disputation gegen die scholastische theologie (1517)

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916 1 Disputation gegen die scholastische Theologie (1517) Martin Luther Disputation gegen die scholastische Theologie (1517) [WA 1, 224–228] Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther

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Page 1: Disputation Gegen Die Scholastische Theologie (1517)

916 1Disputation gegen die scholastische Theologie (1517)

Martin Luther

Disputation gegen diescholastische Theologie

(1517)

[WA 1, 224–228]

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther

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917 2Disputation gegen die scholastische Theologie (1517)

Nachstehende Thesen wird zu noch zu bestimmenderZeit und Ort Magister Franz Günther aus Nordhausenzur Erlangung der licentia pro Biblia öffentlich unterVorsitz des ehrwürdigen Vaters Martin Luther, Augu-stiner, Dekan der Wittenberger Theologischen Fakul-tät, verteidigen.

1. Zu sagen, daß Augustin in seinen Ausführungengegen die Ketzer zu scharf sei, ist so viel wie zu be-haupten. Augustin habe fast überall gelogen. (Gegendie allgemeine Meinung).

2. Es ist dasselbe, wie den Pelagianern und allenKetzern Gelegenheit zu einem Triumph, ja den Siegzu geben.

3. Und es ist dasselbe, wie das Ansehen aller Kir-chenlehrer dem Spott preiszugeben.

4. Es ist deshalb die Wahrheit, daß der Mensch,der ein »fauler Baum« (vgl. Matth. 7, 18) ist, nur dasBöse wollen und tun kann.

5. Es ist falsch, daß das freie Streben nach entge-gengesetzten Seiten hin etwas vermag; ja, es ist garnicht frei, sondern gefangen. (Gegen die allgemeineMeinung.)

6. Es ist falsch, daß sich der Wille von Natur ausnach der richtigen Vorschrift der Vernunft richtenkönne. (Gegen Duns Skotus und Gabriel Biel.)1

7. Sondern ohne die Gnade Gottes begeht er not-Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther

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wendig eine Handlung, die damit nicht übereinstimmtund böse ist.

8. Daraus folgt jedoch nicht, daß er von Natur ausböse ist, das heißt nach der Lehre der Manichäer vonNatur aus zum Bösen gehörig.

9. Er ist jedoch von Natur und unausweichlich böseund von verderbter Beschaffenheit

10. Es wird zugestanden, daß der Wille nicht freiist, sich alledem zuzuwenden, was ihm nach der Ver-nunft als gut vorschwebt. (Gegen Duns Skotus undGabriel Biel.) 11. Noch steht es in seiner Gewalt,alles zu wollen oder nicht zu wollen, was ihm vor-schwebt.

12. So zu sprechen ist nicht gegen Augustin, der dasagt:2 »Nichts ist so in der Gewalt des Willens wieder Wille selbst.«

13. Ganz ungereimt ist die Folgerung: Der irrendeMensch kann die Kreatur über alles lieben, folglichauch Gott. (Gegen Duns Skotus und Gabriel Biel.)

14. Es ist nicht verwunderlich, daß er sich nach derirrigen Vorschrift (der Vernunft) richten kann undnicht nach der rechten.

15. Ja, es ist für ihn charakteristisch, daß er sichnur nach der irrigen richtet und nicht nach der rech-ten.

16. Vielmehr sollte man so folgern: Der irrendeMensch kann die Kreatur lieben, folglich ist es ihm

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unmöglich, Gott zu lieben.17. Der Mensch kann von Natur aus nicht wollen,

daß Gott Gott ist; er möchte vielmehr, daß er Gottund Gott nicht Gott ist.

18. Von Natur aus Gott über alles lieben, ist eineerdichtete Redensart wie eine Chimäre. (Gegen diefast allgemeine Meinung.)

19. Der Hinweis des Skotus auf einen braven Bür-ger, der seinen Staat mehr als sich selbst liebt, hat(hier) auch keine Gültigkeit.

20. Ein Akt der Freundschaft ist nicht Sache derNatur, sondern der zuvorkommenden Gnade. (GegenGabriel Biel.)

21. In der Natur gibt es nur Handlungen der Be-gierde vor Gott.

22. Jede Handlung der Begierde vor Gott ist etwasBöses und eine Hurerei des Geistes.

23. Auch ist es nicht wahr, daß eine Handlung derBegierde durch die Kraft der Hoffnung gezügelt wer-den könne. (Gegen Gabriel Biel.)

24. Denn die Hoffnung ist nicht wider die Liebe,die allein sucht und will, was Gottes ist.

25. Die Hoffnung kommt nicht aus Verdiensten,sondern aus Leiden, welche die Verdienste aufheben.(Gegen den Brauch vieler.)

26. Ein Akt der Freundschaft ist nicht die vollkom-menste Weise, das zu tun, was in einem steckt; auch

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ist sie nicht die vollkommenste Befähigung zur GnadeGottes oder die Weise, sich zu bekehren und Gott zunähern,

27. sondern es ist ein Akt der schon vollzogenenBekehrung, der Zeit und Natur nach später als dieGnade.

28. Wenn von den Sprüchen: »Kehret euch zu mir,so will ich mich zu euch kehren« (Sach. 1, 3); des-gleichen: »Nahet euch zu Gott, so naht er sich zueuch« (Jak. 4, 8); desgleichen: »Suchet, so werdet ihrfinden« (Matth. 7, 7); desgleichen: »Wenn ihr michsuchen werdet, so will ich mich von euch finden las-sen« (Jer. 29, 13f.), und von ähnlichen gesagt wird,das eine sei der Natur, das andere der Gnade zuzu-schreiben, so wird (nach Augustin) damit nichts ande-res behauptet, als was die Pelagianer gesagt haben.3

29. Die beste und unfehlbare Vorbereitung und dieeinzige Befähigung zur Gnade ist die ewige Wahl undVorherbestimmung Gottes.

30. Von Seiten des Menschen aber geht der Gnadenichts als Unfähigkeit, ja Empörung gegen die Gnadevoraus.

31. Auf Grund einer ganz abenteuerlichen Lügesagt man: Ein Erwählter kann verdammt werden,wenn man die Begriffe trennt, aber nicht, wenn mansie zusammennimmt. (Gegen die Scholastiker.)

32. Ebensowenig kommt bei dem Ausspruch her-Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther

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aus: Die Erwählung ist notwendig nach der Notwen-digkeit der Folge, nicht aber nach der Notwendigkeitdes Folgenden.

33. Auch jene Ansicht ist falsch, daß man, wennman tut, was in seinem Vermögen steht, aus demWege räume, was der Gnade im Wege steht. (Gegeneinige Bestimmte.)

34. Kurz, die Natur hat weder eine rechte Anlei-tung durch die Vernunft noch einen guten Willen.

35. Es ist nicht wahr, daß eine unüberwindlicheUnwissenheit ganz und gar entschuldigt. (Gegen alleScholastiker.)

36. Denn die Unwissenheit, die Gott und sichselbst nicht kennt, noch weiß, was gute Werke sind,ist für die Natur immer unüberwindlich.

37. Die Natur brüstet sich sogar und ist notwendi-gerweise innerlich auf jedes Werk stolz, das demSchein nach und äußerlich gut ist.

38. Es gibt keine sittliche Tugend, die entwederohne Stolz oder ohne Traurigkeit, d.h. ohne Sündewäre.

39. Wir sind nicht Herren unserer Handlungen vonAnfang bis zu Ende, sondern Knechte. (Gegen diePhilosophen.)

40. Wir werden nicht dadurch gerecht, daß wir ge-rechte Handlungen vollbringen, sondern nachdem wirgerecht geworden sind, vollbringen wir gerechte

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Handlungen. (Gegen die Philosophen.)41. Fast die ganze »Ethik« des Aristoteles ist der

Gnade schlimmster Feind. (Gegen die Scholastiker.)42. Es ist ein Irrtum, daß die Auffassung des Ari-

stoteles von der Glückseligkeit nicht der katholischenLehre widerspräche. (Gegen die Ethiker.)

43. Es ist ein Irrtum zu behaupten, ohne Aristoteleswerde keiner ein Theologe. (Gegen die allgemeineMeinung.)

44. Ja, es wird vielmehr keiner ein Theologe, wenner es nicht ohne Aristoteles wird.

45. Zu sagen, ein Theologe, der kein Logiker ist,sei ein ungeheuerlicher Ketzer, ist eine ungeheuerlicheund ketzerische Rede. (Gegen die allgemeine Mei-nung.)

46. Vergeblich erdichtet man eine Logik des Glau-bens, eine Unterschiebung, ausgedacht ohne Sinn undVerstand. (Gegen die neuesten Dialektiker.)

47. Keine syllogistische Formel hält Stich bei Aus-sagen über göttliche Dinge. (Gegen Pierre d'Ailly.)4

48. Dennoch folgt daraus nicht, daß die Wahrheitdes Artikels von der Dreieinigkeit den syllogistischenFormeln widerspräche. (Gegen dieselben und Pierred'Ailly.)

49. Wenn eine syllogistische Formel in göttlichenDingen Stich hielte, so könnte man den Artikel vonder Dreieinigkeit wissen und brauchte ihn nicht zu

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glauben.50. Kurz, der ganze Aristoteles verhält sich zur

Theologie wie die Finsternis zum Licht. (Gegen dieScholastiker.)

51. Es ist stark zu bezweifeln, ob das rechte Ver-ständnis des Aristoteles bei den Lateinern ist.

52. Es wäre besser für die Kirche gewesen, wennPorphyrius mit seinen »Universalien«5 den Theolo-gen nie geboren worden wäre.

53. Die gebräuchlicheren Erklärungen des Aristote-les scheinen das als bewiesen vorauszusetzen, was sieerst beweisen sollten.

54. Zu einer verdienstlichen Handlung ist entwederdas Vorhandensein der Gnade genügend, oder diesesMitvorhandensein bedeutet nichts. (Gegen GabrielBiel.)

55. Die Gnade Gottes ist niemals so mit da, daß siemüßig ist, sondern sie ist ein lebendiger, geschäftigerund wirkender Geist.

Es kann selbst durch Gottes unumschränkte Voll-macht nicht geschehen, daß es eine Handlung derFreundschaft gibt und die Gnade Gottes nicht dabeiist. (Gegen Gabriel Biel.)

56. Gott kann keinen Menschen ohne die rechtferti-gende Gnade Gottes annehmen. (Gegen Occam.)6

57. Gefährlich ist es zu sagen: das Gesetz gebietet,daß die Erfüllung des Gebotes in der Gnade Gottes

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geschieht. (Gegen Pierre d'Ailly und Gabriel Biel.)58. Daraus würde folgen, daß »die Gnade Gottes

haben« bereits eine neue Forderung über das Gesetzhinaus wäre.

59. Ebenso würde daraus folgen, daß die Erfüllungdes Gebotes ohne die Gnade Gottes geschehen kann.

60. Desgleichen würde folgen, daß die Gnade Got-tes noch verhaßter würde, als es das Gesetz selbstwar.

61. Nicht kann man folgern: das Gesetz muß in derGnade Gottes gehalten und erfüllt werden. (GegenGabriel Biel.)

62. Folglich sündigt ohne Unterlaß, wer außerhalbder Gnade Gottes ist – auch wenn er nicht tötet, nichtdie Ehe bricht, nicht stiehlt.

63. Sondern es folgt: er sündigt dadurch, daß er dasGesetz nicht auf geistliche Weise erfüllt.

64. Auf geistliche Weise tötet nicht, bricht nichtdie Ehe, stiehlt nicht, wer keinen Zorn noch böse Lustempfindet.

65. Außerhalb der Gnade Gottes ist es so unmög-lich, keinen Zorn und keine böse Lust zu empfinden,daß dies nicht einmal in der Gnade zur vollkommenenErfüllung des Gesetzes hinreichend geschehen kann.

66. Mit der Tat und äußerlich nicht töten, die Ehenicht brechen usw. ist eine Gerechtigkeit der Heuch-ler.

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67. Es kommt aus der Gnade Gottes, keine böseLust noch Zorn zu empfinden.

68. Deshalb ist es unmöglich, das Gesetz in irgend-einer Weise ohne die Gnade Gottes zu erfüllen.

69. Ja, es wird vielmehr durch die Natur ohne dieGnade Gottes noch mehr gebrochen.

70. Das (an sich) gute Gesetz wird für den natürli-chen Willen unausweichlich böse.

71. Gesetz und Wille sind ohne die Gnade Gotteszwei unversöhnliche Gegensätze.

72. Was das Gesetz will, das will der Wille immernicht, es sei denn, er heuchle aus Furcht oder Liebe,daß er wolle.

73. Das Gesetz ist der Vollstrecker des Willens,denn dieser wird allein durch das »Kind, das uns ge-boren ist« (Jes. 9, 6) überwunden.

74. Das Gesetz macht die Sünde »überaus sündig«(Röm. 7, 13), denn es reizt zum Zorne und hält denWillen von sich selbst zurück.

75. Die Gnade Gottes aber macht die Gerechtigkeitdurch Jesus Christus überaus gerecht; denn sie be-wirkt, daß man Gefallen am Gesetz findet.

76. Jedes Werk des Gesetzes ohne die Gnade Got-tes erscheint äußerlich als gut, innerlich aber ist esSünde. (Gegen die Scholastiker.)

77. Immer ist der Wille abgewandt und sind nurdie Hände dem Gesetz des Herrn zugekehrt, wo die

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Gnade fehlt.78. Der Wille, der dem Gesetz ohne die Gnade

Gottes zugekehrt ist, ist es nur mit Rücksicht auf deneigenen Vorteil.

79. Verflucht sind alle, die Werke des Gesetzeswirken.

80. Gesegnet sind alle, die Werke der Gnade Got-tes wirken.

81. Das Kapitel »Falsas poenitentias«7 bestätigt,daß Werke außerhalb der Gnade nicht gut sind –wenn es nicht falsch verstanden wird.

82. Nicht nur das Zeremonialgesetz ist ein Gesetz,das nicht gut ist und Gebote, durch die man nicht dasLeben haben kann, (Gegen viele Lehrer.)

83. sondern auch die Zehn Gebote selbst und alles,was innerlich und äußerlich gelehrt und vorgeschrie-ben werden kann.

84. Das gute Gesetz, d.h. dasjenige, durch das mandas Leben hat, ist die Liebe Gottes, die »ausgegossenist durch den heiligen Geist in unsere Herzen« (Röm.5,5).

85. Der Wille jedes Menschen wollte, wenn esmöglich wäre, lieber, daß es kein Gesetz gäbe und erganz frei wäre.

86. Der Wille jedes Menschen haßt es, daß ihm einGesetz auferlegt wird, oder er wünscht nur aus Eigen-liebe, daß es ihm auferlegt wird.

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87. Wenn das Gesetz gut ist, kann der Wille, derihm feind ist, nicht gut sein.

88. Und daraus geht klar hervor, daß jeder natürli-che Wille ungerecht und böse ist.

89. Als Mittlerin ist die Gnade notwendig, die dasGesetz mit dem Willen versöhnen soll.

90. Die Gnade Gottes wird gegeben, um den Wil-len zu leiten, daß er nicht auch in der Liebe zu Gottirre. (Gegen Gabriel Biel.)

91. Sie wird nicht gegeben, um häufiger und leich-ter Handlungen (der Liebe) zuwege zu bringen, son-dern weil ohne sie gar keine Handlung der Liebe zu-wege gebracht wird. (Gegen Gabriel Biel.)

92. Der Beweis ist unwiderleglich, daß die Liebeüberflüssig wäre, wenn der Mensch von Natur auseine Handlung der Freundschaft zu tun vermöchte.(Gegen Gabriel Biel.)

93. Es ist scharfsinnig, aber böse zu sagen, Genußund Gebrauch seien ein und dieselbe Handlung.(Gegen Occam, Pierre d'Ailly und Gabriel Biel.) 94.Desgleichen (wenn man sagt), daß die Liebe zu Gottbei einer auch noch so heftigen Liebe zur Kreatur be-stehen könne.

95. Gott lieben heißt sich selbst hassen und außerGott nichts wissen.

96. Wir sind gehalten, unser Wollen ganz demWillen Gottes gleichförmig zu machen. (Gegen Pi-

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erre d'Ailly.)97. Wir sollen nicht nur das (wollen), was Gott uns

wollen will, sondern wir müssen überhaupt alles wol-len, was Gott auch immer will.

Damit wollen wir nichts sagen und glauben auchnichts gesagt zu haben, was der katholischen Kircheund den Kirchenlehrern nicht entspräche.

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Editorische Bemerkung

Diese Thesenreihe stellte Luther anläßlich der Promo-tion von Franz Günther zum Baccalaureus biblicusam 4. September 1517 auf. Er hat auf sie große Hoff-nungen gesetzt: in Wittenberg fanden die Thesen zwarallgemeinen Beifall (in dem Jahr seit den Thesen fürBernhardi hatte die Position Luthers dort entscheiden-de Fortschritte gemacht, vgl. Luthers Brief an Langvom 18. Mai 1517, Bd. 10, 25), aber schon in Erfurt,wohin Luther die Thesen bereits am 4. September1517 geschickt hatte, blieben sie ohne Echo. Der Be-gleitbrief Luthers zeigt (vgl. Bd. 10, 26), wieviel ihman ihnen gelegen war, um so größer war seine Enttäu-schung (und um so größer seine Überraschung, welchungeheures Echo seine 95 Thesen vom 31. Oktober1517 – weniger als zwei Monate danach – fanden).Auch diese Thesenreihe wurzelt in Augustin, auch sieist von der Reformation weiter entfernt als die heftigePolemik gegen die Autoritäten der Scholastik, allenvoran Aristoteles, auf den ersten Blick glauben macht.Schon früh, vgl. den Brief an Joh. Braun vom 17.März 1509 (Bd. 10, 11), kann Luther die Philosophienicht befriedigen, bereits 1516 hat seine Polemikgegen die Schulautoritäten eine kaum noch zu über-treffende Schärfe erreicht (vgl. Band 10, 15). In der

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Disputation gegen die scholastische Theologie läßt erihr freien Lauf, und zwar nicht nur gegen die via anti-qua, sondern auch gegen die via moderna, von der erselbst herkam. Aber nicht nur der Einsatz der Dispu-tation, sondern auch ihr Fortgang erweist, daß hiervon Augustin her polemisiert wird, der Schluß (S.362, 11ff.) ist nicht ungewöhnlich, zeigt aber doch,daß Luther sich bewußt war, weit vorgestoßen zusein.

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Anmerkungen

1 Johannes Duns Scotus (um 1270-1308), mit demBeinamen Doctor subtilis, um der Scharfsinnigkeitseiner Gedankengänge willen, theologischer Lehrer inParis, England und in den letzten Monaten seines Le-bens in Köln. Noch auf der vollen Höhe der Schola-stik stehend, leitete er doch ihren Übergang zum No-minalismus und ihre innere Auflösung ein.Gabriel Biel (um 1410-1495), Professor an der Tü-binger Universität, einer der Luthers Ausbildung inErfurt bestimmenden theologischen Schriftsteller (dieStellennachweise im einzelnen vgl. bei Vogelsang,Bd. 53 der Clemenschen Ausgabe, S. 320ff.).

2 Augustin, De gratia et libero arbitrio 3; ML 44,885, das Zitat stammt aus Gabriel Biel (III sent; dist.27, quaest. 1 a. 3 dub. 2ff.).

3 Vgl. Augustin, De gratia et libero arbitrio 5, 10;ML 44, 887.

4 Eig.: »Contra Card.« (inalem), sonst auch: ContraCardinalem Cameracensem = Pierre d'Ailly(1350-1420), Kanzler der Universität Paris, zuletztBischof von Cambrai. Er gehört wie Biel und Ock-ham zu den Schriftstellern, an denen Luther in Erfurtausgebildet wurde und mit denen Luther eng vertraut

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war.

5 Der Universalienstreit des Mittelalters geht zurückauf die Übersetzung der Einleitung des Porphyrius(neuplatonischer Philosoph des 3. Jh.) zu den logi-schen Schriften des Aristoteles durch Boethius (†535). Jahrhundertelang ging im Mittelalter der Streitdarüber zwischen den scholastischen Schulen hin undher, ob die Gattungsbegriffe (universalia) ante rem(platonischer Realismus), in re (aristotelischer Realis-mus) oder post rem (Nominalismus) seien, d.h. ob siegesondert von den sinnlich wahrnehmbaren Objektenreal existierten, oder in ihnen ihr Dasein hätten, odernur Abstraktionen des menschlichen Denkens seien.

6 Wilhelm von Ockham (um 1285-1349), Begründerdes Nominalismus des 14./15. Jahrhunderts, Schul-haupt der »via moderna«, die Luthers theologischeAusbildung in Erfurt bestimmte.

7 Das geht auf das Decretum Gratiani, pars III (depoenitentia), dist. 5 cap. 6 (»Falsas poenitentias dici-mus«). Friedberg I, 1241.

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