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UNIVERSITÄT IN MARIBOR
PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT
ABTEILUNG FÜR GERMANISTIK
Diplomarbeit
DIE „VERLORENE GENERATION“: GEZEIGT
AN BEISPIELEN VON WOLFGANG BORCHERT
UND ERICH MARIA REMARQUE
Mentorin: redna prof. dr. Vesna Kondrič Horvat Kandidatin: Jasmina Tomc
Maribor, 2009
1
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG ........................................................................................... 3
1.1. Ziele ................................................................................................ 5
1.2. Methodische Voraussetzung ........................................................... 5
2. NACHKRIEGSLITERATUR IN DEUTSCHLAND .............................. 6
2.1. Literatur nach dem Ersten Weltkrieg (nach 1918) ......................... 7
2.1.1. Literarische Richtungen in der Weimarer Republik (1918–1933).. 9
2.1.2. Der Anti-Kriegsroman am Ende der Weimarer Republik ............ 10
2.2. Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg (nach 1945) ..................... 11
2.2.1. Die literarischen Strömungen zwischen 1945 und 1950 ............... 12
2.2.2. Die Tendenzen der Trümmerliteratur ........................................... 13
3. ERICH MARIA REMARQUE ............................................................... 14
3.1. Biographie ..................................................................................... 14
3.2. Werke ............................................................................................ 15
3.3. Generation ohne Zukunft .............................................................. 17
3.3.1. Im Westen nichts Neues ................................................................ 18
3.3.1.1. Das Kriegsbild bei Remarque ....................................................... 19
3.3.1.2. Interpretation ................................................................................ 20
3.3.2. Der Weg zurück ............................................................................ 21
3.3.2.1. Interpretation ................................................................................ 22
3.3.2.2. Parallelen zum Roman Im Westen nichts Neues .......................... 24
4. WOLFGANG BORCHERT .................................................................... 26
4.1. Biographie ..................................................................................... 26
4.2. Werke ............................................................................................ 29
4.3. Aufschrei Wolfgang Borcherts ..................................................... 32
2
4.4. Generation ohne Abschied ............................................................ 33
4.4.1. Das Drama Draußen vor der Tür .................................................. 34
4.4.1.1. Die Geschichte .............................................................................. 35
4.4.1.2. Interpretation ................................................................................. 38
4.4.1.3. Rezeption ....................................................................................... 39
4.4.2. Die Kurzgeschichten ..................................................................... 41
4.4.2.1. Allgemeines ................................................................................... 41
4.4.2.2. Interpretation ausgewählter Kurzgeschichten ............................... 43
5. DIE VERLORENE GENERATION ...................................................... 45
5.1. Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück bei Remarque ....... 46
5.2. Draußen vor der Tür und die Kurzgeschichten bei Borchert ....... 48
5.3. Vergleich der verlorenen Generation in den erwähnten Werken .. 50
5.3.1. Die Wahrheit ................................................................................. 52
5.3.2. Verantwortung und Schuld ........................................................... 54
5.3.3. Schule und Lehrer ......................................................................... 57
5.3.4. Das Töten ...................................................................................... 59
5.3.5. Gott und Glaube ............................................................................ 61
5.3.6. Familie .......................................................................................... 61
5.3.7. Heimat ........................................................................................... 62
5.3.8. Zukunft .......................................................................................... 64
6. SCHLUSS ............................................................................................... 67
7. LITERATURVERZEICHNIS ................................................................ 70
8. BEILAGEN .............................................................................................. 73
3
1. EINLEITUNG
Die vorliegende Diplomarbeit stellt eine Generation junger Soldaten dar, die vom Kriege
zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam1.
So bezeichnete der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque die „verlorene Generation“,
die direkt aus der Schule in den Krieg einberufen wurde. Die Einberufung an die Front hat ihr
Studium unterbrochen, ihre persönliche Entwicklung gestört, sie aus der Verwurzelung in der
Familie und auch in der Heimat gerissen. Die meisten sind verwundet oder krank aus dem
Krieg oder der Gefangenschaft zurückgekehrt.
Zehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erschien Remarques Anti-Kriegsroman Im
Westen nichts Neues, der die Grausamkeit des Krieges beschreibt, aber er schildert auch die
Verlorenheit einer Gruppe von Soldaten and der Front, die um ihre Jugend betrogen wurde.
Viele Heimkehrer identifizierten sich mit den Protagonisten des Romans und das sicherte
Remarque einen internationalen Riesenerfolg. Remarques Anti-Kriegsroman Im Westen nichts
Neues war die Reportage des Alltags des Krieges, die eine Anklage erhob, die in allen
Ländern verstanden werden konnte.
Eine verlorene Generation von Heimkehrern entsprang auch dem Zweiten Weltkrieg, und sie
fand ihre Stimme in der Literatur von Wolfgang Borchert. Er war der erste Schriftsteller der
jungen Generation, die die Nazis nicht wählte, aber in den Krieg ziehen musste. Und er war
der erste, der darüber schrieb. Sein literarisches Werk ist ein Notschrei einer betrogenen, um
alles beraubten Jugend, die, zerstört von den Schachfeldern, in eine in Gleichgültigkeit und
Egoismus verhärtete Heimat zurückkehrte. Das bekannteste Beispiel ist sein einziges Drama
Draußen vor der Tür. Der vergebliche Ruf nach einer „Antwort“ sprach für eine ganze
Generation.
Erich Maria Remarque und Wolfgang Borchert repräsentierten die junge Generation, die am
Krieg teilnehmen musste und in jungen Jahren schon Erfahrungen gemacht hatte, die anderen
Generationen erspart blieben. Deshalb haben sie eine große Wirkung in der
1 Remarque, 1929, S. 5
4
Nachkriegsliteratur hinterlassen und ihre Werke bleiben noch im 21. Jahrhundert, Jahrzehnte
nach dem Ende des letzten Weltkrieges, aktuell.
Der Vergleich der beiden Werke und genaue Analyse zeigen, warum sie so wichtig waren und
noch immer sind.
5
1.1. Ziele
In der Diplomarbeit Die verlorene Generation: gezeigt an Beispielen von Wolfgang Borchert
und Erich Maria Remarque werden folgende Ziele verfolgt:
- die literarischen Richtungen und ihre Eigenschaften nach dem Ersten und Zweiten
Weltkrieg im deutschen Raum kurz vorstellen;
- den Begriff der „verlorenen Generation“ beschreiben;
- das Leben und Werk von Wolfgang Borchert und seine Rolle in der Literatur
unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg vorstellen;
- das Leben und Werk von Erich Maria Remarque und seine Rolle in der Literatur nach
dem Ersten Weltkrieg vorstellen;
- die verlorene Generation in verschiedenen Werken der beiden Autoren vergleichen.
1.2. Methodische Voraussetzung
In der Diplomarbeit wird vorwiegend die deskriptive Methode verwendet. Als Grundlage
wurden verschiedene literarische Quellen genommen, die sich mit der ausgewählten Thematik
auseinandersetzen. Die Quellen, die auf dem Thema der verlorenen Generation basieren,
wurden erforscht und dem Anlass entsprechend zusammengefasst. Die meisten Quellen
bearbeiten die Literaturgeschichte im 20. Jahrhundert und das Leben und Werk der beiden
Autoren, die in der Diplomarbeit vorgestellt werden: Erich Maria Remarque und Wolfgang
Borchert. Die gesammelten Daten wurden analysiert.
Die schon existierenden wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden mit Hilfe der Analyse der
einzelnen ausgewählten Werke der beiden Autoren verglichen, mit der komparativen Methode
wurden auch die Eigenschaften der „verlorenen Generation“ nach dem Ersten und nach dem
Zweiten Weltkrieg verglichen und historisch eingebunden.
6
2. NACHKRIEGSLITERATUR IN DEUTSCHLAND
Erich Maria Remarque und Wolfgang Borchert haben vieles gemeinsam, sie haben beide an
einem großen Weltkrieg teilgenommen und die Erfahrungen, die sie an der Front gesammelt
haben, haben für immer ihr Leben verändert und radikal ihre Weltanschauung geprägt.
Remarque nahm an der Westfront im Ersten Weltkrieg teil und wegen der damaligen
politischen und literarischen Situation schrieb er darüber erst Jahre später.
Borchert aber kam krank aus dem Zweiten Weltkrieg und fing gleich im selben Jahr im
Zeitdruck die Wahrheit ans Licht zu bringen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse
ermöglichten ihm eine sofortige Anerkennung auch außerhalb der Grenzen seiner Heimat.
Die Unterschiede der politischen und kulturellen Verhältnisse nach den beiden Weltkriegen,
die bei den beiden Autoren die wesentliche Rolle spielten, werden in diesem Kapitel einzeln
vorgestellt und näher erläutert.
Der Ausbruch des Weltkrieges 1914 schien in der Bedrohung der Nation eine neue Einheit
des Fühlens und Denkens zu geben. Er wurde in der Literatur als eine innere Notwendigkeit
empfunden. Doch der Krieg erwies sich als Zusammenbruch aller überlieferten Werte. Die
Grundlagen der Gesellschaft und der Kultur schienen fragwürdig geworden zu sein. Die
bürgerlichen Lebensnormen waren gebrochen.2
Die Stimmung des Verlorenseins in einer Welt der Liebelosigkeit und Brutalität findet sich in
den zwanziger Jahren bei vielen deutschen Autoren, und sie kehrt mit dem Zweiten Weltkrieg
wieder.
2 vgl. hierzu: Martini, 1972, S. 536 – 569
7
2.1. Literatur nach dem Ersten Weltkrieg (nach 1918)
Vom Ende des Ersten Weltkriegs 1918 bis zur Machtergreifung durch Hitler und die NSDAP
1933 ist die Zeit der Weimarer Republik. In dieser Zeit entwickelt sich eine neue Stilrichtung,
die den Expressionismus ersetzte.
Die Richtung, die man in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts als „Neue Sachlichkeit“
bezeichnet, ist eine Stilbezeichnung zuerst für die Malerei und später auch für die Literatur.
Die Neue Sachlichkeit war eine Reaktion vor allem auf den Expressionismus, der seine Rolle
verlor. Die Autoren der Neuen Sachlichkeit streben eine objektive Darstellung der Welt und
eine soziale sowie ekonomische Wirklichkeit an. Auf die Autoren der Weimarer Republik
hatte den wichtigsten Einfluss der Erste Welktrieg und die Entstehung der Weimarer
Republik.3
2.1.1. Literarische Richtungen in der Weimarer Republik (1918 -1933)
Schon vor 1914 hatte die expressionistische Generation in ihren Dichtungen ein Weltende
prophezeit. Die Dichter fühlten sich totaler Sinnlosigkeit und dem Zerfall ausgeliefert. Ihr
Werk ist Aufschrei über Leid und Not der Welt. Ein einigendes Band für die Bewegungen
jenes Jahrzehnts war der Protest. Der Krieg hatte eine seit langem fragwürdige Welt zerstört;
er wirkte als ein erregender Aufruf, ein neues menschliches Dasein zu erziehen, und verlangte
eine neue Bestimmung der menschlichen Werte. Zu Beginn der zwanziger Jahre verlor der
eher elitäre literarische Expressionismus der Kriegs- und Vorkriegszeit allmählich an
Bedeutung. Um eine breite Öffentlichkeit anzusprechen, wählten die Literaten nun eine
allgemeinverständliche Sprache und wirklichkeitsnahe Darstellungen.4
Die neue literarische Strömung bezeichnete man als die »Neue Sachlichkeit«. Viele Autoren
sprachen sachlich, nüchtern und genau beobachtend ihre Kritik an der Zeit aus. Sie
bekämpften Orientierung an falschen Vorblidern und beklagen den Verfall moralischer Werte.
Die am häufigsten verwedeten literarischen Formen waren Reportagen, Dokumentationen und
Romane. Die Kriegsdarstellung spielte eine wichtige Rolle. 3 vgl. hierzu: Slezáková, 2007, S. 11 4 vgl. hierzu: Martini, 1972, S. 569
8
Zentrale Themen der Romane in dieser Zeit waren Groβstadt, Technik, Industrie und
Wirtschaft, Arbeit und Arbeitslosigkeit sowie Alltag.
Die wichtigsten Autoren, die die Nachkriegszeit gezeichnet haben, waren: Bertolt Brecht,
Alfred Döblin, Hermann Hesse, Franz Kafka, Thomas Mann, Robert Musil, Erich Maria
Remarque, Joseph Roth, Kurt Tucholsky, Robert Walser und viele andere.
In den zwanziger Jahren spielten die neuen Medien als Vermittlungsinstrumente eine
besondere Rolle. Das Ziel war die Erschütterung bisher unbezweifelter Kunstnormen, wobei
die deprimierende Erfahrung des Ersten Weltkriegs auslösend gewirkt hatte. Auch bei einem
der größten Bucherfolge im zwanzigsten Jahrhundert und nach dem Roman gedrehten Film,
Im Westen nichts Neues, sicherten Zeitungsvorabdruck, Buchausgabe und Verfilmung die
Popularität.5
Die gesellschaftlichen Verhältnisse der unmittelbaren Nachkriegszeit waren also durch die
Suche nach einem neuen Sinn gekennzeichnet, das Kriegsthema war nicht erwünscht, die
Menschen wollten die grausame Erfahrung so schnell wie möglich vergessen und sich wieder
ins Leben stürzen. Aber ein paar Autoren, unter ihnen auch Remarque, haben erkannt, dass sie
das Kriegserlebniss noch Jahre nach dem Kriegsende verfolgt und haben versucht ihre
schmerzlichen Eindrücke durchs Niederschreiben zu bewältigen.
Ein wichtiger Unterschied zur Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs war auch, dass die
Front weit außerhalb Deutschlands Grenzen blieb und die zivile Bevölkerung nicht allzuviel
von dem eigentlichen Gräuel erfuhr, sogar nach dem Krieg herrschte oft noch immer die
romantische Vorstellung des Heroismus. Erst Jahre nach dem Krieg war die Situation reif, um
eine genaue Kriegsdarstellung zu akzeptieren und Remarques Buch einen sensationellen
Ruhm und Popularität verleihen.
Doch die Weimarer Demokratie brachte ökonomisch und ideologisch Enttäuschung und das
durch Krieg und Niederlage zutiefst durchschüttelte deutsche Volk hungerte auch geistig nach
einem Inhalt, der seinem Leben einen neuen Sinn hätte geben können. Diese Erneuerung hatte
Weimar nicht gebracht. Bald fühlte man, dass im Grunde sich nicht allzuviel verändert habe.
Die Tendenzen der „neuen Sachlichkeit“, die als Richtung den absterbenden Expressionismus
ablöste, sind inhaltlich und stilistisch durch eine Depressionsatmosphäre bestimmt.6
5 vgl. hierzu: Žmegač, 1994, S. 20 6 vgl. hierzu: Lukacs, 1955, S. 139
9
2.1.2. Der Anti-Kriegsroman am Ende der Weimarer Republik
In den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg war das Weltkriegsthema in der
Öffentlichkeit unerwünscht. Erst 1928, zehn Jahre nach Kriegsende, rückt der Weltkrieg zum
allgemeinen Thema der Schriftsteller auf. Die Kriegsromane waren meist mit der Absicht
verfasst, gegen jeden kommenden Krieg zu wirken. Und die berühmteste kriegskritische
Darstellung wurde Remarques Bestseller Im Westen nichts Neues.
Die meisten Anti-Kriegsromane sind Ich-Erzählungen und tragen autobiographische Züge.
Das Ich als Teilnehmer an den geschilderten Erlebnissen und Zeuge des Erzählten garantiert
Authentizität und Wahrheit einer literarischen Darstellung. Einige Autoren erheben für die
subjektive Kriegserfahrung ihrer Ich-Erzähler den Anspruch der Allgemeingültigkeit
innerhalb einer bestimmten sozialen Schicht der jungen Generation.7
Nach Žmegač wertet der Anti-Kriegsroman das Töten generell als Morden, der Soldat tötet,
um nicht selbst umzukommen. Dabei reduziert er sich auf seine Instinkte, wird zum
„Menschentier“. Im Krieg wird der Mensch physisch und psychisch vernichtet. Der Anti-
Kriegsroman zeigt die sichtbaren Folgen des Gemetzels in ihrer ganzen Entsetzlichkeit.
Ebenso furchtbar wie die physische Zerstörung ist die psychische. Die durch den Krieg ihres
Selbstwertgefühls beraubten Einzelnen sind außerstande sich mit dem Grauen geistig
auseinanderzusetzen und es moralisch zu verarbeiten. Immer wieder treten in den Anti-
Kriegsromanen Wahnsinnige auf, die den physischen und psychischen Belastungen an der
Front nicht gewachsen sind. Das Feld behauptet die absolute Vernichtung des Menschen und
seiner Welt und auch der Tod lässt sich nicht zum notwendigen Opfer und Heldentod
umdeuten. Die dominierenden Motive der Soldaten sind Angst und Lebenswille, daneben hat
kein anderer Wert Bestand, der Heroismus fehlt ganz. Die Protagonisten der Anti-
Kriegsromane erkennen bald, dass ihre Gegner sich in einer vergleichbaren Lage befinden
und deshalb keine Feinde sind. Andere Nationalitäten werden als Menschen dargestellt.
Alle Anti-Kriegsromane registrieren die Diskrepanz zwischen der Frontrealität und dem in der
Heimat für wahr gehaltenen Bild, welches die Medien, Kirche und Staat vom Krieg in die
Welt setzen. Die offizielle Version vom vaterländischen Verteidigungskrieg, für den jeder
7 vgl. hierzu: Žmegač, 1994, S. 162
10
Deutsche töten und sein Leben opfern muss, wird zurückgewiesen. Eine radikale Umwertung
findet statt. Krieg ist nicht länger die große Gemeinschaftsaufgabe des deutschen Volkes,
sondern ein schuldhaftes, sinnloses Morden.8
Mit der Krise der Weimarer Republik um 1930 werden die erfolgreichen Anti-Kriegsromane
von Arnold Zweig, Erich Maria Remarque oder Ludwig Renn von einer unübersehbaren
Menge von kriegsbejahenden, nationalistisch-antidemokratischen Romanen der rechten
Autoren überrollt. Durch Schriftsteller wie Remarque, die Menschen gestalteten, die der
Fürchterlichkeit der „Materialschlacht“ tapfer trotzen und durch persönlichen Mut und durch
eiserne Selbstbeherrschung über alle Greuel innerlich triumphieren, entsteht eine Literatur, in
der der kommende Krieg als heroisch anziehend in Erscheinung tritt. Sogar ein großer Anti-
Kriegsroman wie Im Westen nichts Neues konnte als Propaganda der nationalsozialistischen
Ideen dienen. Der Krieg wurde idealisiert, die Frontkameradschaft verherrlicht, die
Bindungen zwischen verschiedenen sozialen Schichten nehmen familiäre Formen an und
werden durch eine Art „Soldatenhumor“ charakterisiert. Die idealistisch aufopfernden
Frontsoldaten werden als „die Besten der Nation“9 bezeichnet. Die Nation war von der
Weimarer Republik tief enttäuscht und diese Soldaten wurden als Elite angesehen, die das
Volk retten soll und dafür wird der Tod von Millionen Soldaten als sinnvolles Opfer und die
militärische Niederlage als notwendig deklariert.10
Es gibt jedoch viele wichtige Unterschiede zwischen den Kriegs- und Anti-Kriegsromanen.
Der nationalistische Kriegsroman führt den Krieg auf Gott bzw. das Schicksal zurück und
spart Lazarettaufenthalte meistens aus. In den Kämpfen findet sich der häufig besungene
Heroismus. Kameradschaft zwischen Soldaten aus verschiedenen sozialen Schichten ist für
Remarque das Beste, was der Krieg hervorbrachte. Aber sie wird niemals zum Vorbild für
eine künftige gesellschaftliche Neuordnung Deutschlands und das trennt Remarque vom
Kameradschaftmythios des rechten Kriegsromans.11
Die Auseinandersetzung zwischen der literarischen Ablehnung des Krieges und Bejahung des
Gemeinschaftserlebnisses wird durch das Jahr 1933 gewaltsam beendet. Der Protest gegen
den Krieg konnte nicht das Bewusstsein des Volkes in wenigen Jahren durchdrungen haben.
8 Žmegač, 1994, S. 163 9 eben da, S. 160 10 vgl. hierzu: Žmegač, 1994, S. 160-162, und Lukács, 1955, S. 137 11 Žmegač, 1994, S. 161
11
2.2. Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg (nach 1945)
Kriegsführung und Kriegsverlauf wurden im Zweiten Weltkrieg noch viel mehr als im Ersten
Weltkrieg durch den Einsatz riesiger Menschenmassen und hochentwickelter Kriegstechnik
bestimmt. Während des Zweiten Weltkrieges kamen 50 Millionen Menschen ums Leben, und
die materiellen Schäden waren unübersehbar. Durch die Kriegszerstörung stehen große Teile
der deutschen Bevölkerung praktisch vor dem Nichts: Städte und Wohnungen sind von
Bomben zerstört und ausgebrannt, Industrie- und Versorgungseinrichtungen zerstört.12
Nach dem Zusammenbruch 1945 glich die Situation also wieder der von 1918, nur dass
Niederlage und Zerstörung noch gründlicher, Not und Leiden noch furchtbarer waren. Nach
den Bombardierungen, Vertreibung und Flucht standen der Zivilbevölkerung andere
Konsequenzen des Zusammenbruchs bevor: mit dem Hunger und Mangel an Brennstoffen, an
Elektrizität und Gas begann für viele das Elend erst mit dem Ende des Kriegs. Für die
Heimkehrenden war es schwer, sich zu artikulieren.
Wolfgang Borchert war einer der Kriegsteilnehmer, der als erster über die heimatlosen
Kriegsheimkehrer schrieb. Seine persönliche Lage war zwar wesentlich besser als die von
Tausenden anderer Soldaten, da er doch noch ein Zuhause und Familie hatte, zu der er in
seiner Krankheit zurück kommen konnte, doch er verbrachte lange Monate im Gefängnis und
er kannte die Einsamkeit und Verlorenheit, mit der sich die Heimatlosen auseinandersetzen.
Seine Krankheit zwang ihn unter enormem Zeitdruck zu schreiben, den er konnte über den
schmerzlichen Betrug, mit dem man seine Generation in den Krieg schickte, nicht schweigen.
Diesmal waren im Unterschied zum Ersten Weltkrieg auch die deutschen Zivilisten vom
Krieg unmittelbar betroffen, die Bomben zerstörten ihre Häuser, sie erlebten das Sterben
gleich in ihrer direkten Nachbarschaft. Das gab die notwendigen Vorraussetzungen für den
sofortigen Erfolg Borcherts, dessen Werk gleich in allen Teilen Deutschlands berühmt wurde.
12 vgl. hierzu: Slezakova, 2007, S. 15, 16
12
2.2.1. Die literarischen Strömungen zwischen 1945 und 1950
In den Jahren 1933 – 1945 befand sich die deutsche Literatur in einem Ausnahmezustand.
Viele Autoren waren emigriert und vielen Autoren war es verboten zu schreiben, viele gingen
von selbst in die innere Emigration. Das literarische Leben war fast zum Stillstand
gekommen. Deshalb spricht man nicht direkt von einem „Nullpunkt“. Trotz zerstörter Städte,
trotz Papierknappheit und zahlreichen Beschränkungen im täglichen Leben, begann sich ein
neues kulturelles Leben zu entwickeln. In der Literatur der frühen Nachkriegszeit ging es
einerseits darum, das Grauen in Sprache zu fassen und andererseits darum die Frage nach der
Schuld und Verantwortung des deutschen Volkes zu stellen. Die ersten Werke verarbeiten
meist das Erlebnis des Zweiten Weltkrieges. Die deutsche Literatur hatte eine Aufgabe zu
erfüllen. Die Autoren wollten das deutsche Volk aus seinem tiefsten politischen, moralischen
und ideologischen Verfall wieder zurück ins zivilisierte Leben führen.13
Die wichtigsten Autoren waren: Alfred Andersch, Bertolt Brecht, Heinrich Böll, Wolfgang
Borchert, Paul Celan, Nelly Sachs, Wolfdietrich Schnurre und andere. Die aktuellen Stoffe
waren Krieg, Verfolgung, die unermäßlichen Leiden der Soldaten und der Verfolgten,
Gefangenschaft und Heimkehr in eine vernichtete Heimat.
Der Verlust an geschichtlicher Tradition intensivierte sich nach 1945 zum Bruch und
Zwiespalt zwischen den Generationen. Die Generationsschichtungen machen sich im erneuten
Anknüpfen an den Expressionismus bemerkbar. In der Nachkriegszeit war das Druckmateriall
knapp, viele Autoren schrieben unter Zeitdruck. Es war kein Platz mehr für groβe Romane,
die die Leiden des Krieges und Grausamkeit der Hitlerdiktatur beschrieben. So wird die
Kurzgeschichte vor allem bei den Autoren der „jungen Generation“ zur dominierenden
literarischen Form. Es zeigte sich großer Einfluss von Franz Kafka.
Ein Gutteil der Wirkung dieser Literatur liegt im Nennen und Aufzählen. Im Nennen der
Dinge beginnt nämlich auch die Auseinandersetzung mit ihnen. Die frühe Literatur dieser
„jungen Generation“ nach dem Krieg ist deshalb häufig moralisch. Typische Schicksale und
Handlungen werden knapp und ohne ausdrückliche Anteilnahme des Erzählers erzählt. Sein
Engagement ist in der Syntax versteckt, die in der ständigen Wiederholung einfacher
13 vgl. hierzu: Baumann und Oberle, 1985, S. 233 und Lukacs, 1955, S. 152, 153
13
Strukturen emotionalisierend wirkt und zugleich ihre eigene Ergriffenheit verbirgt. Es
dominiert der offene Schluss, die unaufgelöste Frage, wie z.B. im Drama Borcherts Draußen
vor der Tür.14
2.2.2. Die Tendenzen der Trümmerliteratur
Die erste Phase der Nachkriegsliteratur, von 1945 bis 1950, wird oft auch Trümmerliteratur
genannt. Da vermischen sich die Traditionen mit neuen Akzenten. Es gab Kriegs- und
Heimkehrerliteratur, Todeserinnerung und Sprachlosigkeit angesichts dieser Erlebnisse.
• Die Eindrücke vom Krieg und der Vernichtung (Heinrich Böll; Wolfgang Borchert;
Paul Celan; Wolfdietrich Schnurre) spielten eine große Rolle. Als Trümmer und
Ruinen sind nicht nur zerstörte Häuser, Wohnungen und Städte, sondern viel mehr
vernichtete Ideale und Ideologien der Menschen bezeichnet.
• Die Heimkehrerthematik ist mit der Frage der Schuld verbunden. Die Schuld wurde
den Lehrern, den Vätern oder Gott gegeben, vor allem aber denen, die alle Befehle
gegeben hatten. In dieser Literatur wird die Sinnlosigkeit und Unmenschlichkeit des
Weltkrieges dargestellt.
• Schriftsteller protestierten gegen alle Ideologien. Man erkannte, dass die Nazis die
Sprache missbraucht hatten, also war die Sprache für die Schriftsteller sehr wichtig.
• Politisch und gesellschaftlich engagierte Schriftsteller kamen zusammen und nannten
sich die Gruppe 47 (Ilse Aichinger; Alfred Andersch; Ingeborg Bachmann; Böll).15
Die immer wiederkehrenden Schlagwörter der Zeit und Dichtung seit 1945 sind: die verlorene
Generation, die Unbehaustheit des Menschen, das Geworfensein ins Nichts, Kontaktlosigkeit,
Vereinsamung, Angst als Lebensgefühl, unbewältigte Vergangenheit, Traditionslosigkeit, der
Abgrund und das Nichts.
14 vgl. hierzu: Martini, 1972, S. 623 15 vgl. hierzu: http://oregonstate.edu/instruct/ger341/lit45-95.htm
14
3. ERICH MARIA REMARQUE
Im Mittelpunkt des weltweit geschätzten literarischen Werkes von dem Osnabrücker Erich
Maria Remarque steht der Aufruf zu einer von pazifistischen Ideen geleiteten Gesellschaft.
Besonders in seinen Romanen demonstriert Remarque schonungslos die Grausamkeit und
Sinnlosigkeit des Krieges. An den Reaktionen der Kritiker ist abzulesen, dass man sich
darüber klar war, wie berechtigt und zutreffend Remarques Anklagen waren.16
Seine häftigsten Anklagen richteten sich auch gegen die »Verherrlichung der Kriegstoten«17,
die noch heute alltäglich ist: Orden, Auszeichnungen, Gedenkstätten, Kriegerdenkmäler in
jeder Gemeinde, Totenfeiern, Kranzniederlegungen für »Helden«, die als Soldaten töten und
getötet werden – zugleich für »Mörder«, wie Soldaten von Pazifisten genannt werden, auch
von Erich Maria Remarque. In seinem Roman Zeit zu leben und Zeit zu sterben (1954) stellt
der Protagonist, der deutsche Soldat Ernst Graeber, die Frage: Wann wird zum Mord, was man
sonst Heldentum nennt?18
3.1. Biographie
Erich Maria Remarque wird am 22. Juni 1898 in Osnabrück geboren. Von 1904 bis 1912
besucht er die Volksschule in Osnabrück. Er beginnt eine Lehrerausbildung im katholischen
Lehrerseminar in Osnabrück, die später durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen wird. Im
November 1916 erfolgt die Einberufung zum Militär. Nach einer weiteren Ausbildungszeit
kommt er im Juni 1917 in Frankreich an die Front. Im selben Jahr wird er durch Granatsplitter
verwundet und in ein Lazarett in Duisburg überführt.19
Mit den ersten Januartagen des Jahres 1919 beginnt für Remarque das zivile Leben.
Remarque absolviert im Juni 1919 die erste Lehrerprüfung am Osnabrücker Seminar. In den
folgenden zwei Jahren unterrichtet er an verschiedenen Volksschulen auf dem Lande. In
Osnabrück arbeitet er 1922 als Buchhalter und als Verkäufer in einem Steinmetzbetrieb.
16 vgl. hierzu: Schneider, 2001, S. 8 – 15 17 Westephalen, 2006, S. 3 18 vgl. hierzu: ebenda 19 vgl. hierzu: Stadt Osnabrück, 2008 und Schneider, 2001, S. 79 – 92
15
Danach arbeitet er als Werbeleiter und Redakteur in Berlin. Seine Reportagetätigkeit hat den
Stil seiner Bücher mit geprägt.
1927 schreibt er in Berlin in sechs Wochen den Antikriegsroman Im Westen nichts Neues, der
1929 erscheint und zum Weltbestseller wird. Der Roman bringt Remarque Erfolg als
Schriftsteller, Weltruhm und finanzielle Unabhängigkeit, aber auch Anfeindungen: besonders
die aufstrebenden Nationalsozialisten sabotieren das Buch und den Autor durch
Hetzkampagnen. Bei der deutschen Uraufführung der Verfilmung des Romans in Berlin gab
es Störaktionen des NSDAP und Aufführungsverbot durch die deutsche Filmprüfstelle für
ganz Deutschland.20
Im Januar 1933, wenige Tage vor Hitlers Machtübernahme, verlässt er Deutschland und geht
in die Schweiz, wo er schon 1931 die Villa „Casa Monte Tabor“ in Porto Ronco am Laggo
Maggiore im Schweizer Tessin kauft. Im Mai werden seine Bücher in Berlin öffentlich
verbrannt. 1938 wird ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt und er sucht Zuflucht
und Schutz in den USA. Remarque entschließt sich 1941 offiziell in die USA einzuwandern.
Von 1939 bis 1942 hielt Remarque sich vorwiegend in Hollywood in Los Angeles auf.
Zwischendurch reiste er mehrere Male nach New York und Mexico City. In diesen Jahren
entstehen die Exilromane Liebe deinen Nächsten und Arc de Triomphe. 1947 wird er
amerikanischer Staatsbürger.
Am 25. September 1970 stirbt Remarque 72jährig im Krankenhaus von Locarno im Tessin
nach längerer Herzkrankheit.
3.2. Werke
Remarque hat in seinen Werken viele Themen aus seinen eigenen Erfahrungen geschildert:
Den Sadismus des Unteroffiziers Himmelreich in Remarques Ausbildung beim Militär
schildert er später in seinem Antikriegsroman Im Westen nichts Neues in der Figur des
„Himmelstoß“. Aus seinen Lazaretterfahrungen schildert er die Kriegsverstümmelungen mit
einem Realismus, in dem die persönliche Erschütterung noch in jeder Zeile nachklingt:
Wie sinnlos ist alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas möglich ist!
[...] Erst das Lazarett zeigt, was der Krieg ist.21
20 vgl. hierzu: Stadt Osnabrück, 2008 und Schneider, 2001, S. 79 – 92 21 Gumtau, 1969, S. 34
16
Die vielen Versuche Remarques, in der Stadt seiner Kindheit und früher Jugend wieder
heimisch zu werden oder sich anderswo auf die Dauer niederzulassen, scheitern. Hinter
seinem mondänen Lebensstil verbirgt sich Remarques Verzweiflung über den
Zusammenbruch seiner Ideale und gesellschaftlichen Wertvorstellungen, verursacht durch den
Krieg, der schon zehn Jahre zurück liegt. Um weiterzukommen, muss er zunächst den
lähmenden Schock des Krieges überwinden. Mit der Niederschrift der Kriegserlebnisse im
Roman Im Westen nichts Neues verarbeitet Remarque seine traumatischen Erinnerungen und
trifft damit auch die Gefühle von Millionen.22
1931 erscheint der Roman Der Weg zurück, in dem er die Rückkehr von Soldaten in die
Heimat schildert. Der Roman Der Funke Leben aus dem Jahre 1952 schildert die Greuel der
Konzentrationslager und im Roman Zeit zu leben und Zeit zu sterben (1954) wird der
Angriffskrieg der Deutschen gegen die Sowjetunion thematisiert. 1956 folgt Der schwarze
Obelisk, dessen Thema die Auseinandersetzung mit dem geistigen Klima seiner Heimatstadt
in den 20er Jahren ist. 1959 folgt der Roman Der Himmel kennt keine Günstlinge. Mit Die
Nacht von Lissabon aus 1961 kehrt er nochmals zum Emigrantenthema zurück. Als vierter
Emigrantenroman folgt Schatten im Paradies, der erst nach Remarques Tod 1971 von seiner
zweiten Frau Paulette Goddard veröffentlicht wird.23
1930 verfilmt Universal Pictures in Hollywood Im Westen nichts Neues (All Quiet On the
Western Front) in der Regie von Lewis Milestone. Remarques Intention, die Vernichtung des
Menschen durch die moderne industrialisierte Kriegsführung zu verdeutlichen, wurde von
dem Hollywood-Studio visuell umgesetzt. Der Film, der auf Grund seiner kriegskritischen,
antinationalistischen Aussage von mehr als einem Dutzend Regierungen verboten wurde, gilt
trotzdem noch heute als der klassische Antikriegsfilm.24
Aus seinen Werken lässt sich Typisches über Remarques Lebenshaltung und seine
literarischen Stilmittel ableiten: scharfe Beobachtungsgabe, Realismus, Skepsis, fast
Pessimismus – alles in einfacher Sprache geschrieben. Mit seiner Romantechnik verteilt er
sein eigenes Erleben und Erinnerungen auf verschiedene Figuren, die autobiographisch
bedeutsame Abspaltungen der Persönlichkeit ihres Autors sind. Das Erlebnis des ersten
22 vgl. hierzu: Stadt Osnabrück, 2008 23 vgl. hierzu: ebenda 24 vgl. hierzu: Chambers und Schneider, 2001, S. 11
17
Weltkrieges hat Remarques Blick für das Leiden geschärft. Die Thematik aller seiner Bücher
ist auf dieses Erlebnis zurückzuführen. Immer sind Leidende die Helden seiner Romane,
Menschen unter schwersten Belastungen des Krieges oder einer Diktatur. In Remarques
Bestsellern wird eine uralte Thematik abgehandelt, die in der Geschichte der Menschheit nie
ihre Aktualität verloren hat: der Machtmissbrauch des Kollektivs gegen den einzelnen, der
Staatsraison gegen das Individuum, des Willkürrechts gegen das Naturrecht.25
Remarque macht das Bildungsbürgertum für den Krieg verantwortlich. Er prangert das
Erziehungswesen der Väter an, das die Jugend mit idealistischen Phrasen fütterte. Er macht
das Problem der Verantwortung zu einer Generationsfrage. Er sagte über sein eigenes Werk:
Mein eigentliches Thema war ein rein menschliches Thema, daß man junge Menschen von 18
Jahren, die eigentlich dem Leben gegenübergestellt werden sollten, plötzlich dem Tode
gegenüberstellt. Und was würde mit ihnen geschehen? Aus dem Grunde habe ich auch Im
Westen nichts Neues eher als ein Nachkriegsbuch angesehen als ein Kriegsbuch.26
3.3. Generation ohne Zukunft
Remarques Osnabrücker Nachkriegszeit ist durch ein Suchen nach der verlorenen Jugend
gekennzeichnet: Ich bin herumgelaufen und herumgelaufen, ich habe an alle Türen meiner
Jugend geklopft und wollte wieder hinein, ich dachte, dass sie mich wieder aufnehmen
müsste, weil ich doch noch so jung bin und es mir so sehr gewünscht hatte, zu vergessen –
aber sie huschte vor mir davon wie eine Fata Morgana, sie zerbrach lautlos [...] jetzt erkenne
ich, dass ein stiller, schweigender Krieg auch in dieser Landschaft der Erinnerung gewütet
hat und dass es sinnlos von mir wäre, weiter zu suchen. Die Zeit steht dazwischen wie eine
breite Kluft, ich kann nicht zurück, es gibt nichts anderes mehr, ich muss vorwärts,
marschieren, irgendwohin, denn ich habe noch kein Ziel.27
So existentiell ist dieses Gefühl des Verlorenseins, dass er es noch in seinem 1937 im
Schweizer Exil geschriebenen dritten Roman, Drei Kameraden, heraufbeschwört. Einer der
drei Kriegsteilnehmer, antwortet auf die Klage, dass „immer alles in die Brüche geht“:
25 vgl. hierzu: Baumer, 1976, S. 9 – 40 26 Schneider, www.ingentaconnect.com, erworben am 16.3.2009 27 Remarque, 1931, S. 208, 209
18
Dafür gehörst du einem Orden an, Bruder – dem Orden der Erfolglosen, Untüchtigen, mit
ihren Wünschen ohne Ziel, ihrer Sehnsucht, die nichts einbringt, ihrer Liebe ohne Zukunft,
ihrer Verzweiflung ohne Vernunft [...] Der geheimen Brüderschaft, die lieber verkommt, als
dass sie Karriere macht...28
Er ist einer der Autoren, die sich dem Krieg als dem Zentralthema ihrer Werken widmen und
die den Krieg aus der Perspektive des einfachen Soldaten schildern. In seinen Romanen
bearbeitet er die Themen wie z.B. die Kriegsfolgen, die Erlebnisse der Soldaten an der Front.
Er interessierte sich für das Schicksal junger Menschen nicht nur im Krieg, sondern auch nach
dem Krieg. Besonders in seinen ersten zwei berühmten Romanen Im Westen nichts Neues und
Der Weg zurück beschäftigt er sich vorwiegend mit dem Thema der Kriegsheimkehrer und
ihrer verzweifelten Versuche, in der Landschaft ihrer Jugend wieder neu anzufangen. Doch
die Protagonisten der Romane stellen bald fest, dass sich ihre Kriegserlebnisse nicht einfach
aus dem Gehirn wischen lassen.
3.3.1. Im Westen nichts Neues
1927 schrieb Remarque in Berlin den Roman, der für sein weiteres Leben schicksalhaft
geworden ist: Im Westen nichts Neues. Remarque gesteht in einem Gespräch, er hätte zuerst
nie daran gedacht, einmal über den Krieg zu schreiben: Ich litt unter ziemlich heftigen
Anfällen von Verzweiflung. Bei dem Versuche, sie zu überwinden, suchte ich allmählich ganz
bewusst nach der Ursache meiner Depressionen. Durch diese absichtliche Analyse kam ich
auf mein Kriegserleben zurück. Ich konnte ganz Ähnliches bei vielen Bekannten und Freunden
beobachten. Der Schatten des Krieges hing über uns, wenn wir gar nicht daran dachten. [...]
Der Erfolg kam für mich ganz überraschend.29
Aus dieser Aussage können wir schließen, weshalb es ganze zehn Jahre vom Ende des Kriegs
gedauert hat, bis sein erster Kriegsroman erschienen ist. Erst nachdem er nicht von seinen
Kriegserfahrungen hinweg gekommen war, entschloss er sich, darüber zu schreiben.
Unerwartet identifizierten sich unzählige ehemalige Soldaten gerade mit einem deutschen
Soldaten, dessen Schicksal man an Soldaten jeder Nationalität verallgemeinern konnte. Das
sicherte Remarque einen Welterfolg. 28 Vgl. Hierzu: Baumer, 1976, S. 56, 57 29 eben da, S. 62
19
3.3.1.1. Das Kriegsbild bei Remarque
Remarques Kriegsbild sprang bereits 1929 über die ehemaligen Fronten: englische,
amerikanische, französische, russische Leser identifizierten sich ausgerechnet mit dem
Schicksal einer Gruppe deutscher Soldaten und machten deren Erfahrungen zu ihren eigenen.
Im Westen nichts Neues wurde universell.
Der Krieg bei Remarque ist ein von Menschen gemachtes Schicksal, aber dies ändert nichts
an den Einflussmöglichkeiten der einfachen Soldaten auf den Fortgang des Kriegs und auf
ihre Rolle in diesem Krieg: Sie bleiben Schlachtvieh, und ihr Tod ist den Betreibern des
Kriegs nicht einmal eine Notiz wert. Der Krieg ist in Remarques Text ein vom Einzelnen
nicht zu beeinflussendes Ereignis, indem er seine Kultur, seine Werte, seine
Lebensperspektive und seine physische Existenz verliert. Die Soldaten liegen sich auf kurzem
Abstand unter katastrophalen Lebensbedingungen gegenüber und führen Angriffe durch,
deren militärische Ziele sie nicht verstehen und deren Erfolge oder Misserfolge sie nicht
ermessen können, da ihre Kriterien für „Erfolg“ und “Misserfolg“ einzig am individuellen
Überleben orientiert sind. Ein menschlich unerfahrener, nicht politisch denkender Schüler
schildert den Krieg aus Remarques Perspektive – und gerade die Unerfahrenheit und
Sentimentalität Paul Bäumers sollten an das Bewusstsein des Lesers appellieren. Remarques
Text Im Westen nichts Neues ist zwar an der Westfront angesiedelt, der Text enthält aber
keine konkreten Orts- oder Zeitangaben, beschreibt keine identifizierbaren Schlachten oder
Einheiten. Das, was passiert, hätte überall geschehen können. Das Bild des Kriegs in Im
Westen nichts Neues ist in der westlichen kulturellen Tradition das Kriegsbild des Autors
Remarque, der für eine ganze Generation, sogar für alle Kriegsteilnehmer spricht – in jedem
Krieg. Und dieses „offene“ Bild des „modernen“ Kriegs ist beliebig einsetzbar geworden.30
30 Chambers und Schneider, 2001, S. 9, 10
20
3.3.1.2. Interpretation
Im Roman Im Westen nichts Neues zeigt Remarque das Phänomen der verlorenen Generation
an jungen Charakteren, die den Verlust der Unschuld, den Mangel an Hoffnung und
Schwierigkeiten mit der Gesellschaft darstellen. Die Folgen des Krieges waren unzählig und
verschieden, vom Tod vieler Unschuldigen Soldaten und Zivilisten bis zu den Überlebenden
mit permanentem Schaden, der sie für immer verfolgen sollte.
Der Roman besteht aus zwölf Kapiteln, doch es gibt keine geschlossene Handlung. Die
Geschichte wird zwar an einer Front im Ersten Weltkrieg angesiedelt, doch das Geschehen
wird immer wieder von Erinnerungsfetzen des Erzählers unterbrochen. Durch genaue
Beschreibungen wird der Eindruck hergestellt, der Leser sei unmittelbar am Geschehen
beteiligt, die Szenen laufen vor seinen Augen vorbei. Aber der Leser wird regelmässig über
die Gedanken und die Empfindungswelt des jungen Soldaten informiert.
Der Erste Weltkrieg bildet den geschichtlichen Rahmen der Handlung, doch genauere Zeit-
und Raumbeschreibungen fehlen ganz, auch die Figuren sind Teil von dichterischer Freiheit
des Autors, obwohl sie auf autobiographischen Erfahrungen basieren.
Die Motive, die im Roman vorkommen, sind der Lebenstrieb, Frontkameradschaft, Angst und
Tod. Wobei die Angst untrennbar mit der Lebensgier verflochten ist, da sie die Soldaten in
„Menschentiere“ verwandelt, um zu überleben, wird die Freundschaft zwischen Soldaten als
eine positive Folge der Front dargestellt. Der Tod dagegen steht über allem, was sie machen,
und ist ein treuer Begleiter ihres Alltags. Diese Motive sind typisch für die Vertreter der
verlorenen Generation, die sich schon im Krieg und noch lange nach dem Ende des Kriegs
damit auseinandersetzen. Gerade diese Generation ist auch das Thema nicht nur von Im
Westen nichts Neues, sondern auch von vielen späteren Remarques Romanen.
Der Protagonist des Textes Im Westen nichts Neues ist nicht eine einzelne Figur, sondern eine
Gruppe. Zwar werden die Ereignisse durch die Perspektive des Erzählers Paul Bäumer
gefiltert, der aber spricht mehr von „wir“ als von „ich“. Die Gruppe wird als Folge der
Kriegserlebnisse zum Familienersatz, Bäumer bezeichnet die Kameradschaft als das Beste,
was der Krieg hervorbrachte: Das Wichtigste aber war, dass in uns ein festes, praktisches
21
Zusammengehörigkeitsgefühl erwachte, das sich im Felde dann zum Besten steigerte, was der
Krieg hervorbrachte: zur Kameradschaft!31.
Die Gruppe durchläuft die meisten Standardsituationen des Kriegs: die Kriegsbegeisterung,
den Drill der militärischen Ausbildung, den Fronteinsatz, den Verlust von Freunden, die
Entfremdung von der Heimat, das Ausgeliefertsein im Trommelfeuer, das Lazarett, den
Verlust von Körperteilen und damit auch die physische Entfremdung, die Erkenntnis der
Leiden des „Feindes“ und schließlich die Erkenntnis, dass die Kriegserlebnisse zu einer
fundamentalen Veränderung des Lebens führen und sich nicht einfach aus dem Gedächtnis
werden streichen lassen. Auf diesen Stationen verlieren die Jungs immer mehr von ihrer
unschuldigen Kindheit. Der Tod ihres Kamerades Kemmerich symbolisiert den Tod der
ganzen Gruppe. Er ist der erste aus ihrer Gruppe, der stirbt und das ist der erste symbolische
Verlust der Unschuld im Buch.32
Paul Bäumer und viele seiner Kameraden sind typische Vertreter der verlorenen Generation:
sie sind direkt aus der Schule mit Begeisterung fürs Vaterland in den Krieg gezogen. Doch
schon die ersten Kampfeinsätze haben ihre Vorstellungen hart und ohne Gnade in die Realität
versetzt. So haben sie das Vertrauen in die ältere Generation verloren, die gut klingenden
Wörter der Lehrer erweisen sich als fade Lügen. Auf die meisten warten nur ihre Eltern zu
Hause, weil sie noch keine Erfahrungen mit Frauen haben. Und das einzige, was sie lernen, ist
Krieg führen, sie haben noch keinen Beruf von früher, so können sie keine Zukunftspläne
machen, da sie auch an keine Vergangenheit anknüpfen können. Der Krieg hat alle ihre
Jugendträume weggeschwemmt und so fühlen sie sich vollkommen verloren.
Bäumer äussert sich kurz vor seinem Tod an der Westfront darüber, wie seine Generation
nach dem Krieg weiterleben werde. Seine Ansichten wirken zunächst pessimistisch: Wir sind
überflüssig für uns selbst, wir werden wachsen, einige werden sich anpassen, andere sich
fügen, und viele werden ratlos sein; - die Jahre werden zerrinnen, und schließlich werden wir
zugrunde gehen33.
Bäumer meint, dass sie ihm sowieso nichts mehr nehmen können, und solange noch Leben in
ihm sei, würde er sich seinen Weg suchen.
31 Remarque, 1929, S. 32 32 vgl. hierzu: Chambers und Schneider, 2001, S. 9 33 Remarque, 1929, S. 287
22
Der erste Roman weist damit bereits hinaus auf die Themen und Probleme des zweiten, Der
Weg zurück, der schon zwei Jahre nach dem ersten erschien und das Thema der verlorenen
Generation noch gründlicher aufnahm.
3.3.2. Der Weg zurück
„Der Weg zurück gilt als konsequente Fortsetzung und Vervollständigung des Klassikers Im
Westen nichts Neues. Beide Werke sind zugleich Kriegsromane und Nachkriegsromane,
indem sie versuchen, den Ersten Weltkrieg und seine Auswirkungen aus zeitlicher Distanz
literarisch darzustellen.“34
Obwohl dieser zweite Roman als Fortsetzung des ersten gilt, in diesem Zusammenhang wurde
er auch geschrieben, hat er nie den großen Weltruhm des ersten erfolgreichen Romans
erreicht und er wird noch heute oft von den Literaturwissenschaftlern übersehen. Aber da in
beiden Romanen das Thema der verlorenen Generation verflochten auftritt, im zweiten
Roman treten sogar viele Personen aus dem ersten auf, werden beide Romane im Bezug auf
das erwähnte Thema analysiert.
3.3.2.1. Interpretation
Im Mittelpunkt des Romans Der Weg zurück stehen die seelischen und menschlichen
Konflikte der „verlorenen Generation“, deren Hoffnungen auf ein besseres Deutschland bitter
enttäuscht wurden. Remarque malt mit autobiographischen Zügen das Bild einer Jugend, die
starb, bevor sie zu leben beginnen konnte.35
Remarque spricht von jungen Kriegsheimkehrern, die erkennen, wie furchtbar betrogen und
mißbraucht sie wurden: Man sagte uns Vaterland und meinte die Okkupationspläne einer
habgierigen Industrie – man sagte uns Ehre und meinte [...] die Machtwünsche einer
Handvoll ehrgeiziger Diplomaten und Fürsten – man sagte uns Nation und meinte den
34 Murdoch, 2001, S. 21 35 Baumer, 1976, S. 61
23
Tätigkeitsdrang beschäftigungsloser Generäle! [...] Wir haben gegen uns selbst Krieg
geführt, ohne es zu wissen! Und jeder Schuss, der traf, traf einen von uns! [...] Es gibt nur
einen einzigen Kampf: den gegen die Lüge, die Halbheit, den Kompromiß [...] Unsere Zukunft
ist tot, denn die Jugend ist tot, die sie trug. Wir sind nur noch Übriggebliebene, Reste! [...]
Eine Generation ist vernichtet worden! Eine Generation Hoffnung, Glauben, Willen, Kraft,
Können ist hypnotisiert worden, so dass sie sich selbst zusammenschoß [...].36
Die Handlung fängt dort an, wo Remarque seinen Helden Paul Bäumer kurz vor seinem Tod
im Roman Im Westen nichts Neues verlassen hat, an der Westfront, wo die deutsche Armee in
ihre letzten, müden Abwehrkämpfen ein Paar Tage vor dem Waffenstillstand 1918 verstrickt
war. Die jungen Männer haben auf dem Schlachtfeld alle ihre Ideale, ihre Ziele und
Zukunftsperspektiven verloren und gehen den Weg zurück in die Heimat, sie stehen vor dem
Nichts. Der Weg zurück in ein Leben, wie sie es vor dem Krieg kannten, erscheint ihnen nach
den Jahren in Schützengraben unmöglich.37 In Deutschland tobt die Revolution, von der
Begeisterung, mit der man sie vor Jahren in den Kampf fürs Vaterland schickte, ist nichts
geblieben. Statt dessen schlagen den ehemaligen Helden Unverständnis, Gleichgültigkeit und
offene Verachtung entgegen. Sie fühlen sich fremd und überflüssig, verzweifelt suchen sie
nach dem Sinn. Geblieben ist nur die Kameradschaft, selbst die bröckelt nach und nach ab.
Die Geschichte wird mit einem Eingang eingeführt, wo die Frontsoldaten bei den letzten
verzweifelten Kämpfen der erschöpften deutschen Armee teilnehmen. Die Handlung wird
dann in sieben Teile aufgeteilt und jeder Teil besteht aus mehreren kürzeren Kapiteln. Das
letzte Kapitel endet mit dem Tod von Georg Rahe und erst mit diesem Tod ist der Krieg
endgültig zu Ende.
Der Roman endet mit einem Ausgang und so bilden der Eingang und der Ausgang den
Rahmen der Romanstruktur. In diesen beiden Kapiteln herrscht eine ähnliche Atmosphäre.
Am Anfang gibt es ganz leise Gerüchte, dass es endlich Frieden geben soll und die Soldaten
sind nach langen Jahren ständiger Kämpfe angespannt vor leiser Hoffnung, die sie noch nicht
zu erwarten wagen. Aber die Hoffnung auf ein Leben nach dem Krieg ist schon vorhanden.
Im Ausgang äußert Birkholz schon viel zuversichtlicher seine Hoffnungen und Erwartungen
an die Zukunft. Dazwischen liegen sieben Kapitel, wo die ehemaligen Soldaten versuchen,
36 Remarque, 1931, S. 233, 234 37 Vgl. Hierzu: Slezakova, 2007, S. 28)
24
sich wieder in die Welt ihrer Jugend einzufügen oder einfach neu anzufangen. Viele von
ihnen scheitern dabei, aber am Ende bleiben doch noch manche an der Seite der Hauptperson.
Die Doppeldeutigkeit des Titels erschließt sich am Schluss des Werks. Der Freund und
ehemaliger Kamerad der Hauptfigur Ernst Birkholz, Georg Rahe, nimmt den endgültigen
Weg zurück. Tief enttäuscht von dem Verrat und falscher Kameradschaft der Revolutionäre,
reist er zurück an die verlassenen Felder der Westfront, wo er von Erinnerungen an seine tote
Kameraden überflutet wird und dort Selbstmord begeht, um für immer dort zu bleiben, wo es
noch wahre Kameradschaft und keinen Verrat gab.
Doch zeigen die Todesfälle, dass der Weg nur vorwärts gehen kann.
3.3.2.2. Parallelen zum Roman Im Westen nichts Neues
Remarques zweiter Roman hängt direkt vom ersten ab, also ist eine Parallelität in der
Wahrnehmung der beiden Ich-Erzähler zu beobachten. Den Erzähler Ernst Birkholz im
Roman Der Weg zurück kann man mit Paul Bäumer als geistig verwandt ansehen.38
Im letzten Kapitel von Im Westen nichts Neues fällt Bäumer, aber seine letzten Gedanken
werden im zweiten Roman auf Breyer, Rahe und Birkholz übertragen. Zu den Themen, die
dabei behandelt werden, gehören Kameradschaft, Schule, Tod, Eltern, die Unmöglichkeit,
über den Krieg zu sprechen, und vor allem der Sinn des Kriegs selbst.
• Bäumer war zu der Ansicht gekommen, dass das Töten als Soldat im bürgerlichen
Sinne Mord sei. Auch den Feindesbegriff erkennt er als etwas Künstliches, als er
einige Zeit mit den Russen verbringt. Die Gleichsetzung von Krieg und Verbrechen
wird im zweiten Roman weiter ausgearbeitet. Albert Trosske tötet aus Hass einen
Mann, die Logik von Bäumers Gedanken wird nun umgekehrt. Trosske hat ein
Verbrechen begangen, das im Kontrast zu den Kriegserlebnissen steht, wo er Männer,
die er nicht hasste, durch gesetzliche Anordnung töten musste.39
38 vgl. hierzu: Murdoch, 2001, S. 19 39 vgl. hierzu: eben da
25
• Der Zerfall der Frontkameradschaft verbindet beide Romane. Im Westen nichts Neues
zeigt zunächst die Entwicklung einer Kameradschaft, einer Solidarität im Angesicht
des Todes. In Der Weg zurück besteht diese Kameradschaft anfangs noch immer, doch
sie verschwindet allmählich, eben weil sie nur im Krieg gründete.
• Im Krieg hatte der Einzelne keine Zeit, der Toten zu gedenken. Im zweiten Roman
rückt dieses Motiv in den Vordergrund, mit Anklängen an Figuren aus dem ersten
Roman. In Im Westen nichts Neues wurde der Leser am Bett von Franz Kemmerich
vorbeigeführt. Im zweiten Roman erscheint Kemmerich zusammen mit Katczinsky
und Bäumer als Schatten wieder, in der Erinnerung des Ernst Birkholz.
Von Breyers Grab aus sucht Rahe den Weg zurück zu den größeren Friedhofen an der
Westfront, wo er sich angesichts der gefallenen Kameraden erschießt. Dieser Akt ist im
psychologischen Sinne für einen Frontsoldaten ein endgültiges Ende. Erst mit Rahes Tod, mit
dem die Erzählung vom Der Weg zurück endet, ist der Krieg zu Ende. Objektiv dargestellt,
soll es als Katharsis für die Überlebenden wirken. Wie Bäumers Tod muss auch Rahes Tod
von einem objektiven Erzählerstandpunkt aus erzählt werden, denn hier stirbt ein Teil von
Birkholz selbst. Rahe hat also in einem ganz anderen Sinne den Weg zurück gefunden, zurück
zu den „echten“ Kameraden, die in der Nachkriegszeit nicht mehr existieren. Birkholz aber
lebt weiter und der Krieg ist endgültig vorbei. Nach dem allmählichen Zerfall der Kompanie
bleibt Bäumer am Ende allein. Im zweiten Roman sind einige Kameraden noch nachträglich
gefallen: Weil, Breyer und Rahe. Es ist die Kameradschaft selbst, die diesmal zerfällt. Am
Ende ist dann auch Birkholz allein.40
40 vgl. hierzu: Murdoch, 2001, S. 19 – 28
26
4. WOLFGANG BORCHERT
Wolfgang Borchert ist einer der bekanntesten Autoren der Trümmerliteratur, jener
kurzlebigen Literaturepoche nach dem Zweiten Weltkrieg, die vom Zusammenbruch der
Städte, von Familienstrukturen und den Traumata des Krieges geprägt ist.41
Wolfgang Borchert war kein literarisches Genie. Sein erstes Gedicht lässt kein besonderes
Talent erkennen. Was ihn zum Dichter machte, was seine Sprache unverwechselbar werden
ließ, seinen Stil formte, das war die leidvolle Erfahrung des Krieges. Zu dieser Erfahrung
gehört das Fronterlebnis in Russland, Aufenthalte im Lazarett, der Anblick seiner Heimatstadt
Hamburg, die wenige Tage vor seinem Heimaturlaub durch Bombardierung der Alliierten
zerstört wurde, und lange, einsame Monate im Gefängnis. Der Schrei seiner Seele machte aus
dem jugendlichen Verseschmied den Dichter Wolfgang Borchert.42
4.1. Biographie
Wolfgang Borchert wurde am 20. Mai 1921 als Sohn der Heimatschriftstellerin Hertha
Borchert und des Volksschullehrers Fritz Borchert im Hamburg geboren. Er ging von 1928-32
in die Volkshochschule, ab 1932 in die Oberschule in Hamburg. Er wollte Schauspieler
werden, machte jedoch auf Wunsch der Eltern zunächst eine Buchhändlerausbildung. Die
1939 begonnene Buchhändlerlehre füllte ihn nicht aus, so nahm er nebenher privaten
Schauspielunterricht. Er bestand die Schauspielprüfung und brach die ungeliebte
Buchhändlerlehre ab. Im März 1941 wurde er an der Landesbühne Ost-Hannover, einer
Wanderbühne, in Lüneburg als Schauspieler engagiert. Borchert, der persönliche Freiheit und
Individualität in höchstem Maße wertschätzte und dem bürgerliche Wohlgeordnetheit und
Harmonie widerstrebten, bezeichnet diese kurze Periode am Theater als die schönste seines
Lebens. Aber die sollte nicht lange dauern.43
Im Juni 1941 wurde Borchert zum Kriegsdienst eingezogen und zum Panzergrenadier und
Funker ausgebildet. Im November kam seine Kompanie an die Ostfront, ins sowjetische
41 vgl. hierzu: http://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Borchert, 2008 42 vgl. hierzu: http://www.staff.uni-mainz.de/willi/docs/schule/ausstellungen/borchert.htm, 2008 43 vgl. hierzu: http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/BorchertWolfgang/, 2008
27
Kalinin. Borchert erkrankte 1942 an Gelbsucht und Diphtherie. Eines Tages meldete er sich
mit einer Schussverletzung an der linken Hand. Unter dem Verdacht, sich durch
Selbstverstümmelung dem Wehrdienst entziehen zu wollen, wurde Borchert verhaftet und
angeklagt. Er kam ins Untersuchungsgefängnis Nürnberg und verbrachte drei Monate in einer
Einzelzelle. Die Gerichtsverhandlung endete mit einem Freispruch; er musste jedoch wegen
"staatsgefährdender" Briefe in Untersuchungshaft bleiben und wurde wegen Äußerungen
gegen den Nationalsozialismus zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt. Auf Antrag
Borcherts und seines Verteidigers wurde die Strafe zu sechs Wochen verschärfter Haft mit
anschließender "Frontbewährung" umgewandelt. Im November wurde er zur Bewährung
wieder zum Erssatzbatallion seines Regiments bei der Garnison in Jena geschickt. Bei den
harten Panzerkämpfen um Toropez wurde er als Melder im Fronteinsatz eingesetzt. Ende
Dezember wurde er mit erfrorenen Füßen ins Lazarett eingeliefert und kam 1943 mit
Fleckfieberverdacht ins Seuchenlazarett.44
Im August 1943 wurde ihm Heimaturlaub bewilligt und er ist nach Hamburg gefahren. In eine
Stadt, die kurze Zeit vorher zur Hälfte durch Bombenangriffe vernichtet worden ist. Er trat
im Hamburger Lokal "Bronzekeller" als Kabarettist auf und präsentierte Songs.
Zu seiner Kompanie zurückgekehrt, sollte Borchert anfang 1943 als Dienstuntauglich aus der
Armee entlassen und einem Fronttheater zugewiesen werden. Doch wegen einer Parodie auf
den "Reichsminister Dr. Joseph Goebbels" wurde er verhaftet und wegen politischer
Äußerungen ins Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit überführt. Borchert wurde zu einer
Gefängnishaft von neun Monaten verurteilt und im September 1944 „zur Feindbewährung an
der Front“ entlassen. Er begann zu ahnen, dass ihm für sein Lebenswerk nicht mehr viel Zeit
zur Verfügung stehen würde: Allzu alt werde ich bei meiner Gesundheit kaum werden.45
Borcherts Kompanie, die zu Beginn des Jahres 1945 noch zu den Kämpfen südlich des Mains
beordert wurde, kapitulierte im März in der Nähe von Frankfurt am Main ohne Gegenwehr
vor den französischen Truppen. Auf dem Transport in die französische Kriegsgefangenschaft
gelang Borchert die Flucht in Richtung Heimat — schwer krank schlug er sich 600 Kilometer
zu Fuß nach Norden durch und kehrte 10. Mai am Leib und Seele gebrochen in die Trümmer
von Hamburg zurück, wo ihn seine Eltern erwarteten.
44 vgl. hierzu: Rühmkorf, 1961, S. 70 – 88 45 http://www.utexas.edu/ftp/courses/swaffar/distance/chron.htm, 2008
28
Wolfgang Borchert versuchte bald, sein altes Leben wieder aufzunehmen, dort wo seine
Hoffnungen sich schon vor dem Krige etabliert hatten: beim Theater. Er wurde Mitgründer
des Hinterhoftheaters "Die Komödie" in Hamburg-Altona. Er wurde für ein Theaterstück als
Regieassistent am Hamburger Schauspielhaus eingesetzt. Gegen Ende 1945 fesselte ihn sein
Leberleiden schließlich endgültig ans Bett. Im Frühjahr 1946 wird Borchert in das Hamburger
Elisabeth-Krankenhaus eingeliefert. Nach ärztlichem Ermessen bleibt ihm eine Lebensfrist
von höchstens einem Jahr. Obwohl sein Gesundheitszustand erbarmenswert schlecht ist,
konzentriert er alle ihm verbliebenen Lebensenergien aufs Schreiben. In rascher Folge
schreibt Borchert in diesem Jahr 24 Prosatexte. Im Dezember 1946 veröffentlichte er die
Gedichtsammlung Laterne, Nacht und Sterne mit Gedichten aus der Zeit zwischen 1940 und
1945. Im Januar 1947 schrieb er sein einziges Drama Draußen vor der Tür, das am 13.
Februar als Hörspiel gesendet wurde. Es löst eine unerwartet weitreichende Resonanz aus und
erweist sich als ein sensationeller Publikumserfolg. Das Stück verhilft Borchert zum
absoluten Durchbruch, ein Erfolg, der ihn selbst überrascht. Bis zum September wurden
weitere 22 Prosatexte geschrieben.46
Nach langen bürokratischen Verhandlungen gelang es den Freunden Borcherts, für ihn eine
spezielle Behandlung in der Schweiz durchzusetzten. Gegen Ende September reiste der
Kranke in das katholische Clara-Spital nach Basel. Der ihm von Freunden verschaffte
Kuraufenthalt in der Schweiz kam zu spät. Eine gesundheitliche Besserung tritt nicht ein,
vielmehr kommt es zu einer Verschlechterung des Befindens.47
Nach Rühmkorf erfuhr Borchert in den Wochen in Basel noch viel Anerkennung für seine
Arbeiten durch Kritiker, Leser und Bewunderer. Doch er litt unter der Isolation als Deutscher,
in dem man in ihm einen Angehörigen des untergegangenen Nazi-Deutschlands sieht. Bis ins
Krankenhaus ist sein Dichterruhm nämlich noch nicht gedrungen, und man begegnet ihm,
dem Ausländer und Protestanten, eher misstrauisch als zuvorkommend.
Am 20. November 1947 stirbt er während eines Kuraufenthaltes im Clara-Spital in Basel mit
nur 26 Jahren — einen Tag vor der Uraufführung seines Schauspiels Draußen vor der Tür in
den Hamburger Kammerspielen am 21. November.
1962 wird das Nachlassband Die traurigen Geranien veröffentlicht.
46 vgl. hierzu: http://think-of-me.de/Biographie/Wolfgang_Borchert.htm 47 Rühmkorf, 1961, S. 156
29
4.2. Werke
„Dass Wahrheit schmerzt und einsam macht, erfuhr er schon in jungen Jahren. Doch im
Erdulden dieses Schmerzes und dieser Einsamkeit lag zugleich eine Erlösung. In seinen
Soldatenbriefen sprach er von einer Wahrheit, wie er sie angesichts der Lüge, die Millionen
Menschen ins Verderben riss, erkannte. In seinen Erzählungen brach das Erlebte und Erlittene
wieder hervor, gelöst aus der Sphäre des Persönlichen.«48
Schon während seiner Militärausbildung schrieb er empörte Briefe an seine Freunde und
Eltern, wo er die brutale Verhältnisse und ständige Gehirnwäsche seiner Vorgesetzten
kritisierte und deswegen oft Probleme mit den Machtvertretern bekam und später auch im
Gefängnis landete. Seine Kriegserfahrungen schilderte er in zahlreichen Kurzgeschichten, wo
er mit verschiedenen Stilmitteln die düstere Atmosphäre der Front herbeizauberte.
Während der Zeit in der Kaserne äußerte Borchert seine Wut und sein Entsetzen über die
erniedrigenden Zustände: Im Augenblick tötet die brutal aufgezwungene Welt des Zwanges
und der Uniform-Einform alles Schöne, alle Kunst in mir.; Ich empfinde die Kasernen als
Zwingburgen des dritten Reiches.49
An der Ostfront wurde Borchert im Fronteinsatz Augenzeuge der schweren und verlustreichen
Schlachten, die, entgegen den heroischen-völkischen Siegesparolen der
nationalsozialistischen Propaganda, für die erfrierenden und verhungernden deutschen
Soldaten in einer vernichtenden Niederlage endete. Meine Kameraden, die vor vierzehn Tagen
herausgekommen sind, sind alle gefallen. Für nichts und wieder nichts.50
Anfang 1943 kommt er in das Reservelazarett Elend. Täglich wird hier ein halbes Dutzend
Toter hinausgetragen und diese Zahl wird in seiner Kurzgeschichte An diesem Dienstag
wieder aufgenommen.
Stilistisch ist Borchert vom literarischen Expressionismus und vom moralischen
Pragmatismus Kurt Tucholskys und Erich Kästners beeinflusst. Borcherts frühe Vorbilder
waren Hölderlin und Rilke. Seine Kurzgeschichten und sein Drama Draußen vor der Tür
sprechen Klartext über die Verhältnisse in Deutschland während und nach dem Krieg. Seine
48 Meyer-Marwitz, 1957, S. 328 49 http://www.utexas.edu/ftp/courses/swaffar/distance/chron.htm, 2008 50 eben da
30
Forderung nach einer tabula rasa angesichts einer von Lüge und Missbrauch korrumpierten
Literatur hatte Einfluss auf die Gruppe 47. Insbesondere benutzte Borchert aber die Sprache
des Expressionismus. Der letzte „Schrei“ der jungen (verlorenen) Generation lebt in seiner
Sprache fort. Kurze, abgehackte Sätze bis hin zur Ellipse prägen seinen Stil. Er benutzt
Wiederholungen, Farbsymboliken, Gegensätze und Emotionen. Borcherts Werk handelt vom
Elend der Hungernden, der Kriegskrüppel, von den Heimkehrern und Heimatlosen, von allen,
die der Krieg gezeichnet hatte. Er gibt nicht nur seinen eigenen Erfahrungen Ausdruck,
sondern denen einer ganzen Generation. Seine Kurzgeschichten versetzen den Leser oftmals
direkt in eine Situation hinein, beschreiben das Grauen der Zerstörung indirekt und
Ausschnittweise, lassen Personen agieren, welche die größeren Zusammenhänge nicht
verstehen oder nicht verstehen können (z.B. Kinder).51
Diese Kriegsgeschichten sind im wesentlichen Grotesken. Mag gelegentlich das mitleidende
Pathos auftönen, es wird sofort wieder in Ironie und Zynismus umgebogen. Hier herrscht ein
böses Lachen und der Hohn und das Gelächter mischen sich unter das Entsetzen. Der Dichter
des Grotesken versucht sich nicht an einer Sinngebung. Er misst der sinnlosen Welt das
passende Paradox an – lässt das Lachen in das Grauen hineinplatzen und gibt dem Humor das
schwärzeste Schwarz bei. Das Lachen bei Borchert ist ein Lachen aus dem Erschrecken
heraus, ein Lachen ohne rechten Grund. Alle Geschichten Borcherts zeigen ein besonderes
Vergnügen am Detail, an der Ausgefallenheit und deutliche Lust am Tragikomischen. Dieser
Zug bestätigt sich besonders in Borchert Vorliebe für Menschen, die auf groteske Weise aus
dem Rahmen der bürgerlichen Ordnung fielen.52
In seiner ersten berühmt gewordenen Erzählung Die Hundeblume wurden seine Erfahrungen
aus der Gefangenschaft verdichtet. Abseits von allem schönfärberischem Heroismus steht hier
die Erfahrung des Nichts an erster Stelle, und die Fragen in die Leere hinein, an das fehlende
Gegenüber unterscheidet sich substantiell gar nicht so sehr von den späteren Beckmann-
Fragen. Auf der anderen Seite aber findet sich am Schluss des Stückes jene anbetend-
beschwörende Verehrung einer Blume, die man als primitve, als prächristliche Religiosität
bezeichnen könnte. Hier offenbart sich uns als letztes Beständiges der Glaube an den ewigen
Kreislauf des Lebendigen.53
51 vgl. hierzu: http://www.utexas.edu/ftp/courses/swaffar/distance/chron.htm, 2008 52 vgl. hierzu: Rühmkorf, 1961, S. 23 – 26 53 vgl. hierzu: eben da, S. 68
31
Mit der Hundeblume hatte eine Zeit höchster Produktivität begonnen. Rund 60 Texte wurden
1946 und 1947 vollendet, Erzählungen, Reflexionen, Mono- und Dialoge, Manifeste und das
expressionistisch beeinflusste Drama Draußen vor der Tür, in dem es um die Heimkehr eines
Kriegsgefangenen geht, der mit seinem Trauma in der Heimat nur auf Unverständnis, Hohn
und Isolation trifft. Er beschreibt realistisch das Elend und die Einsamkeit, die die
Kriegsgeneration nach dem desillusionierenden Kriegsende erwartet. Das Stück wurde als
Hörspiel gesendet und erwies sich sofort als ein sensationeller Publikumserfolg.54
Zu seinen wichstigsten Kurzgeschichten gehören Gespräch über den Dächern, die Skizze
Stimmen sind da – in der Luft – in der Nacht und die Kurzgeschichten Das Brot und Nachts
schlafen die Ratten doch.
„Diese Prosastücke waren keine ‚Lektüre’, sie waren Anklage, Notschrei, Aufruhr. Borchert
[...] forderte mehr als nur literarische Teilnahme, er wollte Entscheidungen, Stellungsnahmen
erzwingen. Das machte ihn unbequem. Viele schreckte er ab, mehr aber riss er mit sich. Dass
seine Arbeiten ein starkes Echo auslösten, stärker als er je zu erhoffen gewagt hatte, bestärkte
ihn in seiner Entschlossenheit, jeden Kompromiss ein für allemal aus seinem Werk
auszuschließen. Sein Schaffen war ein gewaltiger Schrei, ein Aufschrei der Lust, der Qual,
der Seligkeit, der Verzwiflung. [...] Er kannte keine Furcht, keine Verstellung, keine Feigheit,
er drängte nach dem Bekenntnis der Wahrheit, nach der Entlarvung der Lüge. Schonungslos.
Gegen sich selbst und gegen andere.“55
54 vgl. hierzu: Gumtau, 1969, S. 47 55 Meyer-Marwitz, 1957, S. S. 338, 339
32
4.3. Aufschrei Wolfgang Borcherts
Wolfgang Borchert war achtzehn Jahre alt, als der Krieg ausbrach, vierundzwanzig, als er zu
Ende war. Krieg und Kerker hatten seine Gesundheit zerstört, das Übrige tat die Hungersnot
der Nachkriegsjahre, er starb am 20. November 1947, sechsundzwanzig Jahre alt. Zwei Jahre
blieben ihm zu Schreiben, und er schrieb in diesen beiden Jahren, wie jemand im Wettlauf mit
dem Tode schreibt; Wolfgang Borchert hatte keine Zeit, und er wusste es. Er zählt zu den
Opfern des Krieges, es war ihm über die Schwelle des Krieges hinaus nur eine kurze Frist
gegeben, um den Überlebenden zu sagen, was die Toten des Krieges, zu denen er gehört,
nicht mehr sagen konnten: dass ihre Gelassenheit, ihre Weisheit, dass alle ihre glatten Worte
die schlimmsten ihrer Lügen sind. Das törichte Pathos der Fahnen, das Geknalle der
Salutschüsse und der fade Heroismus der Trauermärsche – das alles ist so gleichgültig für die
Toten. Borcherts Wahrheit ist, dass beide Schlachten, die gewonnene und die verlorene,
Gemetzel waren. Borchert wurde als ein Dichter ausgewiesen, der unvergesslich macht, was
die Geschichte so gern vergisst: die Reibung, die der Einzelne zu ertragen hat, indem er
Geschichte macht und sie erlebt. Ein Strich über eine Generalstabkarte, das ist ein
marschierendes Regiment; eine Stecknadel mit rotem, grünem, blauem oder glebem Kopf ist
eine kämpfende Division. Elf Gefallene: Männer und Brüder, Söhne, Vätter und Gatten – die
Geschichte geht achselzuckend darüber hinweg. Ein Name in den Büchern, „Stalingrad“ oder
„Versorgungskrise“ – Wörter, hinter denen die Einzelnen verschwinden. Sie ruhen nur im
Gedächtnis Wolfgang Borcherts, der nicht gelassen sein konnte.56
Der Kasernenhofdrill, die Primitivität der Vorgesetzten, die Uniformität der Kameraden und
die Erniedrigungen der Ausbildung versetzen Borchert in ohnmächtige Wut. Postkarten und
melancholische Briefe an Freunde zu Hause zeigen, wie dieser Jüngling, den man als lockeren
Vogel zu bezeichnen bereit war, sich entpuppt als der Mann des Protestes und rücksichtsloser
Wahrhaftigkeit. Der Narr wird zum Neinsager. Es scheint ein Bruch zu sein zwischen dem
fröhlichen, optimistischen Jungen und dem Schreiber der finsteren Geschichten, dem Jasager
und dem Neinsager, und Borchert war sich der Zwieschaffenheit seines Wesens sehr wohl
bewusst. Das auffälligste Beispiel einer ins Bild gebrachten Persönlichkeitsspaltung ist das
Gegeneinander zwischen Beckmann und dem Jasager im Schauspiel Draußen vor der Tür.57
56 vgl. hierzu: Böll, 1956. Aus: Nachwort von Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen 57 vgl. hierzu: Rühmkorf, 1961, S. 51, 52, 124
33
4.4. Generation ohne Abschied
Wolfgang Borchert gehörte einer Generation an, die durch den Zeitpunkt ihrer Geburt doppelt
mit den Auswirkungen von Krieg konfrontiert wurde: Die Auswirkungen des Ersten
Weltkrieges waren noch deutlich spürbar. In fast jeder Familie gab es gefallene oder
kriegsversehrte Söhne und Väter. Die Weimarer Republik, 1919 aus den Wahlen zur
Nationalversammlung entstanden, bot der Bevölkerung keine genügende Orientierung. Sie
wurde schließlich von der Hitlerdiktatur überrannt und 1933, im Jahr der Machtübernahme
Hitlers, wurde jeder Mann aus Borcherts Generation zu Hitlers Soldaten.58
Er zählte sich zur Generation ohne Abschied: Wir sind die Generation ohne Bindung und
ohne Tiefe. Unsere Tiefe ist Abgrund. Wir sind die Generation ohne Glück, ohne Heimat und
ohne Abschied.59
Borchert war nur einer aus der grauen Masse der Kriegsheimkehrer, aber er war der erste, der
über die Gruppenerfahrung sprach. Mit seiner erbarmungslosen Enthüllung der Kriegsfolgen
fand er Sympathien bei seiner ganzen Generation, die sich besonders mit Beckmann
identifizierte, dem Protagonisten seines einzigen Dramas, Draußen vor der Tür. Die
Generation ohne Abschied beschrieb er gründlicher in seiner gleichnamigen Kurzgeschichte,
außerdem werden ihre Eigenschaften und gemeinsame Schicksale dieser verlorenen und
verratenen Generation auch in anderen Kurzgeschichten und Skizzen erwähnt.
Borchert hatte die Hoffnungslosigkeit besungen – und war doch für einige Zeit die einzige
ernst zu nehmende Hoffnung der jungen Literatur. Ein Frühverstorbener – und gerade an ihn
klammerte sich die Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Der Jüngling war der erste seiner
Generation, der seine eigenen Erfahrungen an einem allgemeinen Thema demonstrierte.
Borchert hat von einer tragisch-schmerzlichen Gruppenerfahrung gesprochen, dem Schicksal
der „verratenen Generation“. Und gerade dass er die Jugend von allen Vorwürfen ausnahm
und von aller Schuld entlastete, gab der potentiellen Popularität die fruchtbarste Vorgabe – zu
einer Zeit, als Schuld, Unschuld, Kollektivschuld die Kernthemen des täglichen Disputs
waren.60
58 vgl. hierzu: http://think-of-me.de/Biographie/Wolfgang_Borchert.htm, 2008 59 Borchert, 1949, S. 59 60 vgl. hierzu: Rühmkorf, 1967, Nachwort von Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlaß
34
Alle Ankunft gehört uns, [...] sie gehört dieser enttäuschten, verratenen Generation – gleich,
ob es sich um Amerikaner, Franzosen oder Deutsche handelt. [...] die Generation unserer
Väter hat uns zwar blind in diesen Krieg gehen lassen, aber nun wissen wir Sehend-
gewordenen, daß nur noch eine Ankunft zu neuen Ufern uns retten kann, mutiger gesagt:
Diese Hoffnung gehört uns ganz allein! [...] Die Indolenten [...] ließen es zu, daß wir, ihre
Söhne, in die Hölle hineinstolzierten, und keiner von ihnen sagte uns: Ihr geht in die Hölle!
Es hieß: Mach's gut! und: für's Vaterland!61
4.4.1. Das Drama Draußen vor der Tür
Das Schauspiel Draußen vor der Tür schrieb Borchert innerhalb von acht Tagen im Januar
1947. Das Stück wurde am 13. Februar 1947 zum ersten Mal vom Nordwestdeutschen
Rundfunk als Hörspiel gesendet und einen Tag nach Borcherts Tod als Bühnenstück am 21.
November 1947 in den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt. Das Buch wurde in viele
Sprachen übersetzt.62
Draußen vor der Tür ist ein Stationendrama. Im Stationendrama ist der Held, dessen
Entwicklung es schildert, von Gestalten, die er an den Stationen seines Weges antrifft,
deutlich abgehoben. Sie erscheinen, indem sie nur in seinem Zusammentreffen mit ihnen
auftreten, in seiner Perspektive und so auf ihn bezogen. Die Einheit der Handlung wird durch
die Einheit des Ichs ersetzt. Die einzelnen Szenen stehen in keinem kausalen Bezug, bringen
einander nicht, wie im Drama, selber hervor. Vielmehr erscheinen sie als isolierte Steine. In
der Szene des Stationendramas entsteht keine Wechselbeziehung, der Held trifft zwar auf
Menschen, aber sie bleiben ihm fremd. Der Zusammenhang des Stationendramas Draußen
vor der Tür wird nur durch die Gestalt Beckmanns gewährleistet. Beckmann wird in den
Zusammenhang der damaligen Zeit gestellt, verdeutlicht am Beispiel, dass der einzelne
Mensch nichts zähle. Es ist ein Drama der offenen Form, in dem es neben der Hauptfigur
weder einen Gegenspieler noch eine Gegenaktion gibt. Beckmanns Verhaltensweise bestimmt
das szenische Geschehen, das durch seinen Gang von Tür zu Tür gegliedert erscheint.63
61 http://www.utexas.edu/courses/swaffar/distance/chron.htm, 2008 62 vgl. hierzu: http://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Borchert, 2008 63 vgl. hierzu: http://www.raffiniert.ch/sborchert.html, 2008
35
4.4.1.1. Geschichte
Das Drama Draußen vor der Tür spielt im Hamburg der unmittelbaren Nachkriegszeit,
Anfang 1946. Ein Mann namens Beckmann kommt mit nur einer Kniescheibe, humpelnd und
frierend aus der Kriegsgefangenschaft aus Sibirien nach Hause zurück. In der Vorrede wird
ein Mann angekündigt, der sich innerlich und äußerlich verändert und eine vollkommen
veränderte Heimat wiederfindet. Sein Aussehen und seine scheinbar aussichtslose Situation
sind nur ein Beispiel für unzählige Kriegsheimkehrer, die im Krieg ihr Zuhause verloren
haben und bei ihrer Heimkehr von der Front in die Heimat trotzdem draußen bleiben. Er ist
einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil
für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür.64
Das Drama beginnt mit einem »Vorspiel« und einem »Traum«.
Im Vorspiel lernen wir den Tod als einen übersättigten Beerdigungsunternehmer kennen und
die Zeit der Handlung wird als eine mörderische bezeichnet: Wie die Fliegen kleben die Toten
an den Wänden dieses Jahrhunderts.65
Der Tod beobachtet einen Mann im Soldatenmantel, der gerade in die Elbe springt. Die
Tatsache, dass das Leben weitergeht, dass kein Loch in der Welt entsteht, wenn ein Mensch
stirbt, wird deutlich gemacht: Ein Mensch stirbt. Und? Nichts weiter.66
Der Tod unterhält sich mit einem weinenden alten Mann, der die Menschen, seine „Kinder“
beklagt. Er ist der Gott, an den keiner mehr glaubt, und er kann nur noch bitter auf die Welt
schauen und Tränen über das Geschehen vergießen, den er hat seinen Platz dem Tod
abgetreten: Sie erschießen sich. Sie hängen sich auf. Sie ersaufen sich. Sie ermorden sich,
heute hundert, morgen hunderttausend. Und ich, ich kann es nicht ändern. [...] Du hast es
gut! Du bist der neue Gott. An Dich glauben sie. Dich lieben sie. Dich fürchten sie. Du bist
unumstößlich. Dich kann keiner leugnen! [...] An Dir kommt keiner vorbei.67
In einer Zwischenszene Traum springt Beckmann in die Elbe, um seinem Leben ein Ende zu
setzen, doch die Elbe wirft ihn bei Blankenese wieder ans Ufer. Die drei Gründe, die ihm das
Dasein unerträglich machen, sind seine Beinverletzung, der Hunger und die Abwendung
seiner Frau. 64 Borchert, 1949, S. 102 65 ebenda, S. 105 66 ebenda, S. 103 67 ebenda, S. 105
36
Die erste Szene handelt von der Identifikation des Helden mit Soldatentum, Stalingrad,
Verwundung und Selbstmordversuch.
Der Dialog in der ersten Szene zwischen Beckmann und dem Anderen zeigt, dass Beckmann
eine negative und der Andere eine positive Orientierung besitzt. Beckmann ist der
»Neinsager«, sein Gegenspieler »Der Andere« dagegen: Der Andere von Immer. Der Jasager.
Der Antworter. [...] Du wirst mich nicht los. [...] Und der Ja sagt, wenn du Nein sagst...68
Er hält ihn immer wieder davon ab, in die Elbe zu gehen und erweckt immer wieder neue
Hoffnung. Am Ende der Szene erscheint ein Mädchen, das ihn mit nach Hause nimmt und
dem Kriegskrüppel ein neues Zuhause bietet.
Mit Beginn der zweiten Szene scheint für Beckmann ein Weg aus der aussichtslosen Situation
gefunden zu sein, denn das Mädchen kümmert sich um Beckmann wie eine Mutter. Ein Mann
tritt geisterhaft auf, einbeinig, auf Krücken. Beckmann trägt die Schuld an der Verwundung
des Einbeinigen, dem er befohlen hatte, seinen Posten unbedingt bis zuletzt zu halten. Er war
im Kriegseinsatz als Unteroffizier der Vorgesetzte des Einbeinigen und fühlt sich an dessen
Verletzung mitschuldig.
Beckmann flüchtet. Nun versucht der Andere ihn zu überreden, zu seinem vormaligen Oberst
zu gehen und ihm die Verantwortung wieder zurückzugeben.
In der 3. Szene trifft Beckmann auf den Oberst, dem er seine Verantwortung, die Toten, die er
auf dem Gewissen hat, zurückgeben will. Nur so glaubt er, die Schuldgefühle loswerden zu
können, die ihn nicht mehr schlafen lassen. Dessen Frau und Tochter grauen sich vor
Beckmann, der Schwiegersohn nimmt ihn nicht ganz ernst. Diese Reaktion zeigt wieder
einmal, dass die Menschen mit dem Krieg und den Heimkehrern nichts zu tun haben wollen.
Beckmann erzählt seinen Traum vom General, der blutschwitzend eine Todessymphonie auf
einem Knochenxylophon spielt. Beckmanns Traum bildet eine Anklage gegen den Krieg. Der
Oberst empfindet für die Vergangenheit nicht einmal Schuld und Verantwortung, er findet ihn
komisch und rät ihm in den Zirkus zu gehen. Der Oberst wendet die gleiche Technik an, um
die Vergangenheit zu vergessen.
Die Anklage verkehrt sich zu Zynismus: Es lebe das Gelächter über die Toten. Ich geh zum
Zirkus, die Leute lachen sich kaputt, wenn es recht grausig hergeht, mit Blut und vielen
Toten.69
68 Borchert, 1949, S. 108, 109 69 eben da, S. 129
37
In der 4. Szene sucht der Direktor eines Kabaretts eine Jugend, die zu allen Problemen aktiv
Stellung nimmt und den dunklen Seiten des Lebens gefasst ins Auge sieht, unsentimental,
objektiv, überlegen.70
Er will einen Aufschrei auf der Bühne sehen, aber vom Krieg will er nichts mehr wissen. Er
klammert sich an das »dickste Zivilleben«. Die Feigheit des Direktors zeigt sich auch in
seiner Erwartung von berühmten Namen und großen Geistern, weil ein unbekannter Soldat
mit unbeliebter Wahrheit seinen Ruin bedeuten könnte. Er weist ihn zurück, weil doch
niemand mehr was von der Wahrheit wissen will. Auch er verdrängte die Verantwortung für
die Heimkehrer und die Kriegsopfer, denn er hätte schliesslich keinen nach Sibirien geschickt.
Am Schluss der Szene empfiehlt der "Andere" Beckmann, nach Hause zu gehen.
Beckmanns Heim existiert nicht mehr, denn ein fremder Name steht an der Tür: "Kramer".
Frau Kramer erzählt ihm zynisch und teilnahmslos, dass sich die alten Beckmanns getötet
haben. Beckmann reiht die toten Eltern in die Liste der unschuldigen Opfer des Krieges und
steht nun wieder "draußen vor der Tür".
Er verfällt in eine Art Wachtraum, in welchem er noch einmal mit allen erlittenen
Enttäuschungen konfrontiert wird. Der „Andere“ mahnt ihn, dass seine Strasse auf ihn warte
und dass die Menschen doch gut seien. Auch der Tod zeigt sich wieder, diesmal als
Straßenfeger und weist auf einen immer bestehenden Ausweg hin, weil seine Tür immer offen
steht. In der Begegnung mit dem Oberst, dem Direktor, Frau Kramer und seiner Frau
verurteilt Beckmann alle als Mörder.
Am Schluss der Szene kommt auch das Mädchen, aber der Einbeinige beschuldigt Beckmann,
er hätte einen Mord begangen. Doch auch Beckmann ist ein schuldiges Opfer: Wir werden
jeden Tag ermordet und jeden Tag begehen wir einen Mord.71
Am Ende ist Beckmanns Lage aussichtslos, er hat keine Hoffnung mehr und kann keinen Sinn
mehr im Leben sehen. So ist der Zustand völliger Hoffnungslosigkeit erreicht. Kein Ausweg
ist mehr offen. So sieht er auch den „Anderen“, den ewigen Jasager, nicht mehr. Auch Gott
redet nicht.
Eine Lösung scheint Beckmann nicht zu finden und das Spiel endet mit vielfach wiederholten
Fragen, mit dem Flehen und dem Schrei nach Antwort, der am Ende unbeantwortet bleibt72:
70 Borchert, 1949, S. 130 71 ebenda S. 162 72 vgl. hierzu: http://www.raffiniert.ch/sborchert.html, 2008
38
Gibt denn keiner Antwort?
Gibt keiner Antwort?
Gibt denn keiner, keiner Antwort? 73
4.4.1.2. Interpretation
Beckmann, der Hinkemann des Zweiten Weltkrieges, fragt sich durch die fünf Akte, ohne
dass ihm eine Hoffnung, eine haltbare Antwort gegeben wird. Eher ein Antiheld, kein
Handelnder, sondern ein Fragender, keine Persönlichkeit und kaum eine Person, schien er alle
Anlage für den Heimkehrer-Jedermann des Jahres 1947 zu besitzen. Zwar erscheint er zuerst
grau und gesichtslos, als die Verkörperung eines Millionentypus, als Teilhaber an der
kollektiven Misere – aber gerade er erweckt am Ende die Sympathien. Er ist, und er allein, der
Tiefbetroffene, der nicht vergessen kann und seine Skrupel durch eine Welt von flacher
Gleichgültigkeit trägt; der seine Stigmen zeigt, wo man sie nicht sehen will; der vorgibt, eine
feste Stätte zu suchen, aber nicht daran denkt, sich einzufügen. Er wird zum Sinnbild des
herumvagabundierenden schlechten Gewissens, der Klage, aber auch der Anklage einer
bürgerlichen Welt, die ihre Ordnung bereits wieder gefunden hat: im verschnittenen
Mittelmaß und in der feigen Absicherung.74
Ausgangs- und Schlusssituation stimmen überein, nur die Verzweiflung ist gesteigert; denn
Beckmann, der am Schluss des Dramas wieder wie am Anfang »draußen vor der Tür« steht,
ist nun um die Erkenntnis der Unaufhebbarkeit seiner Lage reicher. Die traumhaft erlebte
Selbstmordsituation am Ende der 5. Szene zeigt ein viel endgültigeres Scheitern als es ohne
den gegebenen Ausgangspunkt möglich wäre. Traumhaft erlebter Tod am Anfang und am
Ende des Dramas bilden so den Rahmen für eine Art Binnenhandlung, in der Beckmann
vergeblich versucht, den Anschluss an ein ertragbares Leben zu finden. Es handelt sich um
immer wiederholte Versuche, zu leben, die alle scheitern. Er versucht immer wieder, einen
neuen Sinn zu finden, aber dabei kann ihm keiner helfen. Der Oberst kann ihm nicht helfen,
weil er nichts versteht, der Kabarettdirektor nicht, weil er zu feige, und Frau Kramer nicht,
weil sie zu gedankenlos ist. So sind vier Versuche Beckmanns, seine Position «draußen vor
der Tür« aufzuheben, aneinandergefügt; nur die Tür des Todes ist ihm offen. Dabei wird in
73 Borchert, 1949, S. 165 74 vgl. hierzu: Rühmkorf, 1961, S. 134, 135
39
dem wiederholten Scheitern eine Steigerung gesehen. Die Figuren, zu denen Beckmann in
Beziehung tritt, haben alle das eine gemeinsam, dass sie ihm nicht zu helfen vermögen,
sondern – ohne es zu beabsichtigen – noch tiefer in die Verzweiflung stürzen. Dabei ist ihre
Eigenwertigkeit gering; sie sind in erster Linie zur Verdeutlichung der Situation Beckmanns
da, zeigen seine Umwelt. Auch ihr Auftreten ist von Beckmann abhängig. Der Oberst, der
Kabarettdirektor, Frau Kramer und die Elbe sind Figuren, die im Gegensatz zu Beckmann ein
Zuhause haben und in ihrer Existenz nicht bedroht sind. Der Oberst hat Familie und alle
Annehmlichkeiten des Zivillebens unmittelbar nach dem Krieg, so wie er den Krieg auch
nicht von der härtesten Seite kennenlernen musste. So ist er völlig gesund und lebt noch ganz
nach den Prinzipien und soldatischen Idealen, die einmal Gültigkeit hatten. Auch der
Kabarettdirektor hat den Krieg bereits weit hinter sich gelassen und genießt das „dickste
Zivilleben“, so dass es ihm gar nicht mehr vorstellbar ist, wie jemand noch Mangel leiden
kann. Von seiner gesicherten Position aus fällt es ihm leicht, mutige Forderungen nach einer
nüchternen, revolutionären Jugend zu stellen.75
4.4.1.3. Rezeption
Draußen vor der Tür erwies sich für Borchert als der endgültige Durchbruch. Eine gequälte,
betrogene Jugend schrie auf, eine Jugend, deren auf Lügen gebauter Glaube eingestürzt war
und die nun, ratlos und im Stich gelassen, ins düstere kalte Nichts ausgestoßen schien. In
diesem Stück verdichten sich die Stimmen von Millionen, von Toten und Lebenden, von
vorgestern, gestern, heute und morgen, zur Anklage und Mahnung. Das Leid dieser Millionen
wird Schrei. Das ist Borcherts Stück: Schrei! Dieser Schrei ist nicht überhört worden.76
Einer aus Borcherts Generation antwortete in einem Brief:
Wir, Deine gleichaltrigen Kameraden, die jungen Unteroffiziere von Stalingrad [...], wir
haben dich gehört und – verstanden! Und nachdem wir dieses Erlebnis nun tagelang mit uns
herumgetragen [...] haben, weil wir uns im Tiefsten und Allerpersönlichsten angesprochen
sehen, haben wir nun begonnen [...] darüber zu diskutieren. [...] Einer aus unseren eigenen
Reihen hat als erster den Mut gefunden zu sprechen. [...] Wir alle, die wir immer noch in
umgefärbten Militärklamotten herumlaufen, Gasmaskenbrillen tragen, Trümmer räumen [...],
75 vgl. hierzu: Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 13, 19, 20 76 Meyer-Marwitz, 1957, S. 340, 341
40
die wir tagtäglich morden und ermordet werden, an deren Betten nachts die toten Kameraden
hocken und uns mit dem Blick ihrer erloschenen Augen quälen, die wir überall im Wege sind
und beiseite stehen, wir haben einmal unsere eigene Stimme gehört, die einer von uns ins
Worte geformt hat. [...] Und darum lass Dich bitten: Wenn Dich keiner hören will, kein
Theater Deine Stücke spielt und kein Theaterbesucher Beifall klatscht, lass Dich auf Deinem
einmal bestrittenen Weg nicht beirren, schreibe für uns, für Deine Kameraden, schreibe für
die Tausende von »Beckmanns«, für die Einsamen und Verlassenen, für die in keine Heimat
Heimgekehrten, für die Verzweifelnden und sich überflüssig Glaubenden, für alle, die
draußen vor der Tür stehen, und lass nicht nach und schreibe, dass Dir die Finger bluten!77
Der Abend der Uraufführung war mehr als eine Premiere, war ein Requiem für eine verlorene
Jugend in einem zerschlagenen Lande. Die Jugend, deren Qual Borchert hinausschrie, diese
Jugend fühlte, was ihr der Tod in dem Sechsundzwanzigjährigen geraubt hatte.
Die Trauer wird besonders aus den vielen Briefen deutlich, die an die Mutter des Dichters
geschickt wurden:
Es scheint, als ob man unserer Generation nichts ersparen will. Mit seinem Tode ist die Leere
um uns noch endloser geworden. Der winzige Streifen Licht, der einen Augenblick lang das
Dunkel zerriß – erloschen. Es ist wieder Nacht. Tiefere Nacht als zuvor... [...] Vater und
Mutter habe ich verloren. Es war Krieg. Und ich war Soldat. Als ich zurückkam, waren sie
tot. Begraben von fremden Menschen. Ich habe nicht geweint. Ich habe es nicht einmal als
Schmerz empfunden. Es war eben so. Alles war tot, zertrümmert, heimatlos. Wir hatten zuviel
gelitten, um noch Schmerz zu empfinden. Wir – die Generation ohne Abschied. [...] Mit diesen
Worten ist mir Wolfgang Borchert zum Bruder geworden. [...] ...ich kann das alles nicht mehr
alleine tragen. Ich muß mit einem Menschen sprechen. Mit einem Menschen, der verlor, was
ich verlor. [...] Für mich genügte, dass ich in ihm lesen durfte. Dass ich plötzlich erschrak
und wusste – Du bist nicht allein. Da ist ein Mensch. Ein Mensch, der spricht wie du. Der
denkt wie du. Der leidet wie du. [...] Das hat mir Kraft gegeben. [...] Ich war nicht
sentimental. Unsere Generation ist zu hart angepackt worden, um es zu sein. Wir haben
gelernt, Abschied zu nehmen. Von allem und immer. Wir weinen nicht, wenn das Schicksal
uns schlägt. Wir haben nie geweint. Auch als Kinder nicht. Wir waren nie Kinder. Wir sind
die Jugend ohne Jugend. Wir fluchen, wir schreien, wir verbluten uns nach innen. Aber wir
77 Meyer-Marwitz, 1957, S. 342
41
weinen nicht. Niemand hat uns je weinen sehen. Niemand. Aber wir sind eine arme
Generation. Wir kennen nicht mal mehr Tränen...78
Diese Jugend, diese »Generation ohne Abschied«, von der viele damals wie Beckmänner
»draußen« standen, ohne Heimat, ohne Habe, war nicht nur enttäuscht, ratlos, unwillig,
stumpf, taub, gleichgültig – sie wollte noch etwas, sie besaß noch
Verantwortungsbewusstsein, sie war dem Leben noch nicht verloren. Es bedurfte nur eines
Anrufes, der stark und echt genug war, um in diesen jungen Menschen das lähmende
Schweigen aufzubrechen, in dem sie zu verzweifeln drohten. Borchert gab dieser Jugend ihre
Stimme zurück, er fand sich mit ihr im gemeinsamen Schicksal und half ihr, diesem Schicksal
zu begegnen.79
4.4.2. Die Kurzgeschichten
Das Thema der verlorenen Generation wird in vielen Kurzgeschichten Borcherts behandelt,
jedoch in jeder ein anderer Aspekt, aus einer anderen Perspektive.
4.4.2.1. Allgemeines
• Die Skizze Die Krähen fliegen abends nach Hause nimmt ein Einsamkeitsmotiv auf.
Die Krähen haben Heimat, aber die beiden Menschen, die in die ungewisse
Hamburger Hafennacht hineinlungern, haben keine.80
• Die Kurzgeschichte Stimmen sind da in der Luft – in der Nacht behandelt das Thema
der Geister von toten Soldaten, die den Lebendigen nicht schlafen lassen. Dieses
Motiv wird im Drama Draußen vor der Tür erneut aufgenommen, als die elf toten
Soldaten Beckmann nachts nicht schlafen lassen und er mit Schreien aufwacht.
78 Meyer-Marwitz, 1957, S. 334, 335 79 vgl. hierzu: ebenda, S. 343 80 vgl. hierzu: Gumtau, 1969, S. 88
42
• Im Gespräch über den Dächern spricht Borchert schon davon, sie seien heimatlos und
verloren. Und er erkennt: Und wir Ungläubigen, wir Belogenen, Getretenen, Ratlosen
und Aufgegebenen, wir von Gott und dem Guten und der Liebe Enttäuschten [...] Wir
leben ohne Gott [...] Ohne Ja. Ohne Heimat [...] Wir rufen, wir flehen, wir brüllen
nach morgen. Und keiner gibt uns Antwort.81 Das Verlangen nach der Antwort
wiederholt sich in Draußen vor der Tür, aber hier wird ein bißchen Hoffnung an die
Zukunft in die Welt gesetzt: Sind wir selbst die Antwort?82
• In dem kurzen Manifest Generation ohne Abschied sieht Borchert sich und seine
Altersgenossen verloren: Wir begegnen uns auf der Welt und sind Mensch mit Mensch
- und dann stehlen wir uns davon, denn wir sind ohne Bindung, ohne Bleiben und
ohne Abschied. Wir sind eine Generation ohne Abschied, die sich davonstiehlt wie
Diebe, weil sie Angst hat vor dem Schrei ihres Herzens. Wir sind eine Generation
ohne Heimkehr, denn wir haben nichts, zu dem wir heimkehren könnten, und wir
haben keinen, bei dem unser Herz aufgehoben wäre - so sind wir eine Generation
ohne Abschied geworden und ohne Heimkehr.83 Doch am Schluss gibt Borchert
seinem Lebenswillen Ausdruck. Er hofft auf ein neues Lieben, ein neues Lachen,
einen neuen Gott und erklärt, dass alle Ankunft ihnen gehört.
• Borcherts letzte geschriebenen Worte in der Schweiz waren das Manifest: Dann gibt
es nur eins! Darin fordert er Forscher, Dichter, Ärzte, Pfarrer und viele andere auf,
nein zu sagen, falls ihnen wieder zugemutet würde, irgendeine kriegsvorbereitende
Tätigkeit auszuüben. Fünfzehnmal lesen wir die Mahnung „Sag NEIN!“, am
eindringlichsten an die Mütter. Dann folgt eine bildhaft harte Version dessen, was
geschehen wird, wenn sie nicht nein sagen.84
• In dem Nachlaßtext Das ist unser Manifest (1947) klagt Borchert über eine Erziehung,
die vor 1914 die Väter und später die Söhne für den Krieg vorbereitete. Er hat aus der
Not, gehetzt schreiben und Jargon mit Dichtung verbinden zu müssen, eine Tugend
seiner Generation gemacht: laut und deutlich und ohne Konjunktiv die Wahrheit zu
sagen. Borchert wendet sich gegen den Missbrauch einer Dichtung, die zum 81 Borchert, 1949, S. 54, 55 82 ebenda, S. 57 83 ebenda, S. 60 84 vgl. hierzu: Gumtau, 1969, S. 89, 90
43
Heldenkult wurde, und verwirft trügende Sentimentalitäten85: Zu guter Grammatik
fehlt uns Geduld. [...] Wer schreibt für uns eine neue Harmonielehre? Wir brauchen
keine wohltemperierten Klaviere mehr. Wir selbst sind zuviel Dissonanz.86
In diesem Manifest brechen alle Gegensätze in Borchert auf, aber im Chaos nach der
zweiten Stunde Null sieht er die Zukunft hinein: Denn wir sind Neinsager. Aber wir
sagen nicht nein aus Verzweiflung. Unser Nein ist Protest ... wir müssen in das Nichts
hinein wieder ein Ja bauen. [...] Wir wollen in dieser wahn-witzigen Welt noch wieder,
immer wieder lieben!87
4.4.2.2. Interpretation ausgewählter Kurzgeschichten
Obwohl Borcherts Schicksal grausam war, vermag er in seinen zahlreichen Kurzgeschichten
Hoffnung und Zuversicht auf eine bessere Zukunft zu vermitteln. In vielen Kurzgeschichten
wird die Hoffnung direkt ausgedrückt, so z.B. im Text Generation ohne Abschied. Aber in
vielen Kurzgeschichten ist der Optimismus ausgedrückt. Mit verschiedenen Mitteln gelang es
Borchert, in anscheinend größter Verzweiflung zwischen den Zeilen doch noch Hoffnung zu
zeigen. Das zeigen vor allem seine Kurzgeschichte Nachts schlafen die Ratten doch, die
unmittelbar im Krieg spielt, und die Geschichte Das Brot, die die Nachkriegsrealität
widerspiegelt.
Nachts schlafen die Ratten doch
Am Anfang der Geschichte erlebt der Leser eine triste Atmosphäre, die besonders durch die
blaurote Farbe und die Dunkelheit betont wird: Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer
gähnte blaurot voll früher Abendsonne.88
Der kleine Junge erlebt seine Umwelt als Bedrohung. Er ist so verängstigt, dass er den alten
Mann nicht mal ansehen kann, er erkennt nur seine krummen Beine. Zur Abwehr hält er sich
noch an seinem Stock fest. Alle Bemühungen des alten Mannes, etwas über den Jungen zu
Erfahren, sind vergeblich, denn das Kind hat durch seine Erfahrung im Krieg kein Vertrauen
85 vgl. hierzu: Gumtau, 1969, S. 83, 84 86 Borchert, 1949, S. 310 87 ebenda, S. 315 88 ebenda, S. 216
44
zu der Welt der Erwachsenen. Aber der Mann erweist sich als guter Pädagoge, denn er weiß,
wie er den Knaben aus der Reserve locken kann – er lässt den Jungen klug erscheinen: Pah,
kann mir denken, was in dem Korb ist, meinte Jürgen geringschätzig, Kaninchenfutter.89
Er stellt ihm noch eine mathematische Aufgabe, die dem Jungen Selbstvertrauen einflößt.
Kinder spielen gern mit kleinen Kaninchen, daher weiß der Mann, dass das Erwähnen der
siebenundzwanzig Kaninchen das Kind aus seiner Starre lösen könnte. Und in der Tat reagiert
das Kind das erste Mal völlig kindergemäß: er macht vor Staunen einen runden Mund. Die
Vorstellung, ein eigenes Kaninchen zu bekommen, lässt ihn Vertrauen zu dem Alten fassen,
und endlich erzählt er ihm, worauf er aufpasst.
Die Geschichte des kleinen Jungen ist in den meisten Geschichten Borcherts an Grausamkeit
und tiefster Erschütterung nicht zu überbieten. Doch durch eine Lüge, ob ihnen der Lehrer
nicht gesagt hätte, dass die Ratten nachts schlafen, vermag der alte Mann das übermüdete
Kind aufzurichten, es hat wieder Vertrauen zu der Welt der Erwachsenen. Das wird deutlich
an seiner Körperhaltung: zuerst hockt er am Boden, dann richtet er sich auf. Zuerst antwortete
er zögernd auf die Fragen, aber jetzt ist er voller Elan und macht schon Pläne für die Zukunft
mit seinem Kaninchen.
Dieser Junge erlebt, dass es Freude und Freundlichkeit trotz der Grausamkeit des Kriegs gibt.
Auch die Atmosphäre ist deutlich anders, als die Geschichte ausklingt. Am Anfang war das
Licht violett, kalt, aber jetzt hat die Abendsonne ihre warme rote Farbe. Am Anfang wird die
Umwelt statisch beschrieben, aber am Ende herrscht Dynamik, der Junge sieht voller
Hoffnung und Erwartung dem alten Mann nach.
Das Brot
Diese Kurzgeschichte zeigt dagegen ein Nachkriegsthema, nämlich den Mangel und den
Hunger, die gleich nach dem Ende des Kriegs herrschten.
Am Anfang lernen wir ein eigentlich harmonisch lebendes Ehepaar kennen. Die Harmonie
zeigt sich dadurch, dass die Frau nur durch das Fehlen seines Atems aufgewacht ist.
Die Sätze sind kurz und abgeschnitten und zeigen die bevorstehende Spannung. In der Küche
entdeckt die Frau den heimlichen Diebstahl ihres Mannes, doch beide lügen, damit sie nicht
die Wahrheit auszusprechen brauchen: Ich dachte, hier wär was [...] – Ich habe auch was
89 Borchert, 1949, S. 217
45
gehört.90. Die Entfremdung zeigt sich durch ihre Sprachlosigkeit, denn sie wiederholen nur
die Sätze des Anderen.
Im Bett stellt sich die Frau schlafend, um ihn nicht bloßzustellen. Es wird deutlich, dass sie
nicht mehr verärgert ist, weil sie bei seinem regelmässigem Kauen sogar einschlafen kann.
Die Lösung des Konflikts zeigt sich am nächsten Tag durch den Verzicht der Frau, sie könnte
dieses Brot nicht so recht vertragen. Am Ende der Geschichte sind auch die Sätze länger, also
zeigt schon die Struktur die wieder aufgebaute Harmonie in der Ehe. Zuerst ging die Frau
noch von der Lampe weg, aber am Schluss setzt sie sich wieder unter das Licht, was auch ein
Beweis für die Einheit und Verständnis ist.
So zeigt Borchert Hoffnung und Liebe sogar in den schweren Zeiten der Nachkriegszeit.
5. VERLORENE GENERATION
Wir sind verlassen wie Kinder und erfahren wie alte Leute, wir sind roh und traurig und
oberflächlich – ich glaube, wir sind verloren.91
Wir stimmen darin überein, dass es jedem ähnlich geht; nicht nur uns hier; [...] Es ist das
gemeinsame Schicksal unserer Generation.92
Mit diesen Zitaten aus Im Westen nichts Neues wird die Stimmung der ersten Nachkriegszeit
aufgegriffen, die bei Remarque auch weiterhin vorherrschend bleiben sollte und ihn, der sich
einem „Orden der Verlorenen“ verbunden wusste, jener Reihe jüngerer Schriftsteller
zuordnet, für die Gertrude Stein Anfang der zwanziger Jahre in Paris die Bezeichnung „Lost
generation“ geprägt hat.93
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird als „verlorene Generation“ jene Generation genannt, deren
Geburtsjahrgang nach 1920 liegt und im Dritten Reich aufwuchs und nach 1945 oder um
1950 zu schreiben begann. Das war eine Generation, die geprägt war durch ihre Skrupel und
Verluste und deren Verhältnis zur Welt sich am ehesten in dem Verhältniswort „ohne“
ausdrücken ließ. Borchert hat diese Generation nicht nur beschrieben, er hat sie auch benannt:
„Generation ohne Abschied“, auch: „Generation ohne Ziel“, „ohne Bindung“, „ohne Tiefe“, 90 Borchert, 1949, S. 304 91 Remarque, 1929, S. 126 92 eben da, S. 91 93 vgl. hierzu: Baumer, 1976, S. 54, 55
46
„ohne Glück“, „ohne Heimat“, „ohne Gott“, „ohne Vergangenheit“, „ohne Ja“, „ohne
Jugend“. Aber wenn er auch solch allumfassendes Nein aussprach und den situationären
Nihilismus der ersten drei Nachkriegsjahre formulierte, so trug er doch seine Negation mit
einem so machtvollen Trotz, dass es seinem Bekenntnis zu sich selbst und einem Ja zur
eigenen Existenz glich: Die Strasse gehört uns.94
Nach dem Ersten Weltkrieg litt die Bevölkerung an Hunger und Not. Die heimkehrenden
Soldaten hatten aber ihre Häuser unzerstört gefunden, denn der Erste Weltkrieg spielte sich
nicht auf dem Gebiet ihrer Heimat ab. Für die Heimkehrer vom Zweiten Welktkrieg kamen
dazu auch Verluste an Wohnungen, denn diesmal traf der Krieg Deutschland selbst. Alles lag
in Trümmern.95
5.1. Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück bei Remarque
Bei Remarque werden als verlorene Generation die ehemaligen Gymnasiasten bezeichnet, die
auf Zureden ihrer Vorbilder freiwillig in den Krieg gezogen sind. Doch an der Front erkennen
sie, dass der Krieg sie endgültig von der Vergangenheit getrennt und alle Verbindungen an an
zukünftiges Leben unvorstellbar gemacht hat. Sie fühlen sich vollkommen verloren.
Schon im ersten Roman Im Westen nichts Neues werden die grundsätzlichen Probleme der
verlorenen Generation vorgestellt und im Roman Der Weg zurück weiter ausgearbeitet.
Die älteren Soldaten sind mit Früherem verbunden, sie haben Frauen, Kinder, Berufe und
Interessen, die schon so stark sind, dass der Krieg sie nicht zerreissen kann. Für sie ist der
Krieg nur eine Unterbrechung, sie haben Pläne für das Leben nach dem Krieg. Doch bei den
Zwanzigjährigen ist die Kraft der Eltern am schwächsten, die Mädchen sind noch nicht
beherrschend. Weit außerhalb der Schule reichte ihr Leben noch nicht. Und davon ist nichts
geblieben. [...] Wir waren noch nicht eingewurzelt. Der Krieg hat uns weggeschwemmt.96
Was anderes als den Krieg haben sie fast nicht erlebt. Und auf einmal ist der Krieg zu Ende,
94 vgl. hierzu: Rühmkorf, 1967, Nachwort von Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlaß 95 vgl. hierzu: Slezakova, 2007, S. 26, 27 96 Remarque, 1929, S. 26
47
als wäre er nie gewesen. Doch für die Heimkehrer ist das Leid noch lange nicht vorbei: Ich
glaube, wir sind krank, Georg. Wir haben den Krieg noch in den Knochen.97
Und sie sind sich bewusst, dass sie dort, an der Front, ihre Jugend liegen gelassen haben,
zusammen mit den verlorenen Jahren und Kameraden, die noch immer dort liegen. Und sie
erkennen langsam, dass sie diese Jahre nie wieder zurück bekommen werden.
Ernst Birkholz hängt im zweiten Roman Der Weg zurück noch immer sehr an seinen
Kameraden, und vielen geht es genauso, an der Front waren sie in den Gräben nur selten
allein, immer waren sie in der Gesellschaft von anderen Soldaten. Sie erkennen, dass sie noch
immer nie allein sein wollen. Doch langsam, Stück für Stück, zerfällt auch die Kameradschaft
selbst: Das Gemeinsame ist nicht mehr beherrschend. Es ist schon zerfallen in
Einzelinteressen. [...] Alles andere ist kaputtgegangen im Kriege, aber an die Kameradschaft
hatten wir geglaubt. Und jetzt sehen wir: Was der Tod nicht fertiggebracht hat, das gelingt
dem Leben: es trennt uns.98 Es wird deutlich gemacht, dass die sich Frontkameradschaft für
die zivile Nachkriegsgesellschaft als untauglich erweist.
Die Dynamik des Menschen, eine Gestalt herauszubilden, verliert sich mit der Zeit; durch die
Schließung einer offenen Gestalt oder eines durch historisch-gesellschaftliche Umstände
gehemmten, unerledigten Prozesses gewinnen auch die Erinnerungen an Stabilität. Historisch
bedingt können in den meisten Fällen weder Bäumer noch seine Kameraden in Im Westen
nichts Neues diese „Geschlossenheit“ erreichen. In Der Weg zurück muss der Soldat aus dem
Ersten Weltkrieg das Erlebnis als Ganzes beziehungsweise die ihm am wichtigsten
erscheinenden Einzelerlebnisse in diesem Sinne wenigstens zum Teil schließen, bevor er den
Weg zurück ins normale Leben überhaupt antreten kann. Einige Situationen, die als erlebte
Gestalt doch „geschlossen“ werden können, werden schon im ersten Roman dargestellt. Die
Racheszene an Himmelstoß ist ein Beispiel dafür, doch wird diese Szene im zweiten Roman
noch einmal bearbeitet. Im zweiten Roman will sich Ferdinand Kosole am ehemaligen
Feldwebel Seelig rächen; Seelig hatte dafür gesorgt, dass Kosoles Freund Schroeder nicht auf
Urlaub fahren konnte. Schroeder fiel bald darauf. Nach dem Krieg ist Seelig Wirt geworden,
und jetzt muss Kosole einsehen, dass er jetzt ein ganz anderer Mensch ist. Im Hinblick auf
seine Rachepläne bemerkt er, dass man in solchem Fall gar keine Lust mehr hat. Auch Seelig,
97 Remarque, 1929, S. 196 98 ebenda, S. 184
48
der sich offenbar nicht mehr an Schroeder erinnern kann, betont, wie lange das schon her sei:
Ist ja schon nicht mehr wahr.99
Schon im ersten Roman wird der Gedanke über eine Revolution geäußert, dann aber sind sie
matt geworden: Wären wir 1916 heimgekommen, wir hätten aus dem Schmerz und der Stärke
unserer Erlebnisse einen Sturm entfesselt. [...] Wenn wir jetzt zurückkehren, sind wir müde,
zerfallen, ausgebrannt, wurzellos und ohne Hoffnung. Wir werden uns nicht mehr
zurechtfinden können.“100 Breyer im zweiten Roman meint, sie hätten mit zu wenig Hass
Revolution gemacht. Die zurückkehrenden Soldaten waren nach Remarque offenbar niemals
in der Lage, eine Revolution zu machen.
Die beiden engsten Freunde von Birkholz begehen bald nach dieser pessimistischen
Diskussion Selbstmord. Rahe und Breyer sind die heimlichen Hauptfiguren des Romans, sie
vertreten verschiedene Lebenskonzepte: das derjenigen, die den Krieg noch im Blut haben
oder rückwärts gerichtet sind, und das derjenigen, die gelernt haben, dass es nur vorwärts
gehen kann.
5.2. Draußen vor der Tür und die Kurzgeschichten bei Borchert
Am Ende des Zweiten Weltkrieges waren große Teile Hamburgs, wie in den meisten anderen
deutschen Städten, zerstört. Viele Kriegsheimkehrer hatten nun weder eine Familie, noch eine
Unterkunft. Die jungen Männer hatten in ihrem Leben nichts anderes gelernt als Krieg zu
führen. Diese Generation glaubte einer guten Sache zu dienen und am Ende ihren gerechten
Lohn dafür zu bekommen. Stattdessen standen sie nun vor der Erkenntnis einer
verbrecherischen Idee geopfert worden zu sein. Wolfgang Borchert wollte dieser Generation
ihre Stimme zurückgeben und der Welt die Schattenseiten und Nachwirkungen des Krieges
vor Augen führen. Das Wort "draußen" hat für ihn zweierlei Bedeutung. Einerseits bedeutet
es Freiheit, da er selbst über ein Jahr in Gefangenschaft war und auf Grund seiner Krankheit
endgültig zum Liegen kam. Zum anderen aber weiß er genau wie gnadenlos der Mensch ihm
ausgeliefert sein kann.101
99 Remarque, 1931, S. 95 100 Remarque, 1929, S. 286 101 vgl. hierzu: http://www.gwbasic.at/topics/borchert.htm, 2008
49
Das Stück Draußen vor der Tür ist kein autobiographisches Werk des Heimkehrers Wolfgang
Borchert. Seine persönliche Situation nach dem Zusammenbruch Deutschlands war
wesentlich besser, als die seiner Schicksalsgenossen. Für viele begann zu dieser Zeit erst die
Tragödie von Flucht, Vertreibung oder Gefangenschaft. Borchert versucht mit Draußen vor
der Tür in der Figur des Beckmann die Millionen junger Soldaten, deren bisheriges Leben aus
fast ausschliesslich militärischen Drill, Angst, Leid und Verwundungen bestanden hat,
widerzuspiegeln. Wolfgang Borchert verurteilt in seinem Stück den Krieg und seine Folgen.
Er stellt Beckmann als Heimkehrer dar, der mit der Rückkehr in seine Heimat auf dem Weg
ist, den Anschluss an sein früheres "Ich", seine frühere Identität zu finden. Aber bei jeder Tür
wird er abgewiesen, denn die Menschen wollen mit dem Krieg und seinen Folgen nicht mehr
konfrontiert werden.102
Borchert hatte den Heimkehrer Beckmann aus dem Drama Draußen vor der Tür mit so viel
allgemein-verbindlichen Zügen ausgestattet, dass er von vielen als das eigene Ich erlebt
werden konnte. War er als Held des Stückes ein ausgemachter Antiheld, so entsprach das für
kurze Spanne Zeit dem Bild des deutschen Jedermann aus einer heldenmüden und
mythenskeptischen Generation. Zwar hatte Beckmann Lösungen nicht zur Hand, aber gerade
dass der Tiefverstörte auf jede Lösung eine Frage wusste, entsprach aufs Haar der Disposition
der deutschen Jugend.
Frisur und Gasmaskenbrille sind leitmotivisch auftretende Zeichen, die seine Verhaftetheit in
vergangenem, grauenhaftem Kriegserleben, seine Unfähigkeit, sich von den Kriegserlebnissen
zu befreien, symbolisch anzeigen. Dadurch wird die zwischen Beckmann und den Menschen
in seiner Umwelt liegende Distanz und damit seine Position als Außenstehender immer
wieder betont. Als das Mädchen Beckmanns Gasmaskenbrille abnimmt, löscht sie zugleich
seine Soldatenexistenz aus. Mit diesem Verlust der Existenz und ohne Aussicht auf eine neue
sieht Beckmann nichts mehr und fühlt sich hilflos und verloren. Der Kommentar zeigt die
Weigerung Beckmanns, mit dem Ablegen der alten Sachen die Vergangenheit auszulöschen.
Beckmanns äußere Verwandtschaft mit einer Vogelscheuche ist von der Erscheinung her
begreiflich. Aber auch das Innere des Menschen kann sich mit ihr vergleichen.103
Der Vergleich mit der Vogelscheuche könnte hier als ein Symbol für die Trostlosigkeit gelten,
die für die ganze verlorene Generation charakteristisch war.
102 vgl. hierzu: http://www.raffiniert.ch/sborchert.html, 2008 103 vgl. hierzu: Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 31, 32
50
Bei wachem Zustand oder im Traum, wenn er sich gegen die bedrängenden Erinnerungen
nicht wehren kann, finden sie in einem – keineswegs zufällig an die Expressionisten
erinnernden – Schrei unmittelbaren Ausdruck, von dem der Kabarettdirektor im Sinne einer
theoretischen Forderung an die junge Dichtergeneration spricht. Als jedoch Beckmann diese
Forderung in einem Lied erfüllt, rückt der Direktor feige ab. So bleibt Beckmann mit seinem
Aufschrei allein, weil niemand bereit ist, ihn zu hören, weder ein Mensch noch ein Gott. Aber
der Schrei bestimmt auch sein Leben. Seine Träume, die ehemalige Erlebnisse aufnehmen,
sind so schrecklich, dass er im Schlaf schreit und über diesen Schrei aufwacht.104
Trotz aller Trostlosigkeit in Borcherts Werk schickte der junge Dichter mit seinem Schrei
doch einen Funken Hoffnung in die Welt hinaus. In seinem Werk gibt es keine Verzweiflung,
sein Schrei fordert Leben und Hoffung nach ruhigem Schlaf für die verlorene Generation, die
nachts noch immer von den Toten verfolgt wird und droht, unter der Last der Verantwortung
und des Kriegs unterzugehen.
5.3. Vergleich der verlorenen Generation in den erwähnten Werken
Vielen von den Soldaten der „verlorenen Generation“ haben die Kriege ihre Jugend geraubt
und trotz ihres jungen Alters kehrten sie aus dem Krieg als alte Menschen zurück. Die
Erfahrungen der Heimkehrer waren meistens ähnlich. Der Krieg zerstörte in ihnen
moralisches Gefühl und die gründlichen ethischen Gesetze. Während der Kriegszeit handelten
sie gegen diese Gesetze und nach der Heimkehr waren sie auf den Irrewegen ihrer Existenz.
Sie haben zu Hause meist niemanden gefunden, der ihnen aus der moralischen Verzweiflung
hilft. Die Verwandten konnten die Heimkehrer nicht verstehen. Die Heimkerer verloren in
manchen Fällen auch ihre Frauen, denn sie lebten schon mit anderen Männern. Alle Türen
waren ihnen geschlossen. Die Heimkehrer hatten gemeinsame Erinnerungen, ihre toten
Kameraden verfolgten sie und nachts schreckten sie aus dem Schlaf. Das gemeisame Zeichen
war der Verlust. Die Soldaten verloren ihre Ideale, für die sie in den Krieg gegangen waren
und gekämpft hatten. Sie waren betrogen und fühlten sich missbraucht. Es war kein Krieg für
das Vaterland und die Ehre, sondern ein expansiver Krieg der Mächtigen. Und gerade die
104 vgl. hierzu: Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 32, 33
51
Heimat, für die sie gekämpft haben, ließ sie im Stich. Es wurde den Heimkehrenden keine
Hilfe und Unterstützung vom Staat gewährleistet.
Borchert und Remarque begrenzen ihre Position nicht auf den individuellen Erlebnisbereich,
beide wenden sich an die gesamte Generation, ihre Kameraden und Zeitgenossen, die sie als
eine „verratene Generation“ bezeichneten. So fühlte sich die ganze Generation unmittelbar
angesprochen und das gab die Grundlage der Popularität ihrer Werke. Hinzu kam, dass sie
Männer von drinnen waren und sich als solche empfanden. Sie spielten weder den Racheengel
noch den besserwissenden Lehrmeister und gaben der Klage den Vorrang vor der Anklage.
Borchert war eine Figur, die zur Identifikation herausforderte und in deren Zügen sich das
Selbstmitleid einer geschlagenen Generation spiegeln konnte. Remarque hatte auch an der
Front teilgenommen, er kannte die Zustände und die Stimmung der Heimkehrer. Er wollte nur
berichten, wie es in Wirklichkeit aussah. Beide konnten nicht schweigen, in Bezug af die
Lügen, die über den poetischen Heldentod von der gierigen Macht in die Welt ausgingen.
Remarque spricht durch seinen Protagonisten Paul Bäumer, einen deutschen Soldaten, doch
sein Schicksal konnte sich in den Erfahrungen von jedem Soldat im Ersten Weltkrieg
wiederspiegeln. Auch Borchert erschaffte Beckmann, eine graue Figur, einen aus der Masse,
der als stellvertretend für seine gemeinsame Generation sprechen sollte. An alle Protagonisten
der beiden Autore klammerte sich die Hoffnung einer ganzen Generation, sie identifizierte
sich so mit Bäumer, Birkholz und ihren Kameraden, wie mit Beckmann.
Beide Autoren waren sich einig, dass vieles anders gewesen wäre, wenn mehr Leute „nein“
gesagt hätten. Die Soldaten Im Roman Im Westen nichts Neues sprechen über den Besuch des
Kaisers: Eins möchte ich aber doch wissen... ob es den Krieg gegeben hätte, wenn der Kaiser
nein gesagt hätte. [...] – Na, wenn er allein nicht, dann vielleicht doch, wenn so zwanzig,
dreißig Leute in der Welt nein gesagt hätten.105
Diesen Gedanken finden wir auch in Borcherts letztem Manifest Dann gibt es nur eins!
Unterschiede bei den beiden Autoren gibt es vor allem in der Form ihrer Kriegsschilderungen.
105 Remarque, 1929, S. 202, 203
52
Borchert schreibt viele Kurzgeschichten mit offenem Ende. Diese kurze literarische Form
kann man dem Mangel an Geduld zuschreiben, da Borchert beim Schreiben schon am
Sterbebett lag und er wusste, dass ihm die Zeit wegläuft. Er schrieb wie aus einem Schub und
korrigierte kaum etwas.
Remarque dagegen wählt die objektive Form eines Romans, er ließ seine Ideen auch länger
reifen. Borchert hat 2 Jahre nach Ende des Krieges alle Kriegserlebnisse in die schriftliche
Form umgesetzt, Remarque veröffentlichte seine Kriegserlebnisse erst 10 und mehr Jahre
nach dem Ende des Kriegs.
In Borcherts Kriegsgeschichten ist das Geschehen auf ein Minimum reduziert und die
Erregung geht nicht vom Gefechtslärm, nicht von der Nahkampfschilderung aus. Die
Spannung ist in die Form verschlagen. Bei Remarque ist es umgekehrt, der Leser wird mitten
an die Front geworfen, mitten ins Geschehen, unter die Soldaten und erlebt alles mit, was sie
erleben. Remarque beschreibt jede Einzelheit, jede Grausamkeit und schildert objektiv die
Geschichte eines Soldaten im Kriegschaos.
Die Helden der Werke werden nach dem Krieg mit Veränderung in vielen verschiedenen
Bereichen im Leben konfrontiert und der Vergleich erfolgt nach einer thematischen Teilung.
5.3.1. Die Wahrheit
Bei Borchert hat der Dichter die Aufgabe, einzig und allein die Wahrheit darzustellen,
deswegen stehen im Mittelpunkt seiner Dichtung schmerzhafte Erlebnisse des Menschen, der
unter Verletzungen oder seelischen Belastungen und Schuldgefühlen leidet, und die Not
seiner Existenz. Doch Borchert will die Vorgänge nicht unbeteiligt registriert sehen; im
Gegenteil, gerade die Beschäftigung mit der leidvollen Existenz des Menschen lässt ihn
brüderliche Liebe fordern. Borchert versucht die Dinge unmittelbar beim Namen zu nennen
und damit eindringliche Deutlichkeit erreichen.106
Auch Beckmann, wie Borchert selbst, kommt auf die Idee, zur Bühne, zum Kabarett zu
gehen. Dort erhält er die Gelegenheit zu zeigen, was er zu bieten hat: die Wahrheit.
106 vgl. hierzu: Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 117
53
Beckmann ist nicht fähig, sich Umständen, die seinen Anschauungen widersprechen,
anzupassen, und er ist unfähig, Kompromisse zu schließen. Und ebensowenig wie er bei der
Frage nach Schuld und Verantwortung zu Kompromissen bereit ist, so ist er es bei der
Wahrheit. Er kann nichts anderes zur Darstellung bringen als die unmittelbare, graue, nackte
Wahrheit. Aber außer dem Oberst will auch der Kabrettdirektor mit der Wahrheit nichts zu
tun haben, denn die Wahrheit mache nur unbeliebt. In seiner grenzenlosen Einsamkeit
versucht Beckmann etwas Gültiges zu finden, was ihm einen Halt geben könnte. Und so
möchte er die Verantwortung ebenso absolut fassen wie die Wahrheit. Die Begriffe stellen
jedoch keine absoluten Werte dar und erlauben keine Orientierung. Das Radikale in
Verantwortung und Wahrheitssuche führt Beckmann nur tiefer in seine Verzweiflung.107
Auch Remarque schildert die nackte Wahrheit, in allen grausamsten Details, ohne Rücksicht
und Verschönerung. Doch seine Schilderung der menschlichen Not bleibt objektiv, in der
Form eines Berichts, er appeliert nicht auf die Gefühle des Lesers, er bleibt unbeteiligt am
dokumentär geschilderten Geschehen. Sein Roman war Reportage. Beide Autoren suchen
keinen Sinn, sie fragen sich nur, wie man danach weiter leben soll.
Der Unterschied zwischen den beiden Autoren liegt darin, dass Borcherts Protagonist
Beckmann immer nach der nackten Wahrheit grub und nach Antwort schrie, er wollte die
Wahrheit, die er erlebt hatte, erzählen, sie mit der Welt teilen, damit das Grauen nie wieder in
Vergessenheit gerät. Paul Bäumer im Roman Im Westen nichts Neues will aber nicht mal über
das Grauen um ihn herum nachdenken. Er erkennt, dass so etwas nicht erzählt werden kann:
Es ist eine Gefahr für mich, wenn ich diese Dinge in Worte bringe, ich habe Scheu, dass sie
dann riesenhaft werden und sich nicht mehr bewältigen lassen. Wo blieben wir, wenn uns
alles ganz klar würde, was da draußen vorgeht. [...] ... hier darf ich nicht weiterdenken.
Dieser Weg geht in den Abgrund. Es ist noch nicht die Zeit dazu; aber ich will den Gedanken
nicht verlieren, ich will ihn bewahren, ihn fortschließen, bis der Krieg zu Ende ist.108
Die beiden Autoren wollten mit ihren Werken die Wahrheit mitteilen, aber Borchert tut es
durch seinen Protagonisten, im inneren Monolog und Dialog, Remarque benutzt dazu andere
Mittel, vorwiegend den objektiven Bericht, aber seine Helden setzen sich nicht mit den
Problemen auseinader, denn es wird ja auch nichts anders dadurch. Sie gestehen, dass sie ihre
107 vgl. hierzu: Rühmkorf, 1961, S. 46 und Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 33, 35, 53, 54 108 Remarque, 1929, S. 194, 167
54
Erfahrungen nicht in Worte fassen können. Deswegen hat die Frontkameradschaft eine sehr
große Rolle bei Remarque, denn Bäumer und Birkholz verbringen am liebsten die ganze Zeit
mit den Kriegskameraden, die auch ohne Worte verstehen, was sie gemeinsam durchgemacht
haben. Das gemeinsame Erlebnis verflocht ihr Leben und ihr Schicksal, wo die Umgebung
den Heimkehrern mit Unverständnis entgegenkommt, brauchen die Jungs untereinander keine
Worte, um die Probleme des einzelnen Freundes zu verstehen, obwohl sich jeder von ihnen
anders mit der Kriegserfahrung auseinandersetzt.
5.3.2. Verantwortung und Schuld
Erich Maria Remarque gestand in einem Interview, wie er seine Generation sah. Zwar hätten
viele den Krieg vergessen, aber wichtig sind alle anderen, die zahllosen Zerrissenen,
Getroffenen, Erlebnisfähigen, die dem Erlebnis Ausgelieferten…109
So einer ist auch Beckmann. Man kann dieses Leiden nicht mit dem Gang zum Arbeitsamt
oder Sozialamt heilen. Wer so schwer getroffen ist, hat ein Recht auf Antwort.
Die Nebenfiguren in Draußen vor der Tür sind von der Hauptperson Beckmann abhängig, sie
sind nicht in der Lage ihm zu helfen, oder ihm die so ersähnten Antworten zu geben. Nicht
weil sie es nicht möchten, sondern weil sie entweder schon zu tief im „dicksten Zivilleben“
verankert sind oder sich für Beckmanns Lage einfach nicht interessieren.
Borchert fragt aus der Sicht des Soldaten nach der Verantwortung für den millionenfachen
Tod. Beckmann hat im Krieg die Erfahrung gemacht, wie in einer von ihm geleiteten
Abteilung elf junge Männer zu Tode gekommen sind. Und dieser von ihm so interpretierte
Mord lastet auf seiner Seele und wird noch dadurch verstärkt, dass er im Traum einem
geisternden Untoten, genannt der Einbeinige, begegnet, der ihn des Mordes anklagt.
Er empfindet die Verantwortung nicht nur als ein Wort: Man kann doch Menschen nicht für
ein leeres Wort sterben lassen. [...] Die Toten – antworten nicht. Gott – antwortet nicht. Aber
die Lebenden, die fragen Die fragen jede Nacht, Herr Oberst.110
Er sucht die Ruhe, die Befreiung, um den Alb los werden zu können, der ihm auf dem
Gewissen sitzt. Dabei geht es nicht bloß um die physische Ruhe nach dem Sturm, sondern um
109 Gumtau, 1969, S. 65 110 Borchert, 1949, S. 126
55
die existentielle Seelenruhe, damit er endlich ruhig schlafen kann. Seine Antwort erhält er
weder von den Hauptdarstellern der Kriegsführung noch von Gott.111
Die Schlüsselformulierung lautet: Wir werden jeden Tag ermordet und jeden Tag begehen wir
einen Mord. Wir gehen jeden Tag an einem Mord vorbei.112
Hier ist nicht nur vom Schuldigwerden durch Tun die Rede, sondern auch durch
Geschehenlassen. Die Schuld Beckmanns ist darin zu sehen, dass er dem Mädchen ins
Zimmer folgt und obwohl er das Problematische seiner Situation erkennt, wirft ihm der
Einbeinige vor, er habe ihn ermordet. Dabei war Beckmann aus denselben Gründen in die
Elbe gegangen: weil er humpelte und weil ein anderer Mann bei seiner Frau war. Beckmann
läuft vor dem Einbeinigen weg und so ist er nicht nur der Mörder, sondern lässt auch den
Selbstmord geschehen, er geht an ihm vorbei. Selbstverständlich kann eine tatsächliche
Schuld im juristischen Sinne nicht abgeleitet werden. Die Schuld erwächst Beckmann aus der
Verantwortung, die er als höherer Dienstgrad bei Erteilung eines Befehls hat. Dass die
Ausführung von Befehlen im Kriege lebensgefährlich ist, liegt im Wesen des Krieges
begründet, nicht in der persönlichen Verantwortung des Befehlenden. Er hat nur unsinnige
Opfer zu vermeiden und die Verluste so gering wie möglich zu halten. Diese Auffassung kann
leicht zu einem Relativismus führen, so ist niemand mehr bereit, eine persönliche
Verantwortung zu übernehmen. Das andere in Beckmann verkörperte Extrem ist aber ebenso
falsch und führt zur Zerstörung des Menschen. Beckmann fühlt sich nicht nur für das Bein des
Einbeinigen, sondern auch für den Tod von elf Männern verantwortlich, die unter seiner
Führung nicht zurückkehrten. Die Mütter, die Frauen und die Kinder der Toten verfolgen ihn
in seinen Träumen und lassen ihn nicht schlafen. Aber für den elffachen Mord ist keine
Motivation mehr da, niemand ist bereit zu sagen, für welches hohes Ziel diese Menschen
gestorben sind. Es gibt nur Leute, die ihre Pflicht getan haben. Übrig bleibt das Schuldgefühl
Beckmanns, das ihn niemand abnimmt. Nur er selbst könnte es überwinden.113
Doch auch an Beckmann werden Menschen schuldig, ohne es im juristischen Sinne zu sein,
aus Schwäche, Verständnislosigkeit, Feigheit, Gedankenlosigkeit. Beckmanns Frau hat ihn
verlassen, weil er zu lange weg war und sie das Alleinsein nicht aushalten konnte. Sie wird
schuldig aus menschlicher Schwäche. Der Oberst versteht ihn einfach nicht. In dem
111 vgl. hierzu: Lätzel, 2001, von: http://www.phil.uni-sb.de/projekte/imprimatur/2002/imp020107.html 112 Borchert, 1949, S. 162 113 vgl. hierzu: Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 46, 47
56
mangelnden Bemühen um ein Verständnis liegt seine Schuld. Der Kabarettdirektor wagt es
nicht, Beckmann Arbeit zu geben, weil ein Anfänger seinen finanziellen Ruin bedeuten
könnte. Er wird schuldig aus Feigheit. Und Frau Kramer wird an ihm schuldig aus
Gedankenlosigkeit, weil sie kein Mitgefüihl zeigt. Keiner ist bereit, für den Krieg die
Verantwortung zu übernehmen, wahrscheinlich kann das auch keiner; für Beckmann aber
zählt nur die Tatsache, dass ihn keiner hingeschickt haben will.114
In Remarques Roman Der Weg zurück begegnen wir dem Oberst ähnliche Figur in der Person
des Scharfschützen Bruno Mückenhaupt. Ernst Birkholz besucht ihn, um sich zu erkundigen,
wie er damit fertig geworden ist und ob ihm die „armen Kerle“ nicht manchmal ein bißchen
leid täten. Bruno aber bewahrt seine „Trefferliste“ auf einem Ehrenplatz und wehrt sich: War
doch Pflicht! Befehl!115
Im Gegensatz zu Beckmann und Borchert selber, verlangt Remarque nicht nach Schuld und
Verantwortung. Im Roman Der Weg zurück müssen die Soldaten wieder in die Schule, wo die
Lehrer die gleiche Stellung wie vor dem Krieg nehmen und mit großen Worten die
ehemaligen Schüler begrüßen. Sie loben den poetischen Heldentod, da viele der ehemaligen
Schülern gefallen und darum nicht mehr dabei sind, aber die Soldaten begehen Aufstand:
Gefallen sind die nicht, damit Reden darüber gehalten werden. Das sind unsere Kameraden,
fertig, und wir wollen nicht, dass darüber gequatsch wird! [...] Lassen Sie die großen Worte.
Sie passen nicht mehr für uns. Sie passen auch nicht für unsere toten Kameraden. Wir haben
sie sterben sehen. Die Erinnerung daran ist noch so nahe, dass wir es nicht ertragen können,
wenn über sie so gesprochen wird, wie Sie es tun. Sie sind für mehr gestorben als dafür.116
Remarque spricht auch nicht von der Verantwortung, die für Borchert wesentlich ist: Sie
haben den Krieg auf Ihre Weise gesehen. Mit fliegenden Fahnen, mit Begeisterung und
Marschmusik. Aber sie haben ihn nur bis zum Bahnhof gesehen, von dem wir abfuhren. Wir
wollen Sie deshalb nicht tadeln. Wir alle haben ja ebenso gedacht wie Sie. Aber inzwischen
haben wir die andere Seite kennengelernt. Das Pathos von 1914 zerstob davor bald zu nichts.
Wir haben trotzdem durchgehalten, denn etwas Tieferes hielt uns zusammen, etwas, dass erst
draußen entstanden ist, eine Verantwortung, von der Sie nichts wissen, und über die man
114 vgl. hierzu: Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 46 – 51 115 Remarque, 1931, S. 322 116 Remarque, 1931, S. 116, 117
57
nicht reden kann. [...] Wir verlangen keine Rechenschaft von Ihnen – das wäre töricht, denn
niemand hat gewußt, was kam. Aber wir verlangen von Ihnen, dass sie uns nicht wieder
vorschreiben, wie wir über diese Dinge denken sollen.117
»Der Mensch kann auf Grund eigener Entscheidung nur die Anerkennung der Schuld
verweigern und sich damit die Möglichkeit schaffen, unbeschwert zu leben, verhindern oder
beseitigen kann er sie nicht.«118
5.3.3. Schule und Lehrer
Der Unteroffizier Beckmann sagt in Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür: Sie haben uns
verraten. So furchtbar verraten. Wie wir noch ganz klein waren, da haben sie Krieg gemacht.
Und als wir grösser waren, da haben sie vom Krieg erzählt. Begeistert. Immer waren sie
begeistert. Und als wir dann noch grösser waren, da haben sie sich auch für uns einen Krieg
ausgedacht. Und da haben sie uns dann hingeschickt. Und sie waren begeistert. Immer waren
sie begeistert. Und keiner hat uns gesagt, wo wir hingingen. Keiner hat uns gesagt, ihr geht in
die Hölle.119
Wie in vielen seiner Geschichten beschuldigt Borchert auch in der Geschichte Generation
ohne Abschied die ältere Generation, sie hätten sie verraten und gäben ihnen keinen Gott mit.
In Remarques erstem Roman Im Westen nichts Neues erörtert der Protagonist oft die
Meinung, seine Generation sei von ihren Lehrern betrogen worden. Dort wird oft von
Schullehrern gesprochen, die ständig von Patriotismus sprachen und einer der Lehrer, der
seine Schüler im Klassenzimmer für den Krieg begeisterte, bezeichnet die Jungs als die
„eiserne Jugend“.
Doch der Protagonist erkennt: Jugend! Wir sind alle nicht mehr als zwanzig Jahre. Aber
jung? Jugend? Das ist lange her. Wir sind alte Leute.120
Schon am Anfang des Buches erkennen die Soldaten, dass von dem Begriff der Autorität
nicht geblieben ist: Sie sollten und Achtzehnjährigen Vermittler und Führer zur Welt des
117 Remarque, 1931, S. 116, 117 118 Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 49 119 Borchert, 1949, S. 157, 158 120 Remarque, 1929, S. 24
58
Erwachsenseins werden [...] im Grunde glaubten wir ihnen. [...] Doch der erste Tote, den wir
sahen, zertrümmerte diese Überzeugung. Wir mussten erkennen, dass unser Alter ehrlicher
war als das ihre [...] Das erste Trommelfeuer zeigte uns unseren Irrtum, und unter ihm stürzte
die Weltanschauung zusammen, die sie uns gelehrt hatten. Während sie noch schrieben und
redeten, sahen wir Lazarette und Sterbende; - während sie den Dienst am Staate als das
Größte bezeichneten, wußten wir bereits, dass die Todesangst stärker ist. [...] Und wir sahen,
dass nichts von ihrer Welt übrigblieb. Wir waren plötzlich auf furchtbare Weise allein – und
wir mussten allein damit fertig werden.121
Sogar das Wissen, dass sie in der Schule erworben haben, hilft ihnen an der Front nichts, Die
Kameraden zählen viele Fragen aus verschiedenen Schulfächern auf, um dann zu erkennen,
dass ihnen das allgemeine Wissen nichts genutzt hat. Bäumers Kamerad Kropp trifft die
Stimmung der ganzen Generation: Wie kann man das ernst nehmen, wenn man hier draußen
gewesen ist.122
Die Soldaten wollten die Lehrer später zur Rechenschaft ziehen. Jedenfalls im ersten Roman
wird noch darüber diskutiert, nach dem Krieg geschieht dies aber nicht. Ernst Birkholz
wiederholt den Gedanken über die Schule aus dem ersten Buch: Ehe wir Soldaten wurden,
umfaßten diese Gebäude unsere Welt. Dann wurden es die Schützengräben. Jetzt sind wir
wieder hier. Aber dies ist nicht mehr unsere Welt. Die Gräben waren stärker.123
Ähnlich heißt es über die Lehrer. Früher bedeuteten sie für die Schüler mehr als andere
Menschen und sie glaubten auch an sie, doch jetzt geben die Soldaten zu, dass sie die Lehrer
nur noch freundlich verachten, denn jetzt kennen sie das Leben besser als sie. Das Wissen,
das sie jetzt erworben haben, ist grausam, blutig und unerbittlich, und jetzt könnten sie die
Lehrer was lehren. Aber das will natürlich niemand.
Bei dem Aufstand der Soldaten auf dem Empfang im Gymnasium entsteht ein mächtiges
Durcheinander, die Lehrer sind entsetzt und hilflos. Nur zwei Lehrer, die Soldaten waren, sind
ruhig. Das zeigt, mit welchem Unverständnis die deutschen Bürger und Lehrer den
ehemaligen „Zöglingen“ gegenübertreten. Doch sogar Ludwig Breyer, der aus dem Krieg
Syphilis mitgebracht hat, hat den Krieg buchstäblich wie allegorisch noch im Blut. Doch auch
121 Remarque, 1929, S. 18, 19 122 eben da, S. 89 123 Remarque, 1931, S. 109
59
er verlangt keine Rechenschaft, er auch will nur, dass die Lehrer ihm und seinesgleichen
nichts mehr vorschreiben.124
Ernst Birkholz sagt in dem Roman Der Weg zurück über den Lehrerberuf aus: Hier stehe ich
vor euch, einer von hunderttausend Bankrotteuren, denen der Krieg jeden Glauben und fast
alle Kraft zerschlug – [...] Was soll ich euch denn lehren, ihr kleinen Geschöpfe – ihr, die ihr
allein rein geblieben seid in diesen furchtbaren Jahren?125
Er fragt sich, ob er sie lehren soll, auf welche Weise man Menschen töten kann und wie
Menschen sterben, denn er gibt zu: Mehr weiß ich nicht! Mehr habe ich nicht gelernt!126
5.3.4. Das Töten
Was haben sie denn so bis jetzt gemacht? - Nichts. Krieg: Gehungert, Gefroren, Geschossen:
Krieg. Sonst nichts.127
Diese Antwort zeigt Beckmanns Situation und die der vielen anderen Soldaten.
Auch Bäumer gesteht: ...das können wir: Kartenspielen, fluchen und Krieg führen. Nicht viel
für zwanzig Jahre – zu viel für zwanzig Jahre.128
Die Soldaten haben in ihren jungen Leben fast nichts gelernt außer Töten, das war jahrelang
ihre einzige Beschäftigung und ihr erster Beruf. Da draußen hilft ihnen kein in der Schule
erworbenes Wissen, nur der reine Lebenstrieb. Sie töten andere für eigenes Überleben. In
diesem Kampf ums nackte Überleben unterscheiden sie keine Feinde. Sie gestehen sogar,
wenn ihr eigener Vater von drüben käme, würden sie nicht zögern, ihm eine Granate gegen
die Brust zu werfen.
Schon im ersten Roman denken die Kameraden nach, wie es nach dem Krieg weitergehen
sollte: Es wird überhaupt schwer werden mit uns allen. Ob die sich in der Heimat eigentlich
124 Murdoch, 2001, S. 23 125 Remarque, 1931, S. 231 126 ebenda 127 Borchert, 1949, S. 133 128 Remarque, 1929, S. 92
60
nicht manchmal Sorgen machen deswegen? Zwei Jahre Schießen und Handgranaten – das
kann man doch nicht ausziehen wie einen Strumpf nachher.129
Das zeigt sich am schönsten im zweiten Roman Remarques, als Albert Trosske nach dem
Krieg den Mann, der ihm sein Mädchen genommen hatte, in der Bar tötet. Sie erkennen, dass
sie immer noch Soldaten sind, ohne es gewusst zu haben. Und Albert muss sich diesmal vor
Gericht verantworten, er habe schon viele Menschen getötet – aber im Krieg.
Für den Soldaten zählt also natürlich jedes Töten als reines Morden, aber die Beamten sehen
das nicht so: Das ist doch etwas ganz anderes. [...] Wollen Sie etwa den Kampf fürs Vaterland
mit Ihrer Tat hier vergleichen? – Nein, erwidert Albert, die Leute, die ich damals erschossen
habe, haben mir nichts getan.130
Auch in Borcherts zehn Lesebuchgeschichten finden wir dieses Problem wieder. Die kürzeste
dieser Kalenderminiaturen lautet:
Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Haus. Aber er hatte kein Brot. Da sah er einen,
der hatte Brot. Den schlug er tot.
Du darfst doch keinen totschlagen, sagte der Richter.
Warum nicht, fragte der Soldat.131
In einem Monolog vor Gericht in Der Weg zurück wird die Klage gegen die verfaulten Werte
und die hoffnungslose Lage der Heimkehrer erhoben: Meint Ihr denn, man könne vier Jahre
Töten mit dem läppischen Wort frieden aus dem Gehirn wischen wie mit einem nassen
Schwamm? [...] Wir haben alle Maßstäbe draußen verloren, und niemand hat uns geholfen!
[...] Ihr habt das mit eurem Krieg aus uns gemacht! [...] Was habt ihr denn für uns getan, als
wir wiedergekommen sind? Nichts! Nichts! Ihr habt euch um die Siege gestritten, ihr habt
Kriegsdenkmäler eingeweiht, ihr habt von Heldentum geredet und euch gedrückt vor der
Verantwortung! Ihr hättet uns helfen müssen! Aber ihr habt uns allein gelassen in der
schwersten Zeit, als wir uns zurückfinden mussten! [...] Ihr hättet uns das Leben wieder
zeigen müssen! [...] Aber ihr habt uns in Stich gelassen!132
129 Remarque, 1929, S. 91 130 Remarque, 1931, S. 293 131 Borchert, 1949, S. 317 132 Remarque, 1931, S. 295, 297
61
5.3.5. Gott und Glaube
Die jahrhundertalte Anklage gegen Gott ist in Draußen vor der Tür neu formuliert, denn
Beckmann kann nicht verstehen, wie Gott soviel Leid auf Erden zulassen kann. Gott klagt, sie
hätten ihn in den Kirchen eingemauert und seine Kinder hätten sich von ihm abgewandt,
deshalb glaubt niemand mehr an ihn. Er wird als eine nicht mehr zeitgemäße Erscheinung
charakterisiert, so dass ein neuer Gott, der Tod, erstehen kann. An ihn glauben die Menschen,
weil er seine Existenz tausendfach beweist, und sie sehnen ihn herbei als Erlösung von einem
nicht mehr erträglich scheinenden Dasein.133
Der ,Andere' versucht Beckmann auf die Spur zu bringen und erfüllt damit einen Teil des
göttlichen Auftrags, Menschen zum Leben zu führen, den Gott anscheinend nicht zu leisten
vermag. Doch bei aller Trauer und Verzweiflung ist allein das Rufen Ausdruck des Funken
Hoffnung, ob da nicht doch noch Rettung zu erwarten ist. So kann der Schluss des Stückes
doppelt interpretiert werden. Auf der einen Seite verhallt des Protagonisten Ruf, auf der
anderen Seite jedoch zeugt allein der Ruf nach Antwort noch um den Glauben und um
Erlösung. Wer um Hilfe und um Leben schreit, rechnet zumindest noch damit, dass ihn
jemand hört.134
Im Gegensatz zu Borchert gibt es bei Remarque kaum auseinandersetzung mit Religion.
Bäumer gesteht sogar, dass sie nur an den Krieg glauben.
5.3.6. Familie
Paul Bäumer verliert schon im ersten Roman Remarques Im Westen nichts Neues das
Vertrauen in seine Eltern. Auf dem Urlaub in der Heimatstadt wird er von seiner Mutter
empfangen, aber er erkennt, dass sie nichts von seinen Erfahrungen verstehen könnte und
ererkennt, das ist auch besser so. Er fühlt, dass die Mütter vor solchen schrecklichen
Einzelheiten beschützt sein sollten. Das zeigt sich auch in dem Gespräch mit Kemmerichs
Mutter, wo er sich weigert, ihr zu beichten, in welchen Schmerzen ihr Sohn wirklich
133 vgl. hierzu: Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 47 134 vgl. hierzu: Lätzel, 2001, von: http://www.phil.uni-sb.de/projekte/imprimatur/2002/imp020107.html
62
gestorben ist. Sein Vater scheint noch immer begeistert von der Kriegspropaganda zu sein,
doch sein Sohn hat die Front miterlebt und kann nicht darüber sprechen.
Auch Ernst Birkholz in Der Weg zurück versucht, seine Mutter vor der grausamen Wahrheit
zu schützen, sie soll nie erfahren, was er durchgemacht hat, weil es ihr das Herz brechen
würde. Auch sein Vater konnte ihn draußen nicht schützen, Ernst musste allein mit Allem
fertig werden.
Beckmann im Draußen vor der Tür kehrt nach Hause zurück, aber seine Frau hat ihn
vergessen und ein anderer Mann hat seinen Platz ersetzt. Das ist auch ein Schicksal von vielen
Soldaten aus der verlorenen Generation. Beckmann befindet sich aber bald in einer
umgekehrten Situation, gerade er soll den Platz des Einbeinigen bei dem Mädchen ersetzen.
Als er das erkennt, flüchtet er, weil er damit nicht fertig werden könnte. Sein Kind wurde von
den Bomben getötet, also geht Beckmann zu seinen Eltern zurück, aber erfährt, dass sie
Selbstmord begangen haben.
5.3.7. Heimat
Paul Bäumer erinnert sich in Im Westen nichts Neues an die „Landschaft seiner Jugend“.
Doch sie scheint ihm längst verloren und unerreichbar geworden zu sein. In den Gräben ist
auch die Hoffnung, sie jemals wiederzuerleben, verlorengegangen, da sie wenig mit ihr
anzufangen wussten. Sie zeigt sich nur noch in schönen Bildern, mit denen seine Erfahrungen
nichts mehr gemeinsam haben.
Der Begriff der Heimat, der von der Kriegspropaganda oft ausgenutzt wurde, wurde in Der
Weg zurück neu bewertet: Wir sind begeistert ausgezogen, das Wort Vaterland auf den Lippen
– und wir sind still heimgekehrt, den Begriff Vaterland im Herzen. [...] Lassen Sie die großen
Worte. Sie passen nicht mehr für uns.135
Remarque zeigt hier die Verlogenheit der Kriegspropaganda, die die großen, gut klingenden
Worte ausnutzte.
135 Remarque, 1931, S. 117
63
Bei Remarque wird seine Heimat während des Ersten Weltkriegs als unabhängig von der
Front geschildert, außer dem Mangel an Nahrung wird seine Heimatstadt kaum von dem
Kriegsgrauen betroffen, es wird nicht geschossen und die Stadt wird nicht von Bomben
zerstört. Daraus wird auch verständlicher, dass die am Krieg nicht beteiligten Lehrer und die
ältere Generation von den Erfahrungen der Soldaten nichts verstehen können, sie haben den
Krieg auf ihre Weise gesehen. Die totale Vernichtung ist bis in das Innere des Landes nicht
gedrungen.
Bei Borchert nach dem Zweiten Weltkrieg war es jedoch anders. Beckmann, wie Borchert
selbst, ist aus der Gefangenschaft in die Heimat zurückgekehrt, aber fand seine Heimatstadt in
Schutt und Asche wieder. Von den Gebäuden ist oft nichts außer Trümmer übrig geblieben.
Viele Menschen haben in den Bombenangriffen ihr Leben verloren und wo Remarque in der
Familie und Heimat auf Unverständnis trifft, gibt es bei Borchert oft gar keine Familie und
Heimat mehr. Bei Remarque bleiben die Ex-Soldaten trotz der Rückkehr in die geliebte
Heimat allein und einsam, bei Borchert bleiben sie dagegen oft draußen, vor der Tür, da es oft
kein Zuhause mehr gibt und die Familien sind tot. Beckmann stellt also einen Heimkehrer dar,
der nach Deutschland zurückkommt und seine Lage der Situation unzähliger anderer
Heimkehrern ähnelt.
»Sein Zuhause – Wohnung, Familie, Arbeitsstätte – existiert häufig nicht mehr, oder es ist
Veränderungen unterworfen gewesen, die den Heimkehrenden 'draußen vor der Tür' stehen
lassen. Für den heimkehrenden Deutschen, der ohne oder mit Überzeugung an einem
Aggressionskrieg teilgenommen hat, dem die Propaganda aber auch eingeimpft hat, er
verteidige damit zugleich die Heimat, wird jetzt bewußt, daß er gar keine Heimat mehr haben
könnte. [...] Dem Soldaten war eingeredet worden, daß er an der Front 'für Deutschland'
kämpfe. Jetzt ist sein 'Deutschland' auf der Straße.«136
Beckmann ist also: Einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach
Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor
der Tür. Ihr Deutschland ist draußen, nachts im Regen, auf der Straße. Das ist ihr
Deutschland.137
136 Winter, www.ingentaconnect.com, erworben am 16.3.2009 137 Borchert, 1949, S. 102
64
In der Kurzgeschichte Das ist unser Manifest bekennt sich Borchert zu der Liebe zu seiner
Heimat: … um Deutschland wollen wir nicht sterben. Um Deutschland wollen wir leben.138
5.3.8. Zukunft
Bäumer im Roman Im Westen nichts Neues erklärt, wie die Kameraden versuchen, das
Nachdenken über den Krieg auszuschalten: Das Grauen der Front versinkt, wenn wir ihm den
Rücken kehren... [...] ...wir haben Humor, weil wir sonst kaputt gehen. [...] Aber wir
vergessen nicht! [...] ...all das, was jetzt, solange wir im Kriege sind, versackt in uns wie ein
Stein, wird nach dem Kriege wieder aufwachen, und dann beginnt erst die
Auseinandersetzung auf Leben und Tod. Die Tage, die Wochen, die Jahre hier vorn werden
noch einmal zurückkommen, und unsere toten Kameraden werden dann aufstehen und mit uns
marschieren [...] – gegen wen, gegen wen?139
Bäumer hat also schon im ersten Roman Remarques die Vorahnung für die physischen
Probleme der Kameraden nach dem Krieg geäußert. Im Roman Der Weg zurück kommen
viele Soldaten aus dem ersten Roman als geisterhafte Erscheinungen zurück, in der
Erinnerung von Birkholz, darunter Katczinsky, Kemmerich.
Die Geister der toten Soldaten finden sich auch in der Erinnerung Beckmanns aus Borcherts
Drama Draußen vor der Tür, sie hocken nachts an Betten und lassen Beckmann nicht
vergessen und deshalb kann er nicht schlafen, sondern muss immer wieder schreiend
aufwachen. Auch da kehren seine toten Kameraden, die unter seinem Befehl ihre Leben
verloren haben, in seinen Träumen wieder zurück und lassen ihm keine Seeleneruhe.
Remarque betont oft, die Soldaten seien die Generation ohne Jugend und ohne Zukunft: Der
Krieg hat uns für alles verdorben. [...] Wir sind keine Jugend mehr. Wir wollen die Welt nicht
mehr stürmen. [...] Wir waren achtzehn Jahre und begannen die Welt und das Dasein zu
lieben; wir mußten darauf schießen. Die erste Granate, die einschlug, traf in unser Herz.140
138 Borchert, 1949, S. 313 139 Remarque, 1929, S. 142, 143 140 eben da, S. 91
65
Paul Bäumer hat keine Hoffnung auf Zukunft, da er nichts hat, was man ihm noch nehmen
könnte. Keine Hoffnung und keine Erwartungen. Aber er rät, wie es nach dem Krieg sein
würde: Wir werden uns nicht mehr zurechtfinden können. Man wird uns nicht verstehen – [...]
Wir sind überflüssig für uns selbst, wir werden wachsen, einige werden sich anpassen, andere
sich fügen,und viele werden ratlos sein; - die Jahre werden zerrinnen, und schließlich werden
wir zugrunde gehen.141
Die Kameraden im zweiten Roman fragen sich die ganze Zeit, was aus ihnen werden soll,
nach der Rückkehr in die Heimat fühlen sie sich verloren und sie wissen nicht, was sie mit
sich selber anfangen sollen. Nachdem Birkholz so viel Sterben gesehen hat, verlangt er nicht
viel von seinem Leben: Ich will es ja zu nichts bringen, Vater, ich will nur leben. [...] Ich
kann mir mit dem besten Willen nicht vorstellen, dass ich sechzig Jahre alt werde. Ich habe zu
viele Menschen mit zwanzig sterben sehen.142
Damit ist die Stimmung der ganzen Generation wiedergegeben, alle haben ihre Kameraden
jung sterben gesehen.
Birkholz in dem Roman Der Weg zurück gelingt es allmählich, die vorkriegszeitliche
Vergangenheit zu bewältigen. Er schreit eine Hoffnung an die Kinder aus: Da stehe ich vor
euch, ein Befleckter, ein Schuldiger, und müsste euch bitten: bleibt wie ihr seid und lasst das
warme Licht der Kindheit nicht zur Stichflamme des Hasses mißbrauchen! Um eure Stirnen
ist noch der Hauch der Unschuld – wie kann ich euch da lehren wollen! Hinter mir jagen
noch die blutigen Schatten der Vergangenheit – wie kann ich mich da zwischen euch wagen?
Muss ich nicht selbst erst wieder ein Mensch werden?143
Ernst erkennt, dass er die Kraft nur aus sich selber schöpfen muss, um weiter machen zu
können. Er nimmt Abschied von der ehemaligen Freundin Adele und denkt, er nehme nicht
nur Abschied von ihr, sondern auch „von allem Früheren“: ...ich habe an alle Türen meiner
Jugend geklopft und wollte wieder hinein [...] und es mir so gewünscht hatte, zu vergessen... –
doch jetzt erkenne ich, dass ein stiller, schweigender Krieg auch in dieser Landschaft der
Erinnerung gewütet hat, und dass es sinnlos von mir wäre, weiter zu suchen. Die Zeit steht
141 Remarque, 1929, S. 286, 287 142 Remarque, 1931, S. 236, 237 143 ebenda, S. 232
66
dazwischen wie eine breite Kluft, ich kann nicht zurück, es gibt nichts anderes mehr, ich muss
vorwärts, marschieren, irgendwohin, denn ich habe noch kein Ziel.144
Er erkennt, dass der Weg zurück nur vorwärts führt.
Die Antworten sind nach Borchert nicht in einer bestehenden Religion oder herrschenden
Weltanschauung zu suchen, auch nicht bei den Übergeordneten, sondern nur in der eigenen
Kraft und im Lebenswillen. Sie muss als persönliche Leistung gewonnen werden. Der Dichter
bekennt sich zu einer kompromisslosen Moral, die eine neue Orientierung im
Wahrheitsbegriff findet. Der einzige Ausweg, den Beckmann als Repräsentanten der
verlorenen Generation noch übrig hat, ist, seine eigene Hoffnung zu finden, sich entschieden,
wie er selbst weiterleben möchte.145
Borchert forderte in seinem Werk mehr als nur literarische Teilnahme, er wollte
Entscheidungen, Stellungsnahmen erzwingen. Unsere Gefühls- und Emfindungswelt wird
nicht unmittelbar angesprochen, aber durch das Verschweigen hervorgelockt. Figuren,
Charaktere entwickeln sich nicht und doch können wir von einem einheilichen Charakter, von
einer geradlinigen, dramatisch auf einen Schluss hindrängenden Handlung bei jeder
Geschichte Borcherts reden. Aber das Ende ist kein Ausgang, keine Lösung. Wir werden aus
der Spannung nicht entlassen, immer neue Beziehungen zwischen scheinbar Beziehungslosem
gehen auf, als sollten wir aus den Brüchstücken menschlicher Existenz doch den Kosmos
bauen. Und genau das stellte sich als die Aufgabe der verlorenen Generation aus. Ihnen sind
nichts als Brüchstücke ihrer Welt geblieben und es lag an ihnen, eine neue Welt zu bauen, aus
sich selber neue Hoffnung zu schöpfen und ins Nichts immer wieder ein Ja bauen.146
Borchert bekennt sich deutlich zu einer Zukunft und obwohl er sich als Nihilisten bezeichnet,
erwächst gerade daraus schon die Überwindung des Nihilismus, denn er ist überzeugt, dass er
in das Nichts ein Ja bauen muss und kann. So negativ das Lebensgefühl Wolfgang Borcherts
auch erscheinen mag, in der Besinnung des Menschen auf seine eigenen Kräfte liegt eine
einzigartige Möglichkeit, für eine bessere Zukunft zu leben, die der Mensch allerdings selbst
hervorbringen muss.147
144 Remarque, 1931, S. 178 145 vgl. hierzu: Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 115 146 vgl. hierzu: ebenda, S. 114, 115 147 vgl. hierzu: ebenda
67
6. SCHLUSS
Remarque erklärte in einem Interview: „Die Schwierigkeit mit dem Krieg ist, dass die Leute,
die ihn wollen, nicht erwarten, in ihm zu sterben. Und die Schwierigkeit mit unserer
Erinnerung ist, dass sie vergisst und verschönert und verfälscht, um zu überleben. Sie
verändert den Tod zu einem Abenteuer, wenn der Tod dich verfehlt. Aber der Tod ist kein
Abenteuer; und Töten ist der Zweck des Krieges, nicht Überleben.“148
Remarques Anti-Kriegsroman Im Westen nichts Neues war die Reportage des Alltags des
Krieges, die eine Anklage erhob, die in allen Ländern verstanden werden konnte und die dem
Buch einen internationalen Riesenerfolg bereitete.
Im Westen nichts Neues ist zwar ein Buch über die Nachkriegszeit und die späte Weimarer
Republik, doch sein Titel und seine vom Verlag zugeschriebene Aussage sind zum zeit- und
kontextlosen Symbol für die Sinnlosigkeit des Krieges geworden. Es ist zu befürchten, dass
auch das neu begonnene 21. Jahrhundert in den von Remarque angesprochenen Fragen, in
anderen Regionen der Welt und in anderen Formen des Krieges, Bürgerkrieges oder
Terrorkrieges, sich kaum vom 20. Jahrhundert unterscheiden dürfte. In dieser Situation kann
die Botschaft des »militanten Pazifisten« Erich Maria Remarque als Potential für das 21.
Jahrhundert einzusetzen, um Bewusstseinsveränderungen für jede Generation neu zu
erkämpfen.149
Anti-Kriegsromane wurden schon vor 1930 als kriegsbejahende Romane interpretiert. Die
Intention wurde entwertet und was nicht in Vergessenheit geraten sollte, wurde durch das
falsche Propaganda aus dem Gedächtnis des Volkes gelöscht. Das Grauen aus dem Ersten
Weltkrieg war verblasst und der grauenvolle Tod der unzähligen Frontsoldaten ins Heldentum
umgewandelt. So wurde eine ideale Grundlage für den Zweiten Weltkrieg erschaffen. Der
Zweite Weltkrieg verursachte dagegen eine grausame Erschütterung, die moderne Technik
war für noch mehr Massenvernichtung als im Ersten Weltkrieg verantwortlich und die Zahlen
der Opfer stiegen diesmal noch mehr als zuvor ins Unvorstellbare. Und diesmal war es umso
schwerer, über die Kriegserfahrung hinwegzukommen, die äußere und innere Vernichtung
war total.
148 Schneider, www.ingentaconnect.com, erworben am 16.3.2009 149 ebenda
68
Und diesmal waren sich die Autoren bewusst: man darf es nie wieder vergessen. Die
Kriegsliteratur ist deshalb heute noch aktuell, man kann die Massenerfahrung auch an
heutigen Beispielen aus den Krisenzonen verwenden.
Remarque und Borchert wussten es: man sollte daraus lernen. Die moderne Technik ist heute
höher entwickelt denn je und der Ausmaß der Katastrophe wäre unvorstellbar. Darum wollten
sie in ihren Werken warnen und eine über die Zeit hinweg reichende Botschaft hinterlassen:
... wenn ihr nicht NEIN sagt. 150
Das waren die letzten Worte, die Borchert in seinem Leben schrieb. In ihnen erschöpfte sich
seine letzte Kraft. Nach diesem „NEIN!“ konnte er endlich zurücksinken in die letzte Ruhe.
Er hatte alles getan, was er zu tun vermochte. Und das war weit, weit mehr, als viele andere
getan haben. Wo Borchert „NEIN“ schrie, haben andere geschwiegen. Und schweigen heute
noch. „Das dickste Zivilleben“, vielleicht eine der erschütterndsten Konsequenzen des
Nachkriegsdaseins, durch illusionistischen Wohlstand bequem wattiert gegen Schrecken der
Vergangenheit und Drohungen der Zukunft, scheint gefährlicher zu sein, als jene mit
grausamer wissenschaftlicher Logik entwickelten Superbomben, weil es die Voraussetzungen
für die Anwendung dieser Bomben schafft – oder zumindest nicht abschafft.151
Als Wolfgang Borchert 1947 davonging, hatte er für sich, für seine Generation, für seine Zeit
Gültiges und Bleibendes gesagt. Furchtlos und besessen von einer Mut zur Unbedingtheit, die
Bewunderung, aber auch Entsetzen erregte. Sein Leben, Denken und Schreiben galt der
Wahrheit. Borcherts Stimme ist in keinem dieser Jahre verstummt, sie ist weit über
Deutschlands Grenzen hinausgedrungen.
So bitter, hart und düster Borcherts Sätze oft klingen, hinter jeder Anklage, jedem Notschrei,
jedem Fluch leuchtet unauslöschlich die Liebe zum Dasein. Borchert war um das Beste des
Lebens betrogen worden. Doch was für ihn galt, galt für Millionen. Auch für sie litt er. Und
für sie stritt er. So wuchs alles bei ihm aus dem Persönlichen ins Allgemeine.
Borchert sagte häufiger Ja, als es den Nihilisten und Neinsagern immer angehängt wird. Nein
sagte er lediglich dort, wo es angebracht und nötig war: Nein zu Krieg; Nein zu Verstecken
vor der Verantwortung; Nein zu denen, die andere draußen vor der Tür lassen.152
150 Borchert, 1949, S. 321 151 vgl. hierzu: Meyer-Marwitz, 1957, S. 345 152 vgl. hierzu: http://www.staff.uni-mainz.de/willi/docs/schule/ausstellungen/borchert.htm, 2008
69
Beide Autoren stellen in ihren Werken die schrecklichen Folgen des Krieges vor, doch beide
schildern eine klare Bekenntnis zu einer optimistischen Zukunft. Die Reaktionen der
verlorenen Generation zeigte, dass sie noch Hoffnung hatte, dass noch Leben in ihren Herzen
strömte. Und deswegen bliebt das Werk von Borchert und Remarque noch Jahrzehnte nach
dem letzten Weltkrieg aktuell, solange es Machtmissbrauch gibt.
70
7. LITERATURVERZEICHNIS
Primärliteratur:
- Borchert, W., 1949, Das Gesamtwerk, Hamburg: Rowohlt Verlag;
- Borchert, W., 1956, Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen, Hamburg:
Rowohlt Taschenbuch Verlag;
- Borchert, W., 1967, Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem
Nachlaß, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Verlag;
- Remarque, E. M., 1929, Im Westen nichts Neues, Berlin: Propyläen-Verlag;
- Remarque, E. M., 1931, Der Weg zurück, Berlin: Propyläen-Verlag;
Sekundärliteratur:
- Erzählungen der Gegenwart V, 1972, Frankfurt am Main: Hirschgraben-Verlag;
- Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, München: R. Oldenbourg Verlag;
- Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg, S. 217-232,
Amsterdam: Rodopi;
- War: the cause of a lost generation, Seminararbeit, erworben im Februar 2009, von:
http://schoolsucks.com/War-the-cause-of-a-lost-generation/1293.html;
- Baumann, B. und Oberle, B., 1985, Deutsche Literatur in Epochen, München: Max
Hueber Verlag;
- Baumer, F., 1976, E. M. Remarque, Köpfe des XX. Jahrhunderts, Berlin: Colloquium
Verlag;
- Bock, C., 2007, Er war die Stimme der Kriegskinder, Offenburger Tageblatt, 20.
November 2007
- Durzak, M., 1989, Die Kunst der Kurzgeschichte, München: Wilhelm Fink Verag;
- Glaser, H., 1962, Wege der deutschen Literatur, Berlin – Darmstadt – Wien: Deutsche
Buch-Gemeinschaft;
- Gumtau, H., 1969, Wolfgang Borchert, Köpfe des XX. Jahrhunderts, Band 55, Berlin:
Colloquium Verlag Otto H. Hess;
71
- Lätzel, M., 2001, Wo wohnt der liebe Gott? Im Graben, im Graben! Über Wolfgang
Borchert, erworben am 16.3.2009, von: http://www.phil.uni-
sb.de/projekte/imprimatur/2002/imp020107.html;
- Lukacs, G., 1955, Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur, Berlin:
Aufbau Verlag;
- Martini, F., 1972, Deutsche Literaturgeschichte: von den Anfängen bis zur Gegenwart,
Stuttgart: Alfred Kröner Verlag;
- Rühmkorf, P., 1961, Wolfgang Borchert, Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag;
- Schlosser, H. D., 1985, DTV Atlas zur deutschen Literatur, Tafeln und Texte,
München: Deutscher Taschenbuch Verlag;
- Schneider, T. F., Krieg ist Krieg schließlich. Erich Maria Remarque: Im Westen nichts
Neues (1928), erworben am 16.3.2009, von: www.ingentaconnect.com;
- Süselbeck, J., 2002, Gestohlene Jugend. Hans-Gerd Winters Sammelband über den
Schriftstellernachwuchs nach 1945, erworben am: 16.3.2009, von:
www.literaturkritik.de, Nr. 11, November 2002;
- Slezáková, I., 2007, Heimkehrerproblematik im Zeitraum nach dem Ersten und
Zweiten Weltkrieg in den Literarischen Werke Erich Maria Remarques, Heinrich
Bölls und Wolfgang Borcherts, Diplomarbeit, Brno: Masaryk Universität;
- Wagener, H., Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues – Zeit zu leben und
Zeit zu sterben: Ein Autor, zwei Weltkriege, erworben am 16.3.2009, von:
www.ingentaconnect.com;
- Westphalen, T., 2006, 20 Jahre Erich Maria Remarque Gesellschaft in Osnabrück.
Eine Stadt und ihr weltberühmter Autor im Bewusstseinswandel von zwei
Jahrzehnten. Erich Maria Remarque Jahrbuch 16, 96 – 113, erworben am: 16.3.2009:
http://www.remarque-gesellschaft.de/extras/Sonderdruck_20_Jahre_EMR-G.pdf;
- Willson, L. A., 1972, Beckmann, der Ertrinkende. Zu Wolfgang Borcherts Draußen
vor der Tür. In: Akzente. 19. 1972. S. 466 – 479;
- Winter H.-G., Du kommst, und niemand will dich haben. Heimkehrertexte der
unmittelbaren Nachkriegszeit, erworben am 16.3.2009, von:
www.ingentaconnect.com;
- Žmegač, V., 1994, Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur
Gegenwart, Band III/1, 1918-1945, Weinheim: Beltz Athenäum Verlag;
- Žmegač, V., 1994, Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur
Gegenwart, Band III/2, 1945-1980, Weinheim: Beltz Athenäum Verlag;
72
- Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur, Januar 2001, Heft 149, Erich Maria Remarque,
München: Richard Boorberg Verlag:
� John W. Chambers II / Thomas F. Schneider, »Im Westen nichts Neues« und das Bild
des »modernen« Krieges, S. 8 – 15
� Brian Murdoch, Vorwärts auf dem Weg zurück. Kriegsende und Nachkriegszeit bei
Erich Maria Remarque, S. 19 – 28
� Thomas F. Schneider, Erich Maria Remarque – Kurzbiografie in Daten, S. 79 – 92;
- http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/BorchertWolfgang/, erworben am
16.3.2009;
- http://www.geschichte.2me.net/bio/cethegus/b/borchert.html, erworben am 16.3.2009;
- http://www.denk-an-mich.de/Biography/Wolfgang_Borchert.htm, erworben am
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- http://www.utexas.edu/ftp/courses/swaffar/distance/chron.htm, erworben am
16.3.2009;
- http://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Borchert, erworben am 16.3.2009;
- http://www.ceryx.de/literatur/borchert_wolfgang.htm, erworben am 16.3.2009;
- http://www.raffiniert.ch/sborchert.html, erworben am 16.3.2009;
- http:// borchert.magiers.de/, erworben am16.3.2009;
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- http://www.remarque.uos.de/internet.htm, erworben am 16.3.2009.
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8. BEILAGEN