daniel kehlmann__ich und kaminiski

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    Daniel Kehlmann

    Ich und

    Kaminski

    s&c by ute

    Mit kleineren Gelegenheitsarbeiten schlgt sich Sebastian Zllner nach seinemKunstgeschichtsstudium so durch, aber nun hat er einen ganz groen Fisch an derAngel: Er schreibt die Biographie des Malers Kaminski, der, entdeckt und gefrderteinst von Matisse und Picasso, durch eine Pop-Art-Ausstellung, seine dunkle Brilleund die Bildunterschrift Painted by a blind man weltberhmt wurde. Inzwischenlebt Kaminski zurckgezogen in den Alpen und ist ein wenig in Vergessenheitgeraten. Soll die Biographie noch rechtzeitig zum Ableben fertig werden, und dieserTermin lt natrlich grere Aufmerksamkeit erwarten, dann ist Eile geboten.Zllner, der zunchst mit alten Freunden und Feinden, mit Sammlern und Galeristen

    gesprochen hat, macht sich zum Objekt seiner Begierde auf den Weg, um exklusiveO-Tne zu bekommen. Womit er nicht gerechnet hat: Kaminski ist abgeschirmtdurch ein ganzes Heer von Vertrauten, und als es dem Biographen endlich trickreichgelingt, die Bewacher loszuwerden und den Maler auf eine tagelange Reise im Automitzunehmen, erkennt er, da er dem Alten, blind oder auch nicht, in keiner Weisegewachsen ist. Daniel Kehlmann hat einen hochironischen Roman geschrieben, indem die Ereignisse immer neue und berraschende Wendungen nehmen, ein brillantwitziges Verwirrspiel um Lebenslgen und Wahrheit, um Manipulation, um Moralund Kunst.

    Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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    Daniel Kehlmann

    Ich und Kaminski

    Roman

    Suhrkamp Verlag

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    Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2003Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der bersetzung,

    des ffentlichen Vortrags sowie der bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

    (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

    oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfltigt oder verbreitet werden.

    Satz: TypoForum GmbH, SeelbachDruck: Freiburger Graphische Betriebe, Freiburg

    Printed in Germany

    Erste Auflage 2003ISBN 3-518-41395-3

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    fr Helena

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    Ich bin in der Tat ein einzigartiges Wesen.

    Werde ich nicht berall gut aufgenommen?

    Schenken mir nicht die bedeutendsten Kpfe

    ganz besondere Beachtung?Ich habe eine edleSeele, die immer wieder zum Vorschein

    kommt, ein gewisses Ma an Kenntnissen, alle

    mglichen Einflle, einen originellen Humor

    und eine ebensolche Ausdrucksweise; dazu, so

    glaube ich, eine bemerkenswerteMenschenkenntnis.

    James Boswell: Journal, 29. Dezember 1764

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    I

    Ich wachte auf, als der Schaffner an die Abteiltr klopfte. Essei kurz nach sechs, in einer halben Stunde seien wir am Ziel.Ob ich gehrt htte? Ja, murmelte ich, ja. Mhsam richtete ichmich auf. Ich hatte quer ber drei Sitzen gelegen, allein imAbteil, mein Rcken tat weh, mein Nacken fhlte sich steif an.In meine Trume hatten sich hartnckig Fahrtgerusche,Stimmen auf dem Gang und Ansagen auf irgendwelchen

    Bahnsteigen gemischt; immer wieder war ich ausunangenehmen Trumen aufgeschreckt; einmal hatte jemandhustend von drauen die Abteiltr aufgerissen, und ich hatteaufstehen mssen, um sie zu schlieen. Ich rieb mir die Augenund sah aus dem Fenster: Es regnete. Ich zog meine Schuhe an,holte meinen alten Rasierapparat aus dem Koffer und gingghnend hinaus.

    Aus dem Spiegel der Zugtoilette betrachtete mich ein blasses

    Gesicht, die Haare unordentlich, auf der Wange die Abdrckeder Sitzpolsterung. Ich schlo den Rasierer an, er funktioniertenicht. Ich ffnete die Tr, sah noch den Schaffner am anderenEnde des Waggons und rief, da ich Hilfe brauchte.

    Er kam und blickte mich mit einem dnnen Lcheln an. DerRasierer, sagte ich, funktioniere nicht, offenbar gebe es hierkeinen Strom. Natrlich gebe es Strom, antwortete er. Nein,

    sagte ich. Doch, sagte er. Nein! Er zuckte die Achseln, dannseien es vielleicht die Leitungen, er knne jedenfalls nichtsmachen. Aber das sei doch das mindeste, sagte ich, was manvon einem Schaffner erwarte! Nicht Schaffner, sagte er,Zugbegleiter. Ich sagte, das sei mir egal. Er fragte, wie ich dasmeine. Egal, sagte ich, wie man diesen berflssigen Berufnenne. Er wrde sich, sagte er, von mir nicht beleidigen lassen,ich solle aufpassen, er knne mir auch in die Fresse hauen. Das

    mge er versuchen, sagte ich, ich wrde mich ohnehin

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    beschweren, er solle mir seinen Namen nennen. Er dchte nichtdaran, sagte er, und ich stnke und bekme eine Glatze. Dannwandte er sich ab und ging fluchend davon.

    Ich schlo die Toilettentr und sah besorgt in den Spiegel.Natrlich war da keine Glatze; rtselhaft, wie der Affe daraufgekommen war. Ich wusch mir das Gesicht, ging ins Abteilzurck und zog mein Jackett an. Drauen reihten sich immermehr Gleisstrnge, Masten und elektrische Leitungenaneinander, der Zug wurde langsamer, schon war auch derBahnsteig zu sehen: Werbetafeln, Telefonzellen, Leute mitGepckwagen. Der Zug bremste und hielt.

    Ich schob mich den Gang entlang in Richtung Tr. Ein Mannrempelte mich an, ich stie ihn zur Seite. Der Schaffner standauf dem Bahnsteig, ich reichte meinen Koffer hinunter. Ernahm ihn, sah mich an, lchelte und lie ihn auf den Asphaltplumpsen. Entschuldigung! sagte er grinsend. Ich stieg aus,nahm den Koffer und ging davon.

    Einen Mann in Uniform fragte ich nach meinem

    Verbindungszug. Er warf mir einen langen Blick zu, dann holteer ein zerknittertes Bchlein hervor, tippte bedchtig mit demZeigefinger an seine Zunge und begann zu blttern.

    Haben Sie keinen Computer?Er sah mich fragend an.Egal, sagte ich, machen Sie weiter.Er bltterte, seufzte, bltterte weiter. ICE sechs Uhr

    fnfunddreiig Gleis acht. Dann umsteigen...Ich ging schnell weiter, ich hatte keine Zeit fr sein

    Geschwtz. Das Gehen fiel mir schwer, ich war es nichtgewhnt, um diese Zeit schon wach zu sein. Auf Gleis achtstand mein Zug, ich stieg ein, betrat den Waggon, drckte einefette Dame zur Seite, arbeitete mich auf den letzten freienFensterplatz zu und lie mich in den Sitz fallen. Nach ein paarMinuten fuhren wir los.

    Mir gegenber sa ein knochiger Herr mit Krawatte. Ich

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    nickte ihm zu, er grte zurck und blickte woanders hin. Ichffnete den Koffer, holte meinen Notizblock hervor und legteihn auf das schmale Tischchen zwischen uns. Fast htte ich

    sein Buch hinuntergestoen, aber er konnte es gerade nochfesthalten. Ich mute mich beeilen, der Artikel htte schon seitdrei Tagen fertig sein sollen.

    Hans Bahring, schrieb ich, hat also seinen vielen... Nein!...zahlreichen Versuchen, uns durch Einblicke, nein, schlechtrecherchierte Einblicke ins Leben bedeutender, nein,prominenter, schon gar nicht. Ich berlegte. ... historischerPersnlichkeiten zu Tode zu langweilen, jawohl, nun einenweiteren hinzugefgt. Seine eben erschienene Biographie desKnstlers, nein, Malers Georges Braque als miraten zubezeichnen wre wahrscheinlich noch zu viel Ehre fr einBuch, das... Ich schob den Bleistift zwischen meine Lippen.Jetzt mute etwas Treffendes kommen. Ich stellte mir BahringsGesicht beim Lesen des Artikels vor, trotzdem fiel mir nichtsein. Es machte weniger Spa, als ich erwartet hatte.

    Wahrscheinlich war ich einfach mde. Ich rieb mir das Kinn,die Stoppeln fhlten sich unangenehm an, ich mute michunbedingt rasieren. Ich legte den Bleistift weg und lehnte denKopf an die Scheibe. Es begann zu regnen. Tropfen schlugenauf das Glas und zogen gegen die Fahrtrichtung davon. Ichblinzelte, der Regen wurde strker, die Tropfen schienen imZerplatzen Gesichter, Augen, Mnder zu bilden, ich schlo dieAugen, und whrend ich auf das Prasseln horchte, nickte ichein: Fr einige Sekunden wute ich nicht, wo ich mich befand;mir war, als schwebte ich durch einen weiten, leeren Raum. Ichschlug die Augen auf: ber die Scheibe zog sich einWasserfilm, die Bume neigten sich unter der Wucht desRegens. Ich schlo den Block und steckte ihn ein. Mir fiel auf,in welchem Buch der Mann vor mir las: Picassos letzte Jahrevon Hans Bahring. Das gefiel mir nicht. Es kam mir vor, als

    sollte ich irgendwie verspottet werden.

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    Schlimmes Wetter! sagte ich.Er sah fr einen Moment auf.Nicht sehr gut, oder? Ich zeigte auf Bahrings Machwerk.

    Ich finde es interessant! sagte er.Weil Sie kein Experte sind.Daran wird es liegen, sagte er und bltterte um.Ich lehnte meinen Kopf an die Nackensttze, von der Nacht

    im Zug tat immer noch mein Rcken weh. Ich holte meineZigaretten hervor. Der Regen lie allmhlich nach, schontauchten die ersten Berge aus dem Dunst. Mit den Lippen zogich eine Zigarette aus der Schachtel. Als ich das Feuerzeugaufschnappen lie, fiel mir Kaminskis Stilleben von Feuer undSpiegel ein: ein zuckendes Gemisch heller Farbtne, aus dem,als wollte sie die Leinwand verlassen, eine spitze Flammesprang. Aus welchem Jahr? Ich wute es nicht. Ich mute michbesser vorbereiten.

    Das ist ein Nichtraucherwaggon.Was?

    Der Mann zeigte, ohne aufzusehen, auf das Zeichen an derScheibe.Nur ein paar Zge!Das ist ein Nichtraucherwaggon, wiederholte er.Ich lie die Zigarette fallen und trat sie aus, vor Wut bi ich

    die Zhne zusammen. Na schn, er wollte es so, ich wrdenicht mehr mit ihm reden. Ich holte Komenews Anmerkungenzu Kaminski hervor, ein schlecht gedrucktes Taschenbuch miteinem unangenehmen Gestrpp von Funoten. Es regnete nichtmehr, durch Risse in den Wolken zeigte sich blauer Himmel.Ich war immer noch sehr mde. Aber ich durfte nicht mehrschlafen, gleich mute ich aussteigen.

    Kurz darauf schlenderte ich frierend durch eineBahnhofshalle, eine Zigarette zwischen den Lippen, in derHand einen dampfenden Becher Kaffee. Auf der Toilette

    schlo ich meinen Rasierapparat an, er funktionierte nicht.

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    Also auch hier kein Strom. Vor einer Buchhandlung war einDrehstnder mit Taschenbchern: Bahrings Rembrandt,Bahrings Picasso und in der Auslage, natrlich, ein

    Hardcoverstapel von Georges Braqueoder Die Entdeckung desKubus. In einer Drogerie kaufte ich zwei Wegwerfrasierer undeine Tube Schaum. Der Regionalzug war fast leer, ich drcktemich in die weiche Sitzpolsterung und schlo sofort die Augen.

    Als ich aufwachte, sa mir eine junge Frau mit roten Haaren,vollen Lippen und langen, schmalen Hnden gegenber. Ichsah sie an, sie tat so, als bemerkte sie es nicht. Ich wartete. Alsihr Blick meinen streifte, lchelte ich. Sie sah aus dem Fenster.Aber dann strich sie hastig ihre Haare zurck, ganz konnte sieihre Nervositt nicht verbergen. Ich sah sie an und lchelte.Nach ein paar Minuten stand sie auf, nahm ihre Tasche undverlie den Waggon.

    Dumme Person, dachte ich. Womglich wartete sie jetzt imSpeisewagen, aber mir war es egal, ich hatte keine Lustaufzustehen. Es war schwl geworden: Der Dunstschleier lie

    die Berge abwechselnd nahe und fern erscheinen, an denFelswnden hingen zerfaserte Wolken, Drfer flogen vorbei,Kirchen, Friedhfe, Fabriken, ein Motorrad kroch einenFeldweg entlang. Dann wieder Wiesen, Wlder, Wiesen,Mnner in Overalls schmierten dampfenden Teer auf eineStrae. Der Zug hielt, ich stieg aus.

    Ein einziger Bahnsteig, ein rundes Vordach, ein kleines Hausmit Fensterlden, ein schnurrbrtiger Bahnwrter. Ich fragtenach meinem Zug, er sagte etwas, aber ich verstand seinenDialekt nicht. Ich fragte noch einmal, er versuchte es wieder,wir sahen uns hilflos an. Dann fhrte er mich zu der Wandtafelmit den Abfahrtszeiten. Natrlich hatte ich gerade den Zugversumt, und der nchste fuhr erst in einer Stunde.

    Im Bahnhofsrestaurant war ich der einzige Gast. Dorthinauf? Das sei aber noch ein gutes Stck, sagte die Wirtin. Ob

    ich da Ferien machen wolle?

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    Im Gegenteil, sagte ich. Ich sei auf dem Weg zu ManuelKaminski.

    Es sei nicht die beste Jahreszeit, sagte sie, aber ein paar

    schne Tage wrde ich wohl haben. Das knne sieversprechen.

    Zu Manuel Kaminski, wiederholte ich. Manuel Kaminski!Kenne sie nicht, sagte sie, sei nicht aus der Gegend.Ich sagte, er lebe seit fnfundzwanzig Jahren hier.Also sei er nicht von hier, sagte sie, sie habe es ja gewut.

    Die Kchentr flog auf, ein dicker Mann stellte einefettglnzende Suppe vor mich hin. Ich betrachtete sie unsicher,a ein wenig und sagte der Wirtin, wie schn ich es hier fnde.Sie lchelte stolz. Auf dem Land, in der Natur, eben auch hier,in diesem Bahnhof. Weitab von allem, unter einfachenMenschen.

    Sie fragte, wie ich das meine.Nicht unter Intellektuellen, erklrte ich, verknstelten

    Angebern mit Universittsabschlu. Unter Leuten, die noch

    ihren Tieren nahe wren, ihren Feldern, den Bergen. Die frhschlafen gingen, frh aufstnden. Die lebten, und nichtdachten!

    Sie sah mich stirnrunzelnd an und ging hinaus; ich legte dasGeld abgezhlt auf den Tisch. Auf der wunderbar sauberenToilette rasierte ich mich: Ich war noch nie geschickt daringewesen, der Schaum mischte sich mit Blut, und als ich ihnabgewaschen hatte, zogen sich dunkle Streifen ber meinpltzlich rot und nackt aussehendes Gesicht. Eine Glatze?Unbegreiflich, wie er darauf gekommen war! Ich schttelte denKopf, mein Spiegelbild tat das gleiche.

    Der Zug war winzig. Nur zwei Waggons hinter einer kleinenLokomotive, hlzerne Sitze, keine Kofferablage. Zwei Mnnerin groben Kitteln, eine alte Frau. Sie sah mich an und sagteetwas Unverstndliches, die Mnner lachten, wir fuhren los.

    Es ging steil bergauf. Die Schwerkraft drckte mich gegen

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    das Holz, als sich der Zug in die Kurve lehnte, fiel mein Kofferum, einer der Mnner lachte, ich warf ihm einen wtendenBlick zu. Noch eine Kurve. Und noch eine. Mir wurde

    schwindlig. Neben uns ffnete sich die Schlucht: ein steilabfallender Grashang mit bizarren Disteln und in den Bodengekrallten Nadelbumen. Wir fuhren durch einen Tunnel, dieSchlucht sprang auf unsere rechte und, noch ein Tunnel, zurckauf die linke Seite. Es roch nach Kuhmist. Ein dumpfesDruckgefhl legte sich auf meine Ohren, ich schluckte, und esverschwand, aber nach ein paar Minuten kam es wieder undblieb. Nun gab es schon keine Bume mehr, nur umzunteAlmen und die Umrisse der Berge jenseits des Abhangs. Nocheine Kurve, der Zug bremste, mein Koffer fiel zum letzten Malum.

    Ich stieg aus und zndete eine Zigarette an. DasSchwindelgefhl lie nach. Hinter dem Bahnhof war dieDorfstrae, dahinter ein zweistckiges Haus mit verwitterterHolztr und offenen Fensterlden: Pension Schnblick,

    Frhstck, gute Kche. Ein Hirschkopf sah mich trb auseinem Fenster an. Nichts zu machen, hier hatte ich reserviert,alles andere war zu teuer.

    An der Rezeption stand eine groe Frau mit aufgesteckterFrisur. Sie sprach langsam und gab sich Mhe, trotzdem muteich mich konzentrieren, um sie zu verstehen. Ein zotteligerHund beschnffelte den Boden. Bringen Sie den Koffer aufmein Zimmer, sagte ich, dann brauche ich noch einzustzliches Kissen, eine Decke und Papier! Viel Papier. Wiekomme ich zu Kaminski?

    Sie legte zwei Wulsthnde auf den Rezeptionstisch und sahmich an. Der Hund fand irgend etwas und fra es geruschvollauf.

    Er wartet auf mich, sagte ich. Ich bin kein Tourist. Ichbin sein Biograph.

    Sie schien nachzudenken. Der Hund drckte die Nase gegen

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    meinen Schuh. Ich widerstand dem Wunsch, ihn zu treten.Hinter dem Haus, sagte sie, den Weg hinauf. Eine halbe

    Stunde, das Haus mit dem Turm. Hugo!

    Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, da dasdem Hund gegolten hatte. Es fragen wohl oft Leute nachihm?

    Wer?Ich wei nicht. Urlauber. Bewunderer. Irgend jemand.Sie zuckte die Achseln.Wissen Sie berhaupt, wer dieser Mann ist?Sie schwieg. Hugo grunzte und lie etwas aus dem Maul

    fallen; ich bemhte mich, nicht hinzusehen. Ein Traktortuckerte am Fenster vorbei. Ich bedankte mich und ging hinaus.

    Der Weg begann hinter dem Halbrund des Hauptplatzes, hobsich in zwei Windungen ber die Dcher und fhrte durch einbrunliches Schotterfeld. Ich holte tief Luft und ging los.

    Es war schlimmer, als ich erwartet hatte. Schon nachwenigen Schritten klebte mir das Hemd am Krper. Aus den

    Wiesen stieg warmer Dampf, die Sonne brannte, Schwei liefmir ber die Stirn. Als ich keuchend stehenblieb, hatte ichgerade zwei Serpentinen geschafft.

    Ich zog das Jackett aus und legte es mir um die Schultern. Esfiel zu Boden; ich versuchte, mir die rmel um die Hften zubinden, Schwei geriet mir in die Augen, ich wischte ihn weg.Ich schaffte wieder zwei Serpentinen, dann mute ich rasten.

    Ich setzte mich auf den Boden. Eine Mcke sirrte, ein hoherTon, der abrupt aufhrte, um meinen Kopf; Sekunden spterbegann meine Wange zu jucken. Die Nsse des Grases drangdurch meine Hose. Ich stand auf.

    Es kam wohl vor allem darauf an, den richtigen Rhythmuszwischen Schritten und Atemzgen zu finden. Aber es gelangnicht, immer wieder mute ich Pausen machen, bald war icham ganzen Krper na, mein Atem ging kurz und rasselnd, die

    Haare klebten mir im Gesicht. Etwas brummte, ich sprang

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    erschrocken zur Seite, ein Traktor berholte mich. Der Mannim Fahrersitz sah mich gleichgltig an, sein Kopf wippte mitden Sten des Motors.

    Kann ich mitfahren? brllte ich. Er beachtete mich nicht.Ich versuchte Schritt zu halten, fast htte ich es geschafft,aufzuspringen. Doch dann fiel ich zurck und konnte ihn nichtmehr einholen, ich sah zu, wie er davonkletterte, schrumpfteund um die letzte Biegung verschwand. Noch eine ganze Weilehing sein Dieselgeruch in der Luft.

    Eine halbe Stunde spter stand ich oben, atmete schwer undhielt mich benommen an einem Holzpfahl fest. Als ich michumdrehte, schien der Hang in die Tiefe und der Himmel in dieHhe zu schnellen, alles kippte vornber, ich klammerte michan den Pfahl und wartete, bis der Schwindelanfall vorberging.Um mich war schtteres Gras, durchmischt mit Schotter, vormir fiel der Weg sachte ab. Ich folgte ihm langsam, nach zehnMinuten endete er in einem kleinen, nach Sden offenenFelskessel mit drei Husern, einem Parkplatz und einer ins Tal

    fhrenden Asphaltstrae.Tatschlich: Eine breite, geteerte Strae! Ich hatte einengewaltigen Umweg genommen; auerdem htte ich mit demTaxi herauffahren knnen. Ich dachte an meine Wirtin: Daswrde ihr noch leid tun! Auf dem Platz parkten, ich zhltenach, neun Autos. Auf dem ersten Trschild stand Clure, aufdem zweiten Dr. Gnzel, auf dem dritten Kaminski. Ichbetrachtete es eine Weile. Ich mute mich an den Gedankengewhnen, da er wirklich hier wohnte.

    Das Haus war gro und unschn: zwei Stockwerke und einspitzer Zierturm in klobig nachgeahmtem Jugendstil. Vor demGartentor parkte ein grauer BMW; ich betrachtete ihn neidisch,so einen Wagen htte ich gerne einmal gefahren. Ich strichmeine Haare zurck, zog das Jackett an und betastete denMckenstich auf meiner Wange. Die Sonne stand schon

    niedrig, mein Schatten fiel schmal und lnglich vor mir auf den

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    Rasen. Ich lutete.

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    II

    Schritte nherten sich, ein Schlssel wurde herumgedreht, dieTr sprang auf, und eine Frau in einer dreckigen Schrze sahmich prfend an. Ich sagte meinen Namen, sie nickte undschlo die Tr.

    Gerade als ich noch einmal luten wollte, ging die Trwieder auf: eine andere Frau, Mitte vierzig, gro gewachsenund mager, schwarze Haare und fast asiatisch schmale Augen.

    Ich sagte meinen Namen, mit einer knappen Handbewegungbedeutete sie mir, hereinzukommen. Wir haben Sie erstbermorgen erwartet!

    Ich habe es frher geschafft. Ich folgte ihr durch einenmbellosen Flur, an dessen Ende eine Tr offenstand; von dorthrte ich durcheinanderredende Stimmen. Ich hoffe, dasmacht keine Umstnde. Ich gab ihr Zeit, damit sie beteuernkonnte, es mache keine, aber sie tat es nicht. Das mit der

    Strae htten Sie mir aber sagen knnen! Ich bin einenFeldweg heraufgekommen, ich htte abstrzen knnen. Siesind die Tochter?

    Miriam Kaminski, sagte sie khl und ffnete eine andereTr. Warten Sie bitte!

    Ich ging hinein. Ein Sofa und zwei Sthle, auf demFensterbrett ein Radio. An der Wand hing das lbild einer

    dmmrigen Hgellandschaft; vermutlich Kaminskis mittlerePeriode, frhe fnfziger Jahre. ber der Heizung war die Wandruig verfrbt, an ein paar Stellen hingen Staubfden von derDecke, bewegt von einem nicht sprbaren Luftzug. Ich wolltemich setzen, aber in diesem Moment kamen Miriam und, icherkannte ihn sofort, ihr Vater herein.

    Ich hatte nicht damit gerechnet, da er so klein war, sowinzig und unfrmig im Vergleich zu der schlanken Gestalt

    auf alten Abbildungen. Er trug einen Pullover und eine

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    undurchsichtige schwarze Brille, die eine Hand lag aufMiriams Arm, die andere sttzte sich auf einen weienSpazierstock. Seine Haut war braun und auf ledrige Art faltig,

    die Wangen hingen schlaff herab, seine Hnde wirktenbergro, die Haare standen wirr um seinen Kopf. Er trugabgewetzte Cordhosen und Turnschuhe, der rechte war nichtzugebunden, und die Schnrsenkel schleiften hinter ihm her.Miriam fhrte ihn zu einem Stuhl, er tastete nach der Armlehneund setzte sich. Sie blieb stehen und sah mich aufmerksam an.

    Sie heien Zllner, sagte er.Ich zgerte, es hatte nicht wie eine Frage geklungen, auch

    mute ich einen Moment grundloser Schchternheitberwinden. Ich streckte die Hand aus, begegnete MiriamsBlick und zog sie wieder zurck; natrlich, ein dummer Fehler!Ich rusperte mich. Sebastian Zllner.

    Und wir warten auf Sie.War das nun eine Frage gewesen? Wenn es Ihnen recht

    ist, sagte ich, knnen wir sofort beginnen. Ich habe alle

    Vorarbeiten gemacht. Tatschlich, ich war fast zwei Wochenlang unterwegs gewesen. Ich hatte noch nie soviel Zeit einereinzigen Sache gewidmet. Sie werden berrascht sein, wieviele alte Bekannte ich gefunden habe.

    Vorarbeit...! wiederholte er. Bekannte.Leichte Unruhe stieg in mir auf. Verstand er, was ich sagte?

    Seine Kiefer bewegten sich, er legte den Kopf schief undschien, aber natrlich war das eine Tuschung, an mir vorbeiauf das Bild an der Wand zu sehen. Ich blickte Miriamhilfesuchend an.

    Mein Vater hat wenig alte Bekannte.So wenige nicht, sagte ich. Allein in Paris...Sie mssen entschuldigen, sagte Kaminski. Ich komme

    gerade aus dem Bett. Ich habe zwei Stunden lang versuchteinzuschlafen, dann habe ich eine Schlaftablette genommen

    und bin aufgestanden. Ich brauche Kaffee.

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    Du darfst keinen Kaffee trinken, sagte Miriam.Eine Schlaftablette vor dem Aufstehen? fragte ich.Ich warte immer bis zum Schlu, fr den Fall, da ich es

    allein schaffe. Sie sind mein Biograph?Ich bin Journalist, sagte ich, schreibe fr mehrere groe

    Zeitungen. Zur Zeit arbeite ich an Ihrer Lebensgeschichte. Ichhabe noch ein paar Fragen, von mir aus knnen wir morgenanfangen.

    Artikel? Er hob eine seiner riesigen Hnde und strich sichber das Gesicht. Seine Kiefer bewegten sich. Morgen?

    Vor allem werden Sie mit mir arbeiten, sagte Miriam. Erbraucht Ruhe.

    Ich brauche keine Ruhe, sagte er.Ihre andere Hand legte sich auf seine andere Schulter, sie

    lchelte mich ber seinen Kopf hinweg an. Die rzte sehendas anders.

    Ich bin fr jede Hilfe dankbar, sagte ich vorsichtig.Aber natrlich ist Ihr Vater der wichtigste

    Gesprchspartner. Die Quelle schlechthin.Ich bin die Quelle schlechthin, sagte er.Ich rieb mir die Schlfen. Das lief nicht gut. Ruhe? Ich

    brauchte auch Ruhe, jeder brauchte Ruhe. Lcherlich! Ich binein groer Anhnger Ihres Vaters, seine Bilder haben die Artverndert... wie ich die Dinge sehe.

    Aber das stimmt doch nicht, sagte Kaminski.Ich begann zu schwitzen. Natrlich stimmte das nicht, aber

    ich hatte noch nie einen Knstler getroffen, der diesen Satznicht glaubte. Ich schwre Ihnen! Ich legte eine Hand aufmein Herz, erinnerte mich, da diese Geste bei ihm keineWirkung haben konnte, und zog sie schnell wieder weg.Einen greren Bewunderer als Sebastian Zllner haben Sienicht.

    Wen?

    Mich.

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    Ach ja. Er hob den Kopf und senkte ihn wieder, fr eineSekunde war mir, als htte er mich angesehen.

    Wir sind froh, da Sie diese Arbeit bernehmen, sagte

    Miriam, es gab mehrere Anfragen, aber...So viele gab es nicht, sagte Kaminski.... Ihr Verleger hat Sie sehr empfohlen. Er hlt viel von

    Ihnen.Das war schwer zu glauben. Ich war Knut Megelbach nur

    einmal in seinem Bro begegnet. Er war hnderingend auf undab gegangen, hatte mit der einen Hand Bcher aus dem Regalgenommen und wieder zurckgestellt, mit der anderen dasKleingeld in seiner Hosentasche klimpern lassen. Ich hatte vonder bevorstehenden Kaminski-Renaissance gesprochen: NeueDissertationen wrden geschrieben, das Centre Pompidoubereite eine Sonderausstellung vor, und da sei auch derdokumentarische Wert seiner Erinnerungen, man drfe nichtvergessen, was er noch gesehen, wen er gekannt habe; Matissesei sein Lehrer, Picasso sein Freund, Richard Rieming, der

    groe Dichter, sein Ziehvater gewesen. Ich sei gut mitKaminski bekannt, eigentlich sogar befreundet, es bestehe keinZweifel, da er freimtig mit mir sprechen wrde. Blo eineKleinigkeit fehle noch, dann wrde alles Interesse sich ihmzuwenden, die Illustrierten wrden ber ihn schreiben, derPreis seiner Bilder wrde steigen und die Biographie einsicherer Erfolg. Und was ist das? hatte Megelbach gefragt.Was fehlt? - Er mu natrlich sterben. - Eine Weile warMegelbach auf und ab gegangen und hatte nachgedacht. Dannwar er stehengeblieben, hatte mich lchelnd angesehen undgenickt.

    Das freut mich, sagte ich. Knut ist ein alter Freund.Wie heien Sie noch? fragte Kaminski.Wir mssen ein paar Dinge festlegen, sagte Miriam. Wir

    mchten...

    Das Gerusch meines Mobiltelefons unterbrach sie. Ich zog

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    es aus der Hosentasche, sah die Nummer des Anrufers undschaltete ab.

    Was war das? fragte Kaminski.

    Wir mchten Sie bitten, uns alles vorzulegen, was Sieverffentlichen wollen. Als Gegenleistung fr unsere Mitarbeit.Einverstanden?

    Ich sah ihr in die Augen. Ich erwartete, da sie meinemBlick ausweichen wrde, aber seltsamerweise hielt sie stand.Nach ein paar Sekunden sah ich auf den Boden, auf meineschmutzigen Schuhe hinunter. Natrlich.

    Und was die alten Bekannten angeht, die werden Sie nichtbrauchen. Sie haben uns.

    Leuchtet ein, sagte ich.Morgen bin ich verreist, sagte sie, aber bermorgen

    knnen wir beginnen. Sie stellen mir Ihre Fragen, wenn esntig ist, hole ich seine Auskunft ein.

    Ich schwieg ein paar Sekunden. Ich hrte Kaminskispfeifenden Atem, seine Lippen bewegten sich schmatzend.

    Miriam sah mich an.Einverstanden, sagte ich.Kaminski beugte sich vor und bekam einen Hustenanfall,

    seine Schultern schttelten sich, er prete die Hand auf denMund, sein Gesicht lief rot an. Ich mute michzusammennehmen, um ihm nicht auf die Schulter zu klopfen.Als es vorbei war, sa er starr, wie ausgeleert da.

    Dann wre alles geklrt, sagte Miriam. Wohnen Sie imDorf?

    Ja, sagte ich unbestimmt. Im Dorf. Wollte sie michbitten, hier im Haus zu bernachten? Eine schne Geste.

    Gut, wir mssen jetzt zu den Gsten zurck. Wir sehen unsbermorgen.

    Sie haben Gste?Leute aus der Nachbarschaft und unseren Galeristen.

    Kennen Sie ihn?

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    Ich habe letzte Woche mit ihm gesprochen.Werden wir ausrichten, sagte sie. Ich hatte das Gefhl, da

    sie schon an etwas anderes dachte. Sie drckte mir

    berraschend fest die Hand und half ihrem Vater beimAufstehen. Die beiden gingen langsam zur Tr.

    Zllner. Kaminski blieb stehen. Wie alt sind Sie?Einunddreiig.Warum machen Sie das ?Was?Journalist. Mehrere groe Zeitungen. Was wollen Sie?Ich finde es interessant! Man lernt viel und kann sich mit

    Dingen beschftigen, die...Er schttelte den Kopf.Ich wrde nichts anderes wollen!Er stie ungeduldig seinen Stock auf den Boden.Ich wei nicht, ich... bin irgendwie hineingeraten. Frher

    war ich bei einer Werbeagentur.So?

    Das hatte seltsam geklungen; ich sah ihn an und versuchte zuverstehen, was er gemeint hatte. Aber sein Kopf sank auf dieBrust, und seine Miene wurde leer. Miriam fhrte ihn hinaus,und ich hrte, wie ihre Schritte sich entfernten.

    Ich setzte mich in den Stuhl, in dem gerade noch der Altegesessen hatte. Sonnenstrahlen fielen schrg ins Fenster, inihnen tanzten silberne Staubkrnchen. Es mute schn sein,hier zu wohnen. Ich stellte es mir vor: Miriam war ungefhrfnfzehn Jahre lter als ich, aber damit konnte ich leben, siesah noch gut aus. Er wrde nicht mehr lange dasein, unsblieben das Haus, sein Geld, sicher auch einige Bilder. Ichwrde hier wohnen, den Nachla verwalten, vielleicht einMuseum einrichten. Ich htte endlich Zeit, etwas Groes zuschreiben, ein dickes Buch. Nicht zu dick, doch dick genug frdie Romanregale in den Buchhandlungen. Womglich ein

    Gemlde meines Schwiegervaters auf dem Cover. Oder doch

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    lieber etwas Klassisches. Vermeer? Titel in dunkler Schrift.Fadenheftung, dickes Papier. Mit meinen Beziehungen wrdeich mir ein paar gute Kritiken verschaffen. Ich wiegte den

    Kopf, stand auf und ging hinaus.Die Tr am Ende des Flures war nun geschlossen, doch die

    Stimmen waren noch zu hren. Ich knpfte mein Jackett zu.Jetzt kam es auf Entschlossenheit an, auf weltmnnischesVerhalten. Ich rusperte mich und ging schnellen Schritteshinein.

    Ein groes Zimmer mit gedecktem Tisch und zweiKaminskis an den Wnden: ein gnzlich abstrakter und eineneblige Stdteansicht. Um den Tisch und am Fenster standenLeute mit Glsern in den Hnden. Als ich eintrat, wurde esstill.

    Hallo! sagte ich. Ich bin Sebastian Zllner.Das brach sofort das Eis; ich sprte, wie die Stimmung sich

    lste. Ich streckte einem nach dem anderen die Hand entgegen.Da waren zwei ltere Herren, offenbar einer der Honoratioren

    des Dorfes und ein Bankier aus der Hauptstadt. Kaminskimurmelte vor sich hin; Miriam sah mich entgeistert an undschien etwas sagen zu wollen, aber dann schwieg sie. Einwrdevolles englisches Ehepaar stellte sich mir als Mr. undMrs. Clure, die Nachbarn, vor. Are you the writer? fragteich. -I guess so, antwortete er. Und natrlich Bogovic, derGalerist, mit dem ich erst vor zehn Tagen gesprochen hatte. Ergab mir die Hand und betrachtete mich nachdenklich.

    I understand that your new book will appear soon, sagteich zu Clure. What's the title?

    Er warf seiner Frau einen Blick zu. The Forger's Fear.A brilliant one! sagte ich und gab ihm einen Klaps auf den

    Oberarm. Send it to me, I'll review it! Ich lchelte Bogoviczu, der aus irgendeinem Grund so tat, als erinnerte er sich nichtan mich; dann wandte ich mich zum Tisch, wo die

    Haushlterin mit hochgezogenen Brauen noch ein Gedeck

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    auflegte. Bekomme ich auch ein Glas? Miriam sagte leiseetwas zu Bogovic, er runzelte die Stirn, sie schttelte den Kopf.

    Wir setzten uns zu Tisch. Es gab eine vllig geschmacklose

    Suppe aus pfeln und Gurken. Anna ist Expertin fr meineDit! sagte Kaminski. Ich begann von meiner Reise zuerzhlen, von der Frechheit des Schaffners heute morgen, derAhnungslosigkeit der Bahnangestellten, dem erstaunlichwechselhaften Wetter.

    Regen kommt und geht, sagte Bogovic. So macht erdas.

    As if in training, sagte Clure.Dann erzhlte ich von der Pensionsbesitzerin, die tatschlich

    nicht gewut hatte, wer Kaminski war. Man msse sich dasvorstellen! Ich schlug auf den Tisch, Glser klirrten, meinTemperament wirkte ansteckend. Bogovic rckte seinen Stuhlhin und her, der Bankier redete leise mit Miriam, ich sprachlauter, er verstummte. Anna brachte Erbsen und Maiskuchen,sehr trocken, kaum hinunterzuschlucken, offenbar das

    Hauptgericht.Dazu gab es miserablen Weiwein. Ich konnte mich nichterinnern, je so schlecht gegessen zu haben.

    Robert, sagte Kaminski, tell us about your novel!I wouldn't dare call it a novel, it's a modest thriller for

    unspoilt souls. A man happens to find out, by mere chance, thata woman who left him a long time ago...

    Ich begann, von meinem beschwerlichen Aufstieg zuerzhlen. Ich imitierte den Traktorfahrer und seinenGesichtsausdruck, zeigte, wie der Motor ihn durchgeschttelthatte. Mein Spiel erregte Heiterkeit. Ich beschrieb meineAnkunft, mein Entsetzen ber die Entdeckung der Strae,meine Untersuchung der Briefksten. Stellen Sie sich vor!Gnzel! Was fr ein Name!

    Wieso ? fragte der Bankier.

    Na hren Sie, so kann man doch nicht heien! Ich

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    beschrieb, wie Anna mir die Tr geffnet hatte. In diesemMoment kam sie mit der Nachspeise herein; natrlich erschrakich, aber ich wute instinktiv, da es ein groer Fehler gewesen

    wre, einfach zu verstummen. Ich machte ihr Glotzen nach,zeigte, wie sie die Tr vor mir zugeschlagen hatte. Ich wutegenau, da der Imitierte sich selbst stets als letzterwiedererkennt. Und wirklich: Sie stellte das Tablett so fest ab,da es klirrte, und ging hinaus. Bogovic starrte aus demFenster, der Bankier hatte die Augen geschlossen, Clure riebsich das Gesicht. In der Stille hrte man sehr laut KaminskisSchmatzen.

    Beim Dessert, einer zu sen Schokoladencreme, erzhlteich von einer Reportage, die ich ber den so spektakulrverstorbenen Knstler Wernicke geschrieben hatte. Siekennen doch Wernicke? Seltsamerweise kannte ihn niemand.Ich beschrieb den Moment, als die Witwe einen Teller nachmir geworfen hatte, einfach so, in ihrem Wohnzimmer, siehatte mich an der Schulter getroffen, und es hatte ziemlich weh

    getan. Ehefrauen, erklrte ich, seien berhaupt der Alptraumjedes Biographen, und einer der Grnde, warum diese neueArbeit fr mich so erfreulich sei, sei eben die Abwesenheit ...Aber man wrde mich schon verstehen!

    Kaminski machte eine Handbewegung, wie auf Befehlstanden alle auf. Wir traten auf die Terrasse. Die Sonne sank inden Horizont, die Berghnge traten dunkelrot hervor.Amazing! sagte Mrs. Clure, ihr Mann strich ihr sanft berdie Schulter. Ich trank mein Weinglas aus und sah mich nachjemandem um, der nachschenken wrde. Ich fhlte michangenehm mde. Ich htte jetzt heimgehen und noch einmaldie Tonbnder mit den Gesprchen der letzten zwei Wochenanhren mssen. Aber ich hatte keine Lust. Vielleicht wrdensie mich ja doch einladen, hier oben zu bernachten. Ich stelltemich neben Miriam und sog die Luft ein. Chanel?

    Wie bitte?

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    Ihr Parfm.Wie? Nein. Sie schttelte den Kopf und trat von mir weg.

    Nein!

    Sie sollten gehen, solange Sie noch Licht haben, sagteBogovic.

    Ich komme schon zurecht.Sie finden sonst nicht zurck!Wissen Sie das aus Erfahrung?Bogovic grinste. Ich bin nie zu Fu unterwegs.Die Strae ist nicht beleuchtet, sagte der Bankier.Jemand knnte mich mit dem Auto mitnehmen, schlug ich

    vor.Ein paar Sekunden war es still.Die Strae ist nicht beleuchtet, wiederholte der Bankier.Er hat recht, sagte Kaminski heiser. Sie sollten hinunter.It's much safer, sagte Clure.Ich hielt mein Glas fester und blickte von einem zum

    anderen. Zwischen ihren Silhouetten spielte das Abendrot. Ich

    rusperte mich, jetzt war der Moment, da jemand michauffordern mute, zu bleiben. Ich rusperte mich noch einmal.Also dann... mache ich mich auf den Weg.

    Folgen Sie der Strae, sagte Miriam. Nach einemKilometer kommt ein Wegweiser, dort biegen Sie links ab, inzwanzig Minuten sind Sie da.

    Ich warf ihr einen wtenden Blick zu, stellte das Glas aufden Boden, knpfte mein Jackett zu und ging los. Nach einpaar Schritten hrte ich sie alle hinter mir auflachen. Ichhorchte, aber ich konnte schon nichts mehr verstehen; derWind trug mir nur einzelne Wortfetzen zu. Mir war kalt. Ichging schneller. Ich war froh, wegzukommen. EkelhafteSpeichellecker, widerlich, wie sie sich anbiederten! Der alteMann tat mir leid.

    Es wurde wirklich sehr rasch dunkel. Ich mute die Augen

    zusammenkneifen, um den Lauf der Strae auszumachen; ich

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    sprte Gras unter mir, blieb stehen, tastete mich vorsichtigzurck auf den Asphalt. Im Tal waren schon deutlich dieLichtpunkte der Laternen zu sehen. Dort war der Wegweiser,

    schon nicht mehr lesbar, da der Pfad, auf dem ichhinuntermute.

    Ich rutschte aus und schlug der Lnge nach hin. Vor Wutpackte ich einen Stein und schleuderte ihn in die Schwrze desTals. Ich rieb mir das Knie und stellte mir vor, wie er fiel undandere Steine mitnahm, mehr davon und mehr, bis schlielichein Hangrutsch irgendwo einen arglosen Spaziergnger begrub.Der Gedanke gefiel mir, und ich warf noch einen Stein. Ich warunsicher, ob ich noch auf dem Weg war, unter mir lste sichSchotter, fast wre ich wieder gefallen. Mir war kalt. Ichbckte mich, befhlte den Boden, sprte die hartgetretene Erdedes Weges. Sollte ich mich einfach hinsetzen und auf denTagesanbruch warten? Ich wrde vielleicht erfrieren und michnoch vorher zu Tode langweilen, aber immerhin wrde ichnicht abstrzen.

    Nein, das kam nicht in Frage! Blind setzte ich einen Fu vorden anderen, schob mich in winzigen Schritten vorwrts, hieltmich an Bschen fest. Gerade als ich berlegte, um Hilfe zurufen, formten sich die Konturen einer Hausmauer und einesflachen, steingedeckten Daches. Und dann sah ich Fenster,Licht schimmerte durch zugezogene Vorhnge, ich war aufeiner erleuchteten Strae. Ich bog um die Ecke und stand aufdem Dorfplatz. Zwei Mnner in Lederjacken sahen michneugierig an, auf dem Balkon eines Hotels drckte eine Fraumit Lockenwicklern einen winselnden Pudel an sich.

    Ich stie die Tr der Pension Schnblick auf und sah michnach der Wirtin um, aber sie war nicht zu sehen, die Rezeptionleer. Ich nahm meinen Schlssel und ging die Treppe hinauf inmein Zimmer. Neben dem Bett stand mein Koffer, an denWnden hingen Aquarelle, die Khe darstellten, eine

    Edelweiblte, einen Bauern mit struppig weiem Bart. Von

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    dem Sturz war meine Hose schmutzig, und eine andere hatteich nicht mit, aber das wrde sich abklopfen lassen. Ichbrauchte sofort ein heies Bad.

    Whrend die Wanne vollief, packte ich das Diktaphon, dieSchachtel mit den Gesprchskassetten und den BildbandManuel Kaminski, das Gesamtwerk aus. Ich hrte dieNachrichten auf meinem Mobiltelefon ab: Elke bat mich, sofortanzurufen. Der Kulturredakteur der Abendnachrichten brauchteso bald wie mglich den Bahring-Verri. Dann noch einmalElke: Sebastian, ruf an, es ist wichtig! Und ein drittes Mal:Bastian, bitte! Ich nickte versonnen und schaltete das Telefonab.

    Im Badezimmerspiegel betrachtete ich mit einem vageunzufriedenen Gefhl meine Nacktheit. Ich legte den Bildbandneben die Wanne. Der Schaum, leise knisternd, roch slichund angenehm. Langsam glitt ich ins Wasser, fr ein paarSekunden nahm mir die Hitze den Atem; mir war, als triebe ichin ein weites, unbewegtes Meer. Dann tastete ich nach dem

    Buch.

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    III

    Zu Beginn die miratenen Zeichnungen des Zwlfjhrigen:Menschen mit Flgeln, Vgel mit Menschenkpfen, Schlangenund durch die Luft schwebende Schwerter, nicht das geringsteZeichen von Begabung. Dennoch hatte der groe RichardRieming, der zwei Jahre lang in Paris mit Manuels Mutterzusammengelebt hatte, einige davon in seinen GedichtbandWorte am Wegrand aufgenommen. Nach Kriegsausbruch

    mute Rieming emigrieren, nahm ein Schiff nach Amerika undstarb whrend der berfahrt an Lungenentzndung. ZweiKinderfotos zeigten den rundlichen Manuel im Matrosenanzug,einmal mit einer seine Augen grotesk vergrernden Brille, dasandere Mal blinzelnd, als wre er zu starkem Licht ausgesetzt.Kein schnes Kind. Ich bltterte um, von der Feuchtigkeitwurde das Papier wellig. Nun kamen die symbolistischenArbeiten. Er hatte Hunderte davon gemalt, kurz nach

    Schulabschlu und dem Tod seiner Mutter, allein in einerPariser Mietwohnung, beschtzt von seinem Schweizer Pa,zur Zeit der deutschen Okkupation. Fast alle verbrannte erspter, die wenigen, die berdauert hatten, waren schlimmgenug: Goldhintergrund, ungelenk gemalte Falken berBumen, aus denen dumpf blickende Menschenkpfe wuchsen,eine klobige Schmeifliege auf einer Blume, die aussah, als

    wre sie aus Beton. Wei Gott, was ihn dazu gebracht hatte, soetwas zu malen. Fr einen Moment sank mir das Buch in denSchaum; das glitzernde Wei schien am Papierhinaufzuklettern, ich wischte es weg. Mit einem altenEmpfehlungsbrief Riemings reiste er nach Nizza, um Matisseseine Bilder zu zeigen, aber der riet ihm, seinen Stil zu ndern,und er fuhr ratlos wieder heim. Ein Jahr nach Kriegsendebesichtigte er die Salzmine von Clairance, verlor den Fhrer

    und irrte stundenlang durch die verlassenen Gnge. Nachdem

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    man ihn gefunden und hinaufgebracht hatte, schlo er sich fnfTage lang ein. Niemand wute, was geschehen war. Aber vonda an malte er vollkommen anders.

    Sein Freund und Frderer Dominik Silva bezahlte ihm einAtelier. Dort arbeitete er, studierte Perspektive, Bildaufbau undFarbenlehre, vernichtete alle Versuche, begann von neuem,vernichtete und begann wieder. Zwei Jahre spter vermittelteMatisse ihm seine erste Ausstellung in der Galerie TheophrasteRenoncourt in Saint Denis. Dort zeigte er zum ersten Mal, ichbltterte weiter, eine neue Bilderserie: dieReflexionen.

    Heute hing sie komplett im Metropolitan Museum in NewYork. Die Bilder zeigten Spiegel, die einander inunterschiedlichen Winkeln gegenberstanden. GrausilberneGnge in die Unendlichkeit ffneten sich, leicht gekrmmt,erfllt von unheimlichem, kaltem Licht. Details der Rahmenoder Unreinheiten auf dem Glas vermehrten sich und reihtensich in identisch schrumpfenden Kopien auf, bis sie weitentfernt aus dem Blickfeld verschwanden. Auf einigen Bildern

    waren, wie aus Versehen, noch Details des Malers zu erkennen,eine Hand mit einem Pinsel, die Ecke einer Staffelei, scheinbarzufllig von einem der Spiegel festgehalten und vervielfacht.Einmal erzeugte eine Kerze einen Brand Dutzender parallelaufzngelnder Flammen, ein andermal dehnte sich eine mitPapieren berste Tischplatte, in deren Ecke einePostkartenreproduktion von Velazquez' Las Meninas lag,zwischen zwei einander rechtwinklig treffenden Spiegeln, indenen durch die Reflexion des einen in dem anderen ein dritterentstand, der die Dinge allerdings nicht verkehrt, sondernrichtig herum zeigte, zu einem merkwrdig symmetrischenChaos: ein ungeheuer komplizierter Effekt. Andr Bretonschrieb einen begeisterten Artikel, Picasso kaufte drei Bilder,es sah aus, als wrde Kaminski berhmt werden. Doch dasgeschah nicht. Niemand wute warum; es geschah einfach

    nicht. Nach drei Wochen ging die Ausstellung zu Ende,

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    Kaminski nahm die Bilder wieder mit nach Hause und war sounbekannt wie zuvor. Zwei Fotos zeigten ihn mit einerinsektenhaft groen Brille. Er heiratete Adrienne Malle, die

    Besitzerin eines gutgehenden Papiergeschftes, und lebtevierzehn Monate in gewissem Wohlstand. Dann verlie ihnAdrienne mit der neu geborenen Miriam, und die Ehe wurdegeschieden.

    Ich ffnete den Heiwasserhahn; zuviel, ich unterdrckteeinen Schmerzenslaut; etwas weniger, gut so. Ich sttzte dasBuch auf den Wannenrand. Es gab viel, ber das ich mit ihmsprechen mute. Wann hatte er von seiner Augenkrankheiterfahren? Warum hatte die Ehe nicht gehalten? Was war in derMine passiert? Ich hatte die Meinungen anderer auf Band, aberich brauchte Zitate von ihm selbst; Dinge, die er noch niegesagt hatte. Mein Buch durfte nicht vor seinem Tod und nichtzu lange danach herauskommen, fr kurze Zeit wrde er imMittelpunkt des Interesses stehen. Man wrde mich insFernsehen einladen, ich wrde ber ihn sprechen, und am

    unteren Bildrand wrde in weien Buchstaben mein Name undKaminskis Biograph eingeblendet sein. Das wrde mir einenPosten bei einem der groen Kunstmagazine einbringen.

    Das Buch war jetzt schon ziemlich na. Ich berschlug dierestlichen Reflexionen und bltterte zu den kleineren l-Tempera-Gemlden des nchsten Jahrzehnts. Er hatte wiederallein gelebt, Dominik Silva hatte ihm regelmig Geldgegeben, manchmal hatte er ein paar Bilder verkauft. SeinePalette wurde heller, seine Linienfhrung knapper. Er malte bisan die Grenze der Kenntlichkeit abstrahierte Landschaften,Stadtansichten, Szenen belebter Straen, die sich in klebrigemNebel auflsten. Ein Mann zog im Gehen seineverschwimmenden Konturen hinter sich her, Berge waren ineinen Brei von Wolken geschlungen, ein Turm schien vom zustarken Andrang des Hintergrundes durchsichtig zu werden;

    vergeblich bemhte man sich, ihn klar auszumachen, aber was

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    eben noch ein Fenster gewesen war, erwies sich nun alsLichtreflex, was wie kunstvoll geschmcktes Mauerwerkausgesehen hatte, als bizarr geformte Wolke, und je lnger man

    hinsah, desto weniger fand man noch von dem Turm. Es istganz einfach, sagte Kaminski in seinem ersten Interview,und verteufelt schwer. Ich werde nmlich blind. Das male ich.Und das ist alles.

    Ich lehnte den Kopf an die gekachelte Wand und sttzte dasBuch auf meine Brust. Chromatisches Licht am Abend,Magdalena beim versonnenen Gebet und vor allem Gedankeneines schlfrigen Spaziergngers nach dem berhmtestenGedicht Riemings: eine kaum erahnbare Menschengestalt, dieverloren durch bleigraue Dunkelheit irrte. Der Spaziergngerwurde, eigentlich blo Riemings wegen, in eine Ausstellungder Surrealisten aufgenommen, wo er zufllig Claes Oldenburgauffiel. Zwei Jahre spter wurde auf Oldenburgs Vermittlungeine von Kaminskis schwchsten Arbeiten, Die Befragung desheiligen Thomas, in einer Pop-Art-Ausstellung der Leo Castelli

    Galerie in New York gezeigt. Den Titel erweiterte man um denZusatz painted by a blind man und brachte daneben ein Fotovon Kaminski mit dunkler Brille an. Als man ihm davonerzhlte, rgerte er sich so sehr, da er sich ins Bett legenmute und zwei Wochen unter fiebriger Grippe litt. Als erwieder aufstehen konnte, war er berhmt.

    Ich streckte vorsichtig die Arme und schttelte erst dierechte, dann die linke Hand aus; das Buch war doch ziemlichschwer. Durch die offene Tr fiel mein Blick auf das Bild desalten Bauern. Er hielt eine Sense in den Hnden undbetrachtete sie stolz. Es gefiel mir. Im Grunde gefiel es mirbesser als die Bilder, ber die ich Tag fr Tag schrieb.

    Vor allem wegen des Gerchtes ber seine Blindheit warenKaminskis Gemlde pltzlich um die Welt gegangen. Und alsman seine Beteuerungen, da er noch immer sehen konnte,

    allmhlich glaubte, war nichts mehr rckgngig zu machen:

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    Das Guggenheim Museum veranstaltete eine Werkschau, diePreise stiegen in schwindelerregende Hhen, Fotos zeigten ihnmit seiner vierzehnjhrigen Tochter, damals wirklich ein

    hbsches Mdchen, auf Vernissagen in New York, Montrealund Paris. Doch seinen Augen ging es immer schlechter. Erkaufte ein Haus in den Alpen und verschwand aus derffentlichkeit.

    Sechs Jahre spter organisierte Bogovic in Paris Kaminskisletzte Ausstellung. Zwlf groformatige Gemlde, nun wiederin Tempera. Fast nur helle Farben, Gelb und Hellblau, einstechendes Grn, durchsichtige Beigetne; ineinanderverschlungene Strmungen, die, trat man zurck oder kniff dieAugen zusammen, pltzlich weite Landschaften bargen: Hgel,Bume, frisches Gras unter einem Sommerregen, eine blasseSonne, vor der die Wolken zu milchigem Dunstverschwammen. Ich bltterte langsamer. Sie gefielen mir. Einpaar betrachtete ich lange. Das Wasser wurde allmhlich kalt.

    Aber es war besser, sie nicht zu mgen, die Reaktionen

    waren vernichtend gewesen. Man hatte sie als Kitsch, als einepeinliche Entgleisung, als Zeugnis seiner Krankheit bezeichnet.Ein letztes, ganzseitiges Foto zeigte Kaminski, wie er mitStock, schwarzer Brille und eigenartig heiteremGesichtsausdruck durch die Ausstellungsrume schlenderte.Frstelnd klappte ich das Buch zu. Ich legte es neben dieWanne und bemerkte zu spt die groe Pftze. Ich fluchte, sokonnte ich es nicht einmal auf dem Kirchenflohmarktverkaufen. Ich stand auf, ffnete den Abflu und sah zu, wieein kleiner Strudel das Wasser hinabsog. Ich sah in denSpiegel. Eine Glatze? Sicher nicht.

    Fast jeder, dem man erzhlte, da Kaminski noch lebte,reagierte mit berraschung. Es schien unglaubhaft, da es ihnnoch gab, versteckt in den Bergen, in seinem groen Haus, imSchatten der Blindheit und des Ruhmes. Da er die gleichen

    Nachrichten verfolgte wie wir, die gleichen Radiosendungen

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    hrte, ein Teil unserer Welt war. Schon seit einer Weile hatteich gewut, da es fr mich Zeit war, ein Buch zu schreiben.Meine Karriere hatte gut begonnen, doch sie stagnierte.

    Zunchst hatte ich an eine Polemik gedacht, einen Angriffgegen einen bekannten Maler oder eine Richtung; mir hatteeine Vernichtung des Fotorealismus vorgeschwebt, dann eineVerteidigung des Fotorealismus, aber pltzlich war derFotorealismus aus der Mode gekommen. Warum also keineBiographie? Ich hatte zwischen Balthus, Lucian Freud undKaminski geschwankt, doch dann starb der erste, und derzweite war Gerchten zufolge schon im Gesprch mit HansBahring. Ich ghnte, trocknete mich ab und zog meinen Pyjamaan. Das Hoteltelefon lutete, ich ging ins Zimmer und hob,ohne nachzudenken, ab.

    Wir mssen reden, sagte Elke.Woher hast du diese Nummer?Das ist doch egal. Wir mssen reden.Es mute wirklich dringend sein. Sie war auf Geschftsreise

    fr ihre Werbeagentur, normalerweise rief sie nie vonunterwegs an.Kein guter Moment. Ich bin sehr beschftigt.Jetzt!Natrlich, sagte ich, warte! Ich senkte den Hrer. In der

    Dunkelheit vor dem Fenster konnte ich die Bergspitzen undeinen blassen Halbmond erkennen. Ich atmete tief ein und aus.Was ist?

    Ich wollte schon gestern mit dir sprechen, aber du hast eswieder geschafft, erst heimzukommen, als ich abgereist war.Und jetzt...

    Ich blies in den Hrer. Die Verbindung ist nicht gut!Sebastian, das ist kein Mobiltelefon. Die Verbindung ist in

    Ordnung.Entschuldige! sagte ich. Einen Moment.

    Ich lie den Hrer sinken. Sanfte Panik stieg in mir auf. Ich

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    ahnte, was sie mir sagen wollte, und ich durfte es auf keinenFall hren. Einfach auflegen? Aber das hatte ich schon dreimalgemacht. Zgernd hob ich den Hrer. Ja?

    Es geht um die Wohnung.Kann ich dich morgen anrufen? Ich habe viel zu tun,

    nchste Woche komme ich zurck, dann knnen wir...Das wirst du nicht.Was?Zurckkommen. Nicht hierher. Sebastian, du wohnst hier

    nicht mehr!Ich rusperte mich. Jetzt mute mir etwas einfallen. Etwas

    Einfaches und berzeugendes. Jetzt! Aber mir fiel nichts ein.Damals hast du gesagt, es wre nur fr den bergang. Blo

    ein paar Tage, bis du etwas gefunden httest.Und?Das war vor drei Monaten.Es gibt nicht viele Wohnungen!Es gibt genug, und so kann es nicht weitergehen.

    Ich schwieg. Vielleicht war das am wirkungsvollsten.Auerdem habe ich jemanden kennengelernt.Ich schwieg. Was erwartete sie? Sollte ich weinen, schreien,

    bitten? Dazu war ich durchaus bereit. Ich dachte an ihreWohnung: den Ledersessel, den Marmortisch, die teure Couch.Die Zimmerbar, die Stereoanlage und den groenFlachbildfernseher. Sie hatte wirklich jemanden getroffen, derihr Gerede ber die Agentur, ber vegetarische Ernhrung,Politik und japanische Filme anhren wollte? Schwer zuglauben.

    Ich wei, da das nicht leicht ist, sagte sie mit brchigerStimme. Ich htte es dir auch nicht... am Telefon gesagt. Aberes gibt keinen anderen Weg.

    Ich schwieg.Und du weit doch, da es so nicht weitergehen kann.

    Das hatte sie schon gesagt. Aber warum nicht? Ich sah das

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    Wohnzimmer klar vor mir: hundertdreiig Quadratmeter,weiche Teppiche, die Aussicht auf den Park. AnSommernachmittagen legte sich ein sdlich weiches Licht auf

    die Wnde.Ich kann das nicht glauben, sagte ich, und ich glaube es

    nicht.Solltest du aber. Ich habe deine Sachen gepackt.Was hast du?Du kannst deine Koffer abholen. Oder nein, wenn ich nach

    Hause komme, lasse ich sie dir in die Abendnachrichtenbringen.

    Nicht in die Redaktion! rief ich. Das fehlte noch! Elke,ich werde dieses Gesprch vergessen. Du hast nie angerufen,und ich habe nichts gehrt. Nchste Woche reden wir beralles.

    Walter hat gesagt, wenn du noch einmal herkommst, wirfter dich selbst hinaus.

    Walter?

    Sie antwortete nicht. War es wirklich ntig, da er auch nochWalter hie?Am Sonntag zieht er ein, sagte sie leise.Ach so! Nun verstand ich: Die Wohnungsknappheit trieb die

    Menschen doch zu erstaunlichen Dingen. Wo soll ich dennhin?

    Ich wei nicht. In ein Hotel. Zu einem Freund.Einem Freund? Das Gesicht meines Steuerberaters tauchte

    vor mir auf, dann das eines ehemaligen Schulkollegen, den ichvorige Woche auf der Strae getroffen hatte. Wir hatten einBier miteinander getrunken und nicht gewut, worber wirreden sollten. Die ganze Zeit hatte ich mein Gedchtnis nachseinem Namen durchsucht.

    Elke, das ist unsere Wohnung!Es ist nicht unsere. Hast du dich je an der Miete beteiligt?

    Ich habe das Badezimmer gestrichen.

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    Nein, das waren Maler. Du hast sie blo angerufen. Bezahlthabe ich.

    Willst du mir das vorrechnen?

    Warum nicht?Ich kann das nicht glauben. Hatte ich das schon gesagt?

    Ich htte nicht gedacht, da du dazu fhig bist.Ja, nicht wahr? sagte sie. Ich auch nicht. Ich auch nicht!

    Wie kommst du mit Kaminski zurecht?Wir haben uns sofort verstanden. Ich glaube, er mag mich.

    Die Tochter ist ein Problem. Sie schirmt ihn von allem ab. Ichmu sie irgendwie loswerden.

    Ich wnsche dir alles Gute, Sebastian. Vielleicht hast dunoch eine Chance.

    Was heit das?Sie antwortete nicht.Einen Moment! Das will ich wissen. Was meinst du

    damit?Sie legte auf.

    Sofort whlte ich die Nummer ihres Mobiltelefons, aber siemeldete sich nicht. Ich versuchte es wieder. Eine ruhigeComputerstimme bat mich, eine Nachricht zu hinterlassen. Ichversuchte es wieder. Und wieder. Nach dem neunten Mal gabich auf.

    Pltzlich sah das Zimmer nicht mehr gemtlich aus. DieBilder von Edelwei, Khen und zerzaustem Bauer hattenetwas Bedrohliches, die Nacht drauen schien nahe undunheimlich. War das meine Zukunft? Pensionen undUntermietzimmer, lauschende Vermieterinnen, Kchengerchezu Mittag und frhmorgens der Lrm fremder Staubsauger?Dahin durfte es nicht kommen!

    Die Arme war wohl vllig durcheinander, beinahe tat sie mirleid. Wie ich sie kannte, bereute sie es schon; sptestensmorgen wrde sie weinend anrufen und um Entschuldigung

    bitten. Mir konnte sie nichts vormachen. Schon ein wenig

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    beruhigt nahm ich das Diktaphon, legte die erste Kassette einund schlo die Augen, um mich besser zu erinnern.

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    IV

    Wen?Kaminski. Manuel K-A-M-I-N-S-K-I. Sie haben ihn

    gekannt?Manuel. Ja. Ja, ja. Die Alte lchelte ausdruckslos.Wann war das?War was?Sie drehte mir ein wchsern verschrumpeltes Ohr zu. Ich

    beugte mich vor und schrie: Wann!Mein Gott! Dreiig Jahre.Es mssen ber fnfzig sein.Soviel nicht.Doch. Sie knnen nachrechnen!Er war sehr ernst. Dunkel. Immer irgendwie im Schatten.

    Dominik hat uns vorgestellt.Gndige Frau, was ich eigentlich fragen wollte...

    Haben Sie Pauli gehrt? Sie zeigte auf einen Vogelkfig.Er singt so schn. Sie schreiben ber das alles?

    Ja.Der Kopf sank ihr hinunter, einen Moment dachte ich, sie

    wre eingeschlafen, doch dann zuckte sie und richtete sichwieder auf. Er sagte immer, er wrde lange unbekannt sein.Dann berhmt, dann wieder vergessen. Sie schreiben darber?

    Dann schreiben Sie auch... da wir es nicht wuten.Was?Da man so alt werden kann.Wie war noch der Name ?Sebastian Zllner.Von der Universitt?Ja... von der Universitt.Er schnaufte, seine Hand wanderte schwer ber seine Glatze.

    Lassen Sie mich berlegen. Kennengelernt? Ich habe

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    Dominik gefragt, wer der arrogante Kerl ist, er sagte Kaminski,als htte das etwas zu bedeuten. Sie wissen vielleicht, manhatte schon Kompositionen von mir aufgefhrt.

    Interessant, sagte ich mde.Meist hat er nur vor sich hin gelchelt. Wichtigtuer. Sie

    kennen solche Leute, die sich fr gro halten, bevor sie nochirgend etwas... Und dann erfllt sich das auch, mundus vultdecipi. Ich habe an einer Symphonie gearbeitet, ein Quartettvon mir war in Donaueschingen aufgefhrt worden, undAnsermet hatte zugesagt...

    Ich rusperte mich.Ja, Kaminski. Deshalb sind Sie ja hier. Sie sind ja nicht

    wegen mir hier. Sondern wegen ihm, ich wei. Einmal mutenwir seine Bilder ansehen, bei Dominik Silva zu Hause, er hattedieses Appartement in der Rue Verneuil. Kaminski selbst saghnend in der Ecke und tat so, als wre ihm alles langweilig.Vielleicht war es das auch, knnte ich ihm nicht verdenken.Sagen Sie, von welcher Universitt kommen Sie eigentlich?

    *

    Habe ich richtig verstanden, fragte Dominik Silva, da Siefr das Essen bezahlen?

    Bestellen Sie, was Sie mchten! sagte ich berrascht.Hinter uns brausten die Autos in Richtung Place des Vosgesvorbei, die Kellner schlngelten sich geschickt zwischen denKorbsthlen hindurch.

    Ihr Franzsisch ist gut.Es geht.Manuels Franzsisch war immer furchtbar. Ich habe nie

    jemanden getroffen, der so unbegabt fr Sprachen war.Sie waren nicht leicht zu finden. Er sah drr und

    zerbrechlich aus, seine Nase sa spitz auf einem eigentmlich

    nach innen gewlbten Gesicht.

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    Ich lebe unter anderen Bedingungen als frher.Sie haben viel fr Kaminski getan, sagte ich vorsichtig.berschtzen Sie das nicht. Wenn nicht ich, dann ein

    anderer. Leute wie er finden immer Leute wie mich. Er war jakein reicher Erbe. Sein Vater, ein Schweizer polnischerAbstammung oder umgekehrt, ich wei nicht mehr, ging vorseiner Geburt in Konkurs und starb, seine Mutter wurde sptervon Rieming untersttzt, aber viel hatte der auch nicht. Manuelbrauchte immer Geld.

    Sie haben seine Miete bezahlt?Das kam vor.Und heute sind Sie... nicht mehr vermgend ?Zeiten ndern sich.Woher kannten Sie ihn?Von Matisse. Ich hatte ihn in Nizza besucht, er sagte mir, es

    gbe einen jungen Maler in Paris, Proteg von RichardRieming.

    Und seine Bilder?

    Nicht umwerfend. Aber ich dachte, das wird sich ndern.Warum?Eher seinetwegen. Er machte einfach den Eindruck, als

    knnte man etwas von ihm erwarten. Zu Beginn malte erziemlich schlechtes Zeug, berfrachteter Surrealismus. Dasnderte sich mit Therese. Seine Lippen preten sichaufeinander; ich fragte mich, ob er noch Zhne im Mund hatte.Immerhin hatte er gerade ein Steak bestellt.

    Sie meinen Adrienne, sagte ich.Ich wei, wen ich meine. Das berrascht Sie vielleicht, aber

    ich bin nicht senil. Adrienne kam spter.Wer war Therese?Mein Gott, alles! Sie hat ihn vollkommen verndert, auch

    wenn er das nie zugeben wrde. Sie haben sicher von seinemErlebnis in der Salzmine gehrt, er redet ja oft genug davon.

    Ich fahre bermorgen hin.

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    Tun Sie das, es wird Ihnen gefallen. Aber Therese warwichtiger.

    Das wute ich nicht.

    Dann sollten Sie von vorne anfangen.

    *

    Nun mal ganz offen. Halten Sie ihn fr einen groen Maler?Aber sicher. Ich begegnete Professor Komenews Blick.

    In Grenzen!Komenew faltete die Hnde hinter dem Kopf, sein Stuhl

    kippte mit einem Ruck nach hinten. Sein Brtchen stand spitzund leicht gestrubt von seinem Kinn ab. Also der Reihenach. ber die frhen Bilder mssen wir keine Worteverlieren. Dann die Reflexionen. Sehr ungewhnlich fr dieseZeit. Technisch groartig. Aber doch ziemlich steril. Eine guteGrundidee, zu oft, zu genau und zu minutis durchgefhrt, undder Altmeistergestus mit den Tempera macht es auch nicht

    besser. Etwas zuviel Piranesi. Dann das Chromatische Licht,der Spaziergnger, die Straenansichten. Auf den ersten Blickfabelhaft. Aber thematisch nicht gerade subtil. Und seien wirehrlich, wenn man nicht von seiner Erblindung wte... Erhob die Schultern. Sie kennen die Bilder im Original?

    Ich zgerte. Ich hatte darber nachgedacht, nach New Yorkzu fliegen, aber das war ziemlich teuer, und auerdem - wozugab es Bildbnde? Natrlich!

    Dann wird Ihnen der ziemlich unsichere Strich aufgefallensein. Er drfte starke Lupen verwendet haben. Kein Vergleichzur technischen Perfektion von frher. Und danach? Ach Gott,darber ist das Urteil ja schon gesprochen. Kalenderbilder!Haben Sie den schrecklichen Hund am Meer gesehen, dieseGoya-Imitation?

    Also zunchst zuviel Technik und zuwenig Gefhl, dann

    umgekehrt.

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    Knnte man sagen. Er zog die Hnde hinter dem Nackenhervor, der Stuhl kippte in die Waagrechte. Vor zwei Jahrenhabe ich ihn noch einmal im Seminar behandelt. Die jungen

    Leute waren ratlos. Er hatte ihnen nichts mehr zu sagen.Haben Sie ihn je getroffen?Nein, wozu? Als meine Anmerkungen zu Kaminski

    herauskamen, habe ich ihm das Buch geschickt. Er hat niegeantwortet. Hielt er nicht fr ntig! Wie gesagt, er ist einguter Maler, und die sind zeitgebunden. Nur groe sind dasnicht.

    Sie htten hinfahren mssen, sagte ich.Bitte?Es bringt nichts, zu schreiben und auf Antwort zu warten.

    Man mu zu ihnen fahren. Man mu sie berfallen. Als ichmein Portrt ber Wernicke geschrieben habe... Kennen SieWernicke?

    Er sah mich mit gerunzelter Stirn an.Es war ja gerade erst passiert, und seine Familie wollte

    nicht mit mir reden. Aber ich bin nicht weggegangen. Ich standvor der Haustr und habe ihnen gesagt, da ich auf jeden Fallber seinen Selbstmord schreiben wrde und da sie nur dieWahl hatten, mit mir zu reden oder nicht. Wenn Sie es nichtwollen, habe ich gesagt, bedeutet das auch, da IhrStandpunkt nicht vorkommt. Wenn Sie aber bereit wren.. .

    Entschuldigung. Komenew beugte sich vor und sah michscharf an. Wovon reden Sie eigentlich?

    *

    Lange dauerte es nicht. Nach einem Jahr war das mit Theresevorbei.

    Der Kellner brachte das Steak mit Bratkartoffeln, Silva griffgierig nach dem Besteck und begann zu essen, sein Hals

    zitterte beim Schlucken. Ich bestellte noch eine Coca-Cola.

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    Sie war wirklich etwas Besonderes. Sie hat in ihm niegesehen, was er war, sondern was er werden konnte. Und dannhat sie ihn dazu gemacht. Ich erinnere mich noch, wie sie ein

    Bild von ihm angesehen und ganz leise gesagt hat: Mssen esimmer Adler sein? Sie htten hren mssen, wie sie Adlerausgesprochen hat. Das war das Ende seiner symbolistischenPhase. Sie war wunderbar! Die Ehe mit Adrienne war nur einmilungenes Spiegelbild davon, sie sah Therese ein wenighnlich. Mu ich mehr sagen ? Wenn Sie mich fragen, ist er nieber sie hinweggekommen. Wenn jedes Leben seineentscheidende Katastrophe hat... Er hob die Schultern. ...dann war das seine.

    Aber seine Tochter ist von Adrienne.Als sie dreizehn war, starb ihre Mutter. Er blickte ins

    Leere, als ob die Erinnerung ihn schmerzte. Dann kam sie zuihm in dieses Haus am Ende der Welt, und seither kmmert siesich um alles. Er schob sich ein zu groes Stck Fleisch inden Mund, es dauerte eine Weile, bis er wieder sprechen

    konnte; ich bemhte mich, nicht hinzusehen. Manuel htteimmer die Menschen gefunden, die er brauchte. Er hielt es fretwas, das die Welt ihm schuldig war.

    Warum hat Therese ihn verlassen?Er antwortete nicht. Vielleicht war er schwerhrig. Ich schob

    das Diktaphon nher zu ihm. Warum...Was wei ich! Herr Zllner, es gibt so viele Erklrungen,

    so viele Versionen von allem, am Ende ist die Wahrheit dasbanalste. Niemand wei, was geschehen ist, und keiner hat eineAhnung, was ein anderer ber ihn denkt! Wir sollten aufhren.Ich bin es nicht mehr gewhnt, da man mir zuhrt.

    Ich sah ihn berrascht an. Seine Nase zitterte, er hatte dasBesteck weggelegt und sah mich aus hervortretenden Augenan. Was hatte ihn so aufgebracht? Da wren noch ein paarFragen, sagte ich vorsichtig.

    Merken Sie das nicht? Wir reden ber ihn, als wre er

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    schon tot.

    *

    Einmal wurde ein neues Stck aufgefhrt. Er setzte sichgerade, rieb sich die Glatze, strich ber sein Doppelkinn undlegte die Stirn in Falten. Fang noch einmal von deinenKompositionen an, dachte ich, und ich stecke dir dasDiktaphon ins Maul!

    Er kam mit Therese Lessing zur Urauffhrung. Eineauergewhnlich intelligente Frau eigentlich, ich knnte garnicht sagen, was sie an ihm... Es war Avantgarde im bestenSinn, eine Art schwarze Messe, blutbeschmierte Darsteller,Pantomime unter einem umgedrehten Kreuz, aber die beidenhaben die ganze Zeit gelacht. Zunchst kicherten sie undnahmen allen anderen die Konzentration, dann brllten sie los.Bis sie hinausgeworfen wurden. Aber natrlich, dieAtmosphre war beim Teufel, oder eben nicht beim Teufel, Sie

    verstehen, jedenfalls war es vorbei. Nach Thereses Tod hat ergeheiratet, und nachdem seine Frau, verstndlich, zu Dominikgegangen war, habe ich ihn nicht mehr gesehen.

    Zu Dominik?Wissen Sie das nicht? Er runzelte die Stirn, seine

    Augenbrauen wlbten sich buschig, sein Kinn machte einenkleinen Sprung. Wie recherchieren Sie berhaupt? Zu meinenKonzerten ist er ja nie erschienen, das hat ihn nicht interessiert.So eine Zeit kommt nie wieder. Ansermet wollte meinesymphonische Suite dirigieren, aber das kam nicht zustande,weil... Wie, jetzt schon? Bleiben Sie doch, ich habe ein paarinteressante Schallplatten. Die bekommen Sie heute nirgendwosonst zu hren!

    *

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    Was halten Sie eigentlich von seinen Bildern? ProfessorMehring sah mich aufmerksam ber den Rand seiner Brille an.

    Zunchst zuviel Technik und zuwenig Gefhl, sagte ich.

    Spter umgekehrt.Das sagt Komenew auch. Aber ich halte es fr falsch.Ich auch, sagte ich schnell. Ein schlimmes Vorurteil!Und Komenew hat vor zwanzig Jahren ganz anders

    geklungen. Aber damals war Kaminski in Mode. Ich habe ihnvor einem Jahr an der Hochschule durchgenommen. DieStudenten waren begeistert. Ich glaube auch, da seinemSptwerk Unrecht geschehen ist. Die Zeit wird das in Ordnungbringen.

    Sie waren sein Assistent?Nur kurz. Ich war neunzehn, mein Vater kannte Bogovic,

    der hat mich vermittelt. Ich mute die Pigmente anreiben. Erbildete sich ein, da er intensivere Farben bekme, wenn wirdas selbst machten. Wenn Sie mich fragen, purer Spleen. Aberich durfte dort oben bei ihm wohnen, und wenn Sie es wissen

    wollen, ich war ziemlich verliebt in seine Tochter. Sie war soschn, und eigentlich sah sie nie jemanden auer ihm. Aber siehatte nicht viel Interesse fr mich.

    Sie waren dabei, wenn er malte?Er mute groe Lupen verwenden, er hatte sie am Kopf

    befestigt wie ein Juwelier. Er war ziemlich nervs, manchmalhat er vor Wut seine Pinsel zerbrochen, und wenn er dasGefhl hatte, da ich mit der Arbeit zu langsam war... Na ja,wir knnen uns wohl schwer vorstellen, was er durchmachte!Er hatte jedes Bild genau geplant, hatte eine Menge Skizzen,aber beim Mischen bekam er es nicht mehr richtig hin. Nacheinem Monat habe ich gekndigt.

    Haben Sie noch Kontakt zu ihm?Ich schicke Weihnachtskarten.Antwortet er?

    Miriam antwortet. Ich nehme an, mehr ist nicht zu

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    erreichen.

    *

    Ich habe aber nur zehn Minuten. Bogovic strich unruhig berseinen Bart. Vor dem Fenster zeichnete sich die Mauer desPalais Royal ab, ber dem Schreibtisch hing eine von DavidHockney skizzierte kalifornische Villa. Ich kann nur sagen,ich hebe ihn wie einen Vater. Nehmen Sie das ruhig auf! EinenVater. Kennengelernt habe ich ihn Ende der sechziger Jahre,Papa fhrte noch die Galerie, er war so stolz, da er Kaminskibekommen hatte. Manuel kam damals mit dem Zug, er fliegt janicht. Trotzdem reist er gerne. Er hat weite Fahrten gemacht,natrlich braucht er jemanden, der ihn chauffiert. Er magAbenteuer! Wir hatten seine groen Landschaftsbilder inKommission. Wahrscheinlich das beste, was er gemacht hat.Zwei htte fast das Muse d'Orsay genommen.

    Was ist passiert?

    Nichts, sie haben sie nicht genommen. Herr Zollner, ichhabe...Zllner!...viele kreative Leute kennengelernt. Gute Leute. Aber nur

    ein Genie.Die Tr ffnete sich, eine Assistentin mit enger Bluse kam

    herein und legte ein beschriebenes Blatt hin; Bogovicbetrachtete es ein paar Sekunden, dann legte er es weg. Ich sahsie an und lchelte, sie sah weg, aber ich bemerkte doch, daich ihr gefiel. Sie war rhrend schchtern. Als sie hinausging,lehnte ich mich unauffllig zur Seite, damit sie mich im Gehenstreifte, aber sie wich aus. Ich zwinkerte Bogovic zu, errunzelte die Stirn. Wahrscheinlich war er homosexuell.

    Ich fahre zweimal im Jahr zu ihm, sagte er, nchsteWoche ist es wieder soweit. Seltsam, da er sich so

    zurckgezogen hat. Papa htte ihm hier oder in London eine

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    Wohnung besorgt. Aber er wollte nicht.Ist er vllig blind?Wenn Sie es herausfinden, sagen Sie es mir! Es ging ihm

    nicht gut in letzter Zeit, schwere Bypaoperation. Ich warselbst dort, im Krankenhaus... Nein, stimmt nicht, das war beiPapa. Aber ich htte es auch fr ihn getan. Wie gesagt, ichliebe diesen Mann. Meinen Vater habe ich nicht geliebt.Manuel Kaminski ist der grte. Manchmal glaube ich, erzeigte auf das Bild der Villa, David ist der grte. OderLucian oder irgendwer.

    Manchmal meine ich sogar, da ich der grte bin. Aberdann denke ich an ihn und wei, wir sind nichts. Er zeigte aufein Gemlde an der Wand gegenber: Eine gebeugte Gestaltsa an der Kste eines dunklen Ozeans, neben ihr stand einriesiger, eigentmlich aus der Perspektive gedrehter Hund.Das kennen Sie, oder? Der Tod am fahlen Meer. Das verkaufeich nie.

    Mir fiel ein, da Komenew von diesem Bild gesprochen

    hatte. Oder Mehring? Ich erinnerte mich nicht, was darbergesagt worden war und ob es mir gefallen sollte. Sieht nichtnach Kaminski aus, sagte ich unberlegt.

    Wieso ?Weil er... Weil... Ich betrachtete meine Handflchen.

    Wegen... des Strichs. Sie wissen schon, des Strichs. Waswissen Sie von Therese Lessing?

    Den Namen habe ich nie gehrt.Wie ist er in Verhandlungen?Das macht alles Miriam. Schon seit sie siebzehn war. Sie ist

    besser als Anwalt und Ehefrau zusammen.Sie hat nie geheiratet.Und ?Sie lebt schon so lange bei ihm. In den Bergen,

    abgeschnitten von allem. Richtig?

    Wird schon so sein, sagte er khl. Jetzt mssen Sie mich

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    entschuldigen. Nchstes Mal sollten Sie sich vielleicht einenTermin geben lassen und nicht einfach...

    Natrlich! Ich stand auf. Ich bin nchste Woche auch

    dort. Er hat mich eingeladen. Bogovic' Hndedruck war weichund ein wenig feucht. Nach Arkadien!

    Wohin?Wenn ich reich werde, kaufe ich Ihnen Tod am fahlen Meer

    ab. Egal, was es kostet.Er sah mich wortlos an.Nur ein Scherz! sagte ich frhlich. Nichts fr ungut. Ein

    Scherz.

    *

    Keine Ahnung, was der alte Esel Ihnen erzhlt hat. Ich habenie mit Adrienne zusammengelebt!

    Es war nicht leicht gewesen, Silva zu einem zweiten Treffenzu berreden; ich hatte mehrmals betonen mssen, da er sich

    das Lokal aussuchen konnte. Er schttelte den Kopf, seineLippen waren vom Schokoladeneis braun verschmiert, einunschner Anblick.

    Ich mochte sie, und sie tat mir leid. Ich habe mich um sieund das Kind gekmmert, weil Manuel das nicht mehr tunwollte. Vielleicht hat er mir das belgenommen. Aber das istalles.

    Wem soll ich nun glauben?Das ist Ihr Problem, niemand schuldet Ihnen

    Rechenschaft! Er sah mich von unten an. Sie werden Manuelwohl bald treffen. Aber Sie werden sich nicht vorstellenknnen, wie er damals war. Er schaffte es, da jeder berzeugtwar, da er einmal gro sein wrde. Man mute ihm geben,was er wollte. Nur Therese hat das nicht... Er kratzte dasletzte Eis aus dem Glas und leckte von beiden Seiten den

    Lffel ab. Nur Therese. Er berlegte, aber er schien

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    vergessen zu haben, was er sagen wollte.Nehmen Sie Kaffee? fragte ich beunruhigt. Das Ganze

    ging schon weit ber meine Verhltnisse; ich hatte mit

    Megelbach noch nicht ber die Spesenabrechnungengesprochen.

    Herr Zllner, das alles sind doch abgeschlosseneGeschichten! In Wirklichkeit gibt es uns nicht mehr. Alter istetwas Absurdes. Man ist da und auch nicht, wie ein Geist. Einpaar Sekunden blickte er starr ber mich hinweg, zu denDchern, zur anderen Seite der Strae. Sein Hals war so dnn,da die Adern deutlich hervortraten. Miriam war sehr begabt,wach, ein wenig jhzornig. Als sie zwanzig war, hatte sie einenVerlobten. Er kam zu Besuch, blieb zwei Tage, reiste wiederab und kam nie zurck. Es ist nicht leicht, ihn zum Vater zuhaben. Ich wrde sie gerne noch einmal sehen.

    Das werde ich ihr sagen.Besser nicht. Er lchelte traurig.Ich htte noch ein paar Fragen.

    Glauben Sie mir, ich auch.

    *

    Da wir nicht wuten, da man so alt werden kann. SchreibenSie das! Schreiben Sie das unbedingt. Sie zeigte auf denVogelkfig. Hren Sie Pauli?

    Haben Sie Therese gut gekannt?Als sie ging, wollte er sich umbringen.Wirklich? Ich setzte mich auf.Sie schlo fr einen Moment die Augen: Sogar ihre Lider

    waren faltig; so etwas hatte ich noch nie gesehen. Das hatDominik behauptet. Ich htte Manuel nie danach gefragt.Keiner htte das. Aber er war vllig auer sich. Erst alsDominik ihm gesagt hat, da sie tot war, hat er aufgehrt, sie

    zu suchen. Wollen Sie Tee?

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    Nein. Ja. Ja, bitte. Haben Sie ein Foto von ihr?Sie hob die Kanne und schenkte zittrig ein. Fragen Sie sie,

    vielleicht schickt sie Ihnen eines.

    Wen soll ich fragen?Therese.Sie ist doch tot!Aber nein. Sie wohnt im Norden, an der Kste.Sie ist nicht gestorben?Nein, das hat Dominik nur gesagt. Manuel htte nie

    aufgehrt, sie zu suchen. Ich habe Bruno, ihren Mann, sehrgemocht. Er war so menschlich, ganz anders als... Nehmen SieZucker? Jetzt ist er schon lange tot. Die meisten sind tot. Siestellte die Kanne ab. Milch?

    Nein! Haben Sie ihre Adresse?Ich glaube schon. Hren Sie? Er singt so schn. Kanaris

    singen nicht oft. Pauli ist eine Ausnahme.Geben Sie mir bitte die Adresse! Sie antwortete nicht, sie

    schien nicht verstanden zu haben.

    Wenn ich ehrlich sein soll, sagte ich langsam, ich hrenichts.Was?Er singt nicht. Er bewegt sich nicht, und ich glaube, es geht

    ihm auch sonst nicht sehr gut. Wrden Sie mir bitte dieAdresse geben?

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    V

    Kurz nach zehn weckte mich die ins Fenster scheinende Sonne.Ich lag auf dem unaufgeschlagenen Bett, um mich verteilt einDutzend Tonbandkassetten, das Diktaphon war auf den Bodengefallen. Aus der Ferne hrte ich Kirchenglocken. Schwerflligstand ich auf.

    Ich frhstckte unter demselben Hirschkopf, den ich schongestern durch das Fenster gesehen hatte. Der Kaffee schmeckte

    wie Wasser, am Nebentisch schimpfte ein Vater mit seinemSohn; der Kleine senkte den Kopf, schlo die Augen und tat,als wre er nicht da. Hugo kroch mit angelegten Ohren berden Teppich. Ich rief nach der Wirtin und sagte, der Kaffee seiungeniebar. Sie nickte gleichmtig und brachte eine neueKanne. Na bitte, sagte ich. Sie zuckte die Achseln. Der Kaffeewar nun wirklich strker, nach drei Tassen fiel mein Herz ineinen Galopprhythmus. Ich schulterte meine Tasche und ging

    los.Der Weg, auf dem ich gestern herabgestiegen war, sah bei

    Tageslicht ziemlich breit und ungefhrlich aus, auch derAbhang hatte sich in eine schrge Blumenwiese verwandelt.Zwei Khe sahen mich traurig an, ein Mann mit einer Sense,hnlich dem alten Bauern auf dem Bild, rief etwasUnverstndliches, ich nickte ihm zu, er lachte und machte eine

    wegwerfende Handbewegung. Die Luft war khl, die Schwlevon gestern verschwunden. Als ich den Wegweiser erreichte,war ich kaum auer Atem.

    Schnellen Schrittes ging ich die Strae hinauf, nach kaumzehn Minuten sah ich den Parkplatz und die Huser. Der kleineTurm stach spitz in den Himmel. Vor dem Gartentor parkte dergraue BMW. Ich lutete.

    Das sei jetzt kein guter Moment, sagte Anna feindselig. Herr

    Kaminski fhle sich nicht wohl, er habe sich gestern nicht

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    einmal von den Gsten verabschiedet.Das ist schlimm, sagte ich befriedigt.Ja, sagte sie, sehr schlimm. Ich solle morgen

    wiederkommen!Ich ging an ihr vorbei, durch den Flur und das Ezimmer,

    auf die Terrasse und kniff die Augen zusammen: das Halbrundder Berge, umrahmt vom gleienden Vormittag. Anna kam mirnach und fragte, ob ich sie nicht verstanden htte. Ichantwortete, ich zge es vor, mit Frau Kaminski zu sprechen.Sie starrte mich an, dann wischte sie die Hnde an der Schrzeab und ging ins Haus. Ich setzte mich auf einen Gartenstuhlund schlo die Augen. Die Sonnenwrme lag weich aufmeinem Gesicht, ich hatte noch nie so saubere Luft geatmet.

    Doch, einmal schon. In Clairance. Vergeblich versuchte ich,die Erinnerung wegzuschieben.

    Ich hatte mich gegen vier Uhr nachmittags einerTouristengruppe angeschlossen. Der Stahlkorb war drhnendhinabgesunken, Frauen hatten hysterisch gelacht, eiskalter

    Wind strmte aus der Tiefe. Fr ein paar Sekunden war dieDunkelheit vollkommen.Ein niedriger Gang, elektrische Lampen mit gelblichem

    Schein, eine Brandschutztr aus Stahl ging quietschend auf undzu. Ne vous perdez pas, don't get lost! Der Fhrer schlurftevor uns her, ein Amerikaner fotografierte, eine Frau betasteteneugierig die weien Adern im Stein. Die Luft schmeckte nachSalz. Hier war Kaminski vor fnfzig Jahren verlorengegangen.

    Der Fhrer ffnete eine Stahltr, wir bogen um die Ecke.Angeblich hatte es an seinen Augen gelegen, ich schlo freinen Moment die meinen und tastete mich blind vorwrts. DieSzene war wichtig fr mein Buch: Ich stellte mir vor, ich wreKaminski, vorantappend, blinzelnd, tastend, rufend, schlielichstehenbleibend und so lange schreiend, bis ich erkannte, daniemand mich hren wrde. Ich mute die Episode stark

    ausmalen, so drastisch wie mglich, ich brauchte Vorabdrucke

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    in den groen Illustrierten. Irgendein Idiot rempelte mich an,ich murmelte ein Schimpfwort, er tat das gleiche, ein andererstreifte meinen Ellenbogen, es war doch erstaunlich, wie

    unachtsam sich die Leute benahmen, aber ich widerstand derVersuchung, die Augen zu ffnen. Ich mute unbedingt dasEcho seiner Stimme in der Stille beschreiben, das machte sichgut. Das Echo in der Stille, sagte ich leise. Ich hrte, da sienach links abbogen. Ich lie die Wand los, machte vorsichtigein paar Schritte, fand die Wand auf der anderen Seite undfolgte ihnen. Den Stimmen nach: Allmhlich bekam ich einGefhl dafr. Eine Tr fiel zu, der Reflex lie mich die Augenffnen. Ich war allein.

    Ein kurzer Gang, erhellt von drei Lampen. Ich warberrascht, da die Tr mehr als zehn Meter entfernt war, eshatte so nahe geklungen. Schnell ging ich auf sie zu undffnete. Lampen auch hier, an der niedrigen Decke liefenMetallrohre entlang. Keine Menschen.

    Ich ging zurck ans andere Ende des Ganges. Also waren sie

    doch nach rechts gegangen, und ich hatte mich verhrt. MeinAtem stieg in kleinen Wlkchen auf. Ich erreichte die Tr, siewar abgeschlossen.

    Ich wischte mir die Stirn ab, trotz der Klte wurde mir hei.Dann also zurck. Zur Abzweigung und wieder nach links,woher wir gekommen waren. Ich blieb stehen, hielt den Ateman, horchte: keine Stimmen. Nichts. Ich hatte noch nie so eineStille gehrt. Ich ging schnell den Gang entlang, bei dernchsten Abzweigung stockte ich. Wir waren von rechtsgekommen? Aber ja, von rechts. Also nun nach links. DieStahltr lie sich ohne Widerstand ffnen. Lampen, Rohre,wieder eine Verzweigung, kein Mensch zu sehen. Ich hattemich verirrt.

    Ich mute lachen.Ich ging zurck zur letzten Abzweigung und bog links ab.

    Wieder eine Tr, aber im Gang dahinter war kein Licht, er war

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    erfllt von einer Dunkelheit, wie es sie an der Erdoberflchenicht gab, erschrocken schlug ich die Tr zu. Sicher wrde balddie nchste Gruppe durchgeschleust werden, auerdem muten

    hier Arbeiter sein, die Mine war schlielich noch in Betrieb.Ich lauschte. Ich rusperte mich und rief; es berraschte mich,da es kein Echo gab. Der Stein schien meine Stimme zuschlucken.

    Ich bog rechts ab, ging durch eine, zwei, drei Trengeradeaus, die vierte war abgeschlossen. Das mute mit Logikzu lsen sein! Ich wandte mich nach links, ging durch zweiStahltren und stand an einer Kreuzung. Die Tren, hatte derFhrer gesagt, waren da, um einen Sog zu verhindern, wennFeuer ausbrach; ohne sie konnte eine einzige Flamme die Luftder ganzen Mine an sich ziehen. Ob es Brandmelder gab ?Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, etwasanzuznden. Aber ich hatte nichts Brennbares, selbst dieZigaretten waren mir ausgegangen.

    Mir fiel auf, da an den Rohren winzige Tropfen

    Kondenswasser hingen. War das normal? Ich probierte zweiTren, die eine war versperrt, die andere fhrte in einen Gang,wo ich schon gewesen war. Oder? Ich htte gerne eineZigarette gehabt. Ich setzte mich auf den Boden.

    Jemand wrde kommen, wrde bald kommen, ganz ohneZweifel. Die Anlage konnte unmglich so gro sein. Ob sienachts das Licht ausschalteten? Der Boden war eiskalt, ichkonnte nicht sitzen bleiben. Ich stand auf. Ich rief. Ich rieflauter. Mir wurde klar, da das nichts ntzte. Ich schrie, bis ichheiser war.

    Ich setzte mich wieder hin. Ein sinnloser Einfall lie michdas Mobiltelefon hervorholen, aber natrlich gab es keinenEmpfang, nirgendwo war man so abgeschirmt wie in einemSalzbergwerk. Schwer zu entscheiden: War das blo einepeinliche Lage, oder bestand Gefahr? Ich lehnte den Kopf an

    die Wand, fr eine Sekunde glaubte ich, eine Spinne zu sehen,

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    aber es war nur ein Fleck, hier unten gab es keine Insekten. Ichsah auf die Uhr, es war schon eine Stunde vergangen, als liefedie Zeit hier schneller oder mein Leben langsamer, vielleicht

    ging auch nur die Uhr falsch. Sollte ich weitergehen oder hierwarten? Ich war pltzlich mde. Ich schlo, fr einen Momentnur, die Augen.

    Ich betrachtete die Adern im Stein. Sie liefen aufeinander zu,vereinten sich, aber kreuzten sich nie, wie die Arme einesFlusses. Ein unendlich langsamer Salzstrom durch die Tiefender Welt. Ich durfte nicht einschlafen, dachte ich, dann warmir, als ob Stimmen zu mir sprachen, denen ich antwortete,irgendwo spielte ein Klavier, und dann sa ich in einemFlugzeug und sah auf weite, leuchtende Landschaften: Berge,Stdte und ein fernes Meer, Menschen gingen vorbei, ein Kindlachte, ich sah auf die Uhr, doch meine Augen stellten das Bildnicht scharf. Das Aufstehen fiel mir schwer, mein Krper warklamm vor Klte. Die Stahltr ffnete sich, ich ging hindurch,stand in Elkes Wohnzimmer und wute, da ich endlich

    erwartet wurde. Sie trat auf mich zu, vor Freude breitete ich dieArme aus und ffnete die Augen, ich sa auf dem Boden, unterden feuchten Rohren, im gelben Licht der Grubenlampen,allein.

    Es war kurz nach sechs. Ich war schon zwei Stunden hier.Ich zitterte vor Klte. Ich stand auf, trat von einem Fu auf denanderen und klatschte in die Hnde. Ich ging zum Ende desStollens, bog rechts, links, rechts und wieder links ab. Ich bliebstehen und prete die Hnde an den Stein.

    Wie massiv er sich anfhlte. Ich lehnte die Stirn dagegenund versuchte, mich an den Gedanken zu gewhnen, da ichsterben wrde. Sollte ich etwas aufschreiben, eine letzteNachricht fr - wen eigentlich? Ich sank in die Knie, eine Handschlug mir auf die Schulter. Ein schnurrbrtiger Fhrer undhinter ihm ein Dutzend Menschen mit Helmen, Fotoapparaten,

    Videokameras. Monsieur, qu'est-ce que vous faites l?

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    Ich stand auf, murmelte etwas, wischte mir die Trnen abund reihte mich unter die Touristen ein. Zwei Japanerbetrachteten mich neugierig, der Fhrer ffnete eine Tr:

    Stimmengewirr schwappte mir entgegen, der Stollen war vollerMenschen. An einem Souvenirstand wurden Ansichtskarten,Salzsteine und Dias milchiger Salzseen verkauft. Ein Exit-Schild wies zu einer Treppe, wenige Minuten spter trug derFrderkorb mich rasselnd nach oben.

    Sie sollten doch erst morgen kommen!Ich hob den Kopf. Miriam Kaminskis Silhouette ragte

    sonnenumrahmt vor mir auf. In ihren schwarzen Haaren lagenfeine Linien aus Licht.

    Ich wollte nur guten Tag sagen.Guten Tag. Ich fahre in einer Stunde und komme morgen

    zurck.Ich hatte gehofft, ich knnte mit Ihrem Vater sprechen.Sie sah mich an, als htte sie nicht richtig gehrt. Mein

    Vater fhlt sich nicht wohl. Gehen Sie doch spazieren, Herr

    Zllner. Wandern Sie ein wenig. Das lohnt sich.Wohin fahren Sie?Wir grnden eine Kaminski-Stiftung. Ich erklre Ihnen gern

    die Einzelheiten, das knnte interessant fr Ihr Buch sein.Ganz sicher. Ich hatte verstanden: Solange sie da war,

    wrde ich nicht allein mit ihm sprechen knnen. Ich nicktelangsam, sie wich meinem Blick aus. Natrlich hatte ich einegewisse Wirkung auf sie. Wer wei, wre ich nicht jemandgewesen, den sie fr gefhrlich hielt... Aber da war nichts zumachen. Ich stand auf. Dann gehe ich also wandern.

    Ich ging schnell ins Haus, ich mute unbedingt vermeiden,da sie mich hinausbegleitete. Durch die angelehnte Kchentrwar das Klappern von Geschirr zu hren. Ich sah durch denSpalt, Anna wusch gerade Teller ab.

    Als ich hereinkam, sah sie mich ausdruckslos an. Ihre Haare

    waren zu einem dicken Zopf geknotet, ihre Schrze war

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    schmutzig, ihr Gesicht rund wie ein Wagenrad.Anna! sagte ich. Ich darf doch Anna sagen?Sie zuckte mit den Schultern.

    Ich bin Sebastian. Sagen Sie Sebastian zu mir. Das Essengestern war wunderbar. Knnen wir reden?

    Sie antwortete nicht. Ich zog einen Stuhl heran, schob ih