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Die Durchsetzung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland – Herausforderungen
und bisherige Erfahrungen
Tagung
„Gesetzlicher Mindestlohn – Einführungspraxis und Umgehungsstrategien – Das Beispiel von Solo-Werkverträgen“
am 11. Juni 2016 in Oldenburg
Dr. Claudia WeinkopfStellvertretende Geschäftsführende Direktorin des IAQ
Gliederung
• Ausgangslage und Herausforderungen
• Das Mindestlohngesetz
• Branchenbezogene Mindestlöhne
• Entwicklung der Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Löhne
• Umgehungsstrategien und Kontrollen
• Anregungen aus anderen Ländern
• Fazit und Ausblick
Zunahme Niedriglohnbeschäftigte, 1995-2013
37,4
39,6 39,0
41,2 40,2 40,8
39,6 37,9
39,4 39,8 39,4 40,0
42,8
39,8 39,4 39,7 37,9 37,1
38,5
18,7 19,5 19,6 19,8 20,7 21,4 21,6 21,7
23,1 22,6 23,4 23,8 24,8
23,5 24,6 25,0
24,0 24,6 24,4
14,7 15,0 15,6 15,4 16,8 17,5 18,0 18,5
20,0 19,3 20,5 20,4 20,9 20,1
21,5 21,9 20,8
21,8 21,1
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013
Ostdeutschland D-Gesamt Westdeutschland
Hoher Niedriglohnanteil, starke Ausdifferenzierung der Löhne nach unten
Herausforderungen (1)
• Hoher Anteil von „Betroffenen“
– zwischen 4,1 und 4,8 Millionen Beschäftigte verdienten 2014 noch weniger als 8,50 € pro Stunde (SOEP)
– Besonders hohe Anteile geringer Stundenlöhne
• Ostdeutschland (25% vs. 14% in Westdeutschland)
• Gastgewerbe (> 50%), Landwirtschaft (32%), Handel (30%)
• Minijobs (58%)
• Kleinere Betriebe mit weniger als 20 Beschäftigten (32%)
• Allerdings im EU-Vergleich eher moderate Höhe des Mindestlohns
Höhe der Mindestlöhne in der EU (in €/Stunde), 2016
1,24
1,40
2,06
2,13
2,15
2,20
2,33
2,37
2,54
2,55
3,19
3,35
4,20
4,34
4,57
8,50
9,10
9,15
9,23
9,36
9,67
11,12
Bulgarien
Rumänien
Ungarn
Litauen
Tschechien
Lettland
Slowakei
Kroatien
Estland
Polen
Portugal
Griechenland
Malta
Spanien
Slowenien
Deutschland
Belgien
Irland
Großbritannien
Niederlande
Frankreich
Luxemburg
Quelle: Schulten 2016
Relativer Wert der EU-Mindestlöhne, 2014(in % des mittleren Stundenlohns von Vollzeitbeschäftigten)
36
41
42
43
46
48
48
48
48
50
51
51
52
53
54
54
57
61
61
0 10 20 30 40 50 60 70
Tschechien
Spanien
Estland
Irland
Griechenland
Slowakei
Niederlande
Großbritannien
Deutschland
Polen
Lettland
Belgien
Litauen
Rumänien
Ungarn
Luxemburg
Portugal
Slowenien
Frankreich
Quelle: Schulten 2016
Herausforderungen (2)
• Im Vorfeld vielfältige Warnungen vor erheblichen Beschäftigungsverlusten
– Nach Berechnungen unterschiedlicher Institute aus den Jahren 2013/2014 Wegfall von bis zu einer Million Arbeitsplätzen
– Frühere „Studien“ gingen sogar von einem Verlust von bis zu 4 Millionen Jobs aus
• Hohe Zustimmung für den Mindestlohn in großen Teilen der Bevölkerung
• Skepsis bzw. Widerstand seitens mancher Arbeitgeberverbände und Unternehmen sowie Teilen der Bundesregierung (Stichwort „Bürokratiemonster“)
Das Mindestlohngesetz (Teil des Tarifautonomie-
stärkungsgesetzes) (1)
• Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 € pro Stunde ab 1/2015
– Ausnahmen für bestimmte Personengruppen
• unter 18-Jährige ohne Berufsausbildung
• manche Praktika
• Langzeitarbeitslose bis zu 6 Monaten
• Teile der Zeitungszustellung
– Öffnungsklausel für (niedrigere) tarifliche Mindestlöhne auf Branchenebene bis Ende 2016/2017 (mindestens 8,50 € ab 1/2017)
• Möglichkeit, (höhere) tarifliche Mindestlöhne auf Branchenebene zu vereinbaren, steht grundsätzlich allen Branchen offen (AEntG)
Das Mindestlohngesetz (Teil des Tarifautonomie-
stärkungsgesetzes) (2)
• Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit für im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz genannte Branchen und für Betriebe mit Minijobber/innen
• Mindestlohnkommission
– je drei Vertreter/innen der Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite und zwei wissenschaftlichen Berater/innen
– Beschluss zur Anpassung des Mindestlohns Ende Juni 2016 (wirksam ab 1/2017)
– Orientierungspunkte: Tarifentwicklung seit 1/2015 und Gesamtabwägung
Branchenbezogene Mindestlöhne, Westdeutschland
(Stand: Juni 2016)
15,73
14,00
12,05
11,30
11,25
10,50
10,35
10,10
9,80
9,75
9,10
8,80
8,60
8,50
8,50
8,00
Geldtransport*
Weiterbildung
Dachdeckerhandwerk
Steinmetze
Bauhauptgewerbe
Gerüstbauer
Elektrohandwerk
Maler- und Lackierer
Gebäudereinigung
Pflege
Abfallwirtschaft
Zeitarbeit
Fleisch
Großwäschereien
Textil
Landwirtschaft
* NRW (andere Bundesländer mindestens 11,80 €); dunkelgraue Balken => bundeseinheitlicher Mindestlohn; Quelle: BMAS 2016
Branchenbezogene Mindestlöhne, Ostdeutschland
(Stand: Juni 2016)
13,30
12,05
11,24
11,05
10,90
10,50
10,10
9,85
9,10
9,00
8,70
8,60
8,25
8,20
8,00
7,90
Weiterbildung
Dachdeckerhandwerk
Geldtransport
Bauhauptgewerbe
Steinmetze
Gerüstbauer
Maler- und Lackierer
Elektrohandwerk
Abfallwirtschaft
Pflege
Gebäudereinigung
Fleisch
Textil
Zeitarbeit
Großwäschereien
Landwirtschaft
dunkelgraue Balken => bundeseinheitlicher Mindestlohn; Quelle: BMAS 2016
Beschäftigung und Arbeitslosigkeit (März bzw. Mai
2016 im Vergleich zum Vorjahresmonat)
Zahl Veränderung in %
Svp Beschäf-tigte (März)
31.208.800 +680.800 +2,2%
Geringfügig Beschäftigte
7.291.300 +41.800 +0,6%
Davon
ausschließlich geringfügig
4.775.300 -53.700 -1,1%
Nebenjobs 2.516.100 +95.700 +4,0%
Arbeitslose (Mai) 2.664.014 -97.682 -3,5%
Davon SGB III 773.136 -41.537 -5,1%
SGB II 1.890.136 -56.145 -2,9%
Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2016
Bruttostundenverdienste* (3. Quartal 2015 zum
Vorjahr), in %
Branche gesamt West Ost
Produzierendes Gewerbe
+3,1 +2,6 +5,1
Dienstleistungen +3,0 +1,2 +5,6
Gesamtwirtschaft +2,0 +1,7 +3,6
Fleisch-verarbeitung
+5,6 +4,2 +11,1
Wachdienste +4,2 +2,8 +10,4
Einzelhandel +3,3 +2,2 +11,0
Gastgewerbe +2,9 +2,1 +8,6
* Ohne geringfügig Beschäftigte; Quelle: Amlinger u.a. 2016
Unsicherheiten und Umgehungsstrategien
• Unsicherheit und Unklarheit, was angerechnet werden darf auf den Mindestlohn
– Anfangs zahlreiche Anfragen bei den Hotlines von BMAS und DGB – u.a. auch von Steuerberatungen und Betrieben
– Neues BAG-Urteil lädt zu veränderten Zahlungsmodalitäten ein
• Zahlreiche Berichte über (legale und illegale) Tricks zur Vermeidung von Lohnerhöhungen in Folge des Mindestlohns –z.B.
– Reduzierung der bezahlten Arbeitszeit
– keine Vergütung für Warte- oder Bereitschaftszeiten
– Verrechnung oder Streichung von Zuschlägen, Sonderzahlungen oder anderen zuvor üblichen Leistungen
Weitere Wirkungen und Kontrollen
• Leichter Rückgang der Zahl der Minijobs, Hinweise auf
Umwandlung in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung(IAB 2016)
• Zahl der Aufstocker/innen leicht rückläufig (IAB 2016)
• Spürbare Preiseffekte in einigen Bereichen (z.B. Taxifahrten)
– aber insgesamt eher moderate Preisentwicklung
• Im Vergleich zu 2014 deutlich weniger Kontrollen in
Betrieben (Rückgang um gut 30%)
– Aufstockung des Personals bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit bislang kaum erfolgt
– Keine gezielten Mindestlohnkontrollen, ganzheitliche Prüfung „im Paket mit anderen Tatbeständen“
Anregungen aus anderen Ländern (1)
• Mindestlohnregelung muss einfach verständlich und bekannt sein bei Beschäftigten und Betrieben
– Britische Regierung hat im Vorfeld der Mindestlohneinführung und auch in den Folgejahren mehrere landesweite Werbekampagnen finanziert
– Auf Umsetzungsprobleme wurde mit Nachsteuerungen und Handlungshilfen reagiert
• Dokumentation der Arbeitszeiten und wirksame Kontrollen sind unerlässlich
– Sanktionen müssen schmerzhaft und abschreckend sein
– In Großbritannien „Naming & Shaming“-Strategien als flankierende Maßnahme
Anregungen aus anderen Ländern (2)
• Durchsetzung vorenthaltener Mindestlohnansprüche
– Meldungen von Verstößen müssen unbürokratisch und auch anonym möglich sein
– Bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche müssen Beschäftigte unterstützt werden
• in Deutschland bislang nicht vorgesehen (nur individueller Klageweg)
• in Großbritannien demgegenüber systematische Unterstützung durch Compliance Officers der Kontrollbehörde HMRC vor Gericht
– darüber hinaus geplant: zeitnahe Voraberstattung von Nachzahlungen durch Kontrollbehörde + nachträgliche Eintreibung von Zahlungsrückständen bei Betrieben
• In beiden Ländern gefordert, aber bislang nicht vorgesehen: Verbandsklagerecht
Fazit und Ausblick (1)
• Einführung des Mindestlohns ist eine der wichtigsten Reformen der letzten Jahrzehnte
– Bislang keine erkennbaren Friktionen am Arbeitsmarkt, sondern positive Beschäftigungsentwicklung und weiterer Rückgang der Arbeitslosigkeit
• Der tatsächliche Grad der Um- und Durchsetzung des gesetzlichen Mindestlohns in der Praxis lässt sich derzeit noch nicht verlässlich abschätzen
– Veröffentlichung erster Daten für 2015 stehen in Kürze an
– Vermutlich deutliche Durchsetzungsdefizite insbesondere bei Minijobs
– Nach einer IAB-Studie (Fischer u.a. 2015) wissen zwar viele geringfügig Beschäftigte, dass ihnen Leistungen (z.B. Lohnfortzahlung bei Krankheit und Urlaub) zustehen, fordern dies aber nicht ein
Fazit und Ausblick (2)
• Wechselwirkungen mit dem Tarifvertragssystem im Blick behalten
– Wirksame Eindämmung des Niedriglohnsektors nur durch Stärkung des Tarifsystems möglich
– Mindestlohn als untere Lohngrenze, tarifliche Löhne zur Sicherung qualifikationsadäquater Vergütungen
– Mindestlohneinführung hat bereits im Vorfeld zu Tarifverhandlungen in einigen Bereichen geführt, die lange Zeit mehr oder weniger tariflos waren
• Stärkung des Tarifvertragssystems bedarf allerdings weiterer Maßnahmen
– Erhöhung der Tarifbindung und mehr AVE
– weniger OT-Mitgliedschaften in Arbeitgeberverbänden
– höherer gewerkschaftlicher Organisationsgrad
Zum Weiterlesen
• Bosch, Gerhard / Jaehrling, Karen / Weinkopf, Claudia (2015): Gesetzlicher Mindestlohn in der Praxis – Bedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung. Wiso direkt Juni 2015. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung.
• Bosch, Gerhard / Weinkopf, Claudia (2015): Revitalisierung der Tarifpolitik durch den gesetzlichen Mindestlohn? In: Industrielle Beziehungen 22 (3-4): 305-324.
• Fischer, Gabriele u.a. (2015): Situation atypisch Beschäftigter und Arbeitszeitwünsche von Teilzeitbeschäftigten – Quantitative und qualitative Erhebung sowie begleitende Forschung. IAB. Nürnberg.
• Kalina, Thorsten / Weinkopf, Claudia (2015): Niedriglohnbeschäftigung 2013: Stagnation auf hohem Niveau. IAQ-Report 2015-03. Duisburg: Institut Arbeit und Qualifikation.
• Körzell, Stefan / Falk, Claudia (Hrsg.) (2015): Kommt der Mindestlohn überall an? Eine Zwischenbilanz. Hamburg: VSA.
• Schulten Thorsten / Weinkopf, Claudia (2015): Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns – eine erste Zwischenbilanz. In: Körzell/Falk (Hrsg.): 79-92.
Branchenbezogene Mindestlöhne, Westdeutschland
(Stand: Juni 2016)
• Friseurhandwerk: bis 7/2015: 8,00 € (West) und 7,50 €(Ost), seitdem 8,50 € (Mindestlohn)
• Fleischindustrie: bis 9/2015: 8,00 €, seitdem 8,60 €, ab 11/2016: 8,75 €
• Landwirtschaft: 7,40 (West) und 7,20 € (Ost), seit 1/2016: 8,00 bzw. 7,90 €, ab 1/2017: 8,60 €, ab 11/2017: 9,10 €
• Textilindustrie (Ost): 7,50 € (2015), 8,25 €, ab 11/2016: 8,75 €
• Wäschereien (Ost): 8,00 €, ab 7/2016: 8,75 €
• Leiharbeit (Ost): 7,50 € (2015), 8,25 €, ab 11/2016: 8,75 €