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Dominique Pradelle: Par-dela ` la re ´volution copernicienne. Sujet transcendantal et faculte ´s chez Kant et Husserl Paris: PUF, 2012, 407 Seiten. ISBN 978-2-13-059056-9, 32 Michela Summa Ó Springer Science+Business Media Dordrecht 2013 Das Verha ¨ltnis zwischen Husserl und Kant za ¨hlt zu den kontroversesten Themen im Bereich systematischer Forschung zur Transzendentalphilosophie. Dieses Verha ¨lt- nis ist unter anderem deshalb kompliziert, weil Husserl relativ ambivalent u ¨ber Kants Philosophie urteilt. Einerseits betrachtet er Kant als den Entdecker der Transzendentalphilosophie und somit auch als Vorla ¨ufer der transzendentalen Pha ¨nomenologie. Andererseits a ¨ußert er sich gegenu ¨ber bestimmten Aspekten der Philosophie Kants, die er als Reste einer nicht u ¨berwundenen metaphysischen Tradition betrachtet, kritisch. Die Anerkennung einer solchen Ambivalenz scheint der Ausgangspunkt von Pradelles Forschungen zu Husserl und Kant zu sein. Diese bewegen sich zwischen der Hervorhebung der Bedeutung der Kant’schen Erbschaft fu ¨r Husserls Pha ¨nomenologie und der Anerkennung, dass eine solche theoretische Erbschaft eine tiefreichende A ¨ nderung, wenn nicht sogar eine Umkehrung, innerhalb der Pha ¨nomenologie erfa ¨hrt. Das zeigt sich sowohl in dem 2000 erschienenen L’arche ´ologie du monde. Constitution de l’espace, ide ´alisme et intuitionnisme chez Husserl als auch im neueren Buch, Par-dela ` la re ´volution copernicienne. Sujet transcendantal et faculte ´s chez Kant et Husserl. Die argumentative Strategie ist in beiden Studien in verschiedenen Hinsichten a ¨hnlich. Ausgehend von der Frage nach den Mo ¨glichkeitsbedingungen der Erfahrung und der Bedeutung ihres Apriori, die sowohl Kants als auch Husserls Forschungen leitet, wird die Spezifita ¨t des jeweiligen Ansatzes zur Transzendentalphilosophie her- vorgehoben. Dies kommt besonders in Par-dela ` la re ´volution copernicienne zum Vorschein. Hier werden die zentralen Momente von Kants kopernikanischer Wende systematisch als Leitfaden genommen, um das Vorhaben der Husserl’schen Untersuchungen zu beleuchten. Die Verschiebung der Fragestellung vom Kantis- chen zum Husserl’schen Hintergrund mu ¨ndet aber in eine eigentu ¨mliche M. Summa (&) Klinik fu ¨r Allgemeine Psychiatrie, Sektion Pha ¨nomenologische Psychopathologie und Psychotherapie, Universita ¨t Heidelberg, Voß-Str. 2, 69115 Heidelberg, Germany e-mail: [email protected]; [email protected] 123 Husserl Stud DOI 10.1007/s10743-013-9132-y

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Page 1: Dominique Pradelle: Par-delà la révolution copernicienne. Sujet transcendantal et facultés chez Kant et Husserl

Dominique Pradelle: Par-dela la revolutioncopernicienne. Sujet transcendantal et facultes chez Kantet Husserl

Paris: PUF, 2012, 407 Seiten. ISBN 978-2-13-059056-9, € 32

Michela Summa

� Springer Science+Business Media Dordrecht 2013

Das Verhaltnis zwischen Husserl und Kant zahlt zu den kontroversesten Themen im

Bereich systematischer Forschung zur Transzendentalphilosophie. Dieses Verhalt-

nis ist unter anderem deshalb kompliziert, weil Husserl relativ ambivalent uber

Kants Philosophie urteilt. Einerseits betrachtet er Kant als den Entdecker der

Transzendentalphilosophie und somit auch als Vorlaufer der transzendentalen

Phanomenologie. Andererseits außert er sich gegenuber bestimmten Aspekten der

Philosophie Kants, die er als Reste einer nicht uberwundenen metaphysischen

Tradition betrachtet, kritisch. Die Anerkennung einer solchen Ambivalenz scheint

der Ausgangspunkt von Pradelles Forschungen zu Husserl und Kant zu sein. Diese

bewegen sich zwischen der Hervorhebung der Bedeutung der Kant’schen Erbschaft

fur Husserls Phanomenologie und der Anerkennung, dass eine solche theoretische

Erbschaft eine tiefreichende Anderung, wenn nicht sogar eine Umkehrung,

innerhalb der Phanomenologie erfahrt. Das zeigt sich sowohl in dem 2000

erschienenen L’archeologie du monde. Constitution de l’espace, idealisme et

intuitionnisme chez Husserl als auch im neueren Buch, Par-dela la revolution

copernicienne. Sujet transcendantal et facultes chez Kant et Husserl. Die

argumentative Strategie ist in beiden Studien in verschiedenen Hinsichten ahnlich.

Ausgehend von der Frage nach den Moglichkeitsbedingungen der Erfahrung und

der Bedeutung ihres Apriori, die sowohl Kants als auch Husserls Forschungen leitet,

wird die Spezifitat des jeweiligen Ansatzes zur Transzendentalphilosophie her-

vorgehoben. Dies kommt besonders in Par-dela la revolution copernicienne zum

Vorschein. Hier werden die zentralen Momente von Kants kopernikanischer Wende

systematisch als Leitfaden genommen, um das Vorhaben der Husserl’schen

Untersuchungen zu beleuchten. Die Verschiebung der Fragestellung vom Kantis-

chen zum Husserl’schen Hintergrund mundet aber in eine eigentumliche

M. Summa (&)

Klinik fur Allgemeine Psychiatrie, Sektion Phanomenologische Psychopathologie und

Psychotherapie, Universitat Heidelberg, Voß-Str. 2, 69115 Heidelberg, Germany

e-mail: [email protected]; [email protected]

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DOI 10.1007/s10743-013-9132-y

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Umkehrung solcher Fragen, welche wiederum die Eigentumlichkeit von Husserls

anti-kopernikanischer Wende ausmacht. Festzuhalten ist, dass der Ausdruck ‘‘anti-

kopernikanische Wende’’ keine bloße Widerlegung der kopernikanischen Wende

von Kant zugunsten der Ruckkehr zu einer realistischen Position, d.h. zur These der

Unabhangigkeit alles Seienden von dem erfahrenden Bewusstsein, bedeutet. Die

Entdeckung der transzendentalen Dimension der subjektiven Erfahrung und der

ontologischen Differenz zwischen Subjektivitat und innenweltlichem Seienden wird

von Husserl nicht in Frage gestellt. Diese Entdeckung erweist sich aber, wie wir

sehen werden, in der Phanomenologie als anders begrundet.

Die Argumentation in Par-dela la revolution copernicienne setzt in verschiede-

nen Hinsichten diejenige fort, die Pradelle in L’archeologie du monde entwickelt

hatte. Zweck dieser fruheren Arbeit war, die Bedeutung von Husserls Idealismus

und Intuitionismus anhand der Frage nach der Konstitution des Raumes zu

beleuchten. Schon in diesem Zusammenhang taucht die Frage nach der Moglichkeit

einer Transzendentalphilosophie auf, die nicht auf den Strukturen der endlichen

Subjektivitat, sondern auf den Strukturen des Erscheinenden als solchen grundet

(vgl. Pradelle 2000, S. xii). Vor allem wird diese Frage in diesem ersten Werk in

Zusammenhang mit Husserls Projekt einer phanomenologisch begrundeten trans-

zendentalen Asthetik erortert. Statt wie bei Kant als parallel zur Unterscheidung der

menschlichen Vermogen von Sinnlichkeit und Verstand betrachtet zu werden (KrV

B 74–88/A 50–64), wird die Unterscheidung von Asthetik und Analytik von Husserl

a parte objecti bestimmt, namlich in Bezug auf das Wesen der jeweiligen

intentionalen Korrelate der schlichten Anschauung und der Idealisierung.

Dies schließt die Idee einer Schichtung von Asthetik und Analytik ein, welche

der Schichtung der Typen von Gegenstandlichkeit und ihrer jeweiligen

Gegebenheitsweise entspricht. Husserls Kritik an Kants kopernikanischer Wende

und an dessen mangelhafter Auffassung der konstitutiven Leistungen der Sinnlichkeit

dient daher zur Ausarbeitung der eigentumlichen Methode der phanomenologischen

Asthetik. Es handelt sich um eine Methode, die von unten her fortschreitet, indem sie

von den niedrigsten Stufen der Erfahrung ausgeht, um sowohl ihre Autonomie als

auch ihre fundierende Rolle in Bezug auf die hoheren Stufen aufzuzeigen.

In L’archeologie du monde hinterfragt Pradelle aber die Tragweite dieser

Vorgehensweise und behauptet schließlich, dass Husserls Analysen der sinnlichen

Erfahrung oft von oben an geleitet sind, i.e. von dem teleologischen Prinzip der

Begrundung des idealisierenden Denkens. Dies aber scheint das ganze Projekt einer

rein deskriptiven Phanomenologie in Frage zu stellen.

In Par-dela la revolution copernicienne wendet Pradelle seine argumentative

Strategie an, um die Frage nach der Bestimmung der transzendentalen Logik im

Verhaltnis zur Asthetik bei Husserl und Kant und die Frage nach der jeweiligen

Bestimmung der transzendentalen Subjektivitat zu erortern.1

1 Es muss hier hervorgehoben werden, dass Pradelle die Kant’sche Unterscheidung von Asthetik und

Logik aufnimmt und sie zur Interpretation der Texte Husserls heranzieht. Das kann den Leser, der mit

Husserls Bestimmung der transzendentalen Logik vertraut ist, insofern irrefuhren, als die transzendentale

Asthetik bei Husserl Teil der transzendentalen Logik ist, und zwar ihre Grundstufe (vgl. Hua XVII, S.

296). Sicherlich vernachlassigt Pradelle diese Bestimmung der transzendentalen Logik als geschichtete

Welt-Logik in seinem Werk nicht. Deswegen gilt diese Anmerkung nur als eine terminologische

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In Ubereinstimmung mit Kern (1964, S. 423) zeigt Pradelle, dass die Divergenz

zwischen Husserls und Kants Philosophien in erster Linie eine methodologische ist.

Nichtsdestotrotz betont er auch, dass eine solche methodologische Divergenz sich in

dem unterschiedlichen Verstandnis der Transzendentalphilosophie und ihrer

Begrundung spiegelt. Die Frage nach der Bedeutsamkeit der kopernikanischen

Wende bei Kant und ihrer ,,Uberwindung‘‘ bei Husserl verbindet daher das

methodologische Problem der Tragweite einer regressiven und konstruktiven

Methode mit dem erkenntnistheoretischen Problem des Verhaltnisses zwischen den

Strukturen der Subjektivitat und den Strukturen der Erfahrung.

Die Besprechung aller Themen, die in den acht Kapiteln von Par-dela la

revolution copernicienne diskutiert werden, wurde den Rahmen dieser Rezension

sprengen. Wir werden uns daher auf die drei wesentlichen und miteinander

verbundenen Schwerpunkte beschranken: (1) das Verhaltnis zwischen Strukturen

der Subjektivitat und Strukturen der Erfahrung; (2) die Husserl’sche ,,Entsubjekti-

vierung‘‘ [desubjectivation] der transzendentalen Vermogen und der Gesetze der

Erfahrung; (3) die Teleologie des wissenschaftlichen Denkens. Anschließend

werden wir diskutieren, wie sich die Husserl’sche ,,Uberwindung‘‘ der kopernik-

anischen Wende in der phanomenologischen Bestimmung der Subjektivitat der

Erfahrung widerspiegelt.

1 Strukturen der Subjektivitat und Strukturen der Erfahrung

Die Revolution der Denkart, die unter dem Namen der kopernikanischen Wende

bekannt ist, basiert grundsatzlich auf der Verwerfung des metaphysisch-realis-

tischen erkenntnistheoretischen Ansatzes, nach dem die Erkenntnis sich nach den

Gegenstanden an sich richten sollte. Gegen diese Position betont Kant, dass die

Gegenstande als Erscheinungen sich nach den apriorischen Strukturen unserer

Erkenntnis richten mussen (KrV, B XV f.). Diese These enthalt nach Husserl zwei

wichtige Implikationen: einerseits die Stiftung einer transzendentalen Philosophie,

nach der die Gegenstande der Erfahrung und der Erkenntnis erst durch die

Leistungen der reinen Subjektivitat als solche konstituiert werden; andererseits aber

die Wiederkehr einer Art Anthropologismus und Psychologismus bezuglich der

Idee, dass die Strukturen der Gegenstandlichkeit am Leitfaden der Strukturen des

erkennenden Subjekts bestimmt werden sollen. Trotz seiner Anerkennung der ersten

Implikation ist Husserl gegenuber der zweiten sehr kritisch.

Dieser Aspekt der Husserl’schen Kritik an Kant wird von Pradelle schon in

L’archeologie du monde zum Zweck der Bestimmung der Spezifitat der phanom-

enologischen transzendentalen Asthetik ausfuhrlich diskutiert. Statt als Formen der

Sinnlichkeit (KrV, B 37–66/A 22–49) werden Raum und Zeit von Husserl

als Formen des Erscheinenden als solchen verstanden (Hua XVI, S. 43; Hua Mat IV,

Footnote 1 continued

Warnung bezuglich der unvollkommenen Uberlappung der Husserl’schen und Kantischen Begrifflichkeit.

Ein weiteres Buch uber die Archaologie der Logik, das die angesprochene Unterscheidung

hochstwahrscheinlich auch thematisieren wird, ist als Fortsetzung der vorliegenden Studie geplant. Vgl.

(Pradelle 2012, 19 f.).

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S. 121). Schon bezuglich der transzendentalen Asthetik stellt Pradelle daher die

Bestimmung der apriorischen Strukturen der Erfahrung a parte subjecti (Kant) und

a parte objecti (Husserl) einander gegenuber.

In Par-dela la revolution copernicienne wird diese Gegenuberstellung analog in

Bezug auf die Strukturen der Erkenntnis und die transzendentale Logik wieder

aufgenommen. Wie bei der transzendentalen Asthetik handelt es sich um eine

,,Reinigung‘‘ der anthropologischen und psychologischen Voraussetzungen bezug-

lich der Verfassung des endlichen Subjekts, und zwar diesmal bezuglich der

Strukturen des endlichen Verstandes. Inwiefern impliziert aber die kopernikanische

Wende eine Form von Anthropologismus und Psychologismus?

Die Anthropologismuskritik konzentriert sich vor allem auf die Annahme der

menschlichen Subjektivitat als ,,Maßstab‘‘ der Strukturen der Erkenntnis. Diese

Kritik richtet sich daher insbesondere auf die zusammengehorigen Begriffe des

Dinges an sich und des intellectus archetypus. Beide Begriffe werden von Husserl

als sinnlos betrachtet (Hua VII, S. 364) und als Reste einer bodenlosen Metaphysik

(Hua VII, S. 362). Husserls Kritik der Zusammengehorigkeit der Begriffe des

Dinges an sich und des intellectus archetypus beruht hauptsachlich auf dem

positiven Verstandnis des Dinges an sich als noumenon. Dies ist namlich nicht nur

negativ als das verstanden, was sich der menschlichen Erkenntnis entzieht, sondern

auch als der Gegenstand einer moglichen nicht-menschlichen intellektuellen

Anschauung.2 Die menschliche Subjektivitat ist zu intellektueller Anschauung

nicht imstande, weshalb sie keinen Zugang zu den Dingen an sich hat. Eine solche

Anschauung konnte jedoch prinzipiell von einer nicht-menschlichen, unendlichen

Subjektivitat vollzogen werden. Dies aber scheint nach Husserl den Geltungsansp-

ruch des Apriori zu unterminieren. Denn die Gultigkeit der apriorischen Gesetze

ware, so verstanden, auf eine bestimmte Art der Subjektivitat begrenzt. Stattdessen

versteht Husserl die Universalitat und die Notwendigkeit der apriorischen Gesetze

im Sinne der Gultigkeit fur jedes mogliche Subjekt.

Was die Kritik am Anthropologismus mit der Kritik am Psychologismus

verbindet, ist die Ruckfuhrung der apriorischen Gesetze der Erkenntnis auf die

empirische Allgemeinheit der Strukturen der menschlichen Subjektivitat oder des

seelischen Lebens.3 Husserls Psychologismuskritik versteht Pradelle vor allem in

Bezug auf Kants Theorie der Vermogen. Wenn die Vermogen als eingeborene

psychologische Strukturen der menschlichen Subjektivitat aufgefasst werden und

dennoch als Grundlage fur die Unterscheidung von verschiedenen Modalitaten der

Erkenntnis fungieren sollen, scheint jeder Unterschied zwischen dem transzendent-

alen und dem empirisch-psychologischen Subjekt nivelliert zu werden. Daruber

hinaus zeigt die reflexive Wissenschaft der Erkenntnis, die Kant dank der

2 Zur Unterscheidung der positiven und negativen Definition des noumenon vgl. (KrV B 307 ff./A 249

ff.) Der Begriff des intellectus archetypus taucht in diesem Zusammenhang nicht auf. Kant erwahnt hier

aber wohl die Moglichkeit eines Subjekts, das nicht nur sinnliche, sondern auch intellektuelle

Anschauung vollziehen konnte. Der Begriff des intellectus archetypus taucht stattdessen in der Kritik der

Urteilskraft in Gegensatz zum intellectus ectypus auf. Letzterer ist diskursiv und der Bilder bedurftig,

wahrend ersterer intuitiv ist. Vgl. (KU AA 05, 405–410).3 Dies wurde schon in den Prolegomena hervorgehoben in Bezug auf die damalige Debatte zur

Begrundung der Logik. Vgl. (Hua XVIII, S. 122–158).

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kopernikanischen Wende etabliert, die Ursprunglichkeit und respektive Heteroge-

nitat der Vermogen und somit der Quellen der Erkenntnis (Pradelle 2012, S. 99 f.).

In diesem Sinne begrundet die Aufdeckung der invarianten Formen der endlichen

Subjektivitat (Vermogen, Stamme und Quellen der Erkenntnis) die Idee einer

transzendentalen Faktizitat. Impliziert aber die Hervorhebung dieser Faktizitat bei

Kant tatsachlich eine Form von Anthropologismus und Psychologismus ante

litteram? Dass Husserls Position diesbezuglich nicht so eindeutig ist, wird in dem

Text der Prager Konferenz bewiesen. Dort behauptet Husserl, dass ‘‘Kants

transzendentale Subjektivitat, die der transzendentalen Akte und Vermogen, welche

das ganze Thema der Kantischen Philosophie ausmacht, […] ganz und gar nicht die

menschlich und tierisch real vermeinte Seele [ist]’’ (Hua XXIX, S 114). Kants

Philosophie sollte daher nicht als subjektivistisch und psychologistisch bezeichnet

werden, denn gerade ‘‘diesen Psychologismus fur immer zu entwurzeln, ist Kants

Unternehmen’’ (Hua XXIX, S.114).

Indem er davor warnt, Kants Theorie der Vermogen als eine Art Psychologismus

zu verstehen, scheint Husserl anzuerkennen, dass diese Vermogenstheorie eine

transzendentale Theorie sein will.

Obwohl diese Bemerkung im vorliegenden Text nicht genauer entwickelt wird,

lasst sich Husserls Hinweis im Zusammenhang mit der systematischen Darstellung

der Vermogen in der dritten Kritik weiter verfolgen. Die Idee eines durch eine

innere Regelmaßigkeit organisierten Systems der Vermogen taucht schon in der

ersten Einleitung auf (EEKU AA 20, 208–211). Und in der zusammenfassenden

Tafel der Vermogen am Ende der gedruckten Einleitung wird diese Systematizitat

gezeigt. Ein erster bedeutsamer Aspekt ist, dass das Erkenntnisvermogen sowohl im

empirischen Bereich unter den Gemutsvermogen vorkommt, als auch im transzen-

dentalen Bereich, wo es als Oberbegriff fur die Vermogen des Verstandes, der

Urteilskraft und der Vernunft betrachtet wird (KU AA 05, 197). Dieses doppelte

Vorkommen und die Diskrepanz zwischen der empirischen und der transzendent-

alen Ebene zeigen,4 dass kein strikter Parallelismus zwischen empirischen und

transzendentalen Vermogen besteht. Daruber hinaus weist der Zusammenhang

zwischen Gemutsvermogen und transzendentalen Vermogen auf den Zusammen-

hang zwischen dem Empirischen und dem Apriori hin. Zwar setzt die Klassifizie-

rung der transzendentalen Vermogen eine gewisse Faktizitat der Erfahrung voraus.

Sie zeigt aber auch die nicht mehr faktischen, sondern apriorischen Strukturen, die

der Erfahrung zugrunde liegen. In diesem Sinne, um Husserls Vokabular

aufzunehmen, scheint die Faktizitat der transzendentalen Vermogen nicht eine

bloße Tatsache zu bezeichnen, sondern eher auf die Notwendigkeit eines Faktums

hinzuweisen.5

Ohne auf diese Aspekte einzugehen, scheint Pradelle aber selbst die Anthropo-

logismuskritik durch den Hinweis auf den Unterschied zwischen dem empirischen

4 Im empirischen Bereich ist das Erkenntnisvermogen Unterbegriff, wahrend es im transzendentalen

Bereich Oberbegriff ist.5 Zu Husserls Unterscheidung zwischen Tatsache und Faktum und zur Betrachtung der Gesetzmaßigkeit

oder Rationalitat der Erfahrung als ein unerklarbares Faktum, vgl. (Hua III/1, S. 98; Hua XVI, S.

289–290).

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(phanomenalen) und dem intelligiblen (noumenalen) Charakter des Menschen

(KrV, B 561/A533-B 586/A 558) zu nuancieren (Pradelle 2012, S. 102 f.). Diese

Kant’sche Unterscheidung entspricht derjenigen zwischen naturlicher Kausalitat

und Freiheit: Als freies denkendes und agierendes ist das Subjekt von keiner

Ursache bestimmt, sondern ist selbst causa efficiens von Handlungen. Dies scheint

eine gewisse Entformalisierung der Subjektivitat zu begrunden (Pradelle 2012, S.

111). Die Faktizitat des transzendentalen Subjekts ist nicht diejenige der empiris-

chen Vermogen, sondern in erster Linie diejenige solcher Vermogen, die konstitutiv

fur seine intelligible (d.h. nicht-empirische) Natur sind.

2 Die Entsubjektivierung der Vermogen und der Gesetze der Erfahrung

Trotz der erwahnten Nuancierung der Anthropologismuskritik und

Psychologismuskritik behauptet Husserl, dass eine angemessene Theorie der

Erfahrung nicht mit den Strukturen der Subjektivitat anfangen soll, sondern mit

den apriorischen Gesetzen, die die eigentumliche Gegebenheitsweise von

verschiedenen Gegenstandsklassen und somit die Korrelation von Subjekt und

Welt bestimmen. Diese These wird von Pradelle in drei zentralen Kapiteln seines

Buchs im Sinne einer mehrfachen Entsubjektivierung der Vermogen und der

Gesetze der Erfahrung interpretiert (Pradelle 2012, S. 169–304).6 Zunachst

betrifft die so angelegte Entsubjektivierung die Unterscheidung von Sinnlichkeit

und Verstand und das Fundierungsverhaltnis zwischen beiden. Statt Sinnlichkeit

und Verstand als zwei verschiedene Vermogen des endlichen Subjekts zu

verstehen, geht Husserl noematisch von der Unterscheidung zwischen Klassen

von Gegenstanden aus, um die entsprechenden noetischen Strukturen zu

untersuchen. Sinnlichkeit und Verstand werden daher nicht mehr als Vermogen

der Anschauung und Vermogen der Synthese einander gegenubergesetzt. Denn

eine eigentumliche Synthese ist schon im Rahmen der sinnlichen Erfahrung

operativ, z.B. bei der Konstitution eines identischen Gegenstandes durch seine

perspektivischen Erscheinungsweisen (Pradelle 2012, S. 183 f.).

Damit verbunden ist auch das Verstandnis des Apriori. Letzteres bezieht sich

nicht auf die formellen Strukturen der Subjektivitat, sondern auf die Wesensgesetze

der Gegebenheit von Gegenstanden als Korrelate der Erfahrung. Die Klassifizierung

der verschiedenen Bewusstseinsakte und das Fundierungsverhaltnis zwischen Akten

der schlichten und der kategorialen Anschauung erweist sich daher als noematisch

begrundet: Es ist das Wesen des jeweiligen Gegenstandes, das die entsprechende

Struktur der subjektiven Erfahrung bestimmt (Pradelle 2012, S. 170 f.). Den

unterschiedlichen Weisen des Zuganges zu den verschiedenen Schichten der

Gegenstandlichkeit entspricht in diesem Sinne die Schichtung der Strukturen der

subjektiven Erfahrung. Durch diese Bestimmung der Strukturen der Subjektivitat

6 Die Frage, ob eine solche Entsubjektivierung der Vermogen ihrer Geschichtlichkeit auch gerecht wird

und ob die Geschichtlichkeit nicht auch eine Ruckbeziehung zur faktischen Endlichkeit impliziert, die

Husserls transzendentalen Idealismus in Frage stellen wurde, soll das Thema eines zweiten angekundigten

Werkes von Pradelle sein. Vgl. (Pradelle 2012, S. 20–21).

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anhand der Typisierung und der ontologischen Hierarchie der Gegenstande scheint

Husserl sich vom transzendentalen Subjektivismus abzugrenzen.7

Ein weiteres Moment der Entsubjektivierung der transzendentalen Vermogen

betrifft nach Pradelle die teleologische Struktur der Vernunft (Pradelle 2012, S. 199

f.). Nach Kant ist die Vernunft von ihrem Bestreben nach dem Unbedingten oder

nach dem Absoluten gekennzeichnet und als solche ist sie das Vermogen der Ideen

(KrV B 377/A 321 f.). Das Bestreben der Vernunft besteht grundsatzlich darin, allen

Erkenntnissen eine systematische Einheit zu verleihen. Dies impliziert die Suche

nach der Totalitat der Erkenntnisbedingungen oder nach ihrem ersten unbedingten

Prinzip. Eine solche Auffassung erweist sich aber nach Husserl wiederum als nur

anthropologisch begrundet. Demgegenuber versteht er die Vernunft als vereinheit-

lichendes und teleologisches Prinzip, welches das Ganze der intentionalen

Erfahrung von der Sinnlichkeit bis zu den hoheren Konstitutionsstufen umfasst.

Ein solches Verstandnis der Vernunft setzt zwei wesentliche Strukturen voraus:

erstens die teleologische Struktur der Intentionalitat, nach der jede Intention nach

ihrer Erfullung strebt; zweitens das Prinzip, nach dem jedes regionale Wesen eine

bestimmte Modalitat der Evidenz und der Konstitution vorschreibt. Selbst der Frage

nach der Einheit der Vernunft, die bei Kant durch die Hervorhebung der

Vermittlung von der theoretischen und der praktischen Vernunft durch die

Urteilskraft beantwortet wird, versucht Husserl anhand der Analogisierung zwis-

chen verschiedenen Formen des Gegenstandsbewusstseins und den entsprechenden

Aktklassen (Vorstellungen, Wertungen und Gemutsakte) nachzugehen. Die Logik

der Analogie und der Korrespondenz zwischen verschiedenen Schichten der

Erfahrung von Gegenstanden liegt der Einheit des Bewusstseins mit seinen in

verschiedenen Bereichen rekurrierenden Gesetzen zugrunde.

Der Begriff der Vernunft umfasst somit alle phanomenologischen Probleme der

Geltung und des Geltungsanspruchs. Die ,,regulativen Ideen‘‘ der Apodiktizitat und

der Adaquatheit, die den Geltungsanspruch von verschiedenen Formen des

Gegenstandsbewusstseins leiten und somit die Teleologie der Vernunft ausmachen,

stammen nicht aus den Bedurfnissen der Vernunft als subjektives Vermogen. Sie

entsprechen vielmehr den regulativen Strukturen von bestimmten Gegenstands-

klassen. Statt subjektiv begrundet zu sein, ist die Einheit der Vernunft vielmehr im

Eidos Welt als omnitudo realitatis verankert. Nur anhand dieses Verstandnisses der

7 Ein weiteres Beispiel dieser Vorgehensweise der Entsubjektivierung betrifft die Unterscheidung von

sinnlichen Begriffen, kategorial vermischten Begriffen und reinen kategorialen Begriffen (Hua XIX/2,

711–714). Nur in Zusammenhang mit einer solchen Unterscheidung lassen sich die jeweiligen noetischen

Strukturen bestimmen, und zwar: die sinnliche Abstraktion, die durch Generalisierung die sinnlichen

Begriffe konstituiert; die syntaktische Synthese und die Nominalisierung oder Idealisierung, der die

kategorial vermischten Begriffe entsprechen; und schließlich die rein kategoriale Abstraktion, die durch

Formalisierung die rein kategorialen Begriffe ergibt. Vgl. (Pradelle 2012, S. 192 f.). Dieser Aspekt wird

auch von De Palma hervorgehoben. Anhand der Bemerkungen uber die autonome Organisation des

sinnlichen Bereichs und uber die Unterscheidung von materialen und formalen Kategorien (d.h. von

sinnlichen und rein kategorialen Begriffen) behauptet De Palma, dass Husserls Phanomenologie kein

transzendentaler Idealismus sei, sondern vielmehr eine eigentumliche Art von Empirismus, wobei die

Subjektivitat zwar als ‘‘letzte Statte’’ jeder Ausweisung, nicht aber als Prinzip der Weltkonstitution

verstanden werde. Vgl. (De Palma 2005, 2010). Pradelle scheint stattdessen in diesem Werk den

transzendentalen Status der Phanomenologie Husserls trotz der Abgrenzung vom Subjektivismus nicht in

Frage zu stellen. Das Transzendentale wird aber aufgrund des Apriori der Korrelation neu bestimmt.

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einheitlichen Rationalitat aller Welterfahrung und aller verschiedenen Evidenz-

modalitaten kann Husserls Phanomenologie als eine Kritik der Vernunft betrachtet

werden.

3 Die Teleologie des wissenschaftlichen Denkens

Die Bemerkungen uber die verschiedenen Formen der Entsubjektivierung der

Erkenntnisvermogen fuhren zu einer neuen Bestimmung des wissenschaftlichen

Denkens. Letzteres ist teleologisch durch das Ideal der objektiven Gultigkeit

geleitet. Auch diesbezuglich scheint die kopernikanische Wende zugleich

bestatigt und verworfen zu sein. Sie wird bestatigt, indem das Ideal der

absoluten Gultigkeit des wissenschaftlichen Denkens zum teleologischen Prinzip

fur die Auslegung der Strukturen der Erfahrung wird. Die kopernikanische

Wende wird aber zugleich auch widerlegt, indem die Idee der universalen

Geltung bei Husserl nicht auf der faktischen Organisation der subjektiven

Vermogen und auf den kategorialen Strukturen des Verstandes beruht, sondern

auf dem teleologischen Ideal einer prinzipiell universellen und ‘‘omni-subjekti-

ven’’ Gultigkeit. In Korrelation dazu wird das transzendentale Subjekt selbst zu

einem teleologischen Ideal, namlich zur teleologischen Idee eines Ego uberhaupt,

dessen universale Korrelate eben die Wahrheit an sich und das Sein an sich sind

(Pradelle 2012, S. 305 f.). Der universale ,,Wille zur Wahrheit‘‘, der dieses Ideal

von Subjektivitat bestimmt, durchdringt alle Momente der Erfahrung, von der

basalen und quasi-paradoxen Tendenz zur allumfassenden oder adaquaten

Wahrnehmung eines Gegenstandes bis hin zum Ideal der vollstandigen wissens-

chaftlichen Bestimmung (Pradelle 2012, S. 310). Selbst die Methode der

transzendentalen Logik, als Logik der wissenschaftlichen Erkenntnis verstanden,

ist durch das teleologische und axiologische Ideal der absoluten Wahrheit

bestimmt: Ausgehend von der durch die transzendentale Asthetik thematisierten

Natur befreit das idealisierende Verfahren die Erkenntnis der Natur von jeder

Relativitat, die ihre Geltung zur faktischen subjektiven Verfassung noch

begrenzen konnte.8

Den Parallelismus mit Kant fortfuhrend, spricht Pradelle von einer

,,teleologischen Deduktion‘‘, die der transzendentalen Deduktion der Kategorien bei

Kant entsprache (Pradelle 2012, 305 f.). Anders als bei Kant betrifft diese Deduktion

aber nicht die Anwendung der Begriffe des Verstandes auf die Erfahrung, sondern

vielmehr die Rechtfertigung solcher Begriffe, nach den Kriterien der Normativitat,

der Intersubjektivitat und der Mathematisierung. Diese Deduktion ließe sich zu den

8 Die Frage nach den in der transzendentalen Asthetik implizierten ,,Relativitaten‘‘ ware genauer zu

erortern. Denn die raum-zeitlichen Strukturen der sinnlichen Erfahrung sind zwar in Bezug auf die

situative Raumzeitlichkeit des erfahrenden und leiblichen Subjekts als Nullpunkt der Orientierung

gefasst. Andererseits aber sind solche Strukturen nicht relativ in dem Sinne, dass sie keine allgemeine

Gultigkeit hatten. In Gegenteil sind solche Strukturen fur jedes mogliche Subjekt der sinnlichen

Erfahrung gultig. Die hier angesprochene Relativitat versteht sich daher nur im Gegensatz zur

,,Irrelativitat‘‘ der formellen und idealisierten Gesetze, die vom konkreten Moment der Sinnlichkeit und

der Situiertheit des erfahrenden Subjekts abstrahieren.

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Kategorien der Quantitat (z.B. in Bezug auf die Idealisierung des Anschauungsraumes),

der Qualitat (in Bezug auf die Mathematisierung der Plena) und der Relation (in Bezug

auf die Generalisierung und Idealisierung der ungefahren ,,wenn-dann‘‘ Beziehung in

der Wahrnehmung zum exakten Kausalitatsgesetz) anwenden (Pradelle 2012,

S. 311–344). Wie De Palma (2010) anhand der Unterscheidung von formalen und

sinnlich-materialen Kategorien betont, ist die phanomenologische Deduktion der

formalen (d.h. durch Idealisierung und Formalisierung konstruierten) Kategorien ein

Prozess, der von unten bzw. von den Strukturen der Erfahrung beginnt. Im Gegensatz

zur regressiv-erklarenden (d.h. von oben erfolgenden) Kantischen Deduktion ist die

phanomenologische daher eine progressiv-beschreibende Deduktion, die am Leitfaden

der sachlichen Wesensinhalte und Wesensstrukturen der vorpradikativen Erfahrung statt

der Urteilsformen der Logik vollzogen wird.

Pradelle wurde meines Erachtens diese Bemerkung unterschreiben und das

symbolische System der formalen Kategorien als heteronom in Bezug auf die

Strukturen der Erfahrung betrachten. Dennoch lasst sich die phanomenologische

Deduktion der formalen Kategorien nach seiner Analyse auch als eine in zweierlei

Hinsicht teleologische verstehen. Erstens ist die Deduktion gerade darum

teleologisch, weil das Ideale ausgehend von dem Intuitiven konstruiert wird, um

im Nachhinein wiederum auf das Intuitive angewandt zu werden. Die

wissenschaftlichen Kategorien gelten somit als ,,epistemische Vektoren der idealen

d.h. der omni-subjektiven Geltung‘‘ und haben eine objektivierende Funktion

bezuglich der idealisierten Natur (Pradelle 2012, S. 345). Diese ist die Teleologie

der absoluten Gultigkeit der Gesetze, die aufgrund der Idealisierung der Strukturen

der Erfahrung formuliert werden. Um absolut gultig zu sein, mussen diese Gesetze

auf jede mogliche und auch nur denkbare Erfahrung angewandt werden konnen. Die

Strukturen der Erfahrung sind daher sowohl der Ausgangspunkt, von dem

der Idealisierungsprozess ausgeht, als auch der Endpunkt zur Uberprufung der

eigentlichen Gultigkeit der idealen Gesetze. Zweitens hat die Deduktion der

wissenschaftlichen Kategorien aber auch eine pragmatische Teleologie in Bezug auf

den originaren Sinn der wissenschaftlichen Praxis. Die Idealisierung der

Wissenschaften dient den Zwecken der vitalen Praxis oder den Interessen des Lebens.

Nach Pradelle ist Husserls Position in diesem Zusammenhang nicht so weit entfernt von

derjenigen Nietzsches, Bergsons und der Lebensphilosophie (Pradelle 2012, S. 347).

Wir konnen zum Schluss zur Frage nach dem Zusammenhang zwischen Husserls

Auseinandersetzung mit Kants kopernikanischer Wende und seiner eigenen

Bestimmung der transzendentalen Subjektivitat zuruckkehren. Wie Pradelle schon

in dem ersten Kapitel seines Buchs betont, verwerfen sowohl Husserl als auch Kant

die ,,Verdinglichung‘‘ der Subjektivitat, d.h. ihre Bestimmung nach dem Modell

einer Substanz mit Akzidenzien (Pradelle 2012, S. 29–76). Wie die Kritik des ersten

Paralogismus zeigt (KrV, A 348–351), versteht Kant die Identitat und das

Fortdauern der Subjektivitat nicht nach dem Modell der Beharrlichkeit der

Substanz. Die Identitat des Subjekts ist vielmehr mit der transzendentalen Freiheit

verbunden und in diesem Sinne sind auch die subjektiven Vermogen in Zusam-

menhang mit dem freien Verhalten zu verstehen.

Nach Husserl konstituiert sich die transzendentale Subjektivitat durch den

irreversiblen zeitlichen Strom der Erlebnisse hindurch. Innerhalb des Stromes

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fungiert das Ich als das operative Zentrum aller aktiven und passiven Erlebnisse und

als Identitatsprinzip. Als solches ist das reine Ich eigentumlicherweise unbeschreib-

bar und lasst sich nur in Zusammenhang mit den Erlebnissen und den Modi des

Verhaltens betrachten. Das Ich ist daher kein Gegenstand, sondern Urstand. Dies

begrundet die Idee einer nicht-substantiellen, sondern funktionellen Identitat, die

sich nach den Modalitaten des Vollzugs der Intentionalitat bestimmt. Es handelt

sich daher nicht um die Identitat eines unzeitlichen Substrats, sondern um eine

Identitat, die sich durch die Zeitigung des Erlebnisstromes hindurch konstituiert.

Im Schlusswort wird anhand der durchgefuhrten Analysen ein Fazit bezuglich

der Frage nach der phanomenologischen Bestimmung der transzendentalen

Subjektivitat ,,jenseits‘‘ der kopernikanischen Wende gezogen. Statt als Ruckkehr

zu einer Form des Realismus sollte dieses ,,Jenseits‘‘ als eine Radikalisierung der

kopernikanischen Wende verstanden werden. Wie Husserl selbst bemerkt, sei die

Phanomenologie selbst namlich diejenige Philosophie, die eine solche Wende

konsistent durchfuhren kann, d.h. die Philosophie, die eine angemessene Theorie

der Subjektivitat der Erfahrung durch die Analyse des Apriori der Weltkorrelation

ausarbeiten kann (Hua XVII, S. 456 f.). Die Entsubjektivierung der Vermogen

bedeutet daher, dass das Apriori der Korrelation selbst in der Phanomenologie

verabsolutiert wird: Die Gegebenheit alles Seienden lasst sich nur in Korrelation mit

der erfahrenden Subjektivitat beschreiben.

Dieses Fazit ermoglicht Pradelle schließlich, Cavailles Einwand gegen Husserls

Verstandnis der transzendentalen Logik zu begegnen, nach welchem der Seinssinn

alles Seienden die absolute Subjektivitat sei (Pradelle 2012, S. 377). Anstelle einer

solchen Reduktion des objektiven Sinnes auf die subjektive Sinngebung enthalten

die Radikalisierung der kopernikanischen Wende und die Verabsolutierung des

Korrelationsapriori eine gewisse Spannung zwischen zwei Thesen. Einerseits wird

die transzendentale Subjektivitat als der absolute Ursprung aller Sinngebung und

somit aller objektiven Geltung aufgefasst. Andererseits durfen die Strukturen der

subjektiven Erfahrung aber nicht als subjektive Invarianten vorausgesetzt werden,

sondern mussen vielmehr am Leitfaden des Wesens der jeweiligen Ge-

genstandlichkeit und ihrer Gegebenheitsweise beschrieben werden. Husserls Losung

besteht auf der Unterscheidung zwischen Seinssinn und Seinsgeltung. Der Seinssinn

eines Gegenstandes versteht sich namlich immer anhand der subjektiven Sinnge-

bung. Die Seinsgeltung aber – obwohl sie auch in Korrelation mit der subjektiven

Bewahrung steht – entsteht aus einem unpersonlichen oder anonymen Prinzip,

namlich aus dem Prinzip der Geltung fur jedes mogliche Erfahrungssubjekt

(Pradelle 2012, S. 374). Die oben erwahnte Spannung stellt also keinen Teufelskreis

dar; sie ist vielmehr der Motor der phanomenologischen Forschung. In diesem Sinne

ist die Idee des Bewusstseins (oder der Vernunft) als korrelativer Bereich der

Gegebenheit von Gegenstanden und der Sinnkonstitution ursprunglicher als jede

Trennung von Subjet und Objekt. Somit kommt Pradelle zum Schluss zu folgender

Umschreibung der Kant’schen Formel:

[…] nous pourrions dire que les conditions de possibilite de l’experience (ou

de la conscience) d’objet sont en meme temps les conditions de possibilite de

tout sujet d’experience. Plus vieille que le sujet, et lui imposant structures et

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normes, est le champ habite par la multiplicite des types de conscience d’objet

possibles, dont mon flux de conscience propre offre une exemplification

immanente sur laquelle je puis dechiffrer les lois eidetiques inherentes a toute

conscience en general. Le veritable absolu phenomenologique, au lieu de

s’assimiler a un sujet producteur de sens et de la validite de tout etant, reside

sans doute dans cette multiplicite anonyme des declinaisons regionales de l’a

priori de correlation: morte la subjectivite pure, morte la divinite, ne demeure

que l’absoluite de l’a priori de correlation au sein d’un champ transcendantal

anonyme. (Pradelle 2012, S. 387)

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