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Page 1: Die Rasenden Versorger

Die rasenden Versorger

Sie sind die spezialisiertesten Zellen, die es gibt. Ein Blick in die faszinierende Welt der roten Blutkörperchen.

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Sie sehen so niedlich aus, so fröhlich. Wie Spielzeug. Oder wie Drops. Hellrot, rundlich, flach, mit eingedellter Oberfläche. Dabei gehören sie zu den kuriosesten Bestandteilen unseres Körpers: die roten Blutkörperchen, auch Erythrozyten genannt. Sie haben eine einzige Aufgabe: im Blut den Sauerstoff zu transportieren. Ohne Sauerstoff keine Zellatmung, kein Stoffwechsel, keine Bewegung. Ohne die Erythrozyten geht im Organismus gar nichts.

Schon die nackten Zahlen sind atemberaubend. In der schier unvorstellbaren Menge von mehr als 25 Billionen sausen sie durch unsere Blutgefäße. In einem Kubikmilliliter Blut tummeln sich 4 bis 6 Millionen! Sie messen gerade mal sieben Tausendstel Millimeter im Durchmesser, sind ein bis zwei Tausendstel Millimeter dick – aber sie legen am Tag eine Strecke von bis zu 15 Kilometern zurück. Auf menschliche Größenverhältnisse übertragen hieße das, dass wir täglich fünfmal eine Strecke zum Mond und zurück bewältigen würden. Ohne Rakete.

Die roten Blutkörperchen sind die spezialisiertesten Zellen überhaupt. Sie haben keinen Zellkern mehr, keine Zellorganellen, keinen nennenswerten eigenen Stoffwechsel – alles wegrationalisiert. Im Grunde sind sie nur noch Gefäße, Transportgefäße für den Sauerstoff. Sie haben ein Gerüst aus den beiden Struktureiweißen Spektrin und Aktin; der Rest, bis zu 90 Prozent, besteht fast ausschließlich aus dem eisenhaltigen Hämoglobin, jenem Molekül, das den Sauerstoff bindet.

Das Leben eines Erythrozyten beginnt im Knochenmark, dem stark durchbluteten Innern der wichtigsten Knochen. Dort werden sie gebildet. Rund eine Woche dauert es, bis ein neues, reifes und funktionsfähiges rotes Blutkörperchen fertig ist. Weil sie so viele sind, geschieht dieser Prozess permanent. In jeder Sekunde entstehen in unserem Körper eine halbe bis eine Million neuer roter Blutkörperchen! Bei der Bildung helfen anfangs die Makrophagen, eine Klasse von Fresszellen, die eine wichtige Rolle im Immunsystem spielen. Sie scharen die Zellen, die sich zu den Erythrozyten entwickeln sollen, um sich, versorgen sie mit Nährstoffen und verdauen die von ihnen ausgeschiedenen Zellbestandteile, die diese nicht benötigen. Nach und nach entledigen sich die Vorläufer der roten Blutkörperchen alles Überflüssigen. Der

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Zellkern schrumpft immer mehr und wird schließlich ausgeschieden, ebenso die anderen Zellorganellen, die eine normale Zelle so braucht, wie die Ribosomen und Mitochondrien.

Nach fünf bis neun, durchschnittlich sieben Tagen ist das Hochleistungsgerät Erythrozyt einsatzbereit. Ab jetzt wird es ununterbrochen funktionieren. Es wird in der Lunge Sauerstoff aufnehmen, sich mit dem Blutstrom zum Herzen treiben lassen und vom Herz weiter in den Körper, ins Gewebe, in die Muskeln, in alle Zellen, es wird sich im hintersten Winkel des Körpers

in die kleinsten Kapillaren quetschen, um auch die abgelegensten Zellen noch mit Sauerstoff zu versorgen. 

Nach etwa vier Monaten beginnt sich das Leben eines Erythrozyten dem Ende zuzuneigen. Wenn er weniger flexibel wird und sich nicht mehr so gut durch die winzigen Kapillaren quetschen kann, ist es Zeit, abzutreten. In der Milz und der Leber werden die Erythrozyten abgebaut, in einem raffinierten Prozess, bei dem, wie üblich in der Natur, alle noch verwendbaren Bestandteile wiederverwertet werden.

Manchmal allerdings ist ein geordnetes Recycling nicht möglich, weil Erythrozyten außerplanmäßig mitten im Gewebe landen – nämlich dann, wenn dieses einen heftigen Schlag abbekommt, zahlreiche winzige Blutgefäße zerstört werden und die roten Blutkörperchen in das umliegende Gewebe geschwemmt werden. Das Phänomen ist als „blauer Fleck“ nur zu bekannt. Wobei blau nur eine Nuance des bunten Farbenspiels ist, das sich in solchen Fällen zuweilen beobachten lässt: Erst verfärbt sich die Stelle blau, zwei Tage später grün, anschließend zeigt sich ein schmutziges Orange, das schließlich in Gelb übergeht. Die Farborgie wird von den verschiedenen Abbauprodukten des Hämoglobins verursacht, die im Laufe dieses Prozesses entstehen. 

Wem das alles zu wissenschaftlich klingt, der sei daran erinnert, dass es die Erythrozyten sind, die das Blut rot machen – und alles, was damit an Gefühlen verbunden ist: das Erröten, die roten Lippen, das rote Herz. „Meine Muskeln sind gespeist von deiner Liebe“, schrieb der deutsch-französische Dichter Yvan Goll; „Ich habe nur rote Blutkörperchen vor lauter Liebe.“