der winter des commissario ricciardi - readingsample · neapel, anfang der dreißiger jahre....

22
suhrkamp taschenbuch 4102 Der Winter des Commissario Ricciardi Kriminalroman Bearbeitet von Maurizio de Giovanni, Carla Juergens Deutsche Erstausgabe 2009. Taschenbuch. 247 S. Paperback ISBN 978 3 518 46102 0 Format (B x L): 11,8 x 18,9 cm Gewicht: 266 g schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

Upload: dotram

Post on 25-Feb-2019

212 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

suhrkamp taschenbuch 4102

Der Winter des Commissario Ricciardi

Kriminalroman

Bearbeitet vonMaurizio de Giovanni, Carla Juergens

Deutsche Erstausgabe 2009. Taschenbuch. 247 S. PaperbackISBN 978 3 518 46102 0

Format (B x L): 11,8 x 18,9 cmGewicht: 266 g

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

als 8 Millionen Produkte.

Leseprobe

Giovanni, Maurizio de

Der Winter des Commissario Ricciardi

Kriminalroman

Aus dem Italienischen von Carla Juergens

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch 4102

978-3-518-46102-0

Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch 4102

Neapel, Anfang der dreißiger Jahre. Commissario Ricciardi, ein in­telligenter, melancholischer Einzelgänger aus reichem Elternhaus, besitzt eine Gabe, die sein Schicksal bestimmt: Er hört die letzten Gedanken der Toten, sieht sie gefangen im Augenblick ihres Ster­bens. Auch als der große Arnaldo Vezzi, Star der Opernszene und Lieblingstenor des Duce, tot in seiner Garderobe liegt, wird er ge­rufen, um den Fall so schnell wie möglich zu lösen. Doch nicht immer ist alles so einfach, wie es scheint – und nicht immer ist der Ermordete das unschuldige Opfer. Commissario Ricciardi und sein treuer Begleiter Brigadiere Raffaele Maione tauchen ein in die schil­lernde Welt der Oper, in der Schein und Wirklichkeit miteinander verschmelzen und die tiefsten Abgründe durch Kostüme überdeckt werden.

Maurizio de Giovanni wurde 1958 in Neapel geboren, wo er bis heute lebt. Der Winter des Commissario Ricciardi ist sein erster Krimi.

Maurizio de GiovanniDer Winter Des

Commissario riCCiarDiKriminalroman

Aus dem Italienischen vonCarla Juergens

Suhrkamp

Die italienische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Il senso del dolore. L’inverno del commissario Ricciardi

bei Fandango Libri s.r.l., Rom.

© Fandango Libri s.r.l., 2007

Umschlagfoto: Paul Knight, Trevillion Images

suhrkamp taschenbuch 4102

Erste Auflage 2009

Deutsche Erstausgabe© der deutschen Ausgabe

Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009

Suhrkamp Taschenbuch VerlagAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das

der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

Umschlag: HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur,München – Zürich

ISBN 978-3-518-46102-0

2 3 4 5 6 – 14 13 12 11 10 09

Der Winter DesCommissario riCCiarDi

– 7 –

i Das tote Kind stand aufrecht an der Kreuzung zwi­schen Santa Teresa und dem Museum. Es schaute

zwei Jungen zu, die am Boden saßen und mit ihren Mur­meln den Giro d’Italia nachfuhren. Es schaute ihnen zu und sagte immer wieder: »Soll ich runterkommen? Ja?« Der Mann ohne Hut wusste schon von der Gegenwart des toten Kindes, bevor er es sah; wusste, dass die linke Körperhälfte, der sein Blick zuerst begegnen würde, un­versehrt geblieben war, während auf der rechten durch die Wucht des Aufpralls der Schädel eingedrückt war, die Schulter sich in den zerschmetterten Brustkorb gescho­ben und das Becken sich um die zertrümmerte Wirbelsäu­le gedreht hatte. Er wusste auch, dass im dritten Stock des Eckhauses, das an jenem frühen Mittwochmorgen einen kalten Schattenstreifen auf die Straße warf, ein kleiner Balkon verrammelt war, auf dessen niedrigem Geländer ein schwarzes Tuch hing. Den Schmerz der jungen Mutter hingegen, die im Gegensatz zu ihm ihren Sohn nie mehr sehen würde, konnte er sich nur vorstellen. Besser so für sie, dachte er. Was für eine Qual. Das tote Kind, das zur Hälfte vom Schatten verdeckt war, blickte auf, als der Mann ohne Hut vorbeikam. »Soll ich runterkommen? Ja?«, fragte es ihn. Ein Sprung über drei Stockwerke, ein durchdringender Schmerz, so kurz wie ein Blitz. Er senkte den Blick und beschleunigte den Schritt. Die beiden Jungen, die mit ernsten Gesichtern ihr Radrennen weiterfuhren, ließ er hinter sich. Arme Kinder, dachte er. Luigi Alfredo Ricciardi, der Mann ohne Hut, war Kom­

– 8 –

missar für öffentliche Sicherheit beim Überfallkommando des Königlichen Polizeipräsidiums von Neapel. Er war einunddreißig Jahre alt, genau wie das Jahrhundert. Neun Jahre zählte die faschistische Ära.

Das Kind, das ein Vierteljahrhundert zuvor an einem Juli­morgen allein in einem Hof des Herrenhauses von Forti­no in der Provinz Salerno spielte, war nicht arm. Der klei­ne Luigi Alfredo war der einzige Sohn des Barons Ricciar­di di Malomonte; an seinen Vater, der sehr jung gestorben war, würde er später keine Erinnerung haben. Seine Mut­ter, seit jeher nervenleidend, starb in einer Privatklinik, während er als Heranwachsender in einem Jesuitenkolleg zur Schule ging; von ihr bewahrte er sich das letzte Bild: der dunkle Teint, das mit achtunddreißig Jahren bereits weiße Haar, die fiebrig glänzenden Augen. Ihre zierliche Gestalt in dem viel zu großen Bett. Es war ein Julimorgen, der sein Leben unwiderruflich änderte. Er hatte ein Stück Holz gefunden, das sich in sei­nen Händen in den Säbel Sandokans, des Tigers von Ma­laysia, verwandelte; es brauchte nicht viel, und schon wur­den sie Wirklichkeit, die Erzählungen des Pächters Mario, der von Salgaris Romanen begeistert war und dem Luigi Alfredo mit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem stundenlang lauschte. Mit seiner Waffe in der Hand fürch­tete er weder wilde Tiere noch grausame Feinde, allerdings brauchte er einen Dschungel. Neben dem Hof lag ein kleiner Weinberg, in den der Junge gehen durfte. Er moch­te den Schatten, den die großen Weinblätter spendeten, und das Summen der Insekten. Der kleine, kühne Sando­kan mit seinem Säbel drang in die Dunkelheit vor, schlich

– 9 –

geräuschlos in seinen imaginären Wald: An Stelle der Zi­kaden und Hornissen sah er bunte Papageien und hörte beinahe schon ihre exotischen Lockrufe. Eine Eidechse stürzte sich auf den Pfad und lief über den Kies, er folgte ihr, leicht nach vorne gebeugt, die Zungenspitze zwischen den Lippen, die grünen Augen konzentriert. Doch die Eidechse schlug einen Haken und nahm einen anderen Weg. Dann sah er den Mann: Er saß im Schatten eines Wein­stockes am Boden, als suchte er in der unerbittlichen Hit­ze jenes schrecklichen Julitages im Dschungel nach Ab­kühlung. Sein Kopf war vornüber gekippt, die Arme hin­gen schlaff am Körper, die Hände lagen am Boden. Er sah aus, als würde er schlafen, aber sein Rücken war steif und seine Beine ragten seltsam verdreht über den Pfad. Er war angezogen wie ein Tagelöhner im Winter: eine Wollweste, ein kragenloses Flanellhemd und Hosen aus dickem Stoff, die in der Taille von einer Schnur zusammengehalten wur­den. Der kleine Sandokan mit seinem Säbel in der Hand nahm all das wahr, ohne den Widerspruch zu bemerken. Dann sah er das Heft eines Messers, wie man es zum Stut­zen der Weinstöcke benutzte, links aus dem Brustkorb des Mannes hervorstehen wie ein Ast aus einem Baum. Eine dunkle Flüssigkeit befleckte das Hemd und war auf den Boden getropft, wo sich eine kleine Pfütze gebildet hatte. Die sah der Tiger von Malaysia jetzt genau, trotz des Schattens der Weinstöcke. Ein Stück weiter vorne ver­harrte die Eidechse und beobachtete ihn, fast als wäre sie traurig über die unterbrochene Verfolgungsjagd. Der Mann, der augenscheinlich tot war, hob langsam den Kopf, drehte ihn mit einem leichten Knirschen der

– 10 –

Wirbel zu Luigi Alfredo hin und sah ihn mit trüben und halb geschlossenen Augen an. Die Zikaden hörten auf zu zirpen. Die Zeit stand still. »Herrgott noch mal, ich hab deine Frau ja gar nicht angerührt.« Als Luigi schreiend davonlief, war es nicht wegen der unerwarteten Begegnung, wegen des Messers oder des vielen Blutes, sondern um den Schmerz abzuschütteln, den die Leiche des Tagelöhners ihm aufgebürdet hatte. Niemand sagte ihm, dass das Verbrechen im Weinberg be­reits fünf Monate zurücklag und das Resultat der Eifer­sucht eines anderen Tagelöhners war, der floh, nachdem er auch seine junge Frau umgebracht hatte; es hieß, er ha­be sich einer Räuberbande in Lukanien angeschlossen. Den Schrecken und die Angst des Kindes schrieb man sei­ner stark ausgeprägten Phantasie, seinem eigenbrötle­rischen Wesen und dem Geschwätz der Weiber zu, die ihre Näharbeiten unter dem Fenster seines Zimmers verrichte­ten, da der Hof ein wenig Abkühlung versprach. Wenn es um das ging, was geschehen war, sprachen sie nur von sei­ner »Gabe«. Luigi Alfredo gewöhnte sich daran, sein Erlebnis in Ge­danken ebenfalls so zu sehen: als seine »Gabe«. Seit sich seine »Gabe« zum ersten Mal gezeigt hatte … Als er die Botschaft seiner »Gabe« begriffen hatte … Die »Gabe«, die seinem Dasein eine Richtung gegeben hatte. Nicht ein­mal »Tata« Rosa, seine Kinderfrau, die ihm ihr ganzes Le­ben gewidmet hatte und immer noch bei ihm lebte, hatte ihm geglaubt; er hatte die Traurigkeit in ihren Augen gese­hen und die Angst, es sei ihm bestimmt, an derselben Krankheit zu leiden wie die Mutter. Damals begriff er, dass er nie mit jemandem darüber sprechen konnte, dass

– 11 –

er allein diese Narbe auf seiner Seele trug: ein Urteils­spruch, ein Fluch. In den darauf folgenden Jahren erschlossen sich ihm nach und nach die Dimensionen seiner »Gabe«. Er sah die Toten. Nicht alle und nicht lange: nur jene, die eines ge­waltsamen Todes gestorben waren, und nur so lange, wie ihre letzte Emotion, die unerwartete Energie ihres letzten Gedankens andauerte. Er sah sie wie auf einer Fotografie, die den abschließenden Augenblick ihrer Existenz fest­hielt und deren Umrisse allmählich verblassten, bis sie schließlich verschwanden. Wie in den Filmen, die er im Kino gesehen hatte, nur dass sich hier der immer gleiche Ausschnitt wiederholte: das Bild des Toten, seine Wun­den, sein letzter Gesichtsausdruck vor dem Ende; und die letzten Worte, die er unaufhörlich wiederholte, als wollte er eine Arbeit beenden, die seine Seele begonnen hatte, bevor sie fortgerissen wurde. Am deutlichsten spürte er die Gefühle der Toten: ihren Schmerz, ihre Überraschung, ihre Wut, ihre Melancholie. Sogar Liebe: Wenn nachts der Regen an sein Fenster schlug und er nicht einschlafen konnte, dachte er oft an das Bild des Kindes, das in seinem Badewännchen ertränkt worden war und die Hand nach der Mutter ausstreckte, um ausgerechnet bei seiner Mörderin Hilfe zu suchen. Er hatte die ganze Liebe des Kindes gespürt. Bedingungslos und rein. Ein andermal hatte er vor der Leiche eines Man­nes gestanden, den seine vor Eifersucht wahnsinnige Ge­liebte im Augenblick des Orgasmus erstochen hatte: Die Intensität der Lust dieses Mannes traf ihn mit voller Wucht, und er musste in aller Eile das Zimmer verlassen, ein Taschentuch auf den Mund gepresst.

– 12 –

Das war seine »Gabe«, dazu war er verurteilt: Es über­kam ihn wie das Gespenst eines galoppierenden Pferdes; nichts kündigte sie an, keine körperliche Empfindung folgte ihr. Nur die Erinnerung blieb. Eine weitere Narbe auf seiner Seele.

ii Luigi Alfredo Ricciardi war mittelgroß und schlank. Ein dunkler Typ mit auffallenden grünen Augen;

aus dem schwarzen, mit Brillantine zurückgekämmten Haar löste sich mitunter eine Strähne und fiel ihm über die Stirn, zerstreut brachte er sie dann mit einer raschen Geste wieder in Ordnung. Seine Nase war gerade und fein, eben­so seine Lippen. Er hatte kleine, fast schon weibliche Hän­de, die immerzu nervös in Bewegung waren. Er steckte sie in die Hosentaschen, weil ihm bewusst war, dass sie seine Erregung und Anspannung verrieten. Er hätte nicht arbeiten müssen – die Zinsen des Famili­envermögens, für das er sich nicht sonderlich interessier­te, hätten ihm zum Leben gereicht. Und er hätte, wie ihm bei den höchst seltenen sommerlichen Familientreffen in seinem Heimatdorf der eine oder andere Verwandte zu verstehen gab, in einer Gesellschaft verkehren sollen, die seiner Herkunft angemessener war. Aber er hielt die Zin­sen wie den Adelstitel geheim, um so unscheinbar wie möglich zu sein und das Leben zu führen, das er gewählt hatte, oder besser: das ihn gewählt hatte. Versucht einmal, hätte er gesagt, wenn er gekonnt hätte, diesen Schmerz zu spüren: fortwährend, und ein Leben lang, in jeder Form. Seit eh und je und jeden Tag aufs Neue um Frieden zu bitten, Gerechtigkeit zu fordern. Er hatte beschlossen, Ju­

– 13 –

ra zu studieren, und war nach einer Promotion in Straf­recht in den Polizeidienst gegangen; das schien ihm die einzige Möglichkeit, die an ihn gestellte Forderung anzu­nehmen, die Last erträglicher zu machen. In der Welt der Lebenden die Toten zu begraben.

Er hatte keine Freunde, verkehrte mit niemandem, ging abends nicht aus, hatte keine Frau. Seine Familie bestand nur aus der alten, mittlerweile schon siebzigjährigen Kin­derfrau, Tata Rosa, die mit absoluter Treue für ihn sorgte und ihn zärtlich liebte, ohne aber je zu versuchen, seine Blicke und Gedanken zu verstehen. Er arbeitete bis spät, isoliert von den Kollegen, die ihn tunlichst mieden. Seine Vorgesetzten fürchteten seine Tüchtigkeit, seine außerordentliche Fähigkeit, unlösbare Fälle aufzuklären, seine absolute Hingabe an die Arbeit: alles Faktoren, die an einen ungebremsten Ehrgeiz, an die feste Entschlossenheit, sich hervorzutun, aufzusteigen und andere auszustechen, denken ließen. Seinen Unterge­benen waren sein Schweigen und sein düsteres Wesen nicht geheuer: nie ein Lächeln oder ein überflüssiges Wort. Er verfolgte die ungewöhnlichsten Spuren, hielt sich nicht an die üblichen Prozeduren, aber am Ende hatte er immer recht. Die Abergläubischen, und das waren in dieser Stadt nicht wenige, witterten etwas Übernatürliches hinter Ricciardis Lösungen: als liefen seine Ermittlungen ver­kehrt herum, als folge er dem Lauf der Ereignisse von ih­rem Ende her. Polizisten, die direkt mit dem Kommissar zusammenarbeiten mussten, verzogen meist das Gesicht. Bei ihm gab es keine Pausen: Einmal begonnen, endeten seine Ermittlungen erst mit der Lösung des Falls. Weder

– 14 –

tagsüber noch nachts gab es ein Innehalten, auch sonntags nicht – bis der Schuldige im Gefängnis saß. Man hätte glauben können, jedes Opfer sei ein Verwandter von ihm; ein persönlicher Bekannter. Manche schätzten es, dass er zu Gunsten seiner Männer konsequent auf alle Sonderprämien verzichtete, die für die Auflösung wichtiger Fälle vergeben wurden; außerdem war er immer da, er gab seine Urlaubstage ab, er deckte persönlich die Fehler der Untergebenen vor den Augen der Vorgesetzten, um sich den Verantwortlichen dann oh­ne Umschweife vorzuknöpfen und ihn zu größerer Auf­merksamkeit zu ermahnen. Trotzdem war ihm nur einer seiner Mitarbeiter wirklich zugetan: der Brigadiere Raffa­ele Maione.

Maione hatte erst vor kurzem die Klippe des fünfzigsten Geburtstages umschifft und war froh, noch am Leben und im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein. Beim Abendessen wiederholte er gern vor seiner Frau und seinen fünf Kin­dern: »Dankt dem Herrgott, dass ihr was zu essen habt. Und dem Glück, dass euer Papa noch lebt.« Aber sofort füllten sich seine Augen mit Tränen, denn er dachte an Lu­ca, seinen Ältesten, der wie er zur Polizei gegangen war, aber nicht so viel Glück gehabt hatte. Nach nur einem Dienstjahr war er im Viertel Sanità bei einer Durchsu­chung erstochen worden. Der Schmerz war noch frisch, auch wenn seitdem schon drei Jahre vergangen waren. Sei­ne Frau hatte nie wieder von ihm gesprochen, als habe es diesen schönen, starken Sohn, der immer lachte, der sie in die Arme nahm, in die Luft warf und »meine Braut« nann­te, nie gegeben. Aber er war da, mitten in ihrem Herzen,

– 15 –

wo er den Brüdern und Schwestern den Platz wegnahm und sie den ganzen Tag begleitete. Maione war Ricciardi zugetan, seitdem sein Sohn um­gekommen war. Ricciardi, damals noch Kommissaran­wärter, war einer der Ersten am Tatort gewesen. Taktvoll hatte er Maione gebeten, den Keller zu verlassen, wo die Leiche seines Sohnes in einer Blutlache und mit einem Messer im Rücken aufgefunden worden war. Er war einige Minuten allein geblieben: Als er aus dem Dunkel hervor­trat, schienen seine grünen Augen von innen her zu leuch­ten, wie Katzenaugen, aber sie waren voller Tränen. Wäh­rend die anderen verlegen schweigend um den trauernden Vater herumstanden, ging Ricciardi auf Maione zu, streck­te eine Hand aus und drückte dessen Arm. Maione erin­nerte sich noch an die unerwartete Kraft, die er gespürt hatte, die Wärme dieser Hand durch den Stoff der Uni­form hindurch. »Er hat dich geliebt, Maione. Er hat dich sehr geliebt. Seine letzten Gedanken galten dir. Er wird dir immer nahe sein, dir und seiner Mutter.« Obwohl unermesslicher Schmerz ihn benebelte, spürte Maione, wie ihm ein Schauder den Rücken hinunterlief. Weder damals noch in den späteren Jahren, als sie gemein­sam Verdächtige beschatteten oder bei langen Fahrten, die manche Ermittlungen mit sich brachten, hatte er Ricciardi je gefragt, woher er das gewusst und warum ausgerechnet er ihm die letzte Botschaft seines geliebten Sohnes über­bracht hatte. Aber er wusste, was er gesehen und gehört hatte und dass es nicht die üblichen tröstlichen Phrasen gewesen waren, die auch er selbst hundertmal zu Hinter­bliebenen gesagt hatte.

– 16 –

Seitdem war Maione Ricciardi zugetan. In den schreck­lichen Tagen danach arbeiteten sie pausenlos, Tag und Nacht, ohne Ruhe und ohne Nachsicht, ohne zu essen, zu trinken oder nach Hause zu gehen; Stück für Stück rissen sie die fest gefügte Mauer des Schweigens ein, die das Viertel umgab, tauschten Informationen, versprachen so­gar, bei gewissen Geschäften wegzuschauen, nur um den feigen Mörder aus dem Keller zu fassen zu kriegen. Schließlich wurde sogar Maione, trotz seiner Wut, von der Müdigkeit überwältigt. Nicht so Ricciardi, der war beses­sen, als hätte ihn ein Feuer erfasst. Und sie fanden ihn, den Mörder: in einem anderen Stadtviertel, noch im Lager des Diebesguts, umgeben von seinen Leuten. Er lachte, als sie hereinstürmten, nachdem Ricciardi die Wachposten am Ende der Gasse schon gefes­selt und streng bewacht zurückgelassen hatte. Ein Dut­zend Polizisten war an dem Zugriff beteiligt, es gab kei­nen, der den Mörder von Luca Maione nicht hätte fassen wollen. Und als der Mann in dem von Komplizen und Diebesgut geleerten Raum allein vor Maione und Ricciar­di stand, um sein Leben winselnd und bar jeglicher Gano­venehre, schaute Ricciardi Maione an. Maione starrte den Mann an und sah seinen Sohn vor sich, wie er ihm als Kind lachend einen aus Lumpen geschnürten Ball brachte, mit schmutzigem Gesicht und seinen schönen Augen. Dann drehte er sich um und verließ wortlos den Raum. Seitdem war auch Ricciardi Maione zugetan. Seit damals war Maione Ricciardis treuer Begleiter: Je­des Mal, wenn der Kommissar aus dem Haus ging, war er es, der seine Mannschaft anführte. Er wusste, dass Ricciar­di bei der ersten Besichtigung des Tatorts allein gelassen

– 17 –

werden musste; Maiones Aufgabe war es, die anderen Po­lizisten, die Zeugen, die wehklagenden Angehörigen und die Schaulustigen fernzuhalten, während Ricciardi in den langen ersten Augenblicken das Opfer kennen lernte, sei­ne legendäre Intuition walten ließ, die Hinweise aufspürte, die nötig waren, um die Jagd aufzunehmen. Mit seiner an­geborenen Gutmütigkeit, seiner Fähigkeit, direkt mit den Leuten zu sprechen, spielte Maione den Gegenpart zu Ricciardis Zurückhaltung und Einsilbigkeit; er war an sei­ner Seite, wenn der Kommissar sich, aus Prinzip unbe­waffnet, den Gefahren mit einem Wagemut aussetzte, der mindestens verantwortungslos war, wenn nicht sogar selbstmörderisch. Maione hatte den Verdacht, Ricciardi sei dem Tod selbst auf der Spur, mit einer Erkenntniswut, als wolle er ihn enttarnen, bloßstellen – ohne besonderes Interesse an seinem eigenen Überleben. Maione aber wollte nicht, dass Ricciardi starb, schon deshalb, weil er in seiner gutmütigen, einfachen Art davon überzeugt war, dass in dem Kommissar ein Teil seines to­ten Sohnes weiterlebte. Außerdem waren ihm mit der Zeit das Schweigen, das flüchtige Lächeln und der Widerhall des Schmerzes, der durch die Gesten der gequälten Hände sichtbar wurde, ans Herz gewachsen. So wollte er weiter über das Wohlergehen des Kommissars wachen, in der Erinnerung an Luca und in dessen Namen.

iii Im kalten Wind jenes Mittwochmorgens ließ Ricciardi die Piazza Dante hinter sich. Die Hän­

de in den Taschen des dunkelgrauen Mantels vergraben, den Kopf ein wenig zwischen die Schultern geduckt, den

– 18 –

Blick auf den Boden gerichtet. Zügig ausschreitend spürte er die Stadt, ohne sie zu sehen. Er wusste, dass er auf dem Weg von der Piazza Dante hinauf zur Piazza del Plebiscito eine unsichtbare Grenze zwischen zwei verschiedenen Welten überschreiten wür­de: unterhalb die reiche Stadt der Adeligen und der Bür­gerlichen, der Kultur und der Justiz; oberhalb die Viertel, wo das niedere Volk wohnte und wo andere Gesetze und Regeln galten, die aber ebenso streng oder vielleicht noch strenger waren. Die satte Stadt und die hungrige, die Stadt der Festtage und die der Verzweiflung. Zwei Seiten dersel­ben Medaille – wie oft war Ricciardi Zeuge des Wider­spruchs zwischen ihnen gewesen. Die Grenze: Via Toledo, alte Paläste, stumm zur Straße hin, aber schon nach hinten hinaus voller Geräusche, die Fenster über den Gassen weit geöffnet, die ersten sin­genden Hausfrauen. Die Portale der Kirchen, deren Fas­saden zwischen die anderen Gebäude gezwängt waren, öffneten sich, um die Gläubigen einzulassen, die ihren Tag in Gottes Hand legten. Über die großen Steine des Stra­ßenpflasters rollten die Räder der ersten Omnibusse. Am frühen Morgen vollzog sich eine seltene Osmose zwischen den Vierteln: Aus dem Gassengewirr der Quar­tieri Spagnoli kamen die fliegenden Händler mit ihren Karren, gefüllt mit Waren aller Art; ihre Rufe klangen hell über die Via Toledo. Aus dem dicht bevölkerten Hafen­viertel und den Vorstädten machten sich die Handwerker mit ihren geschickten Händen, die Schuhmacher, Hand­schuhmacher und Schneider auf den Weg hinauf zum La­byrinth, in das neu entstehende Wohnviertel des Vomero oder die Werkstätten in den dunklen Gassen. Ricciardi

– 19 –

stellte sich gern vor, dies sei ein Augenblick der Befrie­dung und des Austausches, bevor das Bewusstsein der Ungleichheit und der Hunger die einen dazu brachte, sich vor Neid zu verzehren und auf Verbrechen zu sinnen, während die anderen einen Angriff fürchteten und die Re­pression verschärften. An der Ecke des Largo della Carità sah Ricciardi, wie schon seit einigen Tagen, die Gestalt eines Mannes, der Opfer eines Taschendiebstahls geworden war: Er hatte sich gewehrt und war grausam mit einem Stock erschlagen worden. Aus dem aufgebrochenen Schädel rann Hirnmas­se, und das Blut verdeckte ein Auge, während das andere immer noch wütende Blitze aussandte und der Mund mit den abgebrochenen Zähnen unaufhörlich wiederholte, er werde seine Sachen niemals hergeben. Ricciardi dachte an den nun schon unauffindbaren Dieb, den die Quartieri Spagnoli verschluckt hatten, an den Hunger und den Preis, den Opfer und Henker bezahlt hatten. Wie gewöhnlich war er der Erste im Polizeipräsidium. Der Wachtposten am Eingang grüßte in Habachtstellung, Ricciardi erwiderte mit einer kurzen Kopfbewegung. Er drängelte sich nicht gern durch die Menge, wenn im Palaz­zo San Giacomo schon Lärm und Unordnung herrschten, und er mochte es nicht, sich seinen Weg zwischen den gif­tigen Schmähreden der Verhafteten, den lautstarken Zu­rechtweisungen der Polizisten und den hallenden Diskus­sionen der Rechtsanwälte zu bahnen. Da war ihm der frü­he Morgen viel lieber, wenn die Treppe noch sauber war und man sich fühlte wie im 19. Jahrhundert. Als er die Tür seines Büros öffnete, wehte ihm der ver­traute Geruch entgegen: alte Bücher und Druckerschwär­

– 20 –

ze, die Patina der Zeit und der Erinnerungen. Das Leder des alten Sessels und der zwei Stühle auf der anderen Seite seines Schreibtisches, die abgenutzte olivgrüne Schreib­unterlage. Die Tinte im kristallenen Tintenfass, das in den Briefhalter eingelassen war. Das helle Holz des Schreib­tisches und des vollgestopften Bücherschranks. Der Blei­splitter einer Granate, den der alte Mario als Kriegsheim­kehrer nach Fortino gebracht und der viele Phantasie­schlachten seiner Kindheit ausgelöst hatte, war jetzt ein wackeliger Briefbeschwerer. Sonnenlicht fiel durch die staubige Fensterscheibe und traf auf die Wand, wo es zwei Porträts erhellte, als handelte es sich um eine göttliche Amtseinsetzung. Hübsch die beiden, dachte Ricciardi ironisch und lä­chelte kaum merklich. Der kleine König ohne Macht, der große Kommandant ohne Schwächen. Die beiden Män­ner, die beschlossen hatten, das Verbrechen per Dekret auszulöschen. Er erinnerte sich noch an die Worte des Polizeipräsidenten, eines aufgeputzten Diplomaten, der sein Leben zum absoluten Wohlgefallen der Mächtigen einrichtete: Es gibt keinen Selbstmord mehr, es gibt keinen Mord mehr, es gibt keine Überfälle mehr und keine Opfer, es sei denn, es ist unvermeidlich oder notwendig. Nichts für die Leute und vor allem nichts für die Presse: Die fa­schistische Stadt ist sauber, gesund und frei von Verbre­chen. Das Bild des Regimes ist aus Granit, der Bürger hat nichts zu befürchten; wir sind die Wächter seiner Sicher­heit. Aber Ricciardi hatte begriffen, schon bevor er es in den Büchern las, dass das Verbrechen die dunkle Seite der Ge­fühle ist: Dieselbe Energie, welche die Menschheit bewegt,