht’s nicht besser, wenn man das im Älterwerden immer-hin durchschaut, was da vor sich geht – passieren tut es trotzdem.

In der Mailadresse war sein Name und im Betreff noch mal. Also um mich schien es nicht zu gehen. Genau so hatte ich ihn in Erinne-rung.

Die Mail war auf Italienisch, bis auf einen englischen Satz. Ich ließ die paar Zeilen von einer Übersetzungsmaschine im Internet überset-zen. Den direkten Weg von Italienisch zu Deutsch gab es nicht, also nahm ich als Erstes den Umweg über Italienisch-Englisch und dann Englisch-Deutsch. Weil dabei ganz schöner Kuddelmuddel rauskam, versuchte ich es noch mal über Französisch und Russisch. Der erste Satz hieß wahlweise: »Sie haben, diesen Buchstaben zu übersetzen.«

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Oder: »Sie werden haben übersetzen diesen Brief«, oder fast militä-risch, dafür aber geduzt: »Du musst diesen Brief übersetzen.« Aha, das war mir schon aufgefallen und genau das tat ich ja gerade. Der nächste Satz war: »Warum auf Englisch schriftlich sie sind schlechter als in dieser ein gesprochen« bzw. »Weil im geschriebenen Engländer sie schlechter, als in Umgangsband den Umgangsband sind.« Um-gangsband. Aha. Also entweder war er schlechter darin Englisch zu schreiben als zu sprechen, oder er glaubte, ich wäre es, wie auch immer. Weiterhin hoffte er, dass »Sie haben einen Freund wer spricht italienischer …« Italienischer als wer?, fragte ich mich. Italienischer als ich? »Ich hoffe mich bei dir es waren etwas Freunde, die den Ita-liener sagen …« Insgesamt klar. Nächster Satz: »Ich hoffe, wollte um Ihre Adresse zu Ihnen nur bitten« bzw.: »Ich wollte bei dir nur deine Adresse bitten«, bzw.: »Nur Ihre Adresse zu Ihnen, dass ein zu fra-gen.« Versteh ich. In Klammern stand in Englisch, dass ich keine Angst haben solle, dass er mich disturben würde in Berlin.

Den vorletzten Satz der Mail verstand ich nur, weil ich ja dabei gewesen war, als wir »wo Kleider, sie sind viel glückliche unseres Abends gewesen …« Genauso war’s. Ich hatte drei Fassungen von dem Satz und in einem stand, dass er glücklich war, im anderen, dass ich glücklich war und im dritten, dass wir glücklich waren. Vielleicht war es ja egal, wer nun genau glücklich war, irgendwer war glücklich. Als Verabschiedung hatte ich zur Auswahl »Zu den Küssen aus Italien« »Küsse Italiens« oder »Er hat Italiens geküsst«.

Ich hatte gute Laune. Irgendwer war glücklich gewesen ohne Klei-der und irgendwer küsste irgendwen. Ich antwortete auf Englisch, um ihm die Ungereimtheiten zu ersparen, die eine Übersetzungsmaschi-ne anrichten konnte, und sicherlich hatte er auch keinen Freund, wo sprach deutscher. Am nächsten Tag schaute ich alle paar Stunden, ob eine Mail gekommen war, und weil keine kam, hatte ich keine gute Laune mehr. Irgendwie war es schöner, etwas zu bekommen, anstatt etwas darauf zu erwidern und dann zu warten, dass man wieder et-was bekam. Da schickte man etwas in die Gegend und wusste nicht, was der andere damit tat in sich drin. War meine Mail zu nett gewe-sen? Hatte sie das männliche Hilfehilfeohgottohgott bei ihm ausge-löst? – Oh Gott, die hat sich so gefreut, oh Gott, die soll mich ja nicht

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wichtig finden. Hilfe, die soll ja nicht denken, da wäre was. Oder war ich zu kühl gewesen und er hatte keine Lust mehr, mir noch mal Küsse Italiens zu schicken?

Dieses Gefühlsgedankengemisch verzog sich nach ein paar Tagen. Ich dachte auch nicht daran, daran zu denken, dass er mich ja doch disturben könnte in Berlin. Einfach vor der Tür stehen. Ach, diese Südländer. Sicherlich wollte er aber meine Adresse haben, um mir etwas zu schicken. Und darum mailte er auch nicht, weil er was los-geschickt hatte. Ich sagte streng zu mir: Erwarte nichts sonderlich Tol-les. Das isn Kerl. Die können das nicht so gut. Die schicken einfach irgendwas. Die meinen das lieb, und als Frau ist man da oft ungerech-terweise enttäuscht, weil es eben so ein kleines …

Ich bekam einen ganz dünnen Brief, hatte ich es doch gewusst. Ich wollte es gar nicht wissen, was drin war und hatte den Umschlag schon aufgerissen. Es war eine Kopie von einem Foto von seinem Dorf im Tal. Eine Draufsicht. Ein Haus war ausgemalt, sicher das, in dem sein Bett steht, wo er die Kerben rein macht. Oben in der Ecke von dem Bild stand in Schönschrift, dass das seine Hometown wäre, Population 2858. Unten in der Ecke war ein fettes rotes Herz mit Wachsmalstift gemalt. Uiuiui, das war genau, wie ich es erwartet hat-te. Und da ich nicht zu viel erwartet hatte, war ich entzückt. Ein rotes Wachsmalstiftherz und noch dazu so ein ungelenkes, ehrliches Herz. Zu Schulzeiten waren die Mädchen sich ja einig, wie ein Herz auszu-sehen hatte: dickbackig, rund, mit der richtigen Wölbungslinie nach innen, bevor unten ein ganz kleiner Zipfel kam. So hatte ein Herz aus-zusehen, keine Diskussion. Das hatten wir stundenlang geübt. Dann gab’s irgendwann die ersten Liebesbriefe, und die Herzen der Jungs sahen … anders aus, kann man bei aller Liebe nur sagen, anders. Die Jungs schienen das nicht zu üben. Mein italienisches Herz war über-aus reizend, herrlich geradezu. Es war ja nicht selbstverständlich, dass sich ein erwachsener Mann überhaupt dazu bewegen ließ, ein rotes Herz zu malen. Das war doch ganz phänomenal. Nachdem ich eine Weile erfreut war und nachglühte, bekam ich einen Gackeranfall, als mir bewusst wurde, wie höhlenmenschenhaft dieser Brief war: »Du Frau, ich Mann, da Dorf, da Haus, ich hier, Hallo, Herz.« So in der Art. Glücklich war ich trotzdem. Ich sollte wohl irgendwie wissen,

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wo er war. Ich konnte ihm allerdings unmöglich etwas Ähnliches zu-rückschicken. Berlin war zu groß dafür. Am selben Morgen machte ich zufällig eine Wurst ins Klo, die fast die Herzform hatte, die wir in der Schule immer geübt hatten. Es wäre trotzdem keine gute Idee gewesen, es zu knipsen, um es nach Italien zu schicken, aber es war ungelogen ein ganz famoses Herz. Ein bischen verknallt war ich wohl doch.

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Dan Richter

In China ist auch nicht alles Geld was stinkt

Ein Mann sitzt im Zimmer einer Akupunkturärztin. Man kann den au-ßergewöhnlichen Bau seines Oberkörpers bewundern, den ihm die Natur spendiert hat. Man will ausführlich Zärtlichkeiten mit ihm aus-tauschen, wenn man ihn da so sitzen sieht, wie er mit treuen blauen Augen in die Welt schaut, in die Welt jenes Behandlungszimmers, dessen Wände tapeziert sind mit Plakaten, auf denen nummerierte Ohren abgebildet sind. Augen, die sonst Entschlossenheit suggerieren, Augen, die einen dazu einladen, am Abenteuer Leben teilzuhaben, die Augen eines Spaßmachers, eines Kapitäns, eines Weisen, eines Schriftstellers, eines Liebhabers, Augen, deren putzige Eigenschaften aber diesmal getrübt werden vom Leiden des Schmerzes und der Einsamkeit.

Im Rücken jenes Mannes, bei dem es sich, wie die aufmerksame Leserin bereits erraten hat, um keinen anderen Zeitgenossen als mich selbst handelt, stecken wegen einer »Schiefhals« genannten Diagnose, die man sich zu dieser Jahreszeit bei offenem Fenster leicht zuziehen kann, zehn Nadeln, die Frau Zie, die Chinesin, ihm selbst appliziert hat. »Nadeln«, so sagte einmal Konfuzius, »sind die Spaghetti des Er-leuchteten.« Zu diesem Zeitpunkt war Konfuzius allerdings schon so alt, dass selbst die eingefleischtesten seiner Jünger einander zuraun-ten: »Die Aussprüche unseres Meisters sind nicht einmal mehr die Hasenköttel wert, auf die er sie mit gespitztem Meißel eingraviert.«

»Tut das weh? Geht es so?« Ganz offensichtlich vermeidet die Chinesin Sätze, in denen der für sie und ihre Landsleute so riskante Buchstabe R vorkommt.

»Ja, es geht.«»Soll ich das Fenste öffnen?« Ich zögere. Soll das ein Test sein? Ich

denke, offene Fenster sind genau die Ursache meines Leidens. Will sie mich als Stammkunden gewinnen?

»Schön sitzen bleiben. Machen Sie es sich bequem. Ich komme in zehn Minuten wiede.«

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Wiede? Abermals elegant ums R gemogelt. Die Tür fällt ins Schloss. Ich versuche, mich auf den nachlassenden Schmerz zu konzentrie-ren. Wie er wegfließt, weg, weg, weg …

Was steht da eigentlich neben den Nummern an den Riesenohren? Bin versucht, aufzustehen und nachzulesen. Aber ich soll ja sitzen bleiben. Ich schiele auf ihren Schreibtisch rüber. Auf der Karteikarte steht »Dan Richter« und die Zahl 1968. Es folgen jene Wahnsinnshie-roglyphen, mit denen uns die Chinesen seit 2.000 Jahren den Zugang zu ihrer Kultur versperren. Ich betrachte die Zeichen genauer. Chine-sisch ist zwar keine Bildersprache, aber aus einer solchen entstanden – vielleicht lassen sich ja mit ein bisschen Kombinationsgabe ein paar stilisierte Zeichen entziffern. Das erste sieht aus wie eine durchge-strichene Bommel, die auf einem Stuhl liegt. Ich nehme an, dass bin ich: auf dem Stuhl festgeklebt, durchgestrichen heißt dann wohl, dass ich gerade zu nichts zu gebrauchen bin. Ups! Das Entziffern geht ja leichter als gedacht. Zweites Zeichen: ein Phallus, auf dem ein Ha-kenkreuz zu sehen ist, dessen linker Haken fehlt. Phallus ist klar, aber glaubt sie, dass ich wegen meiner kurzen Haare ein verkappter Nazi bin? Drittes Zeichen: ein Galgen – okay, ich bin dem Tode geweiht.

Erst jetzt entdecke ich den an der Wand hängenden Spiegel. Wie mag ich wohl aussehen? So nadelgespickt? Ich erhebe mich, da fällt mir ihre Mahnung ein: Bitte schön sitzen bleiben. Ach, es ist ja nur kurz. Hopp! Na das ist ja enttäuschend. Ich hatte erwartet, eine Igel-version von mir im Spiegel zu sehen. Stattdessen bin es nur ich und eben ein paar Nadeln und auf der Stirn ein grüner Fleck. Hä? Wieso ein grüner Fleck? Muss ich wohl mal näher rangehen. Ach so, ist nur die chinesische Beschriftung des Spiegels.

Ups! Na so was! Ist mir da doch eine Nadel rausgerutscht. Pein-Ist mir da doch eine Nadel rausgerutscht. Pein-lich, peinlich, hoffentlich merkt sie es nicht. Wo liegt sie denn? Ah ja, da unterm Schreibtisch. Ich bücke mich und mein Rücken macht das Geräusch eines sich öffnenden Reißverschlusses. Prrrlllt. Die neun anderen Nadeln ploppen aus meiner Haut durchs Sprechzimmer. Wassollichtunwassollichtunwassollichtun? Das merkt sie doch garan-tiert! Schnell, schnell, schnell. Die ersten vier Nadeln finde ich rasch, die fünfte auf dem Stuhl, die sechste unter der Liege. Ich suche mit Augen und Fingern den Boden ab – nichts. Ich wische den Staub

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von den Büchern im Regal – nichts. Ah – Nummer sieben auf dem Schreibtisch, Nummer acht schön mimikriert auf der Chinaschriftkar-teikarte. Nummer neun kann nicht weit sein. Verdammt! Sie kommt bestimmt gleich. Während ich weitersuche, steche ich mir schon mal die neun vorhandenen Nadeln auf gut Glück zurück in den Rücken, um ein erneutes Rausploppen zu verhindern, gleich etwas tiefer.

Nicht auf dem Monitor, nicht auf dem Drucker. Da! Zwischen den Knöpfen in der Tastatur. Vor Freude steche ich mir Nadel Nummer sieben bis zum Anschlag zwischen die Rippen. Ich drehe die Tastatur um, die Nadel hat sich verhakt, ich schüttele vorsichtig, es klappert. Ich schüttele stärker. Die Nadel klappert wie zum Hohn. Wütend steche ich mir Nadel acht tief in die Schulter. Aaah! Ich klopfe mit der Tastatur auf den Schreibtisch. Komm raus, liebe Nadel, komm raus. Sie will nicht. Komm raus! KOMM! JETZT! RAUS! Ich schlage kräftiger. Oh, das muss die Escape-Taste gewesen sein. RAUS! RAUS! RAUS! Die Ärztin muss jeden Moment kom…

Die Tür steht offen. Ich drehe mich erschrocken um. Frau Zie steht hinter mir und beobachtet mich mit offenem Mund, wie ich mir mit der Linken eine Nadel in den Hals ramme und die Rechte mit dem Keyboard hoch über meinem Kopf halte.

»Oh, entschuldigen Sie, Frau Zie, ich sollte ja sitzenblei…« »Ja.«Dann schließt sie die Tür, entfernt stoisch die neun Nadeln und

verabschiedet sich höflich von mir.

Ein seltsames Volk, diese Chinesen. Und doch – wie viel können wir von ihnen lernen!

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TRACKLIST(Live im RAW-Tempel, Berlin)

1. Ansage Dan Richter und Stephan Zeisig 2. Kirsten Fuchs – Techtel3. Robert Naumann – Wie ich mal frech war4. Jochen Schmidt – Zehn Minuten Zeit5. Stephan Zeisig – I don‘t know what you heard about me …6. Andreas Kampa – Geschäfte7. Dan Richter – Ja und überhaupt8. Stephan Zeisig – But I‘m a creep ...9. Kirsten Fuchs – Nach der Trennung10. Robert Naumann – Wie ich mal beinahe verhaftet worden wäre11. Dan Richter – In China ist auch nicht alles Geld was stinkt12. Andreas Kampa – Das Lächeln der Mona Lisa13. Absage Dan Richter und Stephan Zeisig14. Volker Strübing feat. Chaussee der Enthusiasten – Straße ins Glück

Gesamtspielzeit: 76 min

Die Chaussee der Enthusiasten kredenzt ihrem Publi-kum jeden Donnerstagabend in Berlin-Friedrichshain einen Teil des Glücks, das man ihm an anderen Tagen der Woche vorenthält. Und das seit 1999.

„... daredevil feats of literature without a net.” NEW YORK TIMES

ZUM ANHÖREN:- Kirsten Fuchs – Techtel- Robert Naumann – Wie ich mal frech war- Jochen Schmidt – Zehn Minuten Zeit- Stephan Zeisig – I don‘t know what you heard about me …- Andreas Kampa – Geschäfte- Dan Richter – Ja und überhaupt- Volker Strübing feat. Chaussee der Enthusiasten – Straße ins Glück (live)u.a.

14,90 Euro (D)ISBN 978-3-938424-42-1

www.enthusiasten.dewww.voland-quist.de

Die Chaussee der Enthusiasten (v.l.n.r.): Kirsten Fuchs, Andreas Kampa, Stephan Zeisig, Robert Naumann, Dan Richter und Jochen Schmidt. Jeden Donnerstagabend live zu erleben in Berlin-Friedrichshain.

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[Foto: Tim Jockel]