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36 | Bauwelt 24 2004 Deborah Gans, Matt Jelacic Displacement: The Realpolitik of Utopia Über Nomaden, Vertriebene, Obdachlose und die Option auf Rückkehr Der moderne Nomade kennt keine nationalstaatlichen Bar- rieren, er trägt seine eigene kulturelle Identität ebenso mit sich herum wie seine Siebensachen in der Plastiktüte. Von den romantischen Gefilden in Goethes Werther her- abgestiegen, kommt er in den eigens für ihn eingerichte- ten Siedlungen an den Rändern nie wirklich an, bleibt be- sitzlos, hat mal Arbeit und mal keine und wird sich irgend- wann im globalen Irgendwo verlieren. Wir sind ihm, dem romantischen Nomaden, vielleicht zum letzten Mal bei einem Designwettbewerb von Alessi be- gegnet, worin denen, die unentwegt unterwegs sind, alle möglichen Ausrüstungen mit auf den Weg gegeben werden sollten. Damals haben wir für ihn einen Gürtel mit klei- nen persönlichen Gerätschaften entworfen, dazu eine trag- bare Computerstation. Beides würde heute niemand mehr durch die Sicherheitskontrollen am Flughafen bringen kön- nen. Nun sitzt der Nomade in der Flughafenlounge, wegen Nine/Eleven oder wegen des jüngsten globalen Gipfeltref- fens dort festgehalten, und sinniert über den Kapitalfluss, wie er vorüberzieht und dabei in seinem Kielwasser die Ressourcen der Welt erschöpft und gezwungenermaßen die Menschen gleich mit. Letztlich sind wir alle vertraut mit den Thesen eines De- leuze oder Guattari, die für das Nomadentum zwei Voraus- setzungen notieren: die Autorität des Staates, der seinen Machtbereich durch gestreifte Markierungen absteckt, und die Autonomie des Nomaden, der eine Kriegslist benutzt, um sein „weiches“ Territorium auszuweiten. Aus Nietz- sches Dualismus der Eroberungen ausgespart blieb der un- freiwillig Vertriebene, der kein Nomade zu sein wünscht, der jedoch unter den Bedingungen, die man ihm anbietet, auch nicht ansässig werden will. Die Hauptfiguren dieses Textes sind displaced people, Hei- matlose, Vertriebene, Obdachlose, sie sind die dunklen Dop- pelgänger der von Alessi auserwählten Nomaden. Sie sind ein Produkt der Geopolitik nach dem Kalten Krieg, hinein- geworfen in eine Kultur des Mangels, die wir mit unserer Kultur der Verschwendung überdecken. Gleichgültig, ob ihre Vertreibung auf Krieg, Hunger oder Massenarbeitslo- sigkeit zurückzuführen ist, sie wurzelt in den Zeiten des Kalten Krieges, als die Supermächte den von ihnen begehr- ten Territorien mit Investitionen zu Hilfe kamen und sie damit, wie Afghanistan damals und heute, von Grund auf destabilisierten. Neben den staatlichen Supermächten agieren heute die pri- vaten. Weder die fremden Nationen, die versuchen, sich der natürlichen Ressourcen eines Landes zu bemächtigen, noch die fremden Investoren, die an einer Produktion zu Niedrigstpreisen interessiert sind, haben je in die Infra- struktur oder in die Zukunft eines Landes (das ihr Gastge- ber ist) investiert. Die Folgen sind Unterentwicklung und Vertreibung. Der Aufschwung im indischen Hyderabad ist die Ausnahme von der Regel. Das typische Muster von Migration aufgrund fremder In- vestitionen beginnt mit dem Umzug der ansässigen Bau- ern in die nächstgelegene Stadt, um einen von den neuen Jobs zu ergattern, wo sie aber nicht lange bleiben können, weil sie in die nächstgrößere Stadt weiterziehen müssen, wenn die Investitionen sich erneut verlagern. Diese indivi- duellen Bewegungen haben tief greifende Konsequenzen. Um nur einige zu nennen: Die Agrarproduktion verringert sich, die verlassenen Landstriche verwahrlosen, die viel zu schnell wachsenden Städte sind sozial und physisch über- fordert. Der Kampf um die immer geringer werdenden länd- lichen und städtischen Ressourcen, der immer auch ein Kampf um politische Macht ist, führt oft genug zu ethni- schen Auseinandersetzungen, zu regionalen Kriegen und zu weiteren Vertreibungen. In seiner Gier zu wachsen und seiner Fähigkeit, genau das zu tun, treibt das Kapital die Konsequenzen immer weiter: Auf Landverödung folgen Mi- gration, Emigration, Flucht. Die United Nations haben Zahlen präsentiert: Man muss sich vorstellen, dass unter je 297 Personen auf diesem Pla- neten schon jetzt einer ist, der seine Heimat, aus welchen Gründen auch immer, verloren hat, hinzu kommt eine neue Kategorie, die erstmals von den Vereinten Nationen registriert wird: die internally displaced persons (IDP), jene, die innerhalb des eigenen Landes zwar Haus und Hof, nicht aber ihre Heimat verloren haben. Von ihnen gibt es mindestens 25 Millionen, das entspricht der doppelten Ein- wohnerzahl der größten Metropolen der Welt. Es ist ge- spenstisch, sich ein so riesiges urbanes Auffangbecken für die Besitzlosen vorzustellen, doch durch ein Bild wie die- ses werden die Auswirkungen solcher Vertreibungen auf die existierenden Städte erst verständlich. Gleichgültig, ob die Flüchtlinge mit Gewalt aufgehalten, durch Immigration integriert oder in der entwürdigenden Form eines Lagers sichtbar ausgeschlossen werden – auf irgendeine Weise bil- det sich das Phänomen der Vertreibung in den Städten ab und zwingt sie dazu, sich zwischen temporären und per- manenten Einrichtungen zu entscheiden. Welche Strategie zur Ansiedlung der Vertriebenen auch immer sie wählen, sie müssen dabei stets eine neue oder veränderte Vorstel- lung von Stadtkultur entwickeln. Die aktuelle städtebauliche Praxis: Das Camp Das weitaus häufigste architektonische Sinnbild für Ver- treibung ist das Flüchtlingslager, und das erscheint uns wie die dunkle Hinterlassenschaft eines Internationalen Stils nach quasi militärischem Muster. Alle Lektionen der Postmoderne über regionale Zerstörung, über kulturelles Gedächtnis und die Muster des täglichen Lebens sind wie vergessen. Anscheinend gibt es noch immer wenige Alter- nativen zu den preisgünstigen blauen Zeltbahnen, die nach dem römischen Muster von cartus und decumana aufge- stellt werden, um die Versorgung zu vereinfachen und die StadtBauwelt 162 | 37

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Deborah Gans, Matt Jelacic

Displacement: The Realpolitik of UtopiaÜber Nomaden, Vertriebene, Obdachlose und die Option auf Rückkehr

Der moderne Nomade kennt keine nationalstaatlichen Bar-rieren, er trägt seine eigene kulturelle Identität ebenso mitsich herum wie seine Siebensachen in der Plastiktüte. Von den romantischen Gefilden in Goethes Werther her-abgestiegen, kommt er in den eigens für ihn eingerichte-ten Siedlungen an den Rändern nie wirklich an, bleibt be-sitzlos, hat mal Arbeit und mal keine und wird sich irgend-wann im globalen Irgendwo verlieren.Wir sind ihm, dem romantischen Nomaden, vielleicht zumletzten Mal bei einem Designwettbewerb von Alessi be-gegnet, worin denen, die unentwegt unterwegs sind, allemöglichen Ausrüstungen mit auf den Weg gegeben werdensollten. Damals haben wir für ihn einen Gürtel mit klei-nen persönlichen Gerätschaften entworfen, dazu eine trag-bare Computerstation. Beides würde heute niemand mehrdurch die Sicherheitskontrollen am Flughafen bringen kön-nen. Nun sitzt der Nomade in der Flughafenlounge, wegenNine/Eleven oder wegen des jüngsten globalen Gipfeltref-fens dort festgehalten, und sinniert über den Kapitalfluss,wie er vorüberzieht und dabei in seinem Kielwasser dieRessourcen der Welt erschöpft und gezwungenermaßen dieMenschen gleich mit. Letztlich sind wir alle vertraut mit den Thesen eines De-leuze oder Guattari, die für das Nomadentum zwei Voraus-setzungen notieren: die Autorität des Staates, der seinenMachtbereich durch gestreifte Markierungen absteckt, unddie Autonomie des Nomaden, der eine Kriegslist benutzt,um sein „weiches“ Territorium auszuweiten. Aus Nietz-sches Dualismus der Eroberungen ausgespart blieb der un-freiwillig Vertriebene, der kein Nomade zu sein wünscht,der jedoch unter den Bedingungen, die man ihm anbietet,auch nicht ansässig werden will. Die Hauptfiguren dieses Textes sind displaced people, Hei-matlose, Vertriebene, Obdachlose, sie sind die dunklen Dop-pelgänger der von Alessi auserwählten Nomaden. Sie sindein Produkt der Geopolitik nach dem Kalten Krieg, hinein-geworfen in eine Kultur des Mangels, die wir mit unsererKultur der Verschwendung überdecken. Gleichgültig, obihre Vertreibung auf Krieg, Hunger oder Massenarbeitslo-sigkeit zurückzuführen ist, sie wurzelt in den Zeiten desKalten Krieges, als die Supermächte den von ihnen begehr-ten Territorien mit Investitionen zu Hilfe kamen und siedamit, wie Afghanistan damals und heute, von Grund aufdestabilisierten. Neben den staatlichen Supermächten agieren heute die pri-vaten. Weder die fremden Nationen, die versuchen, sichder natürlichen Ressourcen eines Landes zu bemächtigen,noch die fremden Investoren, die an einer Produktion zuNiedrigstpreisen interessiert sind, haben je in die Infra-struktur oder in die Zukunft eines Landes (das ihr Gastge-ber ist) investiert. Die Folgen sind Unterentwicklung undVertreibung. Der Aufschwung im indischen Hyderabad istdie Ausnahme von der Regel.

Das typische Muster von Migration aufgrund fremder In-vestitionen beginnt mit dem Umzug der ansässigen Bau-ern in die nächstgelegene Stadt, um einen von den neuenJobs zu ergattern, wo sie aber nicht lange bleiben können,weil sie in die nächstgrößere Stadt weiterziehen müssen,wenn die Investitionen sich erneut verlagern. Diese indivi-duellen Bewegungen haben tief greifende Konsequenzen.Um nur einige zu nennen: Die Agrarproduktion verringertsich, die verlassenen Landstriche verwahrlosen, die viel zuschnell wachsenden Städte sind sozial und physisch über-fordert. Der Kampf um die immer geringer werdenden länd-lichen und städtischen Ressourcen, der immer auch einKampf um politische Macht ist, führt oft genug zu ethni-schen Auseinandersetzungen, zu regionalen Kriegen undzu weiteren Vertreibungen. In seiner Gier zu wachsen undseiner Fähigkeit, genau das zu tun, treibt das Kapital dieKonsequenzen immer weiter: Auf Landverödung folgen Mi-gration, Emigration, Flucht.Die United Nations haben Zahlen präsentiert: Man musssich vorstellen, dass unter je 297 Personen auf diesem Pla-neten schon jetzt einer ist, der seine Heimat, aus welchenGründen auch immer, verloren hat, hinzu kommt eineneue Kategorie, die erstmals von den Vereinten Nationenregistriert wird: die internally displaced persons (IDP),jene, die innerhalb des eigenen Landes zwar Haus und Hof,nicht aber ihre Heimat verloren haben. Von ihnen gibt esmindestens 25 Millionen, das entspricht der doppelten Ein-wohnerzahl der größten Metropolen der Welt. Es ist ge-spenstisch, sich ein so riesiges urbanes Auffangbecken fürdie Besitzlosen vorzustellen, doch durch ein Bild wie die-ses werden die Auswirkungen solcher Vertreibungen aufdie existierenden Städte erst verständlich. Gleichgültig, obdie Flüchtlinge mit Gewalt aufgehalten, durch Immigrationintegriert oder in der entwürdigenden Form eines Lagerssichtbar ausgeschlossen werden – auf irgendeine Weise bil-det sich das Phänomen der Vertreibung in den Städten abund zwingt sie dazu, sich zwischen temporären und per-manenten Einrichtungen zu entscheiden. Welche Strategiezur Ansiedlung der Vertriebenen auch immer sie wählen,sie müssen dabei stets eine neue oder veränderte Vorstel-lung von Stadtkultur entwickeln.

Die aktuelle städtebauliche Praxis: Das CampDas weitaus häufigste architektonische Sinnbild für Ver-treibung ist das Flüchtlingslager, und das erscheint unswie die dunkle Hinterlassenschaft eines InternationalenStils nach quasi militärischem Muster. Alle Lektionen derPostmoderne über regionale Zerstörung, über kulturellesGedächtnis und die Muster des täglichen Lebens sind wievergessen. Anscheinend gibt es noch immer wenige Alter-nativen zu den preisgünstigen blauen Zeltbahnen, die nachdem römischen Muster von cartus und decumana aufge-stellt werden, um die Versorgung zu vereinfachen und die

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Wege zu den Waschanlagen kurz zu halten Wir wissen,dass diese Art der Planung aus den Militärhandbücherndes 19. Jahrhunderts stammt, wobei die sich wiederum aufCäsar berufen, weil ein solches Arrangement die Vermes-sung und die Überwachung vereinfacht. Die blauen Zelt-bahnen sind außerordentlich widerstandsfähig und billig,widerstandsfähiger sogar als die vorgefertigten Zelte, diebei Sturm an den Säumen ausreißen können. Die Bahnenlassen sich leicht transportieren, selbst auf Wegen, die fürschwere Lastwagen unpassierbar sind. Wichtiger noch, dieZeltbahnen sind das Zeichen für etwas Temporäres, etwas,das nicht von Dauer sein kann. In den ersten Monaten sig-nalisieren die Zelte: Der Konflikt wird bald behoben sein,die Rückkehr gilt als sicher. Alle glauben daran: die ob-dachlosen Bewohner, die Organisatoren des Camps, dienicht-staatlichen Hilfsorganisationen. Die Höhe der Inves-titionen für Zelte und Land entspricht der erwarteten kur-zen Dauer des Aufenthalts. Zieht sich der Konflikt hin, ver-ändern sich die Bedeutungen. Dann werden die Zelte zu einer Geste des Widerstands, sie signalisieren dem Feind,wir nehmen die Verschiebung der Grenzen nicht hin, unddas Gastgeberland signalisiert damit, dass es nicht gewillt ist, an eine permanente Ansiedlung der Flüchtlinge über-haupt zu denken. In Aserbaidschan blieb eine Zeltstadt fürzehntausend Menschen, die noch dazu zum gleichen Volks-stamm wie ihre Gastgeber gehörten, über zehn Jahre beste-hen, und das unter Bedingungen, die selbst die lokale Re-gierung als unerträglich apostrophierte. Doch die Einrich-tung permanenter Wohnorte hätte auf der militärischenEbene bedeutet, dass man die Verengung der Grenzen ak-zeptiert, und auf der politischen, dass man bereit ist, dieAussiedler als Einwanderer aufzunehmen.Eine andere, weit verbreitete Art, Flüchtlinge unterzubrin-gen, ist die Nutzung verlassener Militärcamps. Dahintersteckt eine bittere Ironie. Es liegt in der Natur modernerkämpferischer Auseinandersetzungen, dass sie im Idealfalldurch eine virtuelle Infanterie mit Cyber-Intelligenz aus-gefochten werden, die sich schnell formiert und nur leich-tes Gepäck, wie aufblasbare Baracken, mit sich führt. Al-les, was das Militär dann hinterlässt, gilt als aufgegebenund wertlos. Die Adaption und Nachnutzung dieser regel-haften Anlagen erinnert an die brutalen Wahrheiten vonMichel Foucault. Im ungarischen Nagyatád wurde 1991 einMilitärlager als Flüchtlingslager für dreitausend bosnischeFlüchtlinge eingerichtet, ohne große Veränderungen an denviergeschossigen Baracken mit ungeteilten Schlafsälen undden Waschbatterien für je fünfzig Soldaten vorzunehmen.Der originale Stacheldrahtzaun blieb erhalten, nach offizi-eller Lesart, um die Flüchtlinge zu schützen, aber auch, umjede ihrer Bewegungen kontrollieren zu können und umdie zwölftausend Einheimischen auf Abstand zu halten, diedie Vertriebenen hassten, weil die auf dem örtlichen Marktdie heiß begehrten Zigaretten und Früchte verkauften. Eine

Schule, eine Moschee und andere informelle soziale Ein-richtungen gaben dem Flüchtlingslager zwar den Status einer „Flüchtlingsstadt“, doch trug dies kaum dazu bei,dessen Schwellenexistenz aufzuheben. Nach drei Jahrenwünschten sich die Flüchtlinge nichts sehnlicher, als nachHause zurückzukehren, denn der Wunsch, Ungar zu wer-den, war ihnen abhanden gekommen. Die Bürger von Nagyatád hätten sie nur zu gern ziehen lassen. Für jene, die sich mit der Planung von Flüchtlingscampsbefassen müssen, ist die Nachnutzung von Militärbarackenein nicht zu unterschätzender Vorteil, denn Flüchtlingsla-ger können die Größe kleiner Städte haben, und ihre Aus-wirkungen auf das ökologische und bioregionale Gleich-gewicht können verheerend sein. Der Flüchtlingskommis-sar der Vereinten Nationen hat sie deshalb kurz als „Öko-Desaster“ bezeichnet. Zählen wir die Folgen eines Flücht-lingslagers auf: zuerst die Zerstörung des Waldes, den dieFlüchtlinge als Brennholz und Baumaterial abholzen, demfolgen Bodenerosion und Verlust der Artenvielfalt, hinzukommen Wilderung, Überkultivierung des Bodens, Was-sermangel, Boden- und Wasserkontaminierung wegen desMülls, Luftverschmutzung wegen der Feuer zum Kochen.Außerdem die Produktion ungeheuerlicher Berge von Müll,weil hier auch alle nicht verwertbaren Transport- und Bau-materialien abgeladen werden. Mangel und Entbehrung,in vielen Fällen die Auslöser für Flucht oder Vertreibung,sie kennzeichnen am Ende die Orte, wo die VertriebenenZuflucht gefunden haben.Es gibt Versuche, die Auswirkungen der Camps auf dieUmwelt zu kontrollieren, doch arbeiten alle mit Planungs-visionen, die einem Vitruv wohl anstehen würden, wennman an die Idealisierung der Aufgabe und die quasi-mili-tärische Technik denkt. Durch die Auswertung von Satelli-tenbildern ist es möglich geworden, so viele präzise Datenüber bestimmte Landschaften zu erhalten, dass man sol-che auswählen kann, die zwanzigtausend und mehr Aus-siedler aufnehmen können, ohne dass der Umwelt mehrals ein zumutbarer Schaden zugefügt wird. Als Daumenre-gel gilt eine fünfzehn Kilometer weite Pufferzone zwischenden Flüchtlingslagern und der ursprünglichen Landschaft,denn in diesem Umkreis werden sich die Aussiedler ihrBrennholz beschaffen. Auch innerhalb des Camps gibt eseine Regel, die es verbietet, so viele Bäume und Sträucherzu fällen, dass eine „Lichtung“ entsteht. Außerdem wer-den auch hier Bereiche ausgegrenzt, die niemand antas-ten darf. Damit Landwirtschaft möglich ist und trotzdem„Biomasse“ erhalten bleibt, haben die Planer Systeme wie„Taungya“ entwickelt, bei dem das Getreide zwischen dieBäume gepflanzt wird. Die empfohlene Grundstücksgrößebeträgt mindestens 400 Quadratmeter pro Haushalt, umeine gewisse Verantwortung der Siedler für ihre unmittel-bare Umgebung zu gewährleisten und zugleich durch das,was die Siedler für sich anpflanzen, weitere „Biomasse“ zu

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erzeugen. Ein Cluster von vier bis sechs Unterkünften umeinen zentralen Platz gilt als ideale Größe, um beides zuermöglichen: das Kochen und Essen im familiären Rahmenoder die ökologisch günstigere Zubereitung von gemein-samen Mahlzeiten. Märkte oder Krankenhäuser liegen so,dass sie zu Fuß zu erreichen sind und gegebenenfalls er-weitert werden können. Alles in allem weisen die Planungskriterien für ökologischverträgliche Flüchtlingscamps eine verstörende Ähnlich-keit mit den Prinzipien des aufgeklärten New Urbanismauf. Denn auch im New Bombay von Charles Correa oderin der Majorca Technopolis von Richard Rogers wird dasAuto zur quantité négligable und der Fußweg zum Maß al-ler Dinge, die Gartenstadt der Moderne erfährt eine Refor-mulierung in Form einer produktiven Landschaft, und diegerechte Gesellschaft wird aus den gleichen Wohnhäusernfür alle abgeleitet.Rein theoretisch reicht die soziopolitische Haltung der Pla-ner von Flüchtlingscamps noch etwas weiter, weil an eineBeteiligung der Bewohner an der Planung gedacht ist. In ei-ner Art „bodenständiger“ Demokratie sollen Führer gewähltwerden, die bei der Organisation von Konsumgütern, Woh-nungen und Jobs behilflich sind. In Wirklichkeit kommtdas alles einer Sozialfürsorge ziemlich nahe, denn es gehteinerseits um bestimmte Schutzmaßnahmen, andererseitsgeht es darum, die Bewohner zu nötigen, bestimmte kul-turelle Praktiken, die sich hier nicht halten lassen, gegenandere einzutauschen. Die UN-Richtlinien fordern Erzie-hungsseminare, die vermitteln sollen, wie man mit der Um-welt schonend umgeht, andererseits ist aber auch an öko-nomische Anreize gedacht, um das Umweltverhalten zuverbessern. Das UNHCR schreibt einen bestimmten Preisfür Brennholz, Samen, Solaröfen usw. vor, weil nachgewie-sen wurde, dass sich der Wert einer Sache für die Siedlernach deren Kosten bemisst. Die Kochrituale sind oft Gegen-stand zäher Verhandlungen, bis zwischen bestimmten kul-turellen Bräuchen und der effizienten Nutzung der Geräteein Kompromiss gefunden ist. Solar Cooking zum Beispielwird von vielen Aussiedlerfamilien abgelehnt, weil sie glau-ben, in die unbedeckten Töpfe könnten üble Geister einfal-len. Der Kompromiss besteht dann in sehr großen Töpfenmit sehr schweren Deckeln. Doch selbst wenn man bei derAufstellung der Zelte mit Hilfe eines Repräsentanten denursprünglichen Stammes- oder Nachbarschaftsordnungender Vertriebenen möglicherweise näher kommen kann alsdurch eine geradlinige militärische Aufreihung, bleiben dieMöglichkeiten einer ökonomischen und sozialen Selbstbe-stimmung sehr begrenzt. Eine Camp-Organisation, die das Problem der Selbstbe-stimmung mäßigend anpackt und dabei verschiedene Sied-lungsformen erprobt, ist „Permakultur“. Der Begriff, auspermanent und culture zusammengesetzt, wurde in densiebziger Jahren erfunden, um Siedlungsstrukturen zu be-

zeichnen, die jeder Art von Verschwendung natürlicherRessourcen vorbeugen, die bauliche Vielfalt fördern undeine wechselseitige Beziehung zwischen Häusern, Ställen,Flüssen, Bächen, Feldern und Wäldern choreographieren.In einem Flüchtlingslager, wo eigentlich weder Permanenznoch Kultur gefragt ist, geht es eher um den großen Le-bensrhythmus des Camps. Die Bewohner sollen zum best-möglichen Umgang mit ihrer gegenwärtigen Situation ani-miert und an der Zukunft des Ortes interessiert werden.Den Campbewohnern geht es zuerst immer darum, ihre Be-dürfnisse zu befriedigen und ihre internen Beziehungenzu regeln, erst dann sind sie bereit, Beziehungen nach au-ßen aufzubauen. Ganz deutlich wird das am Beispiel desUmpium Camps in Thailand, wo die Siedler zuerst langeüber die Zuteilung von Land und Obstbäumen für ihre pri-vaten Gärten verhandelten und sich erst danach mit denAnwohnern zu einer lokalen Körperschaft vereinigten, ummit den Thai-Behörden größere Umweltprobleme zu klä-ren. Im Idealfall werden die Campbewohner und die Dörf-ler aus der Umgebung Partner und vertreten ihre politi-schen und ökonomischen Interessen gemeinsam. Ein sol-ches Beispiel kennen wir aus Jhapa in Nepal, wo Siedlerund Ansässige zuerst gemeinsam gegen die Bodenerosionkämpften und sich dann für eine Wiederaufforstung ein-setzten. Permakultur, wenn sie ökologisch wirksam werdensoll, setzt voraus, dass das Camp als Teil der Region gese-hen wird und die Region die gleichen ökologischen Zieleverfolgt wie die Bewohner im Camp.Permakultur für ein Camp unterscheidet sich nur wenigvon der Vision der Öko-Idealisten und Grün-Ökonomen undihren postindustriellen Alternativen zur Corporate Globa-lization. Deren Konzept besteht darin, die Gesellschaft inkleine, dezentralisierte, sich selbst versorgende Einheitenzu zerlegen, die sich zu munizipalen Netzwerken verbin-den, in denen überall die gleichen Gesetze und Standardsgelten, mit denen sich ein bioregionales Gleichgewicht herstellen und erhalten lässt. In einer öko-basierten Wirt-schaft geht es nicht um Produkte, sondern um Nutzwerte,das heißt, die Mobilität ist das Ziel, nicht der Besitz einesAutos, Ernährung ist das Ziel, nicht die Nahrung. Im Zu-sammenhang mit den Camps heißt das auch, Pflanzen istwichtiger als Ernten. In der geschlossenen Ökonomie desCamps kommt der grüne Marktplatz ins Spiel, der denTauschhandel anspornen und das Recycling von Objektenfördern soll. Voraussetzung dafür ist eine lokale Währungund eine Vereinbarung über Tauschwerte, um zu verhin-dern, dass Kapital aus diesem System heraus- und in weitentfernte Töpfe fließt. Permakulturell organisierte Flüchtlingslager, die von nicht-staatlichen Machtverhältnissen abhängig sind, die nichtWachstum um jeden Preis verfolgen, deren Ökonomie aufDienstleistung und Nutzwert basiert und in Maßeinheitendes Energieverbrauchs bemessen wird, sind Experimentier-

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felder für die ökoidealistischen Vorstellungen. Wegen derVielzahl der Betroffenen erreichen sie eine ganz andereGrößenordnung als alle bestehenden ökoidealistischen Gemeinden. Wenn sich die räumlichen Grenzen zwischendem Camp mit den permakulturellen Ambitionen und demDorf nebenan, zwischen Eindringling und Gastgeber also,verwischen, verwischen sich auch die zeitlichen: Das Campspielt die Rolle einer neuen Siedlung, die Siedlung wirdeine selbstständige Gemeinde, worin die Flüchtlinge nun,wortwörtlich, ihren eigenen Garten anlegen. Vertreibungwird damit nicht aufgehoben; denn über allem, was hiergetan wird, schwebt die Vorstellung einer Rückkehr, die al-les, was geschieht, in der Diaspora geschehen lässt.Der nie enden wollende Wunsch eines Vertriebenen ist der,heimzukehren, selbst wenn er weiß, dass seine Vorstellungvon Heimat sich aus Bildern speist, die so nicht wiederkeh-ren werden und die es so vielleicht nie gegeben hat. „Wa-ren unsere Bräuche wirklich so wunderbar, oder erfinde ich die Dinge jetzt“, lautet eine der Aussagen, die Julie Mer-tens in „Refugee Voices from Bosnia and Croatia“ gesam-melt hat. Doch viel mehr als den vielleicht unerfüllbarenWunsch zurückzukehren muss die Realpolitik die Idee ei-ner Rückkehr ins Kalkül ziehen, um eine Aushöhlung dersozialen und physischen Bindungen zu verhindern und umBesitzansprüche zu wahren. Im Prinzip gilt: Umso längerman wartet, umso schlimmer werden die Umstände. DasUNHCR unterstützt die Gedanken an eine freiwillige Rück-kehr, indem es Städte danach bewertet, ob es genug Woh-nungen gibt, ob man sich frei bewegen kann, ob auch Poli-zeischutz vorhanden ist, und indem es Hilfen in Form vonWerkzeug, Samen und Zelten anbietet. Was es jedoch nichtanbietet, sind Strategien dafür, wie man die zerstörte Stadtwieder aufbauen kann, aber erst dadurch würde eine Rück-kehr denkbar und sinnvoll.Bei einem Wettbewerb für die Behausung von Flüchtlingenim Kosovo haben wir uns mit eben diesem Problem, wieeine Stadt wieder herzustellen sei, beschäftigt. Der Wettbe-werb forderte eine Alternative zum Zelt – diesem Kürzelfür Vertreibung, Verfolgung, Heimat- und Obdachlosigkeit.Die Behausung sollte innerhalb von achtundvierzig Stun-den errichtet werden können, ein Minimum an Materialienverbrauchen und zwei Jahre lang stehen bleiben können.Wenn man zwei Jahre als mögliche Dauer eines Aufenthaltsansetzt, kommen infrastrukturelle Maßnahmen ins Spiel.Wir entschieden uns gegen eine neue, vielleicht bessereForm von Camp und für die Nutzung der Stadt selbst, weiluns die Planung von Flüchtlingslagern als eine Verschwen-dung physischer und mentaler Ressourcen erscheint. DieHerausforderung bestand darin, ein Element zu entwerfen,mit dem man Stadtgewebe erzeugen kann, ohne auf eineInfrastruktur im städtischen Maßstab angewiesen zu sein,mit anderen Worten, wir wollten ein Flüchtlingslager so be-handeln, als wäre es ein Teil der Stadt.

Unser Vorschlag basiert auf einer autarken Einheit ausPrivatraum, Küche mit Herd, der gleichzeitig heizt, und ei-ner aus Brunnen zu speisenden Dusche, alles verpackt inselbsttragenden, demontierbaren Teilen. Das Objekt nutzt,was am Ort greifbar ist, zum Beispiel Strohmatten zur Iso-lierung, und nutzt gleichermaßen, was sich anderswo be-währt hat, zum Beispiel Keramiktafeln als Wandabschluss.Es macht die Suche nach Bau- und Brennmaterial überflüs-sig, und sein Wert ist so niedrig gehalten, dass es sichnicht lohnt, es in Teile zu zerlegen und zu verkaufen, wennes nicht mehr gebraucht wird. Es übersteht einen Trans-port und kann vor allem auch nach der Rückkehr vorerstweiter genutzt werden. Um auf die verschiedenen Lebens-gewohnheiten der Flüchtlinge einzugehen, kann die Küchezum Wohnraum oder zum Garten gedreht werden, und die Gestaltung des Äußeren, das in diesem Fall das Un-wichtigste ist, bleibt ganz den Bewohnern überlassen. Umso universell einsetzbar zu sein wie ein Zelt, wird die Boxüber Photovoltaik mit Energie versorgt, die nicht nur fürLicht und Heizung, sondern auch für einen aufgehängtenFernseher ausreicht; denn der ist die ultimative Verbin-dung zu der Welt da draußen, die den Menschen in den La-gern von Tschetschenien, in den Straßen von Kalkutta undin den Elendsquartieren von New York wichtiger ist als Ellbogenfreiheit oder eine funktionierende Küche. Die Boxen sind die Samen einer neuen Stadt, in ihrer Hüllesteckt alles, was ab sofort gebraucht wird, doch die Hüllekann später wieder verändert oder zum Kern eines neuenHauses werden. Obwohl die Einheiten von Anfang an funk-tionsfähig sind und an jedem Ort stehen können, bleibensie unvollständig, und die Menschen sind, was ihre wirt-schaftliche Versorgung betrifft, ganz und gar von der Gast-geberstadt abhängig. Die städtebauliche Anordnung kannsich ganz der Gastgeberstadt anpassen und bleibt doch ir-gendwie unvollkommen, offen für noch eine ganz andereArt von Bauten, für eine andere Art der Zuordnung, offenfür die Hoffnung auf eine ganz andere Art von Wachstum.

Ortlosigkeit und In-DwellingEs gibt noch eine andere Art von Ortlosigkeit, der wir denNamen In-Dwelling gegeben haben, was sich am besten dadurch charakterisieren lässt, dass es sich jeglicher Be-schreibung entzieht. Der Vertriebene, der nicht obdachlosist, befindet sich „in“ dem Haus eines Verwandten, „in“ ei-nem billigen Hotel, „in“ einer nicht mehr genutzten Schuleoder einem leer stehenden Kloster, eventuell sogar in ei-nem Krankenhausbett. Neben diesen zwar nicht immer lokalisierbaren, aber registrierten Nomaden verzeichnetdas UNHCR noch eine Unzahl von Personen, die sich ver-stecken, die nicht erkannt werden wollen und aus lauterAngst ständig ihren Standort wechseln. Sie haben keineständige Bleibe, weil sie die Familien, bei denen sie unter-schlüpfen, überlasten, weil sie die Institutionen, die sie vor-

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übergehend aufnehmen, durch ihr Verhalten überfordern,und weil sie sich dem Hin und Her politischer Strategiennicht anvertrauen wollen. Der Vorteil für die unerkanntenNomaden liegt darin, dass sie sich ihre eigene Lebensarterhalten, einer verordneten Arbeit aus dem Weg gehen undihre persönlichen Bindungen ausleben können, obwohl sie weder Familie noch Beruf, noch Besitz haben. Auf derniedrigsten Stufe gesellschaftlichen Lebens mischen sichBesitz- und Ortlosigkeit von Einheimischen und Fremdenbis zur Unkenntlichkeit.

Armut, Überbevölkerung und Migration werfen den Flücht-ling wie auch den Obdachlosen in eine Situation, aus der eskein Entrinnen gibt. Organisationen wie Ärzte ohne Gren-zen wissen das und reagieren entsprechend, wenn sie ihre Teams in die Slums von Rio schicken, als wäre es einKriegsgebiet. Wir haben bei einem Projekt für New YorkCity Ähnliches erfahren. Die New Yorker Wohnungsbauge-sellschaft Common Ground Community hatte sich zunächstan Marguerite McGoldrick gewandt, die uns dann in dieEntwicklung einer neuen Art von „Flophouse“ (ausklapp-bares Haus) einbezog. Dabei handelt es sich um eine zer-legbare Raumeinheit, die man in einem Loft oder irgend-einem anderen großen neutralen Raum aufstellen kann.Common Ground dachte dabei an die obdachlosen Noma-

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den, die, wenn sie sich darin einrichteten, durch weiteresoziale Programme erreicht werden könnten. Es wäre einerster Schritt auf dem Weg zu einer stabileren Existenz.Eine Bleibe für die Besitzlosen – das war uns Herausfor-derung genug.Hier in New York, in der Kapitale des Hyperkapitals undweitab vom Hunger, hier, am Ende der Spirale aus globa-lisiertem Investment und Obdachlosigkeit, erscheint dieKnappheit von Wohnraum wie ein künstlich erzeugter Man-gel innerhalb einer Kultur des Überflusses, die gezwun-

gen ist, Nachfrage zu erzeugen. Die Bau- und Zonierungs-gesetze, bei all ihrer lobenswerten Schutzfunktion, erwei-sen sich als enorme Einschränkung, was die Zahl der Qua-dratmeter pro Wohnung, die Wohnfunktionen und die Ma-terialien betrifft. Denn die Wohnungsbaupolitik in NewYork hat noch immer die Normwohnung im Blick, mit aus-gewiesenen Schlafräumen und voll eingerichteten Küchen,und damit schließt sie alle Experimente aus, die sich mitminimalisiertem Wohnen beschäftigen. Common Groundhat deshalb nicht einmal ein Grundstück für sein Experi-ment mit First-Step-Housing finden können, denn die StadtNew York hat schon vor zwanzig Jahren den Bau von Ein-raumwohnungen und Flophouses per Gesetz untersagt. Dieeinzige Lösung wäre gewesen, bereits existierende Flop-

houses zu renovieren und darauf zu hoffen, dass, sollte dasExperiment Erfolg haben, es weitere Experimente nach sich ziehen würde. Doch die meisten der verbliebenen Flop-houses gibt es entlang der Bowery, dort, wo sich Soho nachOsten erweitert, und das macht die Grundstücke für dasVorhaben von Common Ground viel zu teuer. Bisher hatten die von uns entworfenen Flophouses nur eineeinmalige, flüchtige Existenz, und zwar in der Galerie desVan Alen Institute. Hier wurden sie ausgestellt, von ob-dachlosen Probanden getestet und von Galeriebesuchern

begutachtet. Die Probanden konnten sich nicht dafür er-wärmen, während die Galeriebesucher – unvermeidlicheIronie unserer Konsumgesellschaft – sie daraufhin prüften,ob sie nicht in ihren Büros oder Lofts Verwendung findenkönnten.Was die Probanden in New York von anderen Obdachlosenunterschied, war ihr Widerstand gegen jede Art von Be-hausung, sei es wegen ihrer grundsätzlichen Ablehnungvon staatlicher Hilfe, die sie glauben mit Kontrollen oderAnpassung bezahlen zu müssen, sei es wegen der in allenEmigranten und Obdachlosen tief sitzenden Angst, immerund überall erkannt zu werden. In Gesprächen wiesen sieuns darauf hin, dass ein Obdachloser noch lange nicht ohnebestimmte Ansprüche lebt. Zuerst einmal fanden sie, dass

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Obdachlosigkeit eigentlich überhaupt nicht sein dürfe unddass jede Art von Unterbringung, wie flüchtig auch im-mer, nichts anderes sei als „ein Zuhause weit weg von Zu-hause“. Sie bestanden darauf, dass auch sie über gewisse„Besitzstände“ verfügten: die Zugehörigkeit zu einer Ge-meinschaft, ihre Gewohnheiten, gewisse Besitztümer. Wassie sich wünschten, deckte sich mit den Vorstellungen derAllgemeinheit: Licht und Luft, viel Raum, Sauberkeit, Ord-nung, Privatheit und Sicherheit, einen identifizierbarenOrt und etwas, das „schön“ ist. Sie verlangten, dass dieseAnsprüche in allen, sozial noch so unterschiedlichen städ-tebaulichen Konfigurationen eingelöst werden müssten.Mit anderen Worten, sie wünschten sich etwas, das auchden Galeriebesuchern genehm wäre.Im Prinzip enthält das Konzept des First-Step-Housing alleGedanken, die wir uns auch bei unserem Projekt für Ko-sovo gemacht haben. Die Box, welche auch immer, mussaus Elementen gefügt sein, die nicht allzu groß sind, wenigGewicht haben, leicht zu transportieren sind und die sichzu Teilen aus marktgängigen, zu Teilen aus lokalen, schnellverfügbaren Produkten zusammensetzen, damit das, wasals Massenproduktion rausgeht, schnell und ohne Aufwandvon den Bewohnern ergänzt werden kann und damit ih-ren Ansprüchen an Privatheit und Selbstbestimmung ent-gegenkommt, die umso größer sind, je mehr sie die Über-wachung von außen spüren. Raumschichten und Material-schichten (ob Schiebewände oder Vorhänge) geben den Be-wohnern die Möglichkeit, den Grad ihrer Privatheit selbstzu bestimmen. Dann gibt es da noch die kleinen Details,die für eine Inbesitznahme so wichtig sind: Schloss undSchlüssel, der Fernsehanschluss, der eingebaute Schrankund ein großes Angebot an Farben und Oberflächen. Bei unserem Projekt in Kosovo, wo die gleichen Keramik-ziegel sowohl die Wand als auch den Herd umkleiden und wo die gleiche Tonne zuerst Transportcontainer und dannBrunnen ist, wollten wir darauf hinweisen, dass Obdach-losigkeit eigentlich Verschwendung ist und dass man mitallen Mitteln dagegen angehen muss. Ein Anti-Waste-Kon-zept verlangt: Sparsamkeit bei der Produktion, Nutzungs-flexibilität und Wiederverwertung. Dies wiederum sindKriterien, wie sie heute in vielen Disziplinen gefordert wer-den, von der Mathematik bis zur Mikrobiologie, sie ent-sprechen auch der so genannten „Eleganz“ innerhalb nach-haltiger Systeme und Netzwerke. Daran, dass die Obdachlosen der Bowery nun schon seitdreißig Jahren im Hotel Sunshine leben und dass die Zeltein Aserbaidschan über zehn lange Jahre stehen blieben,zeigt sich, dass die Dauer des Aufenthalts nicht das Krite-rium sein kann für eine Unterscheidung zwischen tempo-rären und dauerhaften Lösungen. Das, was eine Wohnung oder ein Haus temporär macht, ist die Entfernung, die zwi-schen ihnen und dem Herkunftsort des Bewohners liegt,und dessen Ausschluss aus ihm vertrauten politischen und

wirtschaftlichen Zusammenhängen bedeutet den Verlustder eigenen Geschichte. Unsere beiden Projekte, die sich anheischig machen, einezerstörte Stadt wieder zu beleben, werden nicht von demGedanken an Rückkehr gespeist, sondern von der Idee desUrbanen. Wir folgen dabei Scott Anderson, der behauptet,dass Städte wie Sarajewo und Belgrad, Pristina und MostarOrte für Kosmopoliten waren, wo das Urbane, ob kulturelloder wirtschaftlich, so dominant war, dass es durch Ver-ländlichung, Migration oder Flucht nicht zerstört werden

konnte. Er schreibt: „Auf dem Balkan besteht eine unüber-windliche Kluft zwischen Stadt und Land. Die Städte sindSymbole einer kulturellen Integration, während das typi-sche Dorf nur mitleidslos unterscheiden kann zwischen feudalen Besitzrechten und primitivem Blutrecht. Führer/Teufel wie Milosevic oder Karadzic sind Landjungen, undwenn sie vor einer ökonomischen Krise stehen, fällt ihnennichts anderes ein, als den Stadtmenschen über Bord zuwerfen und sich an das Dorfrecht zu halten.“ Die Globalisierung lässt sich nicht zurückdrehen, und dieimmer wiederkehrenden ökonomischen Krisen lassen sichnicht vermeiden, es lässt sich jedoch eine neue Stadt den-ken, vielleicht eine Art Bastard mit einigen Eigenschaftendes permakulturellen Camps und einigen Attributen aus

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dem Flophousing in der Bowery. Eine solche Stadt solltegegen Vertreibungsepidemien eher resistent sein.

Coda: Eine wahre GeschichteAls der Ostblock allmählich auseinander brach, hat einekleine Stadt an der dalmatinischen Küste den kontinuier-lichen Rückgang der Landwirtschaft dazu genutzt, sich zueinem bekannten europäischen Touristenzentrum zu mau-sern. Die Bewohner konnten ihre Höfe, Weinberge, Fische-reien nicht schnell genug aufgeben, um in der Stadt Hotels,

Cafés und Restaurants zu eröffnen. Den Wert ihrer Anwe-sen schätzten sie auf eine halbe Million Dollar. Dann kamder Krieg. Die Touristen blieben aus, mit der Wirtschaftging es bergab, die Bosnier wurden vertrieben, viele ihrerBesitztümer zerstört und damit auch einiges an Küsten-landschaft. Die Grundstücke waren so gut wie nichts mehrwert. Doch weil die Touristen der landschaftlichen Schön-heit und der überlieferten Kultur wegen gekommen waren,die nicht zuletzt aus Bauernhöfen, Weinbergen und Fische-reien bestand, blieb die landwirtschaftliche Nutzung in Tei-len erhalten. Deshalb konnten jene, die ihre Hotels schlie-ßen mussten, in ihre Weinberge zurückkehren, und die, dieihre Stadtvillen verloren hatten, wieder in die Boote stei-gen. Zuerst haben sie sich nur davon ernährt, doch lang-

sam fängt die Wirtschaft wieder zu blühen an. Noch im-mer würden es alle lieber sehen, wenn die Touristen zu-rückkämen und ihre Häuser wieder eine halbe Million Dol-lar wert wären. Sie wissen aber, dass das nur geschehenkann, wenn einige der Bosnier zurückkehren und ihre Häu-ser entlang der Küste wieder aufbauen, ihre Berufe wiederausüben und den multiethnischen Touristen die Angst neh-men. Dann wird es wieder Hotels und Cafés geben, aberauch Weinberge, Obstplantagen und Fischerboote und ei-nen unvorhersehbar üppigen zweiten Aufschwung.

Fight ClubRegie: David Fincher, USA 1999

Jack erzählt seine Geschichte. Jackist Durchschnittsamerikaner einerdurchschnittlichen amerikanischenGroßstadt, hat einen nicht schlechtbezahlten Job als Schadensbegut-achter bei einer Autofirma, richtetseine Single-Wohnung mit den neu-esten Errungenschaften der FirmaIKEA ein, ist einsam und glaubt den-noch, ein „vollständig normales“ Le-ben zu führen. Bis auf einen Punkt.Jack leidet an Schlaflosigkeit. Aufeiner Geschäftsreise lernt Jack imFlugzeug Tyler Durden kennen, deräußerst eigenwillige Vorstellungen

von Freiheit und selbstbewusstemLeben verkündet. Tyler gründet ei-nen „Fight Club“, in dem sich unzu-friedene Männer in ZweikämpfenPrügelschlachten liefern. Der „FightClub“ ist schonungslos, er bestichtdurch eine düstere Atmosphäre undvor allem durch die – oft mit Sarkas-mus gespickte – Geschichte über dieEntstehung von Gewalt in den Zen-tren unserer Gesellschaft von heute.Die Schlussszene des Films ist wi-dersprüchlich, grandios, brutal undsarkastisch zugleich. Jack und Marlastehen Hand in Hand in einem Wol-kenkratzer und beobachten die zu-sammenstürzenden Hochhäuser derStadt. Wir sehen ihnen zu.

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