das recht im denken der sophistik () || vii. der sog. anonymus iamblichi

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VII. Der sog. Anonymus lamblichi 1. Die berlieferten Fragmente Unstreitig geh ren die sieben Bruchst cke 1 , die Friedrich Blass 1889 im 20. Kapitel des Protreptikos des lamblich entdeckte 2 , der Zeit der Sophistik an und entstammen - wie ihr einheitlicher Stil verr t - der Feder eines Autors. Nach wie vor unbeantwortet ist jedoch die Frage, ob sie einem - und wenn ja, welchem - der uns aus jener Zeit b e k a n n t e n Autoren zugeschrieben werden k nnen. Doch sei zun chst der Inhalt der betreffenden Texte besprochen. Weil der A. 3 seine Rechts- und Staats- auffassung aus einer zun chst auf den einzelnen Menschen bezogenen Bildungs- und Tugendlehre entwickelt, empfiehlt es sich, alle erhaltenen Fragmente gleicherma en zu besprechen. Sie behandeln folgende Themen: frg. l: Vollkommenheit in einem bestimmten Bereich (vorzugsweise der αρετή, der ,Tugend' 4 ) bedarf der Begabung, der Liebe zu dem Sch nen und Guten sowie der bung. frg. 2: Neidlose δόξα erreicht derjenige bei seinem Mitmenschen, der sich von Jugend an entsprechend bt. frg. 3: Der vollendete αγαθός ist derjenige, der den meisten n tzt, ohne selbst einen Schaden zu erleiden. Dazu sollte er die νόμοι und das δίκαιον unterst tzen. frg. 4: Der echte αγαθός verliert sich nicht im Streben nach materiellen G tern, sondern erlangt δόξα kraft eigener αρετή. frg. 5: Unsterblicher Ruhm bei der Nachwelt ist w nschenswerter, als sich an das Leben zu klammern. frg. 6: νόμος und δίκαιον sind die notwendige St tze des menschlichen Zusammenlebens. Selbst vermeintliche Kraftmenschen kommen ohne sie nicht aus. frg. 7: ευνομία bewirkt privates und ffentliches Gl ck (l-7a), die ανομία das Gegenteil (7b-l 1); Ursache und Wesen der τυραννίς (12-16). 1 Textangaben nach VS 89 p. 400-404. 2 F. Blass, Commentatio de Antiphonte sophista lamblichi auctore, Kiel 1889 3 Im folgenden wird der Anonymus lamblichi kurz A. genannt. 4 Wie der A. αρετή inhaltlich genau versteht, mu zun chst zur ckgestellt werden. Brought to you by | St. Petersburg State University Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 11/4/13 2:03 PM

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VII. Der sog. Anonymus lamblichi

1. Die berlieferten Fragmente

Unstreitig geh ren die sieben Bruchst cke1, die Friedrich Blass 1889 im20. Kapitel des Protreptikos des lamblich entdeckte2, der Zeit der Sophistikan und entstammen - wie ihr einheitlicher Stil verr t - der Feder e i n e sAutors. Nach wie vor unbeantwortet ist jedoch die Frage, ob sie einem -und wenn ja, welchem - der uns aus jener Zeit b e k a n n t e n Autorenzugeschrieben werden k nnen. Doch sei zun chst der Inhalt derbetreffenden Texte besprochen. Weil der A.3 seine Rechts- und Staats-auffassung aus einer zun chst auf den einzelnen Menschen bezogenenBildungs- und Tugendlehre entwickelt, empfiehlt es sich, alle erhaltenenFragmente gleicherma en zu besprechen. Sie behandeln folgende Themen:

frg. l: Vollkommenheit in einem bestimmten Bereich (vorzugsweise derαρετή, der ,Tugend'4) bedarf der Begabung, der Liebe zu dem Sch nenund Guten sowie der bung.

frg. 2: Neidlose δόξα erreicht derjenige bei seinem Mitmenschen, dersich von Jugend an entsprechend bt.

frg. 3: Der vollendete αγαθός ist derjenige, der den meisten n tzt, ohneselbst einen Schaden zu erleiden. Dazu sollte er die νόμοι und das δίκαιονunterst tzen.

frg. 4: Der echte αγαθός verliert sich nicht im Streben nach materiellenG tern, sondern erlangt δόξα kraft eigener αρετή.

frg. 5: Unsterblicher Ruhm bei der Nachwelt ist w nschenswerter, alssich an das Leben zu klammern.

frg. 6: νόμος und δίκαιον sind die notwendige St tze des menschlichenZusammenlebens. Selbst vermeintliche Kraftmenschen kommen ohne sienicht aus.

frg. 7: ευνομία bewirkt privates und ffentliches Gl ck (l-7a), dieανομία das Gegenteil (7b-l 1); Ursache und Wesen der τυραννίς (12-16).

1 Textangaben nach VS 89 p. 400-404.2 F. Blass, Commentatio de Antiphonte sophista lamblichi auctore, Kiel 18893 Im folgenden wird der Anonymus lamblichi kurz A. genannt.4 Wie der A. αρετή inhaltlich genau versteht, mu zun chst zur ckgestellt werden.

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Anonymus lamblichi 291

Die Bruchst cke l bis 5 bilden insofern eine Einheit, als sie sich mit derαρετή des e i n z e l n e n befassen, l und 2 besprechen dabei dieunmittelbaren Voraussetzungen (das erste Fragment pro mienartig und sehrallgemein), 3 bemi t das Verhalten eines um vollendete αρετή bem htenMenschen an seinen Leistungen f r die Gemeinschaft, in der er lebt; 4 und 5schlie lich konzentrieren sich auf die Selbstbeherrschung und stellen alsLohn unsterblichen Ruhm in Aussicht.

Dagegen besprechen 6 und 7 mit der Entstehung des Staates auf derGrundlage des νόμιμον και δίκαιον und dessen geordnetem bzw.entartetem Zustand (ευνομία bzw. ανομία) Fragen, die die menschlicheG e m e i n s c h a f t betreffen.

Gleichwohl verbindet der Gedanke des gemeinschaftlichen Wohler-gehens sowie die Hochsch tzung der νόμοι und des δίκαιον die Bruch-st cke 6 und 7 mit dem dritten Fragment, erkl rt dieses doch, m glichstvielen Mitmenschen n tzlich zu sein und die νόμοι nebst dem δίκαιον zuunterst tzen5, zu wesentlichen Kennzeichen vollendeter αρετή dese i n z e l n e n . Da die inhaltliche Gemeinsamkeit des dritten Fragmentesmit den frgg. 1,2,4 und 5 - sc. die αρετή des e i n z e l n e n - davonnicht ber hrt wird, l t sich unstreitig eine gewisse gedankliche Gemein-samkeit zwischen allen frgg. behaupten. Dieser Umstand ist deswegen nichtohne Bedeutung, weil die Bruchst cke damit erwiesenerma en nicht nur aufe i n e n Autor zur ckf hrbar sind, sondern auch ein und derselbenS c h r i f t angeh rt haben d rften6. Es w re jedoch voreilig, das Erhalteneals v o l l t n d i g e n Traktat zu betrachten.

Der erste Abschnitt erkl rt die Naturanlage, das Streben nach demSch nen und Guten und die stete bung zu den notwendigenVoraussetzungen, Vollkommenheit (είς τέλος το βέλτιστον, 1,1; p.400, l f.) in den Bereichen menschlicher Bildung zu erreichen (1,2; p. 400,4-7)7, und das bedeutet in Weisheit (σοφία), Tapferkeit (ανδρεία), und

5 VS 89 p. 401, 23 u. 316 Vgl. Joel 1901, 694.7 Bereits Roller 1931, 12 bemerkt treffend, da der A. „immer nur [etwas

bertrieben, vgl. καλών και αγαθών, 400,6, κακία, 400,26,29 u.a.] den h chsten,vollendeten Grad einer Sache erfa t", und dies sowohl bei erstrebenswerten als auch bei zuvermeidenden Dingen (vgl. τέλος, 400,1,8,14; 401,10,17, βέλτιστον, 400,lf., άκρον.

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Beredsamkeit (εύγλωσσία), und zwar in einem Teil (μέρος τι) oder dergesamten (την σύμπασαν) Tugend (αρετή). Der Gedanke erinnert zun chstan Protagoras frg. 3 φύσεως και ασκήσεως διδασκαλία δεΐται, geht aberinsofern dar ber hinaus, als er sich die Vervollkommnung in den jeweiligenBereichen zum Ziel setzt und dazu das Streben nach dem Sch nen undGuten (έπιθυμητήν γενέσθαι των καλών και αγαθών) empfiehlt. Wasnun das Verst ndnis der ,sch nen und guten Dinge' (καλά και αγαθά)angeht, so bietet der unmittelbare Zusammenhang zwar keinen Hinweis, derdiese Begriffe anders denn als bewu ten R ckgriff auf die traditionelleκαλοκαγαθία erkl ren k nnte, doch wie aus frg. 3 hervorgeht, sieht der A.die Vervollkommnung des Menschen (άριστος είναι) dann verwirklicht,wenn er seine Fertigkeiten ,f r gute Zwecke' (εις αγαθά, 3,1; p. 401,17)verwendet und damit m glichst vielen Mitmenschen n tzt (3,3; p. 401,21-23):

τον τε αύ αρετής όρεγόμενον της συμπάσηςσκεπτέον είναι, εκ τίνος αν λόγου ή έργου άριστοςεϊη· τοιούτος δ' αν εϊη ό πλείστοις ωφέλιμος ων.Bei dem wieder, der nach der ganzen Tugend strebt,ist zu erw gen, durch welches Wort oder Werk er derBeste ist; dies wird ein Mann sein, der den meistenMenschen n tzt*.

Offenkundig versteht der A. den Begriff αγαθός nicht als ,irgendwem'sondern als .m glichst vielen n tzlich'. Da f r ihn zudem vollendete αρετήden Einsatz f r die νόμοι und das δίκαιον (3,6; p. 401,31) - mithin denEinsatz f r die Gemeinschaft impliziert, l t sich mit Recht eine ethischeBedeutung f r die Begriffe καλός und αγαθός ableiten9, und eineBesonderheit des A. liegt offenbar darin, sittliches Verhalten zu einer

400,8, αγαθός τελέως, 401,20, άριστος, 401,23, αληθώς αγαθός, 402,12,έγκρατέστατον, 401,33, ό πλείστοις ωφέλιμος, 401,23, μεγάλα ωφελούσα, 403,15,των μεγάλων αγαθών, 403,16, προσφορώτατα, 403,19f., ήδίστη, 403,25, πάντωνκάκιστον, 401,19, πάγκακος, 401,21, αηδέστατη, 403,24, αηδέστατου, 404,4, κακάμέγιστα, 403,33). Die Superlative h ufen sich wohl deshalb vor allem bei denerstrebenswerten Dingen, weil der A. vorrangig um die gesamte und vollendete αρετήbem ht ist.

8 Zitiert aus Sch nberger 1984.9 Roller 1931, 10

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unabdingbaren Voraussetzung erhoben zu haben, Vollkommenheit zu er-langen.

Doch ist nicht klar ersichtlich, in welchem Verh ltnis die einzelnenDisziplinen Weisheit (σοφία), Tapferkeit (ανδρεία) und Beredsamkeit(εύγλωσσία) zu der Tugend (αρετή) stehen: Zun chst legt die beiordnendeAneinanderreihung dieser vier Begriffe (vgl. 1,1; p. 400,3 εάν τε ... εάν τε)nahe, die αρετή gleichwertig neben die brigen drei Disziplinen zu stellenund als einen zu den rein t e c h n i s c h e n Fertigkeiten hinzutretendenBereich der S i t t l i c h k e i t zu verstehen10. Andererseits erscheint esangesichts der Unterscheidung von gesamter Tugend (αρετή ή σύμπασα)und einem Teil von ihr (μέρος τι αυτής) sinnvoll, αρετή ή σύμπασα alsOberbegriff f r die technische und die sittliche Voll-kommenheit in allen f rdie Bildung des Menschen bedeutenden Disziplinen zu deuten, von der dieσοφία etc. einzelne Teile (μέρη) darstellen11. Diese Annahme erscheint umso sinnvoller, weil der A. direkt im Anschlu an die einzelnen,Bildungsbereiche' die Begabung, das fr he und stetige ben und dasStreben nach den .sch nen und guten Dingen' (καλά και αγαθά) zunotwendigen Voraussetzungen erhebt, Vollkommenheit zu erreichen,o h n e die einzelnen Disziplinen Weisheit (σοφία), Tapferkeit (ανδρεία),und Beredsamkeit (εύγλωσσία) eigens auszunehmen. Vielmehr stellt derText sogar ausdr cklich fest, wenn auch nur e i n e der genanntenVoraussetzungen - Begabung, bung und das Streben nach Sittlichkeit(καλά και αγαθά) - fehle, dann lasse sich in k e i n e r DisziplinVollkommenheit erreichen (1,3; p. 400.7-9)12.

Wenn diese Aussage auch auf die einzelnen Bereiche Weisheit (σοφία),Beredsamkeit (εύγλωσσία) und Tapferkeit (ανδρεία) bertragen werdenkann - und der Text bietet keinen Grund, das zu unterlassen - dann mudemjenigen, der sich nicht um das Sch ne und Gute bem ht, auch in diesenBereichen die Perfektion unerreichbar bleiben. Es ist sinnvoll, die genann-

10 So Roller 1931, 6f. „[Das Stoffgebiet des A.] umfa t ... in seinen drei erstenTeilen die gesamte m gliche Bildung und erg nzt diese im vierten nach der moralischenSeite hin."

11 Dazu bereits Roller 1931, 8, doch ohne auf die Bedeutung von μέρος τι αυτήςeinzugehen.

12 1,3; p. 400,7-9: εΐ δε τι άπέσται τούτων και εν, οΰχ οίον τέ εστίν ο υ δ έ νες τέλος το άκρον έξεργάσασθαι...

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ten drei Disziplinen - statt sie nur auf technische Fertigkeiten wie Klugheit,Zungenfertigkeit etc. zu beschr nken - als μέρη της αρετής, d.h. als solcheBereiche zu verstehen, zu deren Vollkommenheit es auch eines gewissenMa es an Sittlichkeit bedarf. Zudem nennt keines der erhaltenen Fragmenteandere Verm gen, die stattdessen als μέρη της αρετής beansprucht werdenk nnten.

Diese Deutung wird jedoch von frg. 3 erschwert, in dem der A. mit denDisziplinen Beredsamkeit (εΰγλωσσία), Weisheit (σοφία) und k rperlicheKraft (ισχύς) eindeutig rein t e c h n i s c h e Fertigkeiten bezeichnet, dieerst bei der entsprechenden Anwendung ,f r gute und gesetzm igeZwecke' (εις αγαθά και νόμιμα) zu vollkommenem ,Gut-Sein' (αγαθόςείναι, ρ. 401,20), d.h. zur Tugend (αρετή) f hren. Dabei fragt sichzun chst, weshalb der A., wenn die in 1,1 (p. 400,3) genannten Disziplinenauch Sittliches umfassen, in frg. 3 zwei der entsprechenden reint e c h n i s c h e n Fertigkeiten mit denselben Begriffen (sc. Weisheit /σοφία und Beredsamkeit / εΰγλωσσία) belegt. Zwar ersetzt der A. in p.401,17 die Tapferkeit (ανδρεία) durch k rperliche Kraft (ισχύς), als wolleer das nur rein technische Verm gen der Muskelkraft gegen die eigentlicheTapferkeit abgrenzen13, doch ist es auf der anderen Seite schwierig, infrg.l,l (p. 400,3) Beredsamkeit (εΰγλωσσία) rein begrifflich anders dennals rein t e c h n i s c h e Zungenfertigkeit zu deuten, obwohl sich dieεΰγλωσσία im gesamten Z u s a m m e n h a n g von frg. l besserverstehen l t, wenn sie auch die bei richtiger Anwendung ,f r guteZwecke' (εις αγαθά) hinzukommende S i t t l i c h k e i t im Bereiche derRhetorik bezeichnet.

Doch selbst die Begriffe ,gut' (αγαθός) und ,tapfer' (ανδρείος) bleibenvon derartigen Unklarheiten nicht verschont: In frg. 2,6f. grenzt der A. reintechnisches Verm gen (τέχνη), das sich beispielsweise im Bereich derRhetorik in kurzer Zeit in einem Ma e aneignen lasse, da der Sch ler mitseinem Lehrer konkurrieren k nne (p. 401,8f.), gegen die Tugend (αρετή)

13 Roller 1931, 8 begr ndet diese Annahme mit der Verwendung von ισχύς alsSynonym zu ανδρεία (401,17). Es fragt sich aber, ob der A. mit einer Ver nderung desBegriffes nicht auch auf eine andere Bedeutung verweist. hnlich versteht auch Guthrie ΠΙ1969, 71, σοφία, ανδρεία und εΰγλωσσία ausschlie lich als technische Fertigkeiten.

berhaupt widerspricht - wenn ich recht sehe - dem Ansatz Rollers, ανδρεία von ισχύςher zu deuten, in der neueren Forschung niemand.

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ab, zu der unweigerlich auch die Enthaltsamkeit von schlechten Worten undWerken, d.h. die Sittlichkeit geh re (p. 401,9ff.). Ordnet man nun »Gut-Sein' (αγαθός είναι) und die Tapferkeit (ανδρεία) der αρετή zu, sod rften diese nur auf dem Wege dauerhafter und anhaltender bungerreichbar sein, auf keinen Fall jedoch in kurzer Zeit. Aber in 2,8 versuchtder A. die Unstatthaftigkeit schneller Erfolge mit dem Argument zuerweisen, was auch immer jemand in kurzer Zeit erreiche, ob er reich(πλούσιος), klug (σοφός), , g u t ' ( α γ α θ ό ς ) oder gar t a p f e r(ανδρείος) werde, solche raschen Erfolge ernteten bei den MitmenschenArgwohn und Mi gunst. Bezeichnen αγαθός und ανδρείος είναι doch nureine rein technische Gutartigkeit und blo e Muskelkraft? Oder versteht derA. sie in d i e s e m Zusammenhang als nur s c h e i n b a r e Tugenden(άρεταί)? Schlie lich verwendet er - soweit der erhaltene Text erkennenl t - ,gut' (αγαθός) ansonsten ausschlie lich als Begriff, der stets auchsittliche Eignung umfa t. M glicherweise nimmt er in 2,8 eine gewissebegriffliche Unklarheit in Kauf, weil sein Hauptanliegen darin bestehtnachzuweisen, da jedwede Fertigkeit und Auszeichnung Mi trauen erregt,wenn sie in kurzer Zeit erworben wird.

Festhalten l t sich:1. Der Zusammenhang von frg. l legt nahe, Weisheit (σοφία), Tapferkeit(ανδρεία) und Beredsamkeit (εύγλωσσία) als Teile (μέρη) einer Sittlich-keit mitumfassenden Gesamt-άρετή zu verstehen, die ihrerseits auch selbstSittlichkeit mit einschlie en. Andere μέρη nennt der Text nirgends.2. Rein begrifflich liegt wenigstens f r εύγλωσσία die rein technischeBedeutung .Zungenfertigkeit' n her.3. In frg. 3,1 vertreten Weisheit (σοφία), Beredsamkeit (εύγλωσσία) undk rperliche Kraft (ισχύς) rein technische Fertigkeiten, die erst beientsprechender Anwendung f r gute und gesetzliche Zwecke' (εις αγαθάκαι νόμιμα) zum ,Gut-Sein' (αγαθός είναι) f hren. Der Folgerung, auchin 1,1 d rfte Tapferkeit (ανδρεία) durch k rperliche Kraft (ισχύς) ersetztwerden, steht der Zusammenhang von frg. l, insbesondere der Mangelanderer M glichkeiten, die .Teile der Tugend' (μέρη της αρετής) zuidentifizieren, entgegen. M glicherweise spricht frg. 3,1 (p. 401,16f.) imUnterschied zu frg. 1,1 (p. 400,2f.) statt von Vollendung , vollkommenerVollendung4 (εις τέλος το βέλτιστον) von der einfachen Vollendung (εις

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τέλος), um die bezeichnete Perfektion als ausschlie lich t e c h n i s c h egegen die in frg. l besprochene technische und s i t t l i c h eVollkommenheit abzugrenzen14. Doch ist es angesichts der Unklarheiten imText des A. fraglich, wie sehr sich derartige Details f r die Deutung belastenlassen.4. In frg. 2,8 (allerdings nur dort) bezeichnet ,gut' (αγαθός, p. 401,14f.)allenfalls eine s c h e i n b a r e Sittlichkeit, oder man m te dem A.unterstellen, er habe bewu t eine Unklarheit in Kauf genommen, umgenerell die Fragw rdigkeit rascher Erfolge hervorzuheben.

Immerhin belegt frg. 3,1, da nach Ansicht des A. einzelne technischeFertigkeiten (sc. εύγλωσσία, σοφία, ισχύς) f r sich genommen beientsprechender Anwendung ,f r gute Zwece' (εις αγαθά) zum ,Gut-Sein'(αγαθός είναι) und damit zur Sittlichkeit f hren k nnen. Diesen .Einzel-tugenden' stellt 3,3 (p. 401,21-23) mit τον τε αύ αρετής όρεγόμενον τηςσυμπάσης (der, der nach der gesamten Tugend strebt)) das Streben nachder umfassenden Sittlichkeit entgegen, ohne damit die Sittlichkeit in denEinzelbereichen zu leugnen. Demnach versteht der A. der S a c h en a c h tats chlich die ,f r gute Zwecke' (εις αγαθά) verwandteZungenfertigkeit etc. als .Teile der Tugend' (μέρη της αρετής); fraglich istnur, ob die in frg. 1,1 genannten B e g r i f f e Weisheit (σοφία), Tapfer-keit (ανδρεία) und Beredsamkeit (εΰγλωσσία) eben diese auch die Sittlich-keit umfassenden Teile (μέρη) wirklich bezeichnen15, oder ob der A. diese

14 berhaupt bezeichnen die Steigerungen vom Stamme βελτ- h ufig denmoralisch-sittlichen Wert; vgl. Chantraine, 173.

15 Es ist demnach nicht zwingend notwendig, mit Nestle 21942, 425, den .Einzel-άρεταί' (σοφία etc.) ihre moralische Bedeutung pauschal abzusprechen. Lediglich in 3,1stehen sie f r ausschlie lich technische Fertigkeiten - wie u.a. der Begriff ίο·χύς zeigt -,werden in diesem Zusammenhang jedoch nirgends als αρετή bezeichnet. Vielmehr bem htder A. sich, den Begriff der αρετή im rein technischen Zusammenhang zu vermeiden undspricht stattdessen von der rechten Anwendung des .vorhandenen Gutes' (sc. dertechnischen Fertigkeit; vgl.401.18f.): ει ... χρήσεταί τις τφ ΰ π ά ρ χ ο ν τ ιά γ α θ φ ...

Verwendet dagegen der A. den an sich wertneutralen Begriff αγαθός (vgl. Chantraine,6) in moralisch-sittlichem Sinne, so verbindet er ihn mit einem weiteren Begriff (καλός,νόμιμος) und macht damit die sittliche Bedeutung kenntlich: Beispielsweise strebt der umdie gesamte αρετή Bem hte nach den καλά και αγαθά (400, 6) und verwendet seineFertigkeit auf αγαθά και νόμιμα (401,17f.) statt auf άδικα τε και νόμιμα.

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lediglich unausgesprochen voraussetzt; d.h. insgesamt reduziert sich dieseFrage auf eine lediglich b e g r i f f l i c h e Schwierigkeit.

Das h chste Ziel menschlicher Bildung besteht f r den A. darin, mitHilfe der Voraussetzungen von Begabung, Streben nach Sittlichkeit sowiefr hzeitiger und anhaltender bung (frg. l,2f.) technische und sittlicheVollkommenheit, d.h. die »gesamte Tugend' (αρετή ή σύμπασα) zuerreichen. Doch motiviert der A. das menschliche Bem hen um diese αρετήnicht einfach mit dem altruistischen Hinweis, der .Beste' (άριστος) seim glichst vielen Mitmenschen n tzlich, sondern l t es - wie aus denAbschnitten 2, 4 und 5 hervorgeht - aus dem Streben nach Ruhm (δόξα)erwachsen. Diese auf den ersten Blick idealistische Sichtweise ist imGrunde nichts als e i n Versuch, ethische Grunds tze mit dem Eigennutzzu verbinden. (Einen zweiten Weg beschreiten die frgg. 3 und 7, indem sieden materiellen Vorteil des zum Wohle anderer Handelnden beachten; vgl.3,4; p. 401,26f. und 7,2; p. 403,20.)

So kn pft frg. 2 direkt an den bereits in l besprochenen Gedanken an,wer sich um Tugend (αρετή ) bem he, m sse sich fr hzeitig und anhaltenddaf r einsetzen (1,2; p. 400,7), indem es erkl rt, woraus jemand Ruhm(δόξα) ernten wolle, darin m sse er sich von Jugend an und best ndig ben(2,1; p. 400,11-13)16.

Es geht aber nicht darum, auf jedwede Weise seinen Geltungsdrang zubefriedigen, sondern sich in seinen Bem hungen als derjenige zu erweisen,der man auch tats chlich ist (vgl. τοιούτος φαίνεσθαι, οίος αν ·η). δόξαbezeichnet demnach den guten Ruf desjenigen, den seine Mitmenschenaufgrund seiner tats chlichen Eigenheiten und Leistungen mit Recht lobendanerkennen. Diese fr hzeitige und anhaltende Ein bung in die αρετήsch tzt nach Ansicht des A. sogar vor Neid und Mi gunst (φθόνος), weil

16 2, l; p. 400,11-13): εξ ου αν τις βούληται δόξαν παρά τοις άνθρώποις λαβείνκαι τοιούτος φαίνεσθαι, οίος αν ή, αύτίκα δει νέον τε αρξασθαι και έπιχρήσθαιαΰτφ όμαλώς αεί και μη άλλοτε άλλως.

Barigazzi 1992, 257 vermi t ein Beziehungswort zu έπιχρήσθαι α ΰ τ φ und erg nztinfolgedessen δόξαν (περί τι) παρά τοις άνθρώποις. Doch l t sich αΰτφ problemlos aufεξ ου (400,11) beziehen, bezeichnet dieses doch die Quelle, aus der der Betreffende δόξαsch pfen m chte, und stellt somit das Objekt seiner Bem hungen dar. Zur Verbindungλαμβάνειν εκ τινός vgl. Ar. Nub. 1123 λαμβάνων οΰΥ οίνον ούΥ αλλ' ουδέν εκ τουχωρίου. Plat. Rep. 347b8 [χρήματα] εκ της αρχής λαμβάνοντες; zu weiteren Stellenvgl. LSI.

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sie sich die Anerkennung erzwingt, obwohl es den Menschen in der Regelschwerf llt, andere ob ihrer Leistung zu achten (2,3; p. 400,17-20; vgl.auch 2,5; p. 401,4f.)17.

Umgekehrt vermag derjenige, der in kurzer Zeit blo technischeFertigkeiten erwirbt, zwar dem dauerhaften Ruhm (δόξα) mit Trug undT uschung nachzujagen (vgl. 2,4; p. 401,If. θηρεύεται την δόξαν επίαπάτη), erlangen wird er jedoch nur das kurzfristige Ansehen (ευδοξία,2,8; p. 401,13-15):

άμα δε τις και τη εξ ολίγου χρόνου ευδοξίαπροσγίγνεται βλάβη τοιάδε· τους γαρ έξαπιναίωςκαι εξ ολίγου χρόνου ή πλουσίους ή σοφούς ήαγαθούς η ανδρείους γενομένους ουκ αποδέχονταιήδέως οί άνθρωποι.Zugleich erw chst einem Ansehen, das in kurzer Fristentsteht, folgender Schaden: Man nimmt Leute, die aufeinmal und binnen kurzem reich, weise, gut odertapfer wurden, nicht gerne an18.

Mit der feinen Unterscheidung von dauerhaftem Ruhm (δόξα) undkurzfristigem Ansehen (ευδοξία)19 grenzt der A. im Grunde wahrhaftesSein gegen reinen Schein ab und vertraut darauf, da sich die tats chlicheTugend (αρετή) kraft ihrer ,Echtheit' den entsprechenden Ruf bei denMitmenschen zu verschaffen wisse. Sicherheit erweist sich damit als dergemeinsame Nenner dessen, was der A. empfiehlt: Wer sich um wahrhafteαρετή bem ht, wird diese nur auf dem Wege fr hzeitiger und stetigerEin bung erreichen, daf r aber bei seinen Zeitgenossen sichere δόξαernten.

Diese Gedankenreihe findet in den frgg. 4 und 5 ihre folgerichtigeFortsetzung: Wenn das Ziel menschlichen Handelns darin besteht,m glichst vollkommene αρετή und sichere δόξα zu erreichen, dann sind —

17 2,3; p. 400,17-20: ου γαρ ηδύ τοις άνθρώποις αλλον τινά τιμάν (αυτοί γαρστερίσκεσθαί τίνος ηγούνται), χειρωθέντες δε υπό της ανάγκης αυτής και κατάσμικρόν εκ πολλού έπαχθέντες έπαινέται και άκοντες όμως γίγνονται.

18 bersetzung nach Sch nberger.19 hnlich penibel unterscheidet der A. in frg. 7,4 (403,25f.) Schwierigkeiten

(πράγματα) von sinnvollen T tigkeiten (έργα). M glicherweise lie er sich dabei von derSynonymik des Prodikos anregen; vgl. VS 84 A 13-19.

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Anonymus lamblichi 299

so frg. 4 - materielle G ter zweitrangig. Sie stellen vielmehr eine hnlichunsichere und nur scheinbar werthafte Grundlage f r die Vollendung desMenschen dar wie die T uschung (απάτη) und die rein technischePerfektion (τέχνη) f r die - nat rlich auch nur unsichere - ευδοξία.Infolgedessen sollte der Mensch sich in Selbstbeherrschung ben, statt demLeben anzuh ngen und den Dingen nachzujagen, die allein dem biolo-gischen berleben dienen (4,1; p. 401,33-36)20.

Dennoch bem hen sich die meisten Menschen ebensowenig um dasGerechte (τοις δικαίοις) wie um die αρετή21, sondern klammem sich anihre ψυχή als ihr lebensspendendes Prinzip22. Diese suchen sie mitmateriellen G tern (v.a. Geld) vor Unbill und Gefahr zu sch tzen, alsstellten derartige G ter einen dauerhaften Wert dar (4,2; p. 402, l-3)23.Allerdings bietet selbst das Anh ufen von Reichtum keine Sicherheit, weildas Leben und der pers nliche Besitz oftmals unvermeidbaren Gefahrenwie Krankheit, Alter und h herer Gewalt ausgesetzt sind (4,3; p. 402,3-

20 4,1; p. 401,33-6: και μην έγκρατέστατόν γε δει είναι πάντα άνδραδιαφερόντως· τοιούτος δ' αν μάλιστα εΐη, ει των χρημάτων κρείσσων ε'ίη προς απάντες διαφθείρονται, και της ψυχής άφειδής επί τοις δικαίοις έσπουδακώς και τηνάρετην μεταδιώκων προς ταΰτα γαρ δύο οι πλείστοι ακρατείς είσι.

21 Daraus erhellt erneut, da das Streben nach αρετή ein sittliches ist. DieserGedanke klingt in 4,1 allerdings nur am Rande an, und es wird ebd. nicht erl utert, worindas besagte Gerechte besteht.

22 Zu dieser Bedeutung von φυχή vgl. Anaxag. B 4 (VS 59 p.34,9), Diog. Apoll. B5 (VS 64 p. 61,15), Demokr. B 278 (VS 68 p. 203,5); zur Verbindung von ζωή undφυχή vgl. Juv. 6,195.

2^ 4,2; p.402,1-3: φιλοψυχοΰσι μεν (sc. οι πλείστοι), ότι τούτο φ ζωή εστίν ήψυχή· ταύτης ουν φείδονται και ποθοΰσιν αυτήν (sc. την ψυχήν) δια φιλίαν της ζωήςκαι συνήθειαν ή συντρέφονταν φιλοχρηματοΰσι δε τώνδε εϊνεκα, απερ φοβεΐ αυτούς.

Das berlieferte ότι τοΰτο ή ζωή εστίν ή ψυχή ist eindeutig verbesserungsbed rftigund wurde von Diels mit... φ ζωή εστίν ... sinnvoll ge ndert. Auch wenn sich nicht mitletzter Sicherheit sagen l t, wie der Text urspr nglich aussah, so wird der Sinn derDielsschen Konjektur inhaltlich best tigt, weil der A. im folgenden (402,1-3) erkl rt, dieMenschen schonten ihre ψυχή aus Liebe zur ζωή; vgl. auch Wilamowitz' Konjekturτοΰτο φ ζώσίν εστίν ή ψυχή, der gegen ber Diels' Vorschlag den Vorteil hat, mit derBeibehaltung von ζωή m glichst viel berlieferten Text zu bewahren, zumal im folgendenζωή in της ζωής w rtlich wiederkehrt.

24 Ausdr cklich hebt der A. diese unvermeidbaren nat rlichen ζημίαι von denζημίαι αϊ εκ των νόμων ab, die deswegen nicht notwendig schadeten, weil sich vor ihnenjeder in acht nehmen k nne (402,4f.). Der Gedanke erinnert an Antiphons Unterscheidungnat rlicher Notwendigkeiten (φύσεως αναγκαία) von konventioneller Willk r

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300 Anonymus lamblichi

So manch einer verfolgt mit materiellen G tern noch ein anderes Ziel undsucht sich mit Geld Geltung und Ansehen zu verschaffen (4,5; p. 402,9-II)25. Doch jagt der wahrhaft treffliche Mensch - wie bereits das zweiteBruchst ck feststellte - nicht mit Hilfe aufgesetzten Putzes dem dauerhaftenRuhm (δόξα) nach, sondern sucht sie einzig mit seiner eigenen undtats chlichen Vollkommenheit zu erreichen (4,6; p. 402,12f.)26.

Bei dieser Unterscheidung von Sein und Schein spricht der A. sicheindeutig f r das immaterielle Gut der auf wahrer αρετή beruhenden δόξαaus und zieht sie den keineswegs krisensicheren χρήματα vor.

Im folgenden (frg. 5) geht er in dieser Ansicht sogar so weit, den Ruhmbei der N a c h w e l t der Liebe zum eigenen Leben vorzuziehen. Nurwenn der Mensch unsterblich w re, lie e sich seine φιλοψυχία, seineLiebe zu seinem Leben, entschuldigen (5,1; p. 402,14-16)27. Angesichtsder Hinf lligkeit und Sterblichkeit des Menschen liegt aber ein h herer Sinnin dem Bem hen, wenigstens unsterblichen R u h m zu erlangen (ευλογίααέναος), statt stets an seinem Leben zu kleben (5,2; p. 402, 16-20)28.

(όμωλογηθέντα / vgl. B 44 A I, 23ff.), wird jedoch von dem A. nicht gegen die νόμοιverwendet. Offenbar h lt der A. die gesetzlichen ζημίαι deswegen f r vermeidbar, weilsich schlie lich jeder an die Gesetze halten k nne, und nicht etwa - wie Antiphonfeststellt -, weil sie sich auch unbemerkt bertreten lassen.

25 4,5; p.402,9-11: και αλλ' αττα δε εστίν απερ οϋχ ήσσον ή τα προειρημέναέξορμςί τους ανθρώπους επί τον χρηματισμόν, αϊ προς αλλήλους φιλοτιμίαι και οιζήλοι και αϊ δυναστεΐαι...

2ί> 4,6; ρ. 402,12f.: όστις δε εστίν άνήρ αληθώς αγαθός, ούτος ουκ άλλοτρίφκοσμώ περικειμένφ την δόξαν θηράται (vgl. 2,4; ρ. 401,1 f.), άλλα τη αύτοΰ αρετή.

27 5,1; ρ. 402,14-6: ... ει μεν υπήρχε τφ άνθρώπφ ... άγήρφ τε είναι καιάθανάτφ .... συγγνώμη αν (ην) πολλή τφ φειδομένω της ψυχής.

2 8 Wilamowitz erschlie t aus der Verbindung κλέος αέναο v in Heraklit B 29, imA. sei in p. 402,20 κλέος ausgefallen. Da jedoch der A. άέναον auf εύλογίαν bezieht, istdie Analogie nicht zwingend. Der erhaltene Text ist auch dann verst ndlich, wenn man dasanscheinend bezugslose άθάνατον substantivisch deutet und inhaltlich εΰλογίαν άέναονvorwegnehmen l t, etwa als „t richt ist es ... nicht etwas Unsterbliches anstelle von ihr(sc. der ψυχή) zu hinterlassen, (d.h.) anstelle von ihr, die ja sterblich ist, immerw hrendenRuhm". Es w re wohl n tig, hinter άθάνατον ein τι zu erg nzen. Der wohl auf Anhiebverst ndlichste Text ergibt sich, wenn man mit Friedl nder in 402,19 άθάνατον άντ'αυτής tilgt. Man m te es dann aber als ein Konglomerat zweier Doppelungen deuten,insofern μη [άθάνατον] 402,17f. wiederholt und άντ' αυτής das άντϊ θνητής ούσης von402,20 abwandelt. Der Sinn ist jedenfalls nicht strittig.

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Anonymus lamblichi 301

Deutlich zeichnet sich somit eine GedankenHnie ab, die von dem zweitenber das vierte Fragment f hrt und im f nften Bruchst ck kulminiert: frg. 2

weist den Weg zu unumst licher δόξα bei den Mitmenschen, indem esfr hzeitiges und anhaltendes Bem hen empfiehlt, technische und sittlicheVollkommenheit zu erreichen (2,1-3). Rein technisches Verm gen gilt alsblo er Schein von Vollkommenheit und l uft zu Recht Gefahr, Mi gunst zuernten (2,4-8). Frg. 4 geht einen Schritt weiter und weist den nurscheinbaren - weil unsicheren - Wert materieller G ter sowie der Liebezum Leben (φιλοψυχία) zur ck: nur die tats chliche eigene αρετή f hreden wahrhaft guten Mann (άνηρ αληθώς αγαθός) zu wirklicher δόξα beiseinen Mitmenschen. Frg. 5 schlie lich stellt besagter unsichererφιλοψυχία fortw hrenden und unsterblichen Ruhm bei der Nachweltentgegen.

Im Gegensatz dazu richtet frg. 3 den Blick bereits auf die menschlicheGemeinschaft, indem es die erw hnte sittliche Vollendung des Menscheni n h a l t l i c h als richtige Anwendung seiner technischen Fertigkeiten,d.h. zum Nutzen m glichst vieler Mitmenschen erkl rt29 (s.o. S.290).Doch versteht der A. besagten άνήρ αγαθός nicht etwa als Altruisten,sondern l t ihn zum Nutzen der menschlichen Gemeinschaft in ihrerinstitutionalisierten Form - also zum Nutzen der Gesellschaft handeln (3,1;p. 401,17f.):

τούτω είς αγαθά και ν ό μ ι μ α καταχρήσθαιδει.Man mu diese (sc. die jeweilige technische Fertigkeit,)f r gute und gesetzm ige Zwecke verwenden.

Wie er in frg. l ,2 (p. 400,6) einerseits recht vage erkl rt, αρετή bedeute,nach dem Sch nen und Guten zu streben30, andererseits jedoch inhaltlichbereits voraussetzt, was er in frg. 3 als Nutzen f r m glichst viele erkl rt,so schwebt ihm in frg. 3,1 mit der allgemeinen Formulierung ,fur gesetz-m ige Zwecke' (εις νόμιμα) eine bestimmte und, wie sich aus den frgg. 6und 7 ergibt, nach dem Prinzip der ,guten inneren Ordnung' (ευνομία)verfa te Gesellschaft vor. In den erhaltenen Abschnitten enth llen sichallgemeine Begriffe oftmals erst im nachhinein.

29 Vgl. 3,3; p. 401,23: τοιούτος (sc. ο άριστος) εΐη ό πλείστοις ωφέλιμος ων.30 1,2; ρ. 400,6: ... έπιθυμητήν γενέσθαι των καλών και αγαθών ...

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302 Anonymus lamblichi

So schlie t er, nachdem er die h chste sittliche Vollendung desMenschen mit dem Nutzen f r m glichst viele bezeichnet hat (3,3; p.401,23), zun chst nur bestimmte Mi verst ndnisse aus und erkl rt,welches Handeln nur scheinbar zur sittlichen Vollendung f hrt, statt sofortBeispiele seiner Auffassung von Sittlichkeit zu bieten: Wer glaube, mitreichlichen Geldgeschenken ein .Bester' (άριστος) werden zu k nnen,bersehe zwei Schwierigkeiten: Zum einen lasse sich Geld schwerlich in

gr eren Mengen gewinnen, ohne bei anderen Neid und Mi gunst zuerwecken, weil man es zwangsl ufig auf unehrenhafte Weise (wie-der)erwerbe, zum anderen k nne ein allzu spendabler Spender verarmenund damit letztlich sich selbst schaden (3,4; ρ. 401.23-28)31. Erst aufdiesem Umweg kehrt der A. nach Art einer Ringkomposition zu seinerbereits zu Beginn des dritten Fragmentes angedeuteten Ansicht zur ck,sittlich verhalte sich, wer sich f r die νόμιμα einsetze, und pr zisiert sie,indem er zum ersten Mal in den erhaltenen Abschnitten νόμοι und δίκαιονals Begriffs p a a r verwendet (3,6; p. 401,30f.):

ώδε οΰν εσται τοΰτο, εί τοις νόμοις τε και τφδικαίφ έπικουροίη·Dies wird folglich so sein, wenn er den Gesetzen unddem Gerechten zu Hilfe kommt.

Weshalb sittliches Verhalten gerade in dem Einsatz f r die νόμοι und dasδίκαιον besteht, ergibt sich gem dem A. aus deren Bedeutung f r denZusammenhalt der menschlichen Gesellschaft (ebd., p. 401,3If.):

τοΰτο γαρ τάς τε πόλεις και τους ανθρώπους τοσυνοικίζον και το συνέχον είναι.Dies ist es n mlich, was die St dte und die Menschenzusammenbringt und zusammenh lt.

Sittlichkeit hei t, sich f r die νόμοι und das δίκαιον als Grundpfeilerdes menschlichen Zusammenlebens einzusetzen und damit einergr tm glichen Zahl von Mitmenschen zu n tzen32. Dennoch vernach-l ssigt der A. den Eigennutz des einzelnen Menschen keineswegs. Zumeinen r t er - wie bereits besprochen - davon ab, mittels gro z giger Spen-

31 3,4; p. 401,23-8: ei μεν τις χρήματα διδούς ευεργετήσει τους πλησίον,άναγκασθήσεται κακός είναι πάλιν αύ συλλέγων τα χρήματα ... ε'ίτα αυτή αύθιςδευτέρα κακία προσγίγνεται... εάν εκ πλουσίου πένης γένηται ...

32 Vgl. Eur. ΙΑ. 572 (αρετή)... μείζω πόλιν αΰξει.

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Anonymus lamblichi 303

den ein .bester Mann' (άνηρ άριστος) sein zu wollen, weil entweder dieWiederbeschafftmg des Geldes auf ble Wege oder gar stetige Gro z gig-keit zur Verarmung f hren k nne (3,4), zum anderen bieten die νόμοι unddas δίκαιον gerade dem einzelnen Menschen die f r seine Entfaltung n tigeSicherheit. Den Nachweis dieses Schutzes gerade f r das eigene Interessedes einzelnen erbringt frg. 633.

Es beschreitet dabei den gleichen Weg wie in 3,4, erkl rt, welchesVerhalten n i c h t zur αρετή f hre, und bekr ftigt die Richtig- und dieWichtigkeit νόμος-konformen Handelns: Falsch sei es anzunehmen, dasStreben nach berlegenheit (πλεονεξία) sei Tugend (αρετή), Gesetzes-gehorsam dagegen Feigheit (δειλία) (6,1; p. 402,21f.)34.

Aufgrund ihres Gegensatzes zum ,feigen Gesetzesgehorsam' empfiehltes sich, πλεονεξία als p o l i t i s c h e s Machtstreben zu verstehen,anstatt mit ihr als finanzieller berlegenheit einen Anschlu zur materiellenGewinnsucht des vierten Fragmentes zu suchen35. Der A. richtet sich mitdiesem Argument eindeutig gegen diejenige Art der νόμος-Kritik, wie siebesonders im Umkreis der Lehre vom Recht des St rkeren ausgesprochenwurde, versuchten doch - nach den entsprechenden platonischen Zeug-nissen - gerade Thrasymachos36 und Kallikles, dem f r den Handelndennutzlosen νόμος-Gehorsam den Nutzen der πλεονεξία entgegenzustellen.Vielmehr sind nach der berzeugung des A. reine »Kraftmeierei' und derDrang nach berlegenheit unsittlich und geradezu nutz l o s (6,1, p.402,23f.)37.

33 Interessanterweise kn pft frg. 6 an frg. 3,6 hnlich eng an, wie die frgg. 4 und 5den Gedankengang von frg. 2 fortsetzen, indem sie dessen Grundgedanken, das Strebennach Ruhm unter den Mitmenschen, fortf hren und mit dem Streben nach Ruhm ber denTod hinaus bei der Nachwelt (frg. 5) berh hen. M glicherweise ist es sinnvoll, die beilamblich berlieferte Reihenfolge der Bruchst cke zu ndern, doch w rde eine n hereUntersuchung dieser Fragen den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen.

34 6,1; p. 402,21 f.: έτι τοίνυν ουκ επί πλεονεξίαν όρμάν δει, ουδέ το κράτος τοεπί τη πλεονεξία ήγεΐσθαι άρετήν είναι, το δε των νόμων ύπακούειν δειλίαν.

3 * Anders Roller 1931,47.3 6 Es sei allerdings darauf hingewiesen, da Thrasymachos nicht zu den Vertretern

des Rechtes des St rkeren z hlt, sondern sich bei seiner νόμος-Kritik lediglich z.T.derselben Argumente bedient; dazu s.o. Kap. II l, S.71-93.

37 6,1; p. 402,23f.: πονηρότατη γαρ αυτή ή διάνοια εστί (sc. die Ansicht, κράτοςsei αρετή), και εξ αυτής πάντα τάναντία τοις άγαθοΐς γίγνεται, κακία τε και βλάβη.

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304 Anonymus lamblichi

Weshalb sich derjenige, der sich ber die νόμοι zu erheben versucht, inseigene Fleisch schneidet, das versucht frg. 6 - wohl in Anlehnung an denMythos des Protagoras38 - mit der Notwendigkeit der νόμοι f r das

berleben der Menschen zu begr nden: Der A. entwirft das Bild einerMenschheit, die zwar aufgrund ihrer Unf higkeit, jeweils einzeln zuberleben (αδύνατοι καθ' ένα ζην, ρ. 402,24f.), zusammenfindet, sich

aber, mag sie auch die notwendigen Kulturtechniken entwickeln (τεχνή-ματα), mit diesem Zusammenschlu nur noch gr eren Schaden zuf gt(μείζω ζημίαν, ρ. 402,27), da sie es nicht versteht, anders als in Gesetz-losigkeit zu leben (... καν ανομία διαιτάσθαι ...; p. 402,27)39. DiesesArgument greift im Grunde nicht nur die bereits in frg. 2,7 getroffeneUnterscheidung von technischer Fertigkeit (τέχνη) und Tugend (αρετή)(insofern sie den Einsatz f r die νόμοι und das δίκαιον bezeichnet) wiederauf, sondern leitet die Notwendigkeit der νόμοι und des δίκαιον aus dervon N a t u r bestehenden Bed rftigkeit des Menschen ab. Entsprechenderkl rt unser Sophist (p. 402,29f.):

φύσει γαρ ισχυρά ένδεδέσθαι ταύτα (sc. οι νόμοικαι το δίκαιον)

Diese Aussage l t sich auf drei verschiedene Arten deuten:l. Da ένδεδέσθαι nachweislich mit dem Dativ verwandt wird40, liegt eszun chst nahe, φύσει als den von ένδεδέσθαι (verwurzelt sein) abh ngigenDativ anzusehen. Demnach w ren die νόμοι und das δίκαιον fest in derNatur verwurzelt, und man m te, da sich die Notwendigkeit dieser beiden

38 Vgl. Plat. Prot. 320c8-322c5.39 In 6,1 (402,24) hat ει wohl kausale Bedeutung; vgl. K hner/Gerth II 2,481 und

danach Roller 1931,50.40 ένδεδέσθαι bezeichnet mit dem reinen Dativ eine feste Bindung weniger durch

als a n etwas; vgl. Herod. III 19,2 όρκίοισί τε γαρ μεγάλονσι ένδεδέσθαι. Es ist daher,nicht zwingend notwendig, φύσει mit ,von Natur' wiederzugeben, zumal der Text damiteine ,von Natur' bestehende Verbindung zwischen den νόμοι und dem δίκαιον behauptete,obwohl er die Widerspruchsfreiheit zwischen den νόμοι und dem δίκαιον nirgends inFrage stellt und es unn tig w re, die zwischen diesen beiden Gr en bestehendeVerbindung mit φύσει zu bekr ftigen. Vielmehr setzt der A. bereits nach Ma gabe desδίκαιον ausgebildete νόμοι voraus und versucht nun, eine Br cke von diesen zurmenschlichen φύσις zu schlagen. Vgl. dagegen Untersteiner 1943/44 (1976), 597, Kahn1981, 108, Kyrkos 1988, 147 und Barigazzi 1992, 248.

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Anonymus lamblichi 305

Gr en aus der Bed rftigkeit des Menschen herleitet, φύσις alsm e n s c h l i c h e Natur verstehen41.

Will man hingegen φύσει mit ,νοη Natur' wiedergeben, so ergeben sichzwei weitere M glichkeiten:2. Der A. behauptet, von Natur seien die νόμοι und das δίκαιον festm i t e i n a n d e r verbunden. Diese Aussage entspricht aber nicht dem,was man als Schlu folgerung aus den voraufgehenden Ausf hrungen (p.402,24-29) erwarten m te, begr ndet der A. mit ihnen doch dieNotwendigkeit der νόμοι und des δίκαιον f r die menschlicheGemeinschaft und nicht die enge Verbindung jener beiden »Regulative'miteinander. Vielmehr setzt er deren Verbindung stets voraus.3. Zu ένδεδέσθαι ist aus dem voraufgehenden Satz τοις άνθρώποις zuerg nzen. Demnach stellt der A. fest, von Natur (φύσει) seien die νόμοιund das δίκαιον fest in den Menschen verwurzelt. Diese Varianteunterscheidet sich nur darin von der bereits besprochenen M glichkeit (1),da sie φύσις begrifflich von oi άνθρωποι trennt.

Die beiden in Betracht kommenden M glichkeiten (1) und (3) stimmenin der Grundaussage berein, die νόμοι und das δίκαιον seien fest imWesen des Menschen verankert. Damit bieten sie Anhaltspunkte, die dasVerst ndnis des Begriffs φύσις in dem Traktat des A. erleichtern. Wenn dieνόμοι und das δίκαιον mit der Natur oder von Natur mit den Menschenverbunden sind, dann bezeichnet φύσις entweder selbst die menschlicheNatur oder einen mit dieser eng verwandten Bereich. Zu denken w re imletzteren Falle etwa an die Natur, wie sie allgemein nach griechischem undinsbesondere nach sophistischem Verst ndnis die Genese einer Sache undnicht zuletzt die einer Gesellschaft bezeichnet42. Unwahrscheinlich ist

41 Sch nberger 1984, 67 bersetzt φύσις mit „Natur der Dinge". Doch erkl rt sichin 6,1 die Notwendigkeit von νόμοι und δίκαιο ν hinreichend aus derm e n s c h l i c h e n Natur. Zudem ist ein umfassender φύσις-Begriff auch in denbrigen Fragmenten des A. nicht erkennbar.

42 Nach Naddaf 1992, 61 ff. und 269ff. bezeichnet φύσις in der griechischenLiteratur seit der archaischen Zeit nachweislich drei Bereiche: den der Kosmogonie, den derAnthropologie und den der Entstehung der Gesellschaft. Doch stehen die anthropologischeund die gesellschaftliche φύσις einander insofern nahe, als im Grunde beide das Wesen derMenschheit bezeichnen, jene, wie es sich in jedem einzelnen Menschen ausdr ckt, unddiese, wie es in der gesellschaftlichen Entwicklung zutage tritt. Streng genommen leitetsich die φύσις der gesellschaftlichen Entwicklung aus den jeweiligen φύσεις der einzelnen

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306 Anonymus lamblichi

hingegen, in ihr die kosmische All-Natur zu erblicken, aus der sich f r denA. etwa ein umfassendes Naturrecht ableiten lie e. Wie der Text von frg.6,1 (p. 402,24-30) nahelegt, bleibt der φύσις-Begriff des A. demmenschlichen Bereich verhaftet, sei es dem des einzelnen Menschen selbstoder sei es dem der menschlichen Gesellschaft und ihrer Gesetz-m igkeiten, die letztlich auf dem Wesen der einzelnen Menschen fu en,die diese Gemeinschaft bilden. Dieser Umstand erschwert naturgemsolche Deutungen, die den A. als Vertreter einer umfassenden Naturrechts-theorie oder eines nat rlichen νόμος verstehen43. Immerhin besteht f r denA. zwischen den νόμοι bzw. dem δίκαιον einerseits und der φύσιςandererseits kein in irgendeiner Weise gegens tzliches oder gespanntesVerh ltnis.

Ob darin allerdings eine Auss hnung der νόμοι mit der φύσις zumAusdruck kommt, und der in der Sophistik sp testens seit den 20er Jahrendes 5. Jh. aufgerissene Gegensatz zwischen νόμος und φύσις berwundenwird44, ist fraglich: Bereits Protagoras hatte sittliche Begabung undsittliches Handeln - und damit auch die νόμοι als ,institutionalisierte'Gestalt von .R cksicht' (αιδώς) und .Rechtsempfinden* (δίκη) - aus derBed rftigkeit des Menschen abgeleitet. (Auch wenn er die Sittlichkeit desMenschen nicht e x p l i z i t mit dessen φύσις erkl rt, sondern stattdessenden Weg des Mythos w hlt, in dem sich nat rliche Gegebenheiten leicht alsFolge g ttlichen Wirkens darstellen lassen, so bezieht er sich dennoch aufdie bed rftige N a t u r des Menschen.) Die Ansicht des A. erkl rt sichfolglich ebensogut als bewu ter R c k g r i f f auf Theorien bestimmterVorg nger, in diesem Falle des Protagoras.

Zwar findet sich - wie gesagt - in den Bruchst cken des A. keinGegensatz zwischen νόμοι / δίκαιον und der φύσις, doch bestehen beide

Menschen ab, so da sich mit Recht eine enge Verbindung beider zueinander behauptenl t.

43 So Untersteiner 1943/44 (1976), 597, Barigazzi 1992, 253; hnlich auch Wolf II1952, 142

44 So Nestle 21942, 425, Wolf II 1952, 143, Kerferd 1981, 127; dagegen schonGuthrie III 1969, 72f.; er bestreitet eine Auss hnung von νόμος und φύσις in demTraktat des A. allerdings nur deshalb, weil der A. die Natur nicht als „product of asupreme mind" begreife. Der eigentliche Grund jedoch, der es erschwert, von.Auss hnung' zu sprechen, besteht in der Vorgehensweise des A., lediglich auf ein ihmbekanntes Modell zur ckzugreifen.

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Anonymus lamblichi 307

als jeweils selbst ndige Bereiche nebeneinander und erlauben nicht,R ckschl sse zu ziehen auf etwaige ,nat rliche' νόμοι oder gar eine»nat rliche* Gerechtigkeit. Nach den erhaltenen Texten ist der Mensch vonNatur auf Dauer nicht berlebensf hig, es sei denn, die νόμοι und dasδίκαιον erm glichen ihm ein geregeltes Gemeinschaftsleben. Doch sinddiese damit nicht mehr als eine notwendige Erg n z u n g derunvollkommenen menschlichen Natur und keineswegs T e i l dieserφύσις. Wenn der A. die νόμοι und das δίκαιον mit der Bed rftigkeit desMenschen erkl rt, u ert er sich nicht ber ihre Herkunft, sondern ber ihreBedeutung.

Dabei besteht eine auff llige Gemeinsamkeit zu den ersten beidenBruchst cken und dem Beginn des dritten: Nach diesen Abschnitten f hrtdie nat rliche Begabung (φύσις) allein niemanden zur αρετή, sondern esbedarf dazu notwendiger Erg nzungen: Der betreffende Z gling mu sichfr hzeitig und anhaltend ben sowie seine Fertigkeiten ,f r gute Zwecke'(εις αγαθά) verwenden. Entsprechend erg nzen nach frg. 6,1 die νόμοιund das δίκαιον die unvollkommene φύσις der Menschheit.

Diesen Gedanken setzt der Text im folgenden mit dem Bild des,Stahlmenschen' und seinem Verh ltnis zu den νόμοι und dem δίκαιονkonsequent fort (6,2-4). Durchaus erkennt der A. die Gefahr, die voneinem derartigen . bermenschen' f r Recht und Gesetz ausgehen, w re erdoch ber jegliche Gesetzesstrafe erhaben (6,2; p. 403,2f.)45.

Auch Hippias, Antiphon und Kritias46 erkannten als Schw che desνόμος, da er keine umfassende Verbindlichkeit erreichen kann. SolcherKritik versucht der A. seine Sto kraft zu nehmen, indem er kurzerhand dieM glichkeit absoluter St rke bezweifelt (ως ουκ αν γένοιτο [sc. derStahlmensch], 6,3; p. 403,3f.). So wird sich nach seiner Ansicht selbst einvon Natur unverletzlicher (άτρωτος τον χρώτα) und bernat rlicher

είναι.6,2; p. 403,2f.: τον γαρ ιοιοΰτον τφ νόμω μη ΰποδύνοντα δύνασθαι άθφον

46 Vgl. Hippias VS 86 Β 17, Antiphon VS 87 Β 44 A I 12ff., Kritias (?) VS 88 Β25.

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308 Anonymus lamblichi

(ΰπερφυής) Kraftmensch nur mit Hilfe der νόμοι und des δίκαιονbehaupten k nnen (6,3; p. 403,4-6)47.

Rein logisch ist dieses Argument nicht v llig einwandfrei: Besagterbernat rlicher Kraftmensch (άνηρ ύπερφυής) wird sich n mlich deshalb

auf die νόμοι und das δίκαιον st tzen m ssen, weil ihm in Wirklichkeit dieabsolute St rke fehlt. Auch wenn der A. f r einen Moment eine derartigeExistenz ansetzt (εί γαρ εϊη), so reduziert er die Kraft des Kraftmenschenauf ein relatives Ma und spricht ihm die absolute ab, weil er die Menge derbrigen Menschen f r ihm letztlich berlegen erkl rt48 (6,4; p. 403,7-9).

Mag dieser auch jedem einzelnen, eventuell auch einer Gruppe vonDurchschnittsmenschen berlegen sein, so mu er sich doch derenGesamtheit beugen. Notwendigerweise kann er sich auch nicht ber dieνόμοι und das δίκαιον erheben, gew hren doch jene den Zusammenhaltgerade der Gemeinschaft der brigen Menschen, die im Ernstfall denKraftmenschen berw ltigen wird. Folglich besteht zwischen dem (rela-tiven) Kraftmenschen und den νόμοι das Verh ltnis einer eigenartigenWechselwirkung: Allein indem er die νόμοι und das δίκαιον st rkt, vermager auch seine eigene St rke zu bewahren; wie die Menschen berhaupt (s.o.zu 6,1), so ist auch der Kraftmensch von Natur nicht in der Lage, sichallein kraft seiner naturgegebenen F higkeiten zu behaupten, sondern erbedarf dazu der νόμοι und des δίκαιον (s.o.; 6,3; p. 403,4-6): Im Grundebegr ndet der A. die von Antiphon und Kritias bestrittene St rke des νόμοςmit der Schw che des Kraftmenschen und der Unwahrscheinlichkeit seinerExistenz, d.h. er setzt mit der Unterlegenheit des Kraftmenschen gegen berden νόμοι und dem δίκαιον das zu Beweisende voraus. Dieser Gedankef hrt aber immerhin die in 6,1 (p. 402,24-30) besprocheneUnabdingbarkeit von Recht und Gesetz insofern konsequent fort, als auchder Kraftmensch nicht anders als die brigen Menschen wegen seinerunvollkommenen φύσις ohne νόμοι und δίκαιον auf Dauer nicht bestehenkann.

4^ Ebd. p. 403,4-6: ... τοις μεν νόμοις συμμάχων και τφ δικαίφ και ταΰτακρατύνων και τη ίσχύι χρώμενος επί ταΰτά τε και τα τούτοις έπικουροΰντα, οΰτω μεναν σφζοιτο ό τοιούτος.

48 Dieses Argument verwendet auch Sokrates gegen Kallikles; vgl. Plat. Gorg.488d5-7.

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Anonymus lamblichi 309

Doch trotz dieser logischen Schwierigkeit l t sich dem A. keinesfallsRealit tsferne vorwerfen, wenn er die M glichkeit absoluter St rkebestreitet, denn gerade die zeitgen ssische Geschichte Athens und Attikasbelegt die Gefahren, denen M chtige sich aussetzen. Zudem bestreitet auchder eher n chterne Antiphon die M glichkeit absoluter St rke (vgl. z.B. VS87 B 44 A112-23).

Somit findet der in 6,1 (p. 402,21 f.) noch als blo e Behauptungaufgestellte Satz, sich den νόμοι zu f gen, sei keinesfalls Feigheit, in denabschlie enden Abschnitten des sechsten Bruchst ckes (6,3-5) seineBegr ndung und der gesamte Abschnitt - wie frg. 3 - einen ring-kompositorischen Ausgang: Ein Machtmensch mu letztlich doch derMenge seiner durchschnittlichen Gegner weichen, weil diese ihm insgesamt

berlegen sind, und es bleibt ihm nichts anderes brig, als sich auf die vonallen anerkannten rechtlichen Grundlagen von Recht (δίκαιον) und Gesetz(νόμος) zu st tzen (6,6; p. 403,9f.)49.

Demnach bem ht sich der A. weniger darum, νόμος und φύσις, alsvielmehr νόμος und κράτος miteinander auszus hnen. Dazu beschreitet erzwei zun chst unabh ngig voneinander bestehende Wege: Er weist (1) dieunumg ngliche Notwendigkeit der νόμοι und des δίκαιον nach, und erkl rtdar ber hinaus (2) den Gedanken eines allen berlegenen , bermenschen'zu einer unsinnigen Utopie50. Dieses Gedanken-experiment ist geistesge-schichtlich insofern von Interesse, als es sich offenbar gegen zeitgen s-sische Annahmen wendet und wenigstens einen Grundgedanken der Lehredes in seiner Historizit t umstrittenen Kallikles belegt.

Doch ergeben sich aus dieser Kritik an dem Streben nach berlegenheit(πλεονεξία) weitere Implikationen: Indem der A. die M glichkeit absoluterSt rke bestreitet, scheint er die grunds tzliche Gleichheit aller Menschen zubehaupten51. Auch liegt es auf den ersten Blick nahe, seine νόμοι als die

49 6,6; p. 403,9f.: οϋτω φαίνεται και αυτό το κράτος, όπερ δη κράτος εστί, διατε του νόμου και την δίκην σφζόμενον.

50 Der A. ist weniger „gegen die Arroganz und die Ungen gsamkeit des Tyrannen"(so B.A. Kyrkos 1988, 162), sondern zeigt mit eher pragmatischen als wertendenArgumenten, wie fern die Vorstellung eines un berwindbaren Machtmenschen allerRealit t ist.

5* Barigazzi 1992, 248, evtl. nach Rollers Urteil, 1931, 63, der A. sei eine „Etappeauf dem Weg in den Kosmopolitismus."

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310 Anonymus lamblichi

eines demokratischen Rechtsstaates zu deuten52. Doch mu vor bereiltenSchlu folgerangen gewarnt werden: Wer absolute St rke f r unm glicherkl rt, behauptet zwar insofern eine prinzipielle hnlichkeit zwischen allenMenschen, als sich nach seiner Ansicht niemand dauerhaft ber die brigenzu erheben vermag, doch vertritt er damit noch keine umfassende Gleichheitaller Menschen, die politische und gesellschaftliche Gegens tze wie die von, frei-unfrei' und , Hellene-Barbar' aufh be53. Es sei zumindest daraufhingewiesen, da die erhaltenen Fragmente des A. keinen Aufschludar ber bieten, welche Stellung unser Sophist in sozialen oder wertendenUnterscheidungen wie der von Hellenen und Barbaren bezog.

Auch w re es voreilig, ihn rigoros als Demokraten zu bezeichnen54.Sicherlich ist er ein Gegner des reinen Strebens nach berlegenheit(πλεονεξία), doch weist ihn diese Haltung lediglich als Freund solcherVerfassungen aus, in denen alle B rger den g ltigen νόμος als dienotwendige Grundlage des Gemeinschaftslebens anerkennen, und dieserνόμος, anstatt nur dem Egoismus der jeweils Herrschenden zu dienen,jedem B rger zu seinem Recht verhilft. Da solche Bedingungen nichtnotwendig an die (potentielle) Teilhabe aller B rger an der Regierungs-verantwortung gekn pft sind, sondern ihnen beispielsweise auch die nachmodernen Ma st ben totalit re' Verfassung von Platons Idealstaat gen gt,braucht der A. nicht zwingend mit einem Demokraten gleichgesetzt zu

52 So Bitterauf 1909, 501, Menzel 1922, 25, Nestle 21942, 426 (allerdingsbezeichnet er ihn nicht als Freund der radikalen Demokratie), Wolf II1952,146f., GuthrieIII 1969, 72, Isnardi Parente 1977, 26, Kyrkos 1988, 130 und Demandt 1993,49.

53 Auch 7,16 (404,29f.) bezeichnet mit der hnlichkeit des Alleinherrschers mitseinen Mitmenschen dessen Fleischlich- und Verletzlichkeit: σάρκινος δε και όμοιοςτοΐς λοιποΐς γενόμενος ταύτα μεν ουκ αν δυνηθείη ποιήσαι (sc. die νόμοι und dasδίκαιον aufzuheben).

54 Wenn ich recht sehe, halten die Gelehrten seit Bitterauf 1909, 501 den A. beinaheausnahmslos f r einen Demokraten. Lediglich Roller r umt ein, da er sich in seinerευνομία-Lehre wenigstens begrifflich von oligarchischem Denken der Spartanerinspirieren lie ; vgl. Roller 1931, 64 mit Verweis auf V. Ehrenberg, Eunomia, in:Charisteria, Festschr. Alois Rzach 1930, 18ff., insb. 28. Auch Wilamowitz, der in I1920, 58 Anm. l Kritias als Autor f r „nicht unm glich" h lt, m te eine demokratischeGrund berzeugung f r den A. bestreiten.

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Anonymus lamblichi 311

werden. Wie immerhin frg. 7,13 zeigt, dem zufolge eine Tyrannis dannentsteht, wenn alle B rger sich der Schlechtigkeit zuwenden (επί κακίαντράπωνται), nimmt der A. die B rger durchaus in die Verantwortung f rihre jeweiligen νόμοι, aber auch diese Verantwortung setzt keineswegsdemokratische Rechte voraus, sondern nur den Einsatz f r eine bestehendeVerfassung, deren gute Verfa theit unser Sophist mit dem Begriff der.guten inneren Ordnung* (ευνομία) bezeichnet.

Was es mit dieser ευνομία und ihrem Gegenteil, der ανομία, auf sichhat, wird aus dem siebten der bei lamblich zitierten Bruchst ckeoffenkundig. Eigenartigerweise erkl rt der erhaltene Text nicht direkt dasWesen und die Eigenarten von ευνομία und ανομία, sondern bemi t sieallein an ihren jeweiligen Folgen f r das Wirtschafts-, das politische unddas Privatleben: ευνομία schafft Kreditw rdigkeit (πίστις), weil unter ihrdas erwirtschaftete Geld, mag es auch der Menge nach gering sein, inUmlauf und damit allen zugute kommt (7,1; p. 403,16-18)55.

Diese berlegungen sind nicht nur aktuell, sondern finden in derzeitgen ssischen Literatur nicht ihresgleichen56. Der A. versucht dabei, einGesellschafts- und Wirtschaftsmodell zu entwerfen, das nach M glichkeitallen Beteiligten zugute kommt, ohne da sich die Wohlhabenden f r die

rmeren aufopfern m ten. Vielmehr k nnen in der ευνομία die Reichen(εύτυχοΰντες) unbesorgt ihren Reichtum genie en, denn dankgesch ftlichem Verkehr und Kreditw rdigkeit kommen ohne altruistischesZutun auch die brigen zu ihrem Nutzen (7,2; p. 403.20-22)57:

τους τε γαρ εΰτυχοΰντας άσφαλεΐ αύτη58 χρήσθαικαι άνεπιβουλεύτφ, τους τε αύ δυστυχοΰντας

55 7,1; ρ. 403,16-8: κοινά γαρ τα χρήματα γίγνεται εξ αυτής (sc. της ευνομίας),και ούτω μεν εάν και ολίγα η έξαρκεΐ όμως κυκλούμενα, άνευ δε ταύτης ούδ' ανπολλά η έξαρκεΐ.

56 Vgl. W. Fikentscher, Synepeics, in: Festschrift K.D. Tsatsos, Athen 1980,557-93, insb. Anm. 54.

57 ber die hnlichkeit dieses Gedankens mit Antiphon B 54 s.o. Kap. V 3,S.222f.; diese Parallele behandelt in der Forschung - wenn ich recht sehe - niemand au erDumont 1971, 208 und auch er nur andeutungsweise: „ ... le seul texte qui y ressemble,mais de tres loin, est un fragment d'Antiphon ..." (sc. B 54).

58 Zu erg nzen ist wohl mit Kiessling (lamblichi Chalcidensis Adhortatio, Leipzig1813, 300f.) und Diels/Kranz τύχη, und nicht, wie des Places annimmt (Jamblique,Protreptique, Paris 1989, 128) ευνομία. Da n mlich die ευνομία die Voraussetzung f rein geregeltes Leben darstellt, w re es unsinnig zu betonen, da die Reichen (ο ί

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312 Anonymus lamblichi

έπικουρεΐσθαι εκ των εύτυχούντων δια τηνέπιμειξίαν τε και πίστιν, απερ εκ της ευνομίαςγίγνεται.Die Reichen genie en ihren Reichtum in Sicherheit undohne Nachstellungen, die Armen hingegen erhaltenBeistand von den Reichen durch den (Waren- bzw.Ge\d-)Verkehr und das Vertrauen (Kreditw rdigkeit),die sich aus der rechten Ordnung ergeben.

Offenkundig bef rwortet der A. das Anh ufen und die Nutzung privatenBesitzes, solange dies nicht der αρετή und dem Staatsganzen im Wegesteht59. Doch die ευνομία bringt allen Beteiligten nicht nur wirtschaftlichenVorteil, sondern erm glicht es den Menschen zugleich, ihre Zeit, statt sieauf Schwierigkeiten zu verschwenden, f r sinnvolle Aufgaben zuverwenden. Wohl in der Nachfolge des Prodikos unterscheidet der A.genau zwischen πράγματα und έργα (7,3; p. 403,22-24):

τον τε αϋ χρόνον τοις άνθρώποις δια την εύνομίανεις μεν τα πράγματα άργόν γίγνεσθαι, είς δε ταέργα της ζωής έργάσιμον.Die Zeit geht den Menschen durch die gute innereOrdnung nicht f r sinnlose T tigkeiten verloren,sondern wird f r sinnvolle T tigkeiten verwendet.

Nach Ansicht der meisten Gelehrten bezeichnen dabei πράγματαpolitische Angelegenheiten, wohingegen die έργα private Gesch fte

εύτυχοϋντες) sie ohne Nachstellungen handhaben k nnen, weil sie doch den Armen (οιδυστυχοΰντες) ebenso zugute kommt. Au erdem w re die ευνομία dann dieVoraussetzung f r ihre eigene Verwendung bei den Reichen. Sehr wohl k nnen dagegendie Reichen im Rahmen der ευνομία ihren R e i c h t u m nutzen, eine f r τύχη nichtungew hnliche Bedeutung. Zwar wird τύχη im voraufgehenden Satz nur im Pluralgenannt, und der bergang von τύχαν zu dem Singular αύτη wirkt recht hart, doch l tsich τύχη (im Singular) aus dem diesem Pronomen (αύτη) fast unmittelbarvorauf gehenden εύτυχοϋντες leicht erg nzen. Der griechische Text ist ebensoweniganst ig und unverst ndlich wie das deutsche ,Die, die im Gl ck leben, nutzen esungest rt'.

59 Keineswegs gilt ihm - wie Roller 1931, 74 annimmt - der Besitz „ ... vonvornherein ... als schlecht und wertlos gegen ber dem leuchtenden Ideal der Gesetzestreueund Selbstbeherrschung ..." Vielmehr sucht der A. nach Wegen, die αρετή undpers nlichen Besitz miteinander zu verbinden.

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Anonymus lamblichi 313

vertreten60. Diese Bedeutung ist zwar f r πράγματα an sich hinreichendbelegt, doch wenn dieser Sinn auch auf den A. zutr fe, dann w rde er dieBesch ftigung mit politischen Angelegenheiten berhaupt mit den Wortenπραγμάτων γαρ φροντίδα άηδεστάτην είναι (7,4; ρ. 403,25f.) zuru n a n g e n e h m s t e n T tigkeit erkl ren; das aber l t sich schwerlichmit seinem Appell an die Verantwortung der Politen f r das Gedeihen desStaates vereinbaren und w re zudem mit der - in der Forschung ebenfallsweit verbreiteten - These unvereinbar, der A. trete f r eine demokratischeVerfassung ein61.

πράγματα nun auf den Sinn ,politische Schwierigkeiten' einzuengen, istmangels Parallelstellen nicht statthaft und f r das Verst ndnis des Textesunn tig: Da sich n mlich im Zustande der inneren Unordnung (ανομία)zweifelsohne auch private Schwierigkeiten ergeben - etwa, weil bei privat-rechtlichen Streitereien ein Gesch digter nicht zu seinem Recht kommt -,lassen sich die πράγματα durchaus als Schwierigkeiten berhaupt, sei es impolitischen, sei es im privaten Bereich, verstehen62. So bezeichnet dieUnterscheidung zwischen πράγματα und έργα den Unterschied zwischensinnloser und deswegen in ihrem Ergebnis unangenehmer und sinnvollerund deswegen letztlich angenehmer Besch ftigung63, wobei sinnlose Tatenweder der Vervollkommnung und dem Wohl des einzelnen Menschen nochdem des Staates zutr glich sind, sinnvolle hingegen dieses zu leistenverm gen. Nat rlich b e s c h r n k e n sich - ebensowenig wie dieπράγματα ausschlie lich politische Angelegenheiten bezeichnen - die έργαkeineswegs auf den privaten Bereich, d rften ihn aber - wie aus ihremAttribut της ζωής (7,3; ρ. 403,24 u. 7,5; p. 403,30f.) hervorgeht -wenigstens miteinbeziehen.

60 Roller 1931, 55, Nestle 1942, 426, Sch nberger 1984, 68, Kyrkos 1988, 151,Gagarin/Woodmff 1995,294

61 Gerade diejenigen Gelehrten, die πράγματα als politische Angelegenheitenverstehen, deuten den A. als Demokraten.

62 Vgl. LSJ.63 Wohl kaum beurteilt der A. T tigkeiten danach, ob sie in ihrer Verrichtung

angenehm oder unangenehm sind. Was w re das f r ein άριστος, der von einem Werk, dasτοις πλείστοις n tzen k nnte, Abstand n hme, nur weil es ihm in der Verrichtung M henbereitet? Wie zudem der Text zeigt, schlie t der A. auch dann, wenn die Menschen ihrenBesch ftigungen ungest rt nachgehen, M hen keineswegs aus (vgl. 7,5; 403,3If.): τους

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Auf diesem Weg ergibt sich auch ein nahtloser bergang zu demfolgenden Gedanken (7,5), die ευνομία erm gliche den betreffendenB rgern ein rundherum sorgenfreies Leben, weil sie ihnen eine angenehmeNachtruhe und infolgedessen furchtloses und freudiges Erwachen beschere(p. 403,26-32). Die richtige Ordnung des Staates ordnet zugleich dasb rgerliche Leben. Selbst die schlimmsten von Menschen verschuldetenKatastrophen - Krieg und Versklavung - treffen weniger diejenigen, die ineinem geordneten Staatswesen leben, als die B rger eines Staates inschlechter Verfassung (7,6; p. 403,32-34)64.

Von all diesen Vorz gen der »guten inneren Ordnung* (ευνομία) bewirktdie .innere Unordnung' (ανομία) das genaue Gegenteil (7,7-11): dieMenschen befassen sich, statt mit sinnvollen Aufgaben (έργα), mitsinnlosen (πράγματα), der Geldumlauf stockt (7,8), die Beg terten m ssenum ihre Habe f rchten (7,9) und Krieg von ausw rts (πόλεμος) sowieinnerer Zwist (οικεία στάσις) zerr tten das ohnehin schon von der ανομίαangeschlagene Gemeinwesen vollends (7,10), so da auch das sorgenfreieErwachen ein Ende findet (7,11). Doch damit nicht genug: Als letztes belbringt die schlechte Staatsordnung ihren B rgern die τυραννίς (7,12-16).Wohl aufgrund dieser Aussage gilt der A. vielen Gelehrten als Demokrat.

Dieser Eindruck best tigt sich zun chst,, weil der Text das Aufkommender τυραννίς aus den Fehlern der betreffenden B rger erkl rt und diesedamit in die Verantwortung nimmt (7,12f.; p. 404,17-23, insb. 7,13; p.404,20-23):

δστις γαρ ηγείται βασιλέα η τύραννον εξ αλλούτινός γίγνεσθαι ή εξ ανομίας τε και πλεονεξίας,μωρός εστίν έπειδάν γαρ άπαντες επί κακίαντράπωνται, τότε τούτο γίγνεται· ου γαρ οίον τεανθρώπους άνευ νόμων και δίκης ζην.Wer n mlich glaubt, ein K nig oder Tyrann trete we-gen einer anderen Ursache als wegen Gesetzlosigkeitund Machtstreben auf, der ist t richt: Denn wenn alle

π ό ν ο υ ς δε τη άντιλήψει αγαθών έλπίσιν εΰπίστοις και εΰπροσδοκήτοιςανακουφίζοντας ...

64 7,6; ρ. 403,32-4: και το κακά μέγιστα τοις άνθρώποις πόρνζον, πόλεμονέπιφερόμενον εις καταστροφήν και δούλωσιν, και τούτο άνομοΰσι μεν μάλλονέπέρχεσθαι, εΰνομουμένοις δ' ήσσον.

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Anonymus lamblichi 315

sich der Schlechtigkeit zuwenden, dann tritt dieser Fallein (sc. die Alleinherrschaft): Es ist n mlich nichtm glich, da die Menschen ohne Gesetze und Rechtleben.

Zudem stellt der Text ausdr cklich fest, eine Alleinherrschaft k nne nurentstehen, wenn der νόμος - der schlie lich dem Volk n tzlich sei - verjagtwerde (7,14; p. 404, 25f.)65. Doch wird die Monarchie nicht vonvornherein ausgeschlossen, sondern wegen der letztendlichen Fleisch-lichkeit, berwindbarkeit und Schw che des Alleinherrschers auf eine anRecht und Gesetz gebundene Form eingeschr nkt (7,15,16, insb. 7,16, p.404,29-31)66.

Erst wenn der Alleinherrscher den der allgemeinen Abkehr von Gesetz(νόμος) und Recht (δίκαιον) entgegengesetzten Zustand wiederhergestellthat67, vermag er zu bestehen. Dim kann ggf. sogar die Aufgabe zukommen,f r das von allen brigen B rgern vernachl ssigte Recht und Gesetz alsSchutzherr einzutreten (7,14; p. 404, 23-25)68. Demnach schlie t der A. -trotz aller Abneigung gegen das Streben einzelner nach berlegenheit(πλεονεξία) - undemokratische, selbst monarchische Verfassungsformennicht von vornherein aus, sondern erhebt lediglich die G ltigkeit solcherνόμοι, die den meisten zugute kommen (vgl. p. 404,26: του νόμου ... τουτφ πλήθει συμφέροντος), zu einer notwendigen Bedingung daf r, ob eineHerrschaftsform Bestand haben kann. Diese Auffassung mag eine gewisseAffinit t zu demokratischen Vorstellungen haben, ist aber mit anderenVerfassungsformen durchaus vereinbar. berhaupt spricht sich der A.

65 7,14; p. 404,25f.: πώς γαρ αν άλλως εις ένα μοναρχία περισταίη, εί μη τουνόμου έξωσθέντος του τφ πλήθεν συμφέροντος;

66 7,16; ρ. 404,29-31: σάρκινος δε και όμοιος τοις λοιποΐς γενόμενος ταΰτα μενουκ αν δυνηθείη ποιήσαι, τάναντία δε έκλελοιπότα καθιστάς μοναρχήσειεν αν.

67 Zu τάναντία έκλελοιπότα vgl. treffend Barigazzi 1992, 260. Kyrkos 1988, 157versteht die betreffende Passage nur als s c h e i n b a r e Wiedereinsetzung von Rechtund Gesetz: „Wenn er (sc. der Alleinherrscher) sich aber den Anschein g be, das, was erbeendet hat, wiedereinzusetzen ..." Doch bereits in 6,3 (403, 3-6) macht der A. dieM glichkeit des Alleinherrschers, sich zu behaupten, von der t a t s c h l i c h e nUnterst tzung der νόμοι und des δίκαιον abh ngig. Kyrkos sieht sich wohl deshalb zuseiner bersetzung gezwungen, weil er den A. ausschlie lich als Demokraten versteht(1988, 133)

6% 7,14; p. 404,23-5: όταν ούν ταΰτα τα δύο εκ του πλήθους έκλυτη, ο τε νόμοςκαι ή δίκη, τότε ήδη εις ένα άποχωρεΐν την έπιτροπείαν τούτων και φυλακήν.

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316 Anonymus lamblichi

ausschlie lich gegen die gewaltt tige und anarchische T y r a n n i s aus,ohne ein Wort ber andere undemokratische, aber damit noch lange nichtdespotische πολιτείαι zu verlieren.

Zugleich erhellt daraus, was sich hinter dem Begriff ευνομία verbirgt:Wie bereits die voraufgehenden Abschnitte 7,1-6 verdeutlichen, bemi t derA. die ευνομία an ihren Auswirkungen auf die menschliche Gemeinschaftund den in ihr lebenden einzelnen Menschen. Offensichtlich besteht siedann, wenn der Staat einen Zustand erreicht hat, in dem nahezu alle B rgerNutzen erfahren und zu ihrem Recht kommen. Da in der ευνομία die νόμοιund das δίκαιον ungehindert Geltung haben, darf es als deren eigentlicheBestimmung gelten, m glichst vielen Menschen zu ihrem Recht und zuihrem Nutzen zu verhelfen. Damit ist zwar inhaltlich zu wenig ber dieευνομία gesagt, als da man sie auf demokratische Prinzipien reduzierenk nnte, doch erweisen sich die νόμοι und das δίκαιον als feste Gr en,die das menschliche Gemeinschaftsleben erst erm glichen und das Anrechtaller auf Handlungsfreiheit - soweit diese nicht anderen zuwiderl uft -sowie pers nlichen Nutzen verbrieten. In der ευνομία erlangen siedenjenigen Grad an Vollkommenheit, der es ihnen erm glicht, ihreBestimmung b e s t m glich zu erf llen.

Somit vermag die ευνομία dasselbe zu leisten wie nach frg. 3 dievollendete αρετή des άνήρ άριστος: Beide bewirken den Nutzen m glichstvieler Menschen69. Und wie der άριστος zu diesem Zweck f r die νόμοιund das δίκαιον eintritt (3,6; p. 401,30-32), so stellt die ευνομία derenideale Umsetzung dar. Aufgrund dieser Gemeinsamkeiten ist es gestattet,die ευνομία als die αρετή des Staates zu bezeichnen.

Zudem besteht eine direkte Verbindung zwischen der αρετή deseinzelnen und der ευνομία des Staates: Da zum einen nach frg. 7,13 alle

69 Vgl. 3,3; 401,23: τοιούτος (sc. άριστος) αν εΐη ό πλείστοις ωφέλιμος ων und7,1; 403,15f. πίστις μεν πρώτη έγγίγνεται εκ της ευνομίας μεγάλα ωφελούσα τουςανθρώπους τους σύμπαντας. Da in letzterem Falle die πίστις aus der ευνομία resultiert,ist das Wohlergehen der σύμπαντες eine Leistung der ευνομία.

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B rger f r die Pflege der νόμοι und des δίκαιον verantwortlich sind, undein Staat nur dann Bestand hat, wenn sich die B rger - wenigstens zueinem gen genden Teil - in hinreichender Weise um diese Pflege bem hen,zum anderen frg. 3,6 gerade diesen Einsatz f r Recht und Gesetz alsKennzeichen eigentlicher αρετή anf hrt, ergibt sich der Idealzustand desStaates - seine ευνομία bzw. αρετή - aus der αρετή seiner einzelnenGlieder. Damit ist das Bem hen um die αρετή jeglichen Verdachtesenthoben, blo er Selbstzweck zu sein, sondern m ndet in die Staatstugendund die politische Erziehung. Wenn der Zustand des Staates demnach ausder αρετή seiner B rger folgt, so liegt sein Wohl und Wehe offenkundig inderen H nden. Die ευνομία geht direkt aus der αρετή der einzelnen B rgerhervor. Erziehung zur αρετή ist Staatserziehung70.

Umgekehrt ist der Zustand des Staates nicht nur in Parallele gesetzt mitder αρετή der in ihm verantwortlichen einzelnen Menschen, sondern wirktinsofern auch selbst gestaltend auf den inneren Frieden seiner B rger ein,als er ihnen ein sorgenfreies Privatleben und eine angenehme Nachtruhebeschert, der die Sorgen eines von ανομία gesch ttelten Gemeinwesensfremd sind. Bemerkenswerterweise besteht somit eine Wechselbeziehungzwischen B rger und Staat: So wie sein Bem hen um αρετή mit derέπικούρησις των νόμων και του δικαίου wesentlich zur ευνομία beitr gt,verschafft diese ihm im Rahmen ihrer M glichkeiten inneren seelischenFrieden. Nat rlich beginnt in einem derartigen Modell entsprechend auchdie Z e r r t t u n g des Staates (ανομία) mit der Abkehr der B rger vonder αρετή und zerst rt ihrerseits mit den wachsenden Gefahren denSeelenfrieden. Damit steht der A. in einer Tradition, die sp testens seitSolons ,Staatselegie' (frg. 4 West) das Wohlergehen des Staates vomVerhalten der einzelnen Mitglieder abh ngen l t.

Es scheint zudem insofern eine gewisse hnlichkeit zwischen denAusf hrungen des A. und Platons Politeia zu bestehen, als beide zun chstden einzelnen Menschen in den Blick nehmen und in einem zweiten Schritt,der auf den Einsichten in das Individuum fu t, jeweils ein Staatsmodellentwerfen71. Allerdings beschr nkt Platon sich im Gegensatz zu dem A.nicht darauf, die Wohlgeratenheit des einzelnen άριστος mit der

7 ° hnlich, jedoch mit anderer Begr ndung, Roller 1931, 87.71 Vgl. Cross/Woozley 1964, 131.

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318 Anonymus lamblichi

Wohlverfa theit des Staates in Parallele zu setzen und aus den Tugendendes ersteren das Gedeihen des Gemeinwesens abzuleiten72, sondern er gehteinen entscheidenen Schritt weiter: Er entwirft ein Modell derSeelen S t r u k t u r und bertr gt dieses auf die Staats S t r u k t u r .

Wie aber versteht unser Sophist die von ihm so h ufig verwandtenBegriffe νόμος und δίκαιον? Der Text selbst bietet allenfalls Indizien, vondenen das eindeutigste sich im dritten Bruchst ck findet (3,6; p. 401,31 f.):

τοΰτο (sc. oi νόμοι και το δίκαιον) γαρ τάς τεπόλεις και τους ανθρώπους το συνοικίζον και τοσυνέχον ...Dies (sc. die Gesetze und das Recht) ist es n mlich,was die St dte und die Menschen zusammenbringt undzusammenh lt.

Diese gemeinschafts- und staatstragende Funktion legt es zun chst nahe,die νόμοι als Inbegriff allen Regelwerks, das jede menschlicheGemeinschaft ben tigt, und damit als Gesetze und sittliche Konvention zuverstehen. Doch andernorts verwendet der A. νόμοι ausschlie lich imSinne des geschriebenen Gesetzes, als wolle er den nicht genau regle-mentierten Bereich der allgemeinen Sittlichkeit anderen Begriffen (wie z.B.δίκαιον) vorbehalten73:

... ου τάς εκ των νόμων λέγω ζημίας ... (5,3; ρ.402,4f.)... ich spreche nicht von den gesetzlichen Strafen:...... ουδέ [δει]... το δε των νόμων ύπακούειν δειλίαν[είναι ήγεΐσθαι] (6,1; p. 402,21f.)... Gesetzes gehorsam (darf) nicht f r Feigheit gehaltenwerden.

Tritt der Begriff νόμος im Singular auf, weitet sich seine Bedeutunglediglich aus zu dem Sammelbegriff des .Gesetzes' berhaupt, ohne dasFeld des Gesetzlichen zu verlassen. So unterstreicht der A. v llig ohne

72 Vgl. 3,6 (p. 401,30-2).73 berhaupt f llt auf, da der A., wenn er von νόμοι u.a. spricht und sittliche

Zusammenh nge miteinbeziehen m chte, letztere eigens benennt, a) i.d.R., indem er dasδίκαιον nennt oder, b) indem er von εις α γ α θ ά και νόμιμα spricht (3,1; 401,17f.).Nirgends, wo er νόμοι allein verwendet, ist eine sittliche Bedeutung eindeutig erkennbar.

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Anonymus lamblichi 319

Hinweis auf den konkreten Inhalt der νόμοι die g r u n d s t z l i c h eNotwendigkeit gesetzlicher Regelungen mit den Worten (6,1; p. 402,28f.):

... δια ταύτας τοίνυν τάς άνάγκας τον τε ν ό μ ο νκαι το δίκαιον έμβασιλεύειν τοις άνθρώποις ...74

... wegen dieser zwingenden Gr nde also herrscht dasGesetz und das Recht ber die Menschen...

Daraus resultiert zwar f r den Inhalt der gesetzlichen Regelungeninsofern ein gewisser Spielraum, als der A. sich nicht auf eine bestimmteVerfassungsform festlegt, doch w re es voreilig, seine Gesetze (νόμοι) f rbeliebig zu halten, denn sie bleiben stets an das Recht (δίκαιον) gebunden.

In der Frage des δίκαιον f llt zun chst auf, da der A. den Begriff desδίκαιον / δίκη fast nur im Singular75 und meistens in Verbindung mit denνόμοι bzw. dem νόμος verwendet76. Es scheint demnach eine einheitlichefeste Gr e darzustellen, die in enger Beziehung zu den νόμοι steht.Sprachlich stellt der A. beide als eigenst ndige Bereiche nebeneinander,indem er stets beiordnend und artikuliert von ,den Gesetzen und demGerechten' (oi νόμοι και το δίκαιον) (o.a.) spricht. Das δίκαιον istjedoch nicht mit dem Gesetzlichen nach protagoreischer Art soverschwistert, da es mit dem νόμιμον gleichgesetzt werden k nnte undblo en νόμος-Gehorsam bezeichnete. Da vielmehr nach 6,1 (p. 402,24-30)menschliches Gemeinschaftsleben nicht nur ohne νόμοι, sondern auch ohneδίκαιον nicht m glich w re, weil ansonsten ein anarchisches bellumomnium contra omnes eintr te, f r die νόμοι sich am Text aber nur dieBedeutung .geschriebenes Gesetz' belegen l t, w re es konsequent, dasδίκαιον als ein allgemeing ltiges Regulativ zu deuten, das zumindestwillk rliche bergriffe untersagt und (vgl. 4,2; p. 402,4f.) die ent-sprechende Bestrafung eines belt ters fordert. Somit b te es einen all-

74 hnliches trifft auf die brigen Stellen zu, in denen der Singular νόμος auftritt:vgl. neben 6,1 (402,28), auch 6,4 (403,10), 7,14 (404,24 u. 26), 7,15 (404,27).

7 5 Die einzige Ausnahme bildet 4,1 (401,35) επί τοις δικαίοις έσπουδακώς.76 Von den f nf Stellen, an denen der A. νόμοι verwendet [3,6 (401,31), 5,3

(402,4), 6,1 (402,22), 6,3 (403,4), 7,13 (404,23)], verbindet er es an dreien (3,6; 6,3;7,13) mit δίκαιον / δίκη; von den ebenfalls f nf νόμος-Stellen (6,1 (402,28), 6,4(403,10) 7,14 (404,24), 7,15 (404,27)) nennt nur eine (7,14; p. 404,26) ihn ohne seineBegleitung von δίκαιον / δίκη. Ohne die Verbindung mit νόμος / νόμοι findet sich dasδίκαιον / δίκαια lediglich in 2,2 (400,17) und 4,1 (401,35), d.h. von 10 Erw hnungendes δίκαιον nennen es nur zwei ohne νόμος / νόμοι.

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320 Anonymus lamblichi

gemeinen Ma stab, der in den konkreten Regelungen der νόμοι seineninstitutionalisierten' Niederschlag f nde und deren Beliebigkeit verhinderte:Der νόμος setzt in die Tat um, was das δίκαιον allgemein gebietet77.

Wenn man diese Bedeutung f r das δίκαιον bestreiten wollte, m teman streng genommen die νόμοι allgemein als sittliche Konvention deuten,die den Grund ihrer Sittlichkeit in sich selbst tr gt und nicht aus einemh heren Prinzip, eben dem δίκαιον, bezieht. Doch findet sich im Text keinBeleg, der dazu zw nge, νόμοι anders als .geschriebene Gesetze4 zuverstehen. Zudem scheidet der A., wie sich anhand der artikuliertenAusdrucksweise ο ί νόμοι και τ ό δίκαιον vermuten l t, beide Bereichevoneinander. Diese Trennung w rde aber derjenige ignorieren, der dieνόμοι allgemein als Sittlichkeit und Anst ndigkeit oder gar als umfassendesNatur-Gesetz verst nde, w re doch bei einem derartigen Verst ndnis dasδίκαιον bereits in den νόμοι enthalten. Folglich scheint es sinnvoller zusein, das δίκαιον als umfassendes Regulativ den konkreten menschlichenGesetzen (νόμοι) berzuordnen.

Inhaltlich bleibt das δίκαιον jedoch allt glichen Vorstellungen festverpflichtet: In dem sicherlich auf dem δίκαιον fu enden Zustand der.guten inneren Ordnung' (ευνομία) (frg. 7,1-6) sind die B rger nicht nurvor u eren beln (z.B. Krieg) und innenpolitischen Unruhen gesch tzt,sondern brauchen erst recht nicht mit bergriffen auf ihr Verm gen zurechnen und k nnen zudem ein jeder f r sich ihrem privaten allt glichenGl ck nachgehen (Inbegriffen in έργα της ζωής, 7,5; p. 403,30). Zudemsind nach frg. 2,2 (p. 400,16f.) unbegr ndete und erdichtete Schm hungenπαρά το δίκαιον. Somit l t sich das δίκαιον im wesentlichen auf dreiRegeln zur ckf hren:1. Es entspricht dem Grundsatz der Wahrhaftigkeit.2. Es verbietet bergriffe und Beleidigungen, Strafen hingegen sindgestattet oder sogar geboten (vgl. 4,3; p. 402,4).3. Es gebietet, da jeder auf profane und materielle Weise ,das Seine' tueund dabei sein pers nliches Gl ck suche (7,3; p. 403,23f.; 7,5 insb. p.403,30-32).

77 W re der νόμος selbst ein allgemeing ltiges ethisches Gesetz, w rde er dasδίκαιον berfl ssig machen.

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Anonymus lamblichi 321

Wie aus den Punkten 2 und 3 ersichtlich, tritt der A. dem Streben nachberlegenheit, der πλεονεξία, entgegen. Weit entfernt von einer

realit tsfernen Utopie entwirft der A. das Bild eines auf nachvollziehbarenGrunds tzen fu enden Gemeinwesens. Das δίκαιον gilt ihm dabei als vonvornherein feststehendes sittliches Prinzip, das in den νόμοι seinenkonkreten Ausdruck findet und gemeinsam mit diesen menschlicheGemeinschaft erst erm glicht, indem es die unvollkommene menschlicheφύσις - die ohne regulatives Prinzip in Anarchie abglitte - sinnvoll erg nzt.

Worauf das δίκαιον fu t, ist aus dem erhaltenen Text nicht ersichtlich,doch w re es voreilig, es mit manchen Gelehrten aus der φύσιςabzuleiten78. Die φύσις begr ndet zwar die Bedeutung des δίκαιον und derauf ihm beruhenden νόμοι, doch stehen beide - die φύσις und die νόμοιbzw. das δίκαιον - als eigenst ndige Bereiche nebeneinander. Allenfallsbedingen sie einander insofern, als die φύσις der νόμοι und des δίκαιονbedarf, diese hingegen sich in ihr bew hren.

2. Die Verfasserfrage

Seit der Entdeckung der Fragmente wurde immer wieder versucht, sieeinem der bekannten Autoren des ausgehenden f nften Jahrhunderts odergar einer bestimmten Schrift aus jener Zeit zuzuschreiben. Der Vorschlagdes Entdeckers F. Blass, den A. mit dem Sophisten Antiphongleichzusetzen, ist sp testens seit der Auffindung der rechtsphilosophischenPapyri (B 44 DK) aus Antiphons , ber die Wahrheit' als berholtanzusehen. Zuvor hatte bereits T pfer79 Zweifel an dieser Ansicht ge u ertund stattdessen Protagoras' Urheberschaft erwogen, wobei er in Bitterauf80

einen behutsamen Nachfolger fand. Doch schlagen manche Gelehrte auch

78 S.o. Anm. 43.79 Zur Kritik an Blass und der stilistischen Analyse vgl. K. T pfer, Die

sogenannten Fragmente des Sophisten Antiphon bei Jamblichos, Amauer Gymn. Progr1901/2, ND in: Gmundener Gymn. Progr. 1911, 12-35, 1912, 3-16; zur Autorschaft desProtagoras vgl. dens, Zur Frage ber die Autorschaft des 20. Kapitels im JamblichischenProtreptikos, Gmundener Gymn. Progr. 1906/7, 12-13

80 Bitterauf 1909, 520f.

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322 Anonymus lamblichi

problematischere Deutungen vor: Wilamowitz81 vermutet als Autor Kritias(woran Nestle anknüpft, der in dem A. einen gebildeten Laien w i e Kritiaserkennt82), stützt sich dabei aber auf die vage Gemeinsamkeit, beide hieltenin der Erziehung die Übung für wichtiger als die Begabung83. Auch derprotreptische Charakter der Bruchstücke bietet keinen hinreichenden Grund,sie mit Joel84 Antisthenes zuzuschreiben. Schmid85 seinerseits beanspruchtden attischen Politiker Theramenes als Autor, gibt aber selbst zu bedenken,daß sich von diesem keine Schriften erhalten haben. Cadiou86 nähert den A.dem Verfasser der isokratischen Schriften Archidamos und Demonikos an,doch lassen sich Gemeinsamkeiten auch mit anderen zeitgenössischenDenkern finden. Cataudella hingegen verläßt das Feld der eigentlichenSophisten und versucht zu beweisen, der A. sei kein Geringerer alsDemokrit selbst87, während Cole88 in der Nachfolge von Cataudella den A.von dem Atomisten (und diesen seinerseits von Protagoras) lediglichabhängen läßt. Schließlich greifen Untersteiner89 und Barigazzi90 einenGedanken von H. Gomperz91 wieder auf und identifizieren unserenSophisten mit Hippias; Barigazzi glaubt sogar, mit den Bruchstücken hättensich Teile aus Hippias' .trojanischer Rede' ( ), einerMahnrede Nestors an Neoptolemos nach dem Fall Trojas, erhalten92.

8 ] Wilamowitz I 1920, 58 Anm. 1; ders. zog noch 1893, 174, Anm. 77 Protagorasin Betracht.

82 Nestle 21942, 4248 3 Vgl. Kritias B 9; ob der A. der Übung eine größere Bedeutung beimißt, ist zudem

fraglich; er unterläßt es lediglich, auf die Begabung näher einzugehen, erklärt sie aber in1,2 zu einer nicht minder notwendigen Voraussetzung, Vollkommenheit zu erlangen.

84 Jofel 1901, 678-704, und ders. 1921, 684f.85 Schmid-Stählin 1940, 203.86 Cadiou 1950, 6887 Q. Cataudella, L'Anonymus lamblichi e Democrito, SIFC 10, 1932, 5-22, ders.,

Nuove ricerche sull'anonimo di Giamblico e sulla composizione del Protrettico, RALSer.VI, 13, 1937, 2-29 und ders., Chi e l'anonimo di Giamblico, REG 63, 1950, 74-106.Allerdings äußert er sich in dems. 1937, 27 zurückhaltender. Dazu schon Levi 1941(1976), 625f. Anm. 20.

88 Cole 1961, 155f.89 Untersteiner 1943/44 (1976), 591-611; dagegen bereits Gigante 1956, 181.90 Barigazzi 1992,252-791 Gomperz 1912, 79 u. 899 2 Dagegen bereits Blass 1889,10.

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Anonymus lamblichi 323

Weitreichende Wirkung hat in der Forschung Cataudellas Vorschlaggefunden, die frgg. Demokrit zuzuschreiben: In der Tat finden sich in denBruchst cken zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Demokrit93 und es l t sichschwerlich eine wenigstens indirekte Beziehung bestreiten. Doch bleibteiniges zu bedenken: Parallelen, die die Bedeutung von Begabung und

bung bei der Ausbildung des Menschen betreffen, bestehen auch zuanderen zeitgen ssischen Autoren94 und sind deshalb wenig beweiskr ftig.Auch kann der Kritik an der Habgier (z.B. frg. 4,1) nur der Rang einesGemeinplatzes zukommen, und das gleiche gilt auch f r die Feststellung,ein intaktes Gemeinwesen fordere die Achtung des g ltigen Rechtes undGesetzes95. Allerdings gen gen derartige Bedenken auch nicht, umCataudellas Vorschlag ernsthaft in Zweifel zu ziehen.

Es bestehen jedoch dar ber hinaus Ungereimtheiten zwischen Demokritund den frgg. des A., die die Gleichsetzung beider ausschlie en: Dieallgemeine Verbindlichkeit, die nach dem A. der νόμος selbst gegen bereinem vermeintlich Besten und St rksten genie t, vertr gt sich nicht mit derDemokrit zugeschriebenen Ansicht, der Weise stehe ber den νόμοι (Α166, VS II 129,10f.):

ου χρή νόμοις πειθαρχεΐν τον σοφόν, αλλάέλευθερίως ζην96.

93 Vgl. VS 68 Β 56, Β 59, Β 85, Β 182, Β 183, Β 189, evtl. auch B 61, Β 78, Β215, Β 218, Β 220-222, Β 249, Β 252, Β 253, Β 258; Β 255 wird oft mit 7,1 u. 2 des A.in Verbindung gebracht, ist aber deswegen nur schwer damit vergleichbar, weil dem A. derkaritative Gedanke des ΰπουργεΐν και χαρίζεσθαι fehlt.

94 Vielfach wird in der Literatur des 5./4. Jh. die Frage nach dem Verh ltnis vonBegabung (φύσις) und Erziehung (διδαχή, μελέτη etc.) besprochen:

Dabei ziehen die φύσις der Erziehung vor: Demokr. B 56, B 59 (obwohl dort diebung als notwendig bezeichnet wird), die Korinther in Thuk. I 121,4, Eur. Hec. 596-8,

frgg. 75, 810 u. 1068N2, Eup. frg. 105, Isokr. Phil. 35 (insofern er ebd. eineunvollkommene, zum έξαμαρτάνειν neigende φύσις behauptet), Ant. 189, 274(verdorbene φύσις).

Umgekehrt halten die bung/Erziehung f r wichtiger: Demokr. B 242, Antiphon B60, Krit. B 9, Eur. frgg. 609 u. 1027N2, Ar. V. 1450-61, Isokr. Dem. 52, Panath. 30f.

Gleichwertig nebeneinander stellen sie: Prot. B 3, Prod. B 2, Demokr. B 33, B 183, B184, Eur. IA. 558-62, Xen. Mem. Ill 9,3, Isokr. Arch. 4, Areop. 76, Soph. 21, Ant. 188(aber ebd. 189 το της φύσεως άνυπερβλητόν εστί).

Zum Problem berhaupt vgl. M llerl975, 224-695 Dazu treffend Dumont 1971, 206.96 Vgl. dazu bereits Dumont 1971, 206.

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324 Anonymus lamblichi

Der Weise braucht den Gesetzen nicht zu gehorchen,sondern soll frei leben.

Vielmehr tr gt der .Beste' (άριστος) des A. gerade wesentlich zurAutorit t der νόμοι bei. Zwar wird A 166 in seiner Echtheit angezweifelt,weil ihm zufolge Demokrit die νόμοι zu einer blen Erfindung (έπίνοιακακή) erkl rt haben soll, doch Cataudella selbst h lt es in seinem Kern f rverb rgt97. Selbst wenn A 166 wegen mangelnder Echtheit keine tragf higeArgumentationsgrundlage bieten sollte, so ist es schwierig, den A. in demin gewisser Hinsicht vergleichbaren frg. B 47 wiederzuerkennen:

νόμφ και αρχοντι και τφ σοφωτέρφ εΐκεινκόσμιον.Es schickt sich, dem Gesetz, dem Herrschenden unddem Weiseren Folge zu leisten.

Im Sinne des A. w re eher die Empfehlung, dem νόμος und demδίκαιον zu folgen, statt neben dem νόμος den Weisen (σοφός) bzw. dasWeise (σοφόν) als eigenst ndige und gleichberechtigte Autorit tanzuerkennen.

Auch widerspricht die Feststellung Demokrits, von Natur sei dasHerrschen dem St rkeren eigen (B 267), dem Geist des A.:

φύσει το αρχειν οίκήιον τφ κρέσσονι.Mag es Demokrit mit dieser reinen Feststellung auch fern liegen, das

Recht des St rkeren zu p r o p a g i e r e n , so findet sie auch als einfacheFeststellung keine Parallele in den Bruchst cken des A., denn nach dessen

berzeugung gibt es nichts, was an sich zur Herrschaft berufen w re, essei denn der νόμος selbst. Doch selbst dieser bedarf der St tze derjeweiligen Staatsmitglieder oder - wenn diese darin fehlen - des herr-schenden Despoten. Letzterer wiederum ist auch nicht von Natur zur Herr-schaft bestellt, sondern gelangt allenfalls aufgrund allgemeiner ανομία andie Spitze des Gemeinwesens und ist seinerseits von den νόμοι und demδίκαιον abh ngig. Bei dieser gegenseitigen Abh ngigkeit kann es keinenκρείσσων bzw. kein κρεΐσσον geben, der bzw. das zur Herrschaft berufenw re.

97 Cataudella 1950,75f.

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Anonymus lamblichi 325

Schlie lich gibt sich der A. in 7,6 als Gegner des Krieges zu erkennen,indem er diesen den Urheber der gr ten bel f r die Menschen nennt (p.403,32-34):

και το κακά μέγιστα τοις άνθρώποις πορίζον,πόλεμον έπιφερόμενον εις καταστροφήν καιδούλωσιν ...Und das, was den Menschen die gr ten bel bringt,der Krieg, der f r Unterwerfung und Versklavungangezettelt wird, (trifft die, die in Gesetzlosigkeit(ανομία) leben, eher [s.u].)

Diese eher grunds tzliche Ablehnung des Krieges teilt Demokrit nicht,sondern betrachtet ihn als ein Feld, auf dem M nner ihre Tapferkeitbeweisen k nnen. Au erdem nimmt er Ansto an solchen M nnern, diesich in die Knechtschaft von Frauen begeben (B 214):

ανδρείος ούχ ό των πολεμίων μόνον, άλλα και ότων ηδονών κρέσσων. ενιοι δε πολιών μενδεσπόζουσι, γυναιξί δε δουλεύουσιν.Tapfer ist nicht nur, wer den Feinden, sondern werden L sten berlegen ist. Einige herrschen berSt dte, aber dienen Frauen als Sklaven.

Zugleich belegt B 214, wie problematisch es ist, aus nahezuvulg rethischen Ansichten auf Abh ngigkeiten einzelner Autoren zuschlie en, k nnte dieses frg. doch ohne weiteres dazu dienen, mit derForderung nach Selbstbeherrschung eine Parallele zu frg. 4,1 des A. zuziehen. B 214 zeigt jedoch einen Unterschied im Denken beider, der ineinem anderen Fragment Demokrits noch deutlicher zutage tritt: In B 250erkl rt er, mit der Eintracht im R cken k nne man alle bedeutendenAufgaben bew ltigen, und die St dte ihre Kriege f hren:

από όμονοίης τα μεγάλα έργα και ταΐς πόλεσι τουςπολέμους δυνατόν κατεργάζεσθαι.Nur von Eintracht aus lassen sich die gro en Werkesowie auch die Kriege f r die Gemeinden ausf hren

98

9 8 bersetzung zitiert aus Diels/Kranz.

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326 Anonymus lamblichi

Zwar w re es voreilig, Demokrit zu unterstellen, er hielte den Krieg f rein .gro es Werk' (μέγα έργον), aber offensichtlich z hlt er ihn zu dennotwendigen Aufgaben einer πόλις, die sich nur bei einem geordnetenStaatswesen - eben im Zustand der Eintracht - bew ltigen lassen. Hingegenbleiben nach Ansicht des A. wohlgeordnete Staaten h ufiger vom Kriegv e r s c h o n t , d.h. die solide innere Ordnung (ευνομία) ist ihm ein Mit-tel, Kriege zu v e r h i n d e r n , statt sie zu bew ltigen (7,6; p. 403,34):

... και τοΰτο (sc. 6 πόλεμος) άνομοΰσι μεν μάλλονέπέρχεσθαι, εύνομουμένοις δ* ήσσον.und dieses (sc. der Krieg) trifft die, die in Gesetz-losigeit leben eher, die aber, die in geordnetenGemeinwesen leben, weniger.

Wegen dieser Ungereimtheiten erscheint die Annahme, Demokrit habedie von lamblich nur in Ausz gen zitierte Schrift geschrieben, eherunwahrscheinlich.

In j ngerer Zeit hat die erstmals von Gomperz ausgesprochene und vonUntersteiner n her begr ndete These, der A. sei der Sophist Hippias, eineErweiterung erfahren durch Barigazzis Vorschlag, die frgg. sogar der.trojanischen Rede', dem Τροικός λόγος des Hippias zuzuordnen". In derAbsicht, f r Hippias Ansichten zu belegen, die sich mit denen des A.harmonisieren lassen, bem hen Untersteiner und Barigazzi das vonXenophon Mem. IV 4,5ff. berichtete Gespr ch zwischen Hippias undSokrates ber die Gerechtigkeit, und st tzen sich insbesondere auf diejenigePassage (IV 4,18), in der Hippias mit Sokrates .gerecht' (δίκαιον) und.gesetzm ig' (νόμιμοv) gleichsetzt und zugesteht, gewisse .ungeschrie-bene Gesetze' (άγραφοι νόμοι) anzuerkennen. Letztere identifiziertUntersteiner mit Hilfe von Arist. Rhet. 1373b6 als .die gemeinsamennaturgem en Gesetze' (νόμοι κοινοί οι κατά φύσιν) und erkennt sie inder Formel des A. (6,1) φύσει γαρ ισχυρά ένδεδέσθαι ταΰτα wieder.Barigazzi folgt ihm darin.

99 Vgl. insb. Untersteiner 1943/44 [1976], 607ff. und Barigazzi 1992, 252ff., insb.253.

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Anonymus lamblichi 327

Doch abgesehen von dem zweifelhaften Quellenwert der MemorabilienXenophons100, stimmen die Gedanken des xenophontischen Hippias nichtmit denen des A. berein: Nirgends n mlich setzt dieser den νόμος mit demδίκαιον gleich, sondern stellt beide sprachlich als selbst ndige Bereicheneben οι νόμοι και το δίκαιον. Da er zudem νόμοι offenkundig nur indem Sinne gesetzlicher Regelungen verwendet, liegt vielmehr die Annahmenahe, er leite aus dem Recht die G ltigkeit des Gesetzes ab. Demnach istdas δίκαιον ein selbst ndiger Bereich, der in den νόμοι seinen Ausdruckfindet. Da die νόμοι dem δίκαιον nicht widersprechen, bedeutet nochnicht deren Identit t101. Gleiches gilt auch f r das Verh ltnis dieser beidenGr en zur φύσις: Sie erg n z e n die - wie bei Protagoras - bed rftigem e n s c h l i c h e φύσις, doch l t sich deswegen noch nicht behaupten,sie seien Teil der φύσις. Anders formuliert: Der A. kennt kein Naturrecht,sondern nur ein an sich g ltiges δίκαιον, ohne das der Mensch wegenseiner unvollkommenen φύσις nicht bestehen k nnte. W re dieses δίκαιονdagegen B e s t a n d t e i l der φύσις, dann w re diese in Wirklichkeitn i c h t unvollkommen. Gerade aus der Annahme eines φύσει δίκαιονfolgert Untersteiner, gem dem A. (7,15) habe „ ... ein Tyrann nicht dasR e c h t (hervorgeh, v. Verf.), einem Volk Gewalt anzutun, indem er dasRecht ... und das allen gemeinsame Gesetz (δίκην ... και τον νόμον τονπάσι κοινόν) zerst rt." Wie jedoch der Text des A. zeigt, m te einGewaltherrscher, der Recht und Gesetz aufheben w o l l t e (vgl. dieFutura καταλύσει und άφαιρήσεται; ρ. 404, 27+28), st hlern sein, d.h.er hat nicht etwa kein R e c h t , νόμος und δίκη umzust rzen, sondern ihmfehlt - weil es nach 6,3 einen solchen Stahlmenschen ohnehin nicht gebenkann - die F h i g k e i t , dergleichen zu tun. Und selbst wenn es ihng be, w re er nach 6,4 u. 5 dazu nicht in der Lage, weil er νόμος undδίκαιον zu seinem Bestehen brauchte. Bei diesen berlegungen des A.

100 Dazu s.o. Kap. IV 2, S.164ff. Die Schwierigkeit der Memorabilien als Quelle f rdie Sophistik besteht darin, da Xenophon die Sophisten weder als einheitliche Bewegungbegriff, noch ein Interesse daran hatte, ihre Leistung zu w rdigen, gilt seinHauptaugenmerk doch der Figur des Sokrates. Zuweilen weist er ihre Gedanken nichteinmal als ihr Eigentum aus; vgl. auch Classen 1984, 155.

10J Sprachlich dr ckt der A. die Trennung zwischen νόμοι und δίκαιον aus, indem eri.d.R. jedem Begriff stets einen eigenen Artikel voranstellt: vgl. 3,6 τοις νόμοις και τφδικαίφ, 6,1 τον τε νόμον και το δίκαιον, 4,3 τοις νόμοις και τφ δικαίω, 7,14 δ τενόμος και ή δίκη.

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328 Anonymus lamblichi

spielt demnach ein Naturrecht keine Rolle. Eine derartige Deutung scheitertnicht zuletzt auch daran, da φύσις in den erhaltenen Bruchst cken desA.102 stets die menschliche und nicht eine umfassende All-Natur bezeich-net.

Auch entspricht der νόμος-Begriff des A. nicht dem, was Hippias nachXen. Mem. IV 4,19 unter - wenn sich Arist. Rhet. 1373b6 bertragen l t- naturgegebenen .ungeschriebenen Gesetzen' (άγραφοι νόμοι) versteht,weil er im wesentlichen das von den Menschen nach Ma gabe des δίκαιονfestgelegte konkrete Gesetz benennt (s.o.). Frg. 7,15 spielt denn auch mitνόμος π ά σ ι κ ο ι ν ό ν (das allen gemeinsame Gesetz) lediglich auf dieallgemeine Verbindlichkeit des staatlichen νόμος f r alle Staatsmitglieder an- Regierende Inbegriffen.

Ebenso problematisch ist Untersteiners Versuch, dem A. und damitHippias [Thuk.] ΠΙ 84 zuzuschreiben: Zun chst erkl rt [Thuk.] III 84 amBeispiel von Kerkyra den Zustand der Gesetzlosigkeit103 als Folge desB rgerkrieges104, w hrend der A. umgekehrt den (B rger)Krieg aus derGesetzlosigkeit (ανομία) ableitet (7,6ff.). Mag zudem [Thuk.] III 84,2+3einen auff lligen Gegensatz zwischen der menschlichen Natur (ανθρωπείαφύσις) und dem Heiligen (δσιον) als Grundlage des δίκαιον behaupten -und diese als wahre φύσις gedacht sein105, der A. beansprucht weder dasδσιον als Grundlage des δίκαιον106, noch postuliert er neben dermenschlichen eine umfassende wahre φύσις.

Schlie lich steht der Gleichsetzung des A. mit Hippias nicht zuletzt dieDarstellung entgegen, die Platon Prot. 337c7ff. von Hippias bietet107: Denin diesem Zeugnis f r Hippias belegten Gegensatz zwischen dem νόμοςτύραννος und der φύσις - der sich nicht nur in den Texten des A. nicht

102 Vgl. 1,2 (p. 400,4) u. 6,1 (p. 402,29).103 Den Begriff der ανομία verwendet er dabei im Ggs. zu dem A. nicht.104 προετολμήθη in III 84,1 bedeutet dabei nicht, da auf Kerkyra die anarchischen

Zust nde - die ανομία - dem B rgerkrieg vorausgingen, sondern nur, da die KerkyraierVerwirrungen vorwegnahmen, die sp ter auch andere πόλεις befallen sollten.

105 Untersteiner 1943/44 [1976], 595106 Das r umt Untersteiner 1943/44 (1976), 595 sogar selbst ein: „Im An. J. ist der

erste Punkt, derjenige, der das οσιον betrifft, nicht deutlich formuliert."107 Die meisten Gelehrten halten dieses Zeugnis f r authentisch: vgl. Nestle 21942,

367, Untersteiner 1943/44 (1976), 606 Anm. 43, Heinimann 1945, 142, Wolf II 1952,78, Guthrie III 1969, 120 u. 138, Kerferd 1981, 114, de Romilly 1988, 210.

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findet, sondern ihnen widerspricht - spielt Untersteiner herunter, indem erτύραννος unter Hinweis auf Herodot (ffl 80,4, V 44,2 u. 92,a2) und denA. selbst (7,13) als Synonym zu βασιλεύς (K nig) versteht und ihm damitden Beigeschmack des gewaltt tigen Despoten zu nehmen versucht. Dochabgesehen davon, da die Formulierung Plat. Prot. 337d2f. τύραννος ωντων ανθρώπων, πολλά παρά την φύσιν β ι ά ζ ε τ α ι (weil er einτύραννος ist, tut er der φύσις vielfach Gewalt an) f r Hippias eher an einenGewaltherrscher denken l t, und der A. in 7,13 nicht etwa den τύραννοςverharmlost, sondern umgekehrt den βασιλεύς auch als einen Despotenversteht108, zieht Untersteiner letztendlich lediglich den xenophontischenHippias dem platonischen Zeugnis vor109.

Barigazzi110 seinerseits bestreitet schlichtweg den Gegensatz von νόμοςund φύσις in Plat. Prot. 337c7ff.: Er versteht den νόμος τύραννος als„principle obiettivo", das als Quelle des δίκαιον die von Natur allesamtgleichen Menschen111 zu sittlichem Handeln inspiriere. Erst wenn sich derνόμος durch die von Gruppen- und Einzelinteressen geleitete menschlicheGesetz g e b u n g von seiner urspr nglichen Form entferne, entstehe derGegensatz zwischen νόμος und φύσις. Eine derartige Konzeption magzwar in sich sinnvoll erscheinen, beruht aber auf der problematischenAnnahme, Hippias/Platon verwende in Prot. 337d2 νόμος in zweifacherBedeutung, n mlich anerkennend in der eines allgemeinen φύσει bestehen-den Prinzips, und zugleich abwertend als menschliche Satzung, die derφύσις oft genug Gewalt antue. F r diesen Doppelsinn besteht jedoch indem unmittelbaren Zusammenhang bei Platon keine Notwendigkeit.Vielmehr m te, wer diese Ansicht f r Hippias nachweisen wollte, die

108 vgl. 7,13 (404,20) όστις γαρ ηγείται β α σ ι λ έ α η τ ύ ρ ρ α ν ο ν εξάλλου τινός γίγνεσθαι ή εξ ανομίας τε και πλεονεξίας, μωρός εστίν έπειδάν γαράπαντες ε π ί κ α κ ί α ν τ ρ ά π ω ν τ α ι , τότε τ ο ΰ τ ο γίγνεται. Wie der Textbelegt, ist der βασιλεύς nicht w nschenswerter als der τύραννος.

109_ Vgl. Untersteiner 1943/44 [1976], 607: „Gleichwohl trifft dies alles (sc. dieUntersuchung von Plat. Prot. 337c7ff.) nicht den Kern der Frage. Da deren Beantwortungdurch den lexikologischen Befund (ic. βασιλεύς = τύραννος) nicht vorweggenommenwird, bleibt nunmehr die Aufgabe, die Vorstellung des Hippias von νόμος und δίκαιον,so wie sich aus anderen Quellen ergibt (sc. Xen. Mem. IV 4,5ff.), zu vertiefen."

HO Barigazzi 1992, 252f.1 ί 1 Diese Annahme scheitert daran, da Hippias nach Plat. Prot. 337c/d die

συγγένεια und das όμοΐον είναι mit υμάς (bzw. nach Heindorf ημάς)... απαντάς aufden Kreis der anwesenden σοφοί beschr nkt.

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xenophontischen .ungeschriebenen Gesetze' (άγραφοι νόμοι) als allgemei-nen naturgem en νόμος deuten und auf Plat. Prot. 337c7ff. bertragen.Dazu bed rfte es aber zun chst einmal einer eingehenden InterpretationXenophons, die erkl ren k nnte, weshalb er in Mem. IV 4,19 von άγραφοινόμοι spricht, und die dabei einen triftigeren Grund vorbr chte alsXenophons Absicht, letztendlich S o k r a t e s ' Ansichten zu unterstrei-chen und zu diesem Zweck dessen Gespr chspartnern die passenden Wortein den Mund zu legen. Zudem verwendet der A. weder νόμος noch φύσιςin dem von Barigazzi postulierten Sinne (s.o. S.305ff.).

Somit zwingt kein Grund dazu, den A. mit Hippias gleichzusetzen. DieGemeinsamkeiten, die nach Barigazzi112 zwischen ihm und Hippias'Τροικός λόγος bestehen, reduzieren sich auf die blo e Tatsache, da beideSchriften protreptischen Charakter tragen - zu wenig, um sie zuidentifizieren.

Die wohl auff lligsten hnlichkeiten verweisen in die N he vonProtagoras113. Dabei ist es ohne Bedeutung, wenn der A. in frg. 1,2 mitProtagoras B 3 den eher selbstverst ndlichen Gedanken teilt, Erziehungfu e stets auf Begabung und bung. Entscheidend sind vielmehr dieAnkl nge an den sog. ,Prometheusmythos', die in frg. 3,6 mit derBezeichnung der νόμοι als τάς τε πόλεις και τους ανθρώπους τοσυνοικίζον και το συνέχον (das, was die St dte und die Menschenzusammenbringt und zusammenh lt) zu Plat. Prot. 322c2 πόλεων κόσμοιτε και δεσμοί φιλίας συναγωγοί (Ordnungen der St dte und einigendenBande der Freunschafi) und in frg. 6,1 (p. 402,24-9) zur Bed rftigkeit desMenschen nach dem protagoreischen Mythos berhaupt bestehen. Da siekeines weiteren Beweises bed rfen, sei auf sie nicht n her eingegangen,sondern vielmehr auf einen weiteren Gedanken verwiesen, den der A. -wenn auch in eigenst ndiger Form - nur mit dem »Prometheusmythos' teilt:Wie nach Plat. Prot. 322a6 die Menschen der Urzeit die technischenFertigkeiten im Gegensatz zur Sittlichkeit s c h n e l l (ταχύ) zu erwerbenvermochten, so kann nach frg. 2,7 des A. ein Lernender ebenfalls rasch (ενόλίγω χρόνφ) die technische Perfektion seines Lehrers erreichen, w hrender zu vollendeter sittlicher αρετή fr hzeitige und anhaltende bung

112 Barigazzi 1992, 254-61 1 3 Vgl. K. T pfer 1912, 3-16, Bitterauf 1909, 520f.

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ben tigt. Beide Sophisten heben die Bedeutung der Sittlichkeit hervor,indem sie von ihr behaupten, sie sei bei weitem schwieriger zu erlangen alsrein technisches K nnen. Doch beweist der A. seine Eigenst ndigkeit, weiler auf den e i n z e l n e n Menschen als solchen bertr gt, was Protagorasim Rahmen einer Entwicklungsstufe der M e n s c h h e i t bespricht.

berhaupt kann wegen der im folgenden genannten Unterschiedekeineswegs der Verdacht aufkommen, der A. sei Protagoras selbst oderdessen unselbst ndiger Plagiator. Abgesehen von stilistischen Eigenheitenkennt der A. n mlich keinen Relativismus, der es gestatten w rde, dieνόμοι einer jeden πόλις als δίκαιον zu bezeichnen114. Vielmehr scheint ereine absolute inhaltliche Bedeutung des δίκαιον anzusetzen, nach der alleνόμοι ausgerichtet werden sollten und auch werden, wenn sie dasmenschliche Zusammenleben tats chlich regeln sollen. Immerhin scheintaber auch f r Protagoras mit αιδώς und δίκη ein sittlicher Grundkonsenszu bestehen.

Zudem verraten auch andere u erungen den Einflu weitererZeitgenossen: Die genaue Unterscheidung bestimmter Synonyma - etwa derδόξα, des dauerhaften Ruhms, von der ευδοξία, dem kurzzeitigenAnsehen, (2,4-8) und der πράγματα, der sinnlosen T tigkeiten, von denέργα, den sinnvollen T tigkeiten, (7,3f.+8) - erinnert beispielsweise anProdikos. Der Gedanke, die Menschen scheuten sich, andere zu ehren, weilsie glauben, selbst etwas dabei zu verlieren (2,3), k nnte insofern eineselbst ndige Weiterentwicklung aus Antiphon B 54 sein, als Antiphon dortden Geizigen wohl deshalb sein Geld nicht als Kredit zur Verf gung stellenl t, weil er - der Geizige - glaubt, was einem anderen - demKreditnehmer - n tze, m sse ihm selbst schaden. ber die dar ber hinausbestehende hnlichkeit dieses antiphontischen Textes mit frg. 7, l f. wurdebereits berichtet (s.o. S.222f.). Auch l t der A. zu dem GrundgedankenAntiphons, erstrebenswert sei der gr tm gliche Nutzen f r alle Beteilig-ten, eine auff llige Affinit t erkennen, die allerdings auch auf Protagorasdeuten k nnte. Ebenso unterscheidet er mit Antiphon in 4,3 nat rliche unddeswegen unumg ngliche Sch den (Feuersbr nste, Todesf lle etc.) vonden vermeidbaren Strafen der Gesetze, doch Verwendet er anders alsAntiphon diesen Gedanken nicht als Kritik an den νόμοι, sondern mildert

114 Vgl. Plat. Theaet. 167c4f.

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die gesetzlichen Strafen mit dem Hinweis, man k nne sich ja vor ihnen inacht nehmen (εΰλαβηθήναι εστί και φυλάξασθαι, 4,3; p. 402,5). Undschlie lich bezieht der A. mit seiner Kritik an der πλεονεξία (6,1-5 u.7,12-16) eindeutig Stellung zur Lehre vom Recht des St rkeren. Trotzmancher hnlichkeit sogar zu Sokrates geht er dabei aber nicht soweit,

bergriffe gegen andere als Schaden an der eigenen Seele zu verstehen.Vielmehr bleibt sein Nutzenverst ndnis eher Antiphon oder Protagorasverpflichtet.

Diese zahlreichen Bez ge erweisen den A. als selbst ndigen Sophisten,dessen genaue Identit t ohne weitere Funde im Dunkeln bleiben mu 115.Immerhin gibt er sich insofern als »konservativ* zu erkennen, als er trotzeindeutiger Anlehnung an Protagoras dessen Relativismus nicht teilt,sondern die im Laufe der Sophistik immer mehr in Frage gestellten Begriffevon νόμος und δίκαιον anerkennt und inhaltlich auf einen b e s t i m m -t e n Bereich festlegt - n mlich den, jedem seine private Freiheit und seinenNutzen zu erm glichen, ohne anderen zu schaden. Daraus sprichtm glicherweise eine auf pers nlicher Erfahrung innen- wie au enpolitischerUnruhen beruhende Sehnsucht nach einem Staatswesen, das ein geordnetes(Privat-)Leben erm glicht, weil es auf Gesetzen fu t, die allgemein g ltigeund anerkannte Werte widerspiegeln. Interessanterweise kehrt mancherseiner Gedanken mutatis mutandis in Platons Politeia wieder116.Gleichwohl l t sich unschwer eine gewisse Neigung zu Gedankenerkennen (beispielsweise die Verantwortung aller B rger f r das Gedeihendes Staates), die nach modernem Empfinden einen demokratischenRechtsstaat auszeichnen, doch sollte man mit der bertragung modernerVorstellungen vorsichtig sein. hnlich mag zwar Protagoras, an den der A.sich eindeutig anlehnt, eine Vorliebe f r die attische Demokratie gehabthaben, doch sind sein Prometheusmythos und seine allgemeine Staatsauf-fassung verfassungsindifferent.

Zeitlich d rfte sich der A. in die Jahre von der Sp tphase desPeloponnesischen Krieges bis zu dem Auftreten Platons einordnen lassen.

115 Vgl. Bitterauf 1909, 520, Nestle 21942, 424, Guthrie, III 1969, 315, Lesky31971, 497 und Kerferd 1981, 54f.

1J 6 Es w re voreilig, in den Fragmenten des A. umgekehrt den Einflu Platonserkennen zu wollen (vgl. aber Gigante 1956, 177). Eher sind Gemeinsamkeiten mitSokrates zuzugeben.

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Diese Annahme scheint berechtigt, weil er einerseits nicht nur auf relativsp te sophistische Lehren (z.B. das Recht des St rkeren und Antiphon)bezug nimmt, sondern auch offen seinen Kriegs berdru bekundet (7,6)und andererseits zwar immaterielle Werte wie Tugend (αρετή) und Ruhm(bei den Mitmenschen als δόξα, bei der Nachwelt als ευλογία) anerkennt,aber noch nicht so konsequent aus h heren Prinzipien ableitet, wie Platondies tun sollte.

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