die gegenwartsprobleme der kunstgeschichte und die krise der geschichtswissenschaft

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Die Gegenwartsprobleme der Kunstgeschichte und die Krise der Geschichtswissenschaft. (Ein Verstich.) Von Wladimir Sas-Zaloziecky. Besinnung der Kunstgeschichte auf ihre Aufgaben. Die tiefen geistigen Erschütterungen der beiden Weltkriege haben auch die Geisteswissenschaften in einen unerbittlichen Gärungsprozeß versetzt. Der in quietistischer Seelenruhe verharrende Gelehrte des 19. Jahrr hunderts sieht sich plötzlich von seinem beschaulichen Leben in die stür- mische Brandung hinausgetrieben. Er muß sich gegen die wilden Fluten, die ihn mit Untergang bedrohen, mit aller Kraft behaupten. Diese neue Lage zwingt ihn zur Aufbietung und Sammlung aller seiner geistigen Kräfte und durch Abgründe, die sich plötzlich vor ihm auftun, wird er auf gewisse Elementarfragen über den Sinn seiner Forschungsarbeit zurück- geworfen. Er muß sich nolens volens wieder einmal zu den Müttern begeben. Auch der Kunsthistoriker steht vor ähnlichen Fragen, welche eine EeVision der bisherigen Methoden von ihm gebieterisch verlangen. Eine ständige Umwälzung auf geistigem, politischem und wirtschaft- lichem Gebiet, welche sich seit 200 Jahren ununterbrochen vollzieht, ein Taumel der Neuerungssucht, welcher in chaotischen Exzessen sich aus- lebt, eine Hochflut revolutionärer Gärung auf allen Gebieten des mensch- lichen Lebens stellen ihn vor die Lösung verantwortlicher Fragen. Soll er sich über alles Gewesene, d. h. auch über die geistigen Grundlagen seiner wissenschaftlichen Methode, welche notwendigerweise mit dem geistigen Leben der Vergangenheit zusammenhängt, jede Ehrfurcht vor dieser Vergangenheit ablegend, brutal und revolutionär hinwegsetzen, vmi auf diese Weise vermeintlich diesem gegenwärtigen Chaos des mensch- lichen geistigen Schaffens mit heihgem Zorn eines Erneuerers ein Ende zu bereiten — oder soll er sich in unendlich mühevoller Qual einem geistigen Reformwerk zuwenden, das die bisherigen Methoden einer Revision unter- zieht, das Positive an ihnen beibehält, das Negative fallen läßt und in einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit den bisherigen Errungenschaften eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu bauen versucht ? 46 MIÖG.,Bd. 58. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/22/14 2:22 AM

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Page 1: Die Gegenwartsprobleme der Kunstgeschichte und die Krise der Geschichtswissenschaft

Die Gegenwartsprobleme der Kunstgeschichte und die Krise der

Geschichtswissenschaft. (Ein Verstich.)

Von Wladimir S a s - Z a l o z i e c k y .

Besinnung der Kunstgeschichte auf ihre Aufgaben. Die tiefen geistigen Erschütterungen der beiden Weltkriege haben auch

die Geisteswissenschaften in einen unerbittlichen Gärungsprozeß versetzt. Der in quietistischer Seelenruhe verharrende Gelehrte des 19. Jahrr

hunderts sieht sich plötzlich von seinem beschaulichen Leben in die stür-mische Brandung hinausgetrieben. Er muß sich gegen die wilden Fluten, die ihn mit Untergang bedrohen, mit aller Kraft behaupten. Diese neue Lage zwingt ihn zur Aufbietung und Sammlung aller seiner geistigen Kräfte und durch Abgründe, die sich plötzlich vor ihm auftun, wird er auf gewisse Elementarfragen über den Sinn seiner Forschungsarbeit zurück-geworfen. Er muß sich nolens volens wieder einmal zu den Müttern begeben.

Auch der Kunsthistoriker steht vor ähnlichen Fragen, welche eine EeVision der bisherigen Methoden von ihm gebieterisch verlangen.

Eine ständige Umwälzung auf geistigem, politischem und wirtschaft-lichem Gebiet, welche sich seit 200 Jahren ununterbrochen vollzieht, ein Taumel der Neuerungssucht, welcher in chaotischen Exzessen sich aus-lebt, eine Hochflut revolutionärer Gärung auf allen Gebieten des mensch-lichen Lebens stellen ihn vor die Lösung verantwortlicher Fragen. Soll er sich über alles Gewesene, d. h. auch über die geistigen Grundlagen seiner wissenschaftlichen Methode, welche notwendigerweise mit dem geistigen Leben der Vergangenheit zusammenhängt, jede Ehrfurcht vor dieser Vergangenheit ablegend, brutal und revolutionär hinwegsetzen, vmi auf diese Weise vermeintlich diesem gegenwärtigen Chaos des mensch-lichen geistigen Schaffens mit heihgem Zorn eines Erneuerers ein Ende zu bereiten — oder soll er sich in unendlich mühevoller Qual einem geistigen Reformwerk zuwenden, das die bisherigen Methoden einer Revision unter-zieht, das Positive an ihnen beibehält, das Negative fallen läßt und in einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit den bisherigen Errungenschaften eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu bauen versucht ?

46 M I Ö G . , B d . 58.

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Wir beschreiten den zweiten Weg. Wir möchten den verhängnis-vollen Bruch mit den aufbauenden Kräften der abendländischen Kultur und den fruchtbar sich gestaltenden Tendenzen unserer Vorfahren auf jeden Fall vermeiden. Wir stehen nicht auf dem Standpunkt der homines rerum novarum cupidi, wonach alles Althergebrachte schlecht ist, weil es althergebracht und alles Neue gut, weil es neu ist. Gerade die Anwendung dieses durch keine Lebenserfahrung bestätigten Grundsatzes hat diesen fatalen Bruch in der abendländischen neuzeitigen Geschichte hervor-gerufen. Eine jede Umwälzung muß sich schließUch und endlich einmal ad absurdum führen, denn dauert sie jahrhundertelang, dann bleibt außer dem „nihil" nichts mehr für die Umwälzung übrig . . . So ist stets ein grauenhafter Nihilismus das Resultat immerdauernder Umwälzungen.

Somit entsteht das Bedürfnis, die Frage nach der Revision der Forschungsmethoden der Kunstgeschichte in einem größeren Zusammen-hang zu behandeln. Es würde den Rahmen dieses Versuches sprengen, wollten wir sie in Verbindung mit der allgemeinen geistigen Krise, d. h. vor allem der Krise des Geistes der abendländischen Kultur behandeln. Wir wählen daher einen Ausschnitt davon, und zwar nur die wesentlichen Momente der geistigen Krise der Geschichtswissenschaft, weil sie der Kunstgeschichte am nächsten steht und weil das „to be or not to be" der Kunstgeschichte schicksalhaft mit der Historie verknüpft erscheint.

Die Gefahren der Auflösung des Geschichtsbildes durch seine Irrationalisierung und die Begegnung dieser Gefahren.

Es ist nach den beiden Weltkriegen zur Gewißheit geworden, daß der historische Positivismus eine schwere Krise durchmachte. Die All-macht des historischen Denkens, die allen Lebenserscheinungen ihren Stempel aufdrückte, hat sich ins Gegenteil verwandelt. Man beginnt die Geschichte als lästigen „Historismus" zu empfinden, der als Ballast alle schöpferischen Kräfte erdrückt, die Atomisierung des Weltbildes ver-ursacht und die Wege des modernen Relativismus vorbereitet hat. Erst kürzlich hat Huizinga diesen Erscheinungen des modernen Antihistorismus in folgenden Worten beredten Ausdruck verUehen: „Jetzt erklingt nicht aus dem Munde eines großen Denkers wie Descartes, sondern in einem wirren Chor leidenschaftlicher Stimmen der Ruf: Geschichte, deine Zeit ist vorüber, deine Erkenntnis wertlos! Die Vergangenheit hat ausgespielt. Hinweg mit diesem alten Plunder! Das Leben erfordert unsere spontanen Kräfte und der Mantel der Toten darf sie nicht behindern, das Gewicht alter Erfahrungen und Weisheit sie nicht belasten. Blind und ungestüm müssen diese Kräfte walten. Die Zukunft ruft uns"^).

») Vgl. J . Huizinga, Im Banne der Geschichte, Basel 1943. Dieses Zitat bildet nur eine Charakteristik der antihistorischen Strömung mit der sich Huizinga keines-falls identifiziert.

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Die Heraufbeschwörung der „spontanen blinden und ungestümen" Kräfte bedeutet jedoch weniger eine fruchtbare Uberwindung, als eine Auflösung des Geschichtsbildes durch seine Irrationalisierung, die sich eben über das „Gewicht alter Erfahrungen und Weisheit" hinwegsetzt. Diese Auflösung des geschichtlichen Weltbildes, d. h. die in ihr gipfelnde Krisis des Historismus ist keine Erfindung der Gegenwart, sondern hat sich als revolutionäre Erscheinung lange vorbereitet. Ein klar zutage tretender antihistorischer Affekt ist bereits in den romantischen Bewe-gungen, vor allem in dem auf J . J . Rousseau zurückgehenden irrationalen Mystizismus enthalten, der die Reinheit der spontan-triebhaften mensch-lichen Natur der KünstUchkeit des Historisch-Gewordenen gegenüber-stellte^) und so die große Umwälzung am Ausgang des 18. Jahrhunderts vorbereitete. Von da sind diese Keime in alle romantischen Bewegungen des Abendlandes eingedrungen. Eine außerordentlich heftige Reaktion gegen den Rationalismus des 18. Jahrhunderts und gegen die Abstraktheit der historischen Dialektik vollzieht sich in der deutschen historischen Schule').

Die weitesten Konsequenzen in der romantischen und vitalistischen Verneinung der logischen, vernunftmäßigen und wertbetonenden philo-sophischen und historischen Grundlagen hat Schoppenhauer gezogen, so daß man ihn als den Befreier der frühromatisch beeinflußten Lebens-philosophie vom Historismus bezeichnen kann. Er hat nach Tröltsch der historischen Selbstanschauung Europas das zersetzende Gift einge-flößt, das heute als Befreiung vom Historismus und Wissenschaftsdürre gepriesen wird und in Wahrheit doch nur eine Wendung des Historismus zum Geniekult und Exotismus bildet^). Nietzsche steht dann am Abschluß dieser antihistorischen Bewegung durch seine vitalistisch-spontane Lebens-philosophie, die Verachtung der Geschichte, Ausschaltung des bewußten Denkens die im unbegrenzten Schöpfertum des Übermenschen gipfelt.

Es können daher die vitalistischen und neuromantischen Strömungen der Gegenwart auf eine alte Tradition der Auflösung des Geschichtsbildes zurückblicken. Sie verkünden nichts Neues, wenn sie heute die Irrationalität

«) Wir gebrauchen hier den erweiterten Begriff der Romantik im Sinne Emest Seilliöres, vgl. seine Werke: La religion romantiques et ses conquetes (1830—1930), Paris 1930; Le romantisme et la religion, Paris 1932; Die romantische Krankheit in „Philosophie des ImperiaBsmus", Berlin 1911. Ferner N. Röpke: Die deutsche Frage, Zürich 1945, wo die Gefahren der deutschen Romantik aufgezeigt werden und eine Kritik Seilliöres gegeben wird.

») Vgl. E . Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 1930, S. 47. Die deutsche historische Schule bekämpfte den Rationalismus und war roman-tisch in ihrer Grundhaltung, vgl. dazu E. Tröltsch: Der Historismus und seine Pro-bleme, I., Tübingen 1922, S. 282. In der Organologie der deutschen historischen Schule stellt er „einen Gegenschlag gegen die rationale und lediglich abstrakt-normative Ideenwelt der französischen Revolution, und die aus poetischer Romantik und philo-sophischer Mystik genährten Ideen vom Zusammenhang des Individuellen und Universalen" fest.

*) Vgl. ibid. S. 310.

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des Lebens, die voraussetzungslose Spontaneität, Intuition und unbe-grenztes Schöpfertum vertreten, die sie an die Stelle des historischen Werdens und Entstehens setzen®).

Wir wollen nicht leugnen, daß der Historismus des 19. Jahrhunderts auch Gefahren in sich enthalten hat. Die Opposition und die Kritik waren nicht unberechtigt. So führte die zu weitgehende ,,Historisierung aller Erscheinungen" zu einem zersetzenden Relativismus. Die bloße mecha-nische Aneinanderreihung von Tatsachen ohne jede Wertlehre bildeten einen historischen Leerlauf und eine geistlose Chaotisierung wie das über-triebene und einseitig betriebene Spezialistentum, das als Tautologie oder sinnlose Verdoppelung der Wirklichkeit®) bezeichnet werden kann. Ebenso nicht immer befruchtend hat sich die zu weit gehende Abhängig-keit der Geschichtswissenschaft von den naturwissenschaftlichen Methoden, z. B. von dem zu mechanisch aufgefaßten Kausal- und Entwicklungs-begriff erwiesen. Der ,,progressus ad infinitum", dieses Liebkind der materialistischen Geschichtsauffassung hat sich in seinen letzten Aus-wirkungen als trügerisch herausgestellt.

Schon diese ganz flüchtige und bei weitem nicht erschöpfte Ubersicht genügt, um die Gefahren des Historismus nicht zu unterschätzen. Aber es entsteht hier eine verantwortliche Gewissensfrage: Welche Wege sollen wir wählen, um diese Gefahren zu überwinden ? Es gibt ihrer zwei. Einen radikalen, den wir bereits skizziert haben und der in der Ausschaltung des Historismus als eines Hemmschuhs der schöpferischen Entwicklung der abendländischen Kultur besteht und einen zweiten gemäßigten, der die negativen Seiten des Historismus beseitigen möchte, ohne jedoch den Historismus als solchen mit seinen ungemein fruchtbaren Auswirkungen auszuschalten.

Es steht außer Zweifel, daß der historische Positivismus anglosächsisch-französischer Prägung weitgehendst reformbedürftig ist.

Eine fruchtbare Entbiologisierung und Entmechanisierung des Ent-wicklungsbegriffs vollzieht sich bereits seit längerer Zeit, genau so, wie der ,,progressus ad infinitum" auf ein vernünftiges Maß eingeschränkt wird. Unter dem Eindruck tiefer Veränderungen innerhalb der Natur-wissenschaften erfährt auch die Strenge der ,,kausalgenetischen Methode" das ,,scire per causas" in den Geschichtswissenschaften eine gewisse mil-

Auch die Philosophie Henry Bergsons hat mit dieser Bewegung einige Be-rührungspunkte. Vom französischen Neukantianismus ausgegangen, wendet er sich gegen den Spencerischen biologischen Evolutionismus, verkündet die Befreiung vom Intellektualismus und Mathematismus und die unbegrenzbare schöpferische Pro-duktivität des Weltlebens an sich. Es ist bezeichnend, daß der Expressionismus sich an seine Philosophie anlehnt (vgl. Tröltsch, op. cit. 648—649, und S. C. D5Tssen: Bergson und die deutsche Romantik, 1922).

•) Vgl. E. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religions-geschichte, 1929, S. 44. Obwohl wir nicht alle Ausführungen des hochverdienten protestantischen Forschers teilen, enthält die Arbeit viele anregende Gedanken.

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dernde Modifizierung'). Die einseitige Detailforschung und das Spezia-listentum werden als Selbstzweck gegenüber einer sinnvollen Einordnung unter weitere universalere und synthetische Gesichtspunkte ihren Sinn verlieren. Sie werden aber in großen Zusammenhängen als Mittel zum Verständnis größerer Kulturbereiche ihren Sinn gewinnen. Der historische Relativismus kann teilweise durch allgemeinere wertbestimmende Gesichts-punkte gemildert werden, da in einer Spannung zwischen der historischen Einmahgkeit und diesen allgemein gültigen Werten der eigentliche schöpfe-rische Akt der Geschichte besteht.

Das sind einige wenige Anhaltspunkte, welche eine Reformierbarkeit der Geschichtswissenschaft als durchaus möglich erscheinen lassen.

Aber gleichzeitig erhebt sich die Frage, ob man mit diesen Reform-versuchen die fruchtbaren Neuerungen des historischen Positivismus des 19. Jahrhunderts ablehnen soll ? Also seine auf Empirie, Beobachtung, kritischer Behandlung beruhende Tatsachenermittlung des räum- und zeitbegrenzten historischen Geschehens ? Wenn man dies tun würde — und statt dessen räum- und zeitlose Absolutheiten und zu ihrer Ermittlung bloße Intuition und schöpferische Gestaltungskraft setzen würde — dann wäre es um die Geschichte getan, wir würden mit einem Sprung uns über Jahrhunderte andauernde Traditionen hinwegsetzen. Dies würde wohl auch ein Ende der abendländischen Kultur bedeuten, welche von Thuky-dides bis Mommsen auf den Errungenschaften der Geschichte ihre Grund-lagen errichtet. Dies meinte auch wohl Benedetto Croce, als er 1930 in Oxford seinen Vortrag über „Antihistorismus" hielt und ihn als Barbarei und Verwilderung bezeichnete®).

Die Auflösung und Irrationalisierung des Geschichtsbildes beweist uns, wie verhängnisvoll sich solche Radikalismen auswirken und wie vor-sichtig man bei solchen Reformbestrebungen zu Werke gehen muß.

Gegen Unvernunft und Irrationalität, diese beiden großen zerstörenden, dunklen und chaotischen Mächte der Gegenwart, muß sich Vernunft und Intellekt wiederum zur Wehr setzen. Es ist wohl nicht mehr die raison der Aufklärung, welche alles Irrationale unterdrückt, sondern die alt-bewährte, in der religiösen Erfahrung am besten erhaltene Vernunft, welche die irrationellen Triebe diszipliniert, lenkt und ihnen eine Richtung gibt. Es klingt paradox und doch wahr, wenn der berühmte holländische Kultur-

') Auch in den Naturwissenschaften hat sich die Ablehnung der kausalen Determination des Weltgeschehens nicht durchgesetzt. Physiker wie Planck haben diese Konsequenz zurückgewiesen. Das Prinzip der Kausalität wird auch durch die Entwicklung der modernen Physik nicht außer Kraft gesetzt, aber es wird auf-gelockert, vgl. L. Gabriel: Die philosophische Situation der Gegenwart in „Geistige Strömungen der Gegenwart", Wien 1947, S. 68.

') Vgl. auch E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S. 4. „Die Vernichtung der historischen Bildung und des historischen Wissens selbst wäre nur zu begreifen als Entschluß zur Barbarei, und nur durchführbar bei der Rückkehr zur Barbarei auch auf allen anderen Gebieten."

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philosoph feststellen muß: „Es sind sonderbare Zeiten. Die Vernunft, die einst den Glauben bekämpfte und erschlagen zu haben glaubte, muß nun, um ihren Zusammenbruch zu entgehen, Zuflucht suchen beim Glauben. Denn lediglich auf dem ungeschwächten und unerschütterlichen Funda-ment des lebendigen metaphysischen Bewußtseins kann ein absoluter Wahrheitsbegriff in seiner notwendigen Konsequenz streng gültiger Normen der Sittlichkeit und Gerechtigkeit geschützt bleiben gegen den wachsenden Strom des instinktiven Lebensdranges."®)

Man braucht daher nicht zu befürchten, daß durch die Reform-bestrebungen der Geschichtswissenschaft einerseits die fruchtbaren Er-rungenschaften des Positivismus aufgegeben werden, andrerseits, daß ,,revolution creatrice", das Schöpferische im geschichtlichen Geschehen, ausgeschaltet wird. Auch hier wird in einer fruchtbaren Synthese die via media zu finden sein.

Dies ist auch der einzige Weg, um sich gegen den Mißbrauch der Geschichte — dessen katastrophale Folgen wir noch alle erlebt haben — zu schützen. Durch den Mißbrauch der Geschichte oder durch ihre Nihili-sierung wurde das heroische Schöpfertum des Einzelindividuums ins Maßlose und Übermenschliche emporgehoben. Wenn man aber die un-endhchen Weiten und Möglichkeiten des geschichtlichen Geschehens den beschränkten Wirkungsmöglichkeiten des Einzelindividuums gegenüber-stellt, dann merkt man erst recht, wie anmaßend und gleichzeitig machtlos sein vermeintliches „Schöpfertum" ist und wie wenig wirklich ,,Neues" dieser „Schöpfer aus zweiter Hand" in das „der Gottheit unendliche Kleid" hineingewoben hat . . .

Gegenwartsprobleme der Kunstgeschichte. Auf Umwegen über die Geschichte gelangen wir zu den Aufgaben der

Kunstgeschichte, da sie als Schwesterdisziplin der Geschichte denselben Gefahren ausgesetzt ist. Die dort festgestellten Krisenerscheinungen gelten auch für sie.

Auch sie ist durch die Auflösung und Irrationalisierung des Geschichts-bildes aufs äußerste bedroht. Sie erscheint sogar in zweifacher Hinsicht bedroht. Erstens dadurch, daß sie eine viel jüngere Disziplin als die histo-rische Wissenschaft ist und daher durch den Mangel einer tieferen Fun-dierung viel eher Schwankungen ausgesetzt ist. Und zweitens, weil sie ihrer Natur nach das Gefühlsmäßig-Emotionale im Gegensatz zum Willens-mäßigen der Geschichte viel stärker zum Ausdruck bringen muß.

Daher muß man bei kunstgeschichtlichen Fragen noch vorsichtiger und heikler sein. Gerade bei der Kunstgeschichte ist eine romantische irrationale Auflösung des Geschichtsbildes direkt verhängnisvoll. Schon in der Abgrenzung der Kunstgeschichte als selbständigen Wissenszweiges

•) Vgl. Huizlnga, Im Schatten des Morgen, S. 90.

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gegenüber benachbarten Disziplinen, also Abgrenzungen gegenüber der Ästhetik, Kulturgeschichte, Psychologie, Kunstphilosophie, entsteht, bei einer Loslösung der Kunstgeschichte von ihren historischen Grundlagen, eine heillose Verwirrung.

Damit ist nicht gemeint, daß sich die kunstgeschichtliche Forschung gegen die neuen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Ästhetik, der Kultur-geschichte, Psychologie oder Kunstphilosophie verschließt, sondern daß das eigentliche Ziel der Kunstgeschichte in der „zeitUch und räumlich" beschränkten Darstellung künstlerischer Erscheinungen besteht, daß sie „das zeitlich und örtUch Besondere, vom menschlichen Wollen und Können, von Kulturentwicklung und Portschritten des geistigen Lebens Abhängige, was die Eigentümlichkeiten der historischen Wissenschaften bedeutet", zum Gegenstand ihrer Forschung hat^"). Es ist also die einmalige, be-sondere Individualisation des künstlerischen Geschehens, die das eigent-liche cachet kunstgeschichtlicher Betrachtungsweise bildet.

Weder die allgemeinen ästhetischen Gesetze, welche der ästhetisch-philosophischen, systematischen Betrachtungsweise zugrunde liegen, noch der allgemeine Vorstoß in das Wesen des Kunstwerkes der der kunst-philosophischen Forschung vorbehalten werden muß, kann die kunst-geschichtUche Methode ersetzen, d. h. die elementare Gebundenheit an Zeit und Raum, die eben den eigentlichen Rechtstitel der Kunstgeschichte als selbständiger DiszipUn bildet.

Selbstverständlich steht es jedem frei, Kunstwerke von verschiedensten Gesichtspimkten zu betrachten und zu erforschen und mit verschiedenen anderen höheren Ordnungen in Zusammenhang zu bringen — aber An-spruch auf kunstgeschichtliche Betrachtung und Porschungsweise darf dann nicht erhoben werden.

Eine Hinwegsetzung über eine kunstgeschichtliche Betrachtungs-weise bedeutet es, wenn H. M. Lützeler in dem Kapitel Erkenntnis der temporalen Gliederung seiner Arbeit^^), also dem Titel nach einer kunst-geschichtUchen Betrachtungsweise behauptet: „Denn es darf nicht so sehr auf mechanische Ordnung nach Daten ankommen als auf Wesens-ordnung nach der Erfüllung von Urformen. Wir müssen zunächst auf

") Vgl. Max Dvofak, Über die dringenden methodischen Erfordernisse der Erziehung zur kunstgeschichtlichen Forschung. Geisteswissenschaften 1913/14, Heft 34/35, S. 932.

") Vgl. H. M. Lützeler, „Formen der Kunsterkenntnis", mit einem Vorwort von Max Scheler, Bonn 1924, S. 84. Das sonst aufschlußreiche Buch ist seinem Charakter nach philosophisch-systematisch und ästhetisch, und bekennt sich offen gegen eine reine kunstgeschichtliche Methode. Es ist nicht klar, warum bei Wesens-erkenntnis bestimmter der Kunst übergeordneter Ordnungen (z. B. der Religion) die Grenze der reinen „Kunstgeschichte überschritten werden muß. Die vitalistische Erklärung: „hier knüpft die Kunstgeschichte wieder die Verbindung mit der ganzen Vielfalt des Lebens", erübrigt sich, da eine jede geschichtliche Betrachtung an die Vielfalt des Lebens anknüpft und die geistesgeschichtliche Ausrichtung der Kunst-geschichte religiöse Erscheinungen weitgehendst berücksichtigt.

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geistige Einheiten gerichtet sein und statt des zeitlichen Moments das dynamische einführen, indem wir uns fragen, wie entfaltet sich eine be-stimmte Idee, eine gewisse Anschauungsform, imter deren Zeichen eine Gruppe von Kunstwerken steht ?" Es ist nur die große Frage, ob die „Ent-faltung dieser bestimmten Idee" jenseits von „Raum und Zeit" greifbar gemacht werden kann ?

Eine bewußte Abwendung von kunstgeschichtlicher Betrachtungs-weise finden wir in einem Aufsatz Hans Sedlmayrs „Kunstgeschichte als Geistesgeschichte"!^).

Hier wird die Behauptung aufgestellt, „daß die g r o ß e n K u n s t -w e r k e — was die vergangene Epoche ganz und gar verkannt hat, weil sie in der Zeitlichkeit aufging, während es Künstler immer empfunden und behauptet haben — u n t e r e i n a n d e r v e r w a n d t e r s i n d a l s d i e W e r k e g l e i c h e n S t i l s" . ferner, „daß es eine nicht erwiesene Voraussetzung ist, daß verwandte Geisteserscheinungen immer in größter zeitlicher und räumlicher Nähe auftreten müssen" und „daß in diesem Vorurteil sich ein übertriebener Respekt vor der Macht der Zeit, d e s Z e i t g e i s t e s ausdrückt, der wie durch Zauberkraft allen Erscheinungen e i n e r Zeit seinen Geist aufdrückt, wenn man will, ein Sich-Beugen vor dem Totalismus des Zeitgeistes".

Einen Ausweg aus diesem Relativismus der Kunstgeschichte sieht der Verfasser in ,,einer fundierten Wertlehre, deren zentrales Wertkriterium in einer Übereinstimmung des Zeitgeistes mit einem realen Aspekt des zeitfreien oder absoluten Geistes zu suchen wäre" und in der Berührung der Kunstgeschichte mit den Anschauungen der produktiven und reproduk-tiven Künstler.

Dieser Auflösung der Kunstgeschichte als geschichtlicher Disziplin muß entgegengehalten werden, daß alles menschliche Tun und Schaffen nicht absolut, sondern eben „zeitlich und räumlich" gebunden ist. Aus dieser „zeitlichen und räumlichen" Gebundenheit kann sich der Mensch auch als höchste und genialste Potenz nicht ganz befreien, aus diesem einfachen Grunde nicht, weil er kein absoluter Geist ist und nur Gott allein als Schöpfer und Träger des absoluten Geistes bezeichnet werden kann^®).

Es kann daher eine Ü b e r e i n s t i m m u n g z w i s c h e n d e m Z e i t g e i s t u n d d e m z e i t f r e i e n a b s o l u t e n G e i s t nicht nur aus diesem Grunde nicht geben, weil diese Behauptung ein logischer Fehlschluß ist, sondern auch aus einem anderen Grunde, der in der zeitlich-räumlichen Individualisation des Strebens nach mensch-

" ) Vgl. Wort und Wahrheit, April 1949. " ) „Der absolute, unwandelbare, durch nichts temporär bedingte Wert liegt

überhaupt nicht in der Geschichte, sondern im Jenseits der Greschichte, das nur der Ahnung und dem Glauben zugänglich ist." Vgl. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums usw., S. 47.

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lieber Vollkommenheit besteht, wodurch allein eine jede geschichtliche und kunstgeschichtliche Betrachtungsweise als berechtigt erscheint").

Ebenso unrichtig ist die Annahme, daß große Kunstwerke unter-einander verwandter sind als Werke gleichen Stils. Nur ganz bestimmte Werke bestimmter historischer Epochen sind untereinander ähnlich und aus der geistigen Affinität dieser Epochen läßt sich ihre Verwandtschaft erklären. Wie verschieden z. B. ist doch eine Praxitelische Statue von einer frühgotischen Portalfigur etwa in Chartres und wie ähnlich dieselbe frühgotische Figur den archaischen griechischen Statuen des 7. Jahr-hunderts V. Chr., oder Werke der spätgotischen Plastik denen des Barock-zeitalters. Die unerbittliche Sprache der Tatsachen entkräftet diese Behauptung.

Warum aber die Kunstgeschichte durch die Berührung mit Anschau-ungen der bildenden Künstler gewinnen und den Relativismus überwinden soll, bleibt ein Rätsel. Die Auflösung gewisser objektiver geistiger Werte durch den modernen Subjektivismus ist eine der Hauptursachen des Relativismus. Wie kann daher der an sich voll berechtigte künstlerische Subjektivismus den kunstgeschichtlichen Relativismus überwinden ?

Und so führen uns diese Fragen zu der Beurteilung der bisherigen Errungenschaften der kunsthistorischen Forschung.

Aus dem antiquarischen Beigeschmack einer Altertumskunde, der Einseitigkeit normativer Ästhetik und der Verschwommenheit der Kultur-geschichte hat A l o i s R i e g l die Kunstgeschichte endgültig befreit. Ihm können wir daher als den eigentlichen Begründer der wissenschaft-lichen Methode der Kunstgeschichte bezeichnen. Ihm verdanken wir eine in den historischen Wissenschaften sehr früh auftretende Überwindung des geschichtlichen Kunstmaterialismus (Semperianismus), welche im Gegensatz zur materialistischen Auffassung, das dem künstlerischen Schaffen zugrunde liegende Kunstwollen zum Ausgangspunkt kunst-geschichtlicher Forschung machte. Diese wichtige Errungenschaft gehört nicht nur zur dauernden Bereicherung kunstgeschichtlicher Forschung, sondern hat darüber hinaus viel zur Überwindung des geschichtlichen Materialismus beigetragen.

Ein offensichtlicher Widerspruch zu der obigen Behauptung besteht auf S. 276 des erwähnten Aufsatzes, wo ,,Kunstgeschichte als Gfeschichte der Epiphanie des absoluten Geistes in den Brechungen des zeitabhängigen menschlichen Geistes sein soU". Aber darf man von der Geschichte des absoluten Geistes überhaupt sprechen? Etwas Absolutes ist eben zeit-, räum- und geschichtslos. — Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, die Stellung der Kirche zu dieser Frage zu beachten, die äußerst zurückhaltend, was die Heiligung der Kunstwerke anbelangt, gewesen ist, manchmal sogar gegen die Anbringung von Kunstwerken in Kulträumen (Konzil von Elvira) sich ausgesprochen hat. Die Ostkirche hat erst nach Jahrhunderte andauernden Kämpfen die Ikonen als res sacrae, als heilige Ikonen erklärt, indem sie die Übereinstimmung des Dargestellten mit dem Urtyp (Prototyp) durch Hypo-stasen (d. h. inkamierten Logos) verlangte. Den Logos an sich (d. i. den göttlichen Urgrund Christi, also das Absolute) erklärte sie als undarstellbar.

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Zu dauernden Einführungen gehört die auf Begriffen aufgebaute formale Analyse der Kunstdenkmäler, also eine wissenschaftliche Hand-habe der Formalanalyse, deren konsequente Durchführung und Anwendung auf grundlegende Arbeiten Alois Riegls zurückgeht^®). Ohne diese Form-und Stilanalyse kann die kunstgeschichtliohe Forschung heute nicht mehr auskommen, so daß sie keine überwundene Etappe, sondern als eine weit-gehende und dauernde Bereicherung der Kunstgeschichte bezeichnet werden kann. Es ist ein weiteres Verdienst der Wiener kunstgeschicht-lichen Schule"), vor allem W i e k h o f f s, R i e g l s und D v o r a k s , daß an der normativen Formanalyse Heinrich Wölfflins Korrekturen vorgenommen worden sind und auf diese Weise eine den verschiedenen Form- und Stilerscheinungen angepaßte differenzierte Formengrammatik herausgearbeitet worden ist. Diese Neuerungen haben sich angesichts der antiquarischen typologisch-ikonographischen und naturwissenschaft-lich-archäologischen Arbeitsmethode als ungemein fruchtbar erwiesen und haben kunstgeschichtliche Forschungsmethoden anderer Länder (z. B. österreichische Nachfolgestaaten, Deutschland, Italien, England, Vereinigte Staaten) oder benachbarte Disziplinen, wie die Archäologie, beeinflußt. Die Unimigänglichkeit der formalen Kunstgeschichte (obwohl sie sich im formalen bei weitem nicht erschöpft), geht aus der Tatsache hervor, daß Kunstwerke keine bloßen geistig wesenlosen Hüllen sind, sondern „geprägte Formen, die lebend sich entwickeln", verkörpern").

Eine weitere Aufgabenbereicherung der kunstgeschichtlichen For-schung ist durch die Einführung der geistesgeschichtlichen Betrachtungs-weise durch die Wiener Schule und zwar Max D v o r a k eingeleitet worden. Es ist der Versuch, die Kunstgeschichte mit anderen Erschei-nungen des geistigen Lebens in nahe Verbindung zu bringen. Mögen ihre endgültigen Ergebnisse umstritten sein, die geistesgeschichtliche Be-trachtungsweise bildet dennoch einen ersten Versuch, die Basis der kunstgeschichtlichen Forschung zu erweitern und eine Brücke zwischen verschiedenen Gebieten des geistigen Schaffens zu bilden.

Vgl. A. Riegl, Stilfragen (1893), die Spätrömische Kunstindustrie (1901), Holländisches Gruppenporträt (1902) und die unveröffentlichte Grammatik der bildenden Künste (1898).

") Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich festzustellen, daß in der Wiener kunstgeschichtlichen Schule sehr früh positivistische Tendenzen sich be-merkbar machen, wie z. B. bei Rudolf v. Eitclberger, M. Thausing und nicht zuletzt bei Giovanni Morelli. Auch das nach der ficole des Chartes reformierte Institut für österreichische Geschichtsforschung hängt mit positivistischen Bestrebungen eng zusammen. Wien wird in dieser Zeit ein Zentrum des Positivismus. Die Ursachen dieser Erscheinung gehen nicht nur auf Josephinische Aufklärung und Nachwirken der Scholastik zurück wie E. Rothacker (Einleitung in die Geisteswissenschaften, S. 200) meint, sondern auf eine gewisse kühle Aufnahme der Romantik.

") Die Auflehnung gegen die Form geht letzten Endes auf die expressionisti-schen Tendenzen der modernen Kunst zurück. Nur die vom Expressionismus postu-lierte „absolute Kunst" lehnt die Form ab, sonst ist das „formlose Kunstwerk" ebenso ein Unding wie ein „inhaltsloses".

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Es muß ausdrücklich hervorgehoben werden, daß alle diese Ver-besserungen und Verfeinerungen der Forschungsmethoden ohne krampf-hafte Uberhastung in der Wiener Schule eingeführt wurden und, was wohl entscheidend ist, die Grundlagen der Kunstgeschichte als historische Disziplin unangetastet gelassen haben^®). Das letzte ist wohl die Ursache, warum diese Neuerungen sich äußerst fruchtbar nicht auflösend und zer-störend erwiesen haben. Die hervorragendsten Vertreter der Wiener Schule haben auf den Grundlagen der historisch-methodischen Tradition fußend, mit äußerster Vorsicht diese Neuerungen eingeführt und zwar derartig, daß stets die Neuerungen der einen auf den Schultern der anderen ruhten.

Diese Vorgänge, welche die Stärke und Stetigkeit der Wiener Schule begründet haben, liefern zugleich einen Beweis, wie ungemein wichtig, ja beinahe unerläßhch, wie fruchtbar und wohltuend für kunsthistorische Studien die Fortdauer solcher Schulen ist.

Es kann aber auch mit Sicherheit angenommen werden, daß die Tradition der Wiener Schule bei weitem nicht abgeschlossen ist und daß aus der traditionellen Basis ein weitausgreifendes Weiterbauen möghch ist.

Das immense Anschwellen und die immer sich ausweitende Kenntnis der Stoffgebiete verlangt eine Verfeinerung des wissenschaftlichen Rüst-zeuges. Es entbrennt ein Kampf zwischen nivelKerender Quantität und auslesenden Qualitätsmethoden der wissenschaftlichen Porschtmg. Das Ringen begann mit der Ablehnung der normativen ästhetisierenden Kunst-geschichte des 18. Jahrhunderts und führte zur Erschließung aller histo-risch faßbaren Kunsterscheinungen.

Heute können wir nicht in aussichtslosen Rückzugsgefechten uns auf das normative Ausleseprinzip Winckelmanns zurückziehen. Zwischen ihm und der Gegenwart steht der wissenschaftliche Historismus des 19. Jahr-hunderts. Wir können uns mit diesem Historismus nur in der Weise aus-einandersetzen, daß wir das Negative abstoßen und das Positive über-nehmen.

Als positive Errungenschaft dieses Historismus kann die geschärfte verfeinerte historische Erkenntnismethode ,,die scharfen historischen Werkzeuge" bezeichnet werden. Wir können sie heute nicht mehr ent-behren. In der Kunstgeschichte heißen diese Werkzeuge: kritisch-histo-rische Behandlung und verfeinerte Form- und Stilanalyse. Aber auch

" ) Die Behauptung H. Sedlmayrs in dem erwähnten Aufsatz „Kunstgeschichte als Geistesgeschichte", daß die „falsche Kunstgeschichte als G«istesgeschichte" weder Kunst noch Geist noch G e s c h i c h t e ernst genommen hat, darf angesichts der bereits historisch gewordenen Verdienste der Wiener Schule um den historischen Charakter der Kunstgeschichte kaum ernst genommen werden, um so mehr, als er selbst im selben Aufsatz die Auffassung vom Kunstwerk als „Ausdruck des Zeit-geistes" bekämpft. Es mutet auch befremdend an, wenn trotz der Widmung dieses Aufsatzes an Max Dvorak außer eines Vortrages in Bregenz, wo Dvoiak angeblich den Historismus überwunden hat, das ganze wissenschaftliche Lebenswerk des großen Forschers so gut wie abgelehnt wird.

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732 Wladimir S a s - Z a l o z i e c k y

den Relativismus in der Erschließung der Masse des gestaltlosen histo-rischen Stoffes verdanken wir dem Historismus im Gegensatz zur Winckel-mannschen normativen Ästhetik. Um ihm zu begegnen, werden wir um ein neues Ausleseprinzip nicht herumkommen, das jedoch der ver-änderten Lage entsprechend anders sein wird als das Winckelmannsche. Die Erschließung der Qualität des Kunstwerkes und die Vertiefung seiner Stellung in der Zeitepoche, in der es entstanden ist, die Einbettung in geschichtliche und geistesgeschichtliche Zusammenhänge — also eine höchste Intensivierung nicht Extensivierung der Forschung — kann mit Erfolg den durch die Masse des Stoffes entstehenden Relativismus weit-gehendst mildern.

Weitere Aufgaben der kunstgeschichtlichen Forschung ergeben sich durch die Abmodifizierung des Entwicklungsgedankens, dessen mecha-nische „Abwicklung" durch eine viel feinere Abwägung des Verhältnisses zwischen Kontinuität und Diskontinuität beim schöpferischen Entstehungs-prozeß der Kimstwerke oder der Stile und durch eine Sublimierung kunst-genetischer Ideen ersetzt werden könnte. Zwischen Theorie und Praxis wird in der Kunstgeschichte stets eine Spannung sich ergeben. Theorie und Praxis in der Kunstgeschichte heißt Anschauung und Abstraktion. Auf bloßer sinnlicher Anschauung kann man keine Wissenschaft auf-bauen, sie ist nur die unerläßliche Voraussetzung der wissenschaftUchen Forschung, die erst mit der begriffUchen Abstraktion beginnt. Abstraktion ohne Anschauung führt ebenso auf Abwege (Intellektualismus), wie bloße sinnliche Anschauung ohne Abstraktion keine wissenschaftliche Einstellung ergibt. Hier ein harmonisches Verhältnis zwischen beiden zu schaffen gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen kunstgeschichtlicher Forschung.

Die mikroskopische, atomisierende, wissenschaftliche Zergliederung kann nur durch zusammenhängend-synthetische, die Ganzheit hervor-hebende Forschungsmethoden überwunden werden. Auch in der Kunst-geschichte ist jede Detailarbeit unvermeidlich, aber muß als Mittel zur Erschließung großer Zusammenhänge nicht aber als Selbstzweck betrachtet werden. Aber diese Ausrichtung auf Ganzheit, von der dann auch Be-fruchtungen auf Teilerscheinungen abfallen, verlangt langjährige Er-fahrung, große Umsicht und eine souveräne Beherrschung des Stoffes. In unkundigen Händen kann sie nur in Verwirrung ausarten^®).

Und zuletzt — last but not least — die geistesgeschichtlichen Probleme. In der Hierarchie der kunstgeschichtlichen Methode werden sie am Schluß rangieren. Es wäre unklug, sie unreifen Anfängern anzuempfehlen, denn die verlangt das Reifwerden von vielen Voraussetzungen.

Entstanden ist die geistesgeschichtliche Betrachtungsweise unter dem Einfluß Wilhelm Diltheys und wurde von Max Dvorak in die Kunst-

") Vgl. Dagobert Frey, Kunstwissenschaftliche Grundfragen, Prolegomena zu einer Kunstphilosophie, Wien 1946, S. 77. „Die Ganzheitlichkeit und Anatomie des Kunstwerkes fordert auch ganzheitliche, gestalthafte Betrachtungsweise."

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Gegenwartsprobleme der Kunstgeschichte 7 3 3

geschichte eingeführt. Sie ist aus dem Bedürfnis der Überwindung der „Inselhaftigkeit" der Kunstgeschichte und ihrer bloß formalen Ausrich-tung entstanden. Leitend war der Wunsch, den Anschluß an die Ganzheit des historischen Geschehens zu finden. Nachdem die Kunst als Ausdruclc geistigen Schaffens mit anderen geistigen Erscheinungen ihrem Wesen nach am nächsten steht, wurden Beziehungen zu geistigen Strömungen aufgezeigt. Es ist nun, abgesehen davon, ob a priori im Kunstwerk geistige Substanz vorhanden ist oder nicht, anzunehmen, daß die führenden und leitenden Ideen auch der Kunst ihren Stempel aufdrücken. Ob diese Ideen rein religiös gefärbt oder religiös-philosophisch gefärbt sind (wie im Neoplatonismus oder in der Scholastik), muß fallweise entschieden werden. Jedenfalls das Verhältnis von religiöser oder philosophischer Idee zur Kunst ist ein derartiges, daß die Kunst eine Idee ausdrückt und nicht die Idee die Kunst. Also ist die religiöse oder philosophische Idee das Primäre. Daher ist das Bestreben, die Kunstwerke aus den führenden Ideen einer Epoche zu erklären, durchaus gegeben. Wenn daher Max Dvorak die Kunst des frühen Mittelalters mit den neoplatonisch-christ-lichen, die des Hochmittelalters mit den hochscholastischen Ideen in nächste Verbindung bringt, so ist dies ebenso begründet wie der Zusammen-hang der sinnlich-pantheistischen geistigen Zeitatmosphäre der Renaissance mit gleichzeitigen Kunsterscheinungen — oder wie etwa der Zusammen-hang des neuzeitiigen Materialismus mit naturalistischen oder impressio-nistischen Kunsterscheinungen der Neuzeit^").

Und aus dieser Betrachtungsweise heraus können auch Kunstwerke als Symptome einer geistigen Krise bewertet werden, obwohl nicht in ihnen allein die geistigen Umwälzungen zum Ausdruck kommen. In dieser Beziehung kann auch die Kunst der Gegenwart als Objekt der kunsthistorischen Untersuchung herangezogen werden. Aber nur mit äußerster Vorsicht und viel Taktgefühl muß an diese Frage herangetreten werden, da sich hier alles noch im Fluß befindet und die modernen Kunst-erscheinungen zu sehr im Gefühlsmäßig-Subjektiven wurzeln, als daß sie durch wissenschaftlich-abstrakte Methoden analysiert werden könnten, andrerseits eine voraussetzungslose Einstellung auch zu den Werken der modernen Kunst nicht denkbar ist® )̂.

Aus der geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise ergibt sich der Weg zur universal zugeschnittenen Kunstgeschichte, die von Max Dvorak angebahnt, aber durch seinen Tod nicht zu Ende geführt worden ist. Hier eröffnen sich von der Kunstgeschichte neue bedeutende Perspek-tiven. So z. B. ist eine Universalgeschichte der abendländischen Kunst,

Diese Peststellung steht in keinem Widerspruch zu der Behauptung D. Freys op. cit. S. 37, der im Kunstwerk sowohl die Äußerungsform der zeitgebundenen Bildungskräfte einer Epoche, wie den Wirkungsfaktor, der selbst den Stil mitgestaltet, sieht. Zweifelhaft bleibt jedoch die Wirkung oder Rückwirkung der Kunstwerke auf herrschende Ideen.

» ) Vgl. H. Tietze, Methode der Kunstgeschichte, S. 154—155.

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734 W. S a s - Z a l o z i e c k y — Gegenwartsprobleme der Kunstgeschichte

in der nicht das Trennende, sondern das Verbindende der großen Kultur-kreise und der einzelnen Nationen zum Ausdruck käme etwa im Sinne des Werkes Ch. Dawsons „Die wahre Einheit der europäischen Kultur", noch ausständig. Der alte österreichische Universalismus, der einer der vornehmsten Ziele der Wiener kunsthistorischen Schule gewesen ist, steht hier vor neuen bedeutsamen Aufgaben^^).

Es wurde in diesen bescheidenen Ausführungen der Versuch unter-nommen, einige Gegenwartsprobleme der kunstgeschichtlichen Forschung zur Debatte zu stellen. Sie sind aus dem Geiste der Wiener kunstgeschicht-lichen Schule herausgewachsen, beanspruchen jedoch nicht irgendwelche Alleingültigkeit.

Und wenn gegenüber historischen Auflösungserscheinungen und den sie hervorrufenden Einseitigkeiten des „Historismus" die positiven und daher schöpferischen Aufgaben der Historie in Erwägung gezogen wurden, so geschah dies in dem Sinne, daß jedes Bestreben, auch die schlichteste Erweiterung der Wahrheit vorzunehmen, sowohl im Leben als auch in der Geschichte als gottgefälliges Werk und für den Forscher daher als VerpfUchtung empfunden werden müßte.

Diese schlichte Erweiterung der Wahrheit sollte gleichzeitig von jener beunruhigenden Neugierde für Sachen frei sein, die man nicht begreifen kann und die Blaise Pascal als Hauptkrankheit des Menschen bezeichnet hat.

") Es gibt unzählige konkrete kunstgeschichtliche Aufgaben, die aus den traditionellen Grundlagen der Wiener kunstgeschichtlichen Schule herauswachsen, deren Behandlung jedoch den Rahmen dieses Versuches sprengen würde.

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