dominique pradelle: par-delà la révolution copernicienne. sujet transcendantal et facultés chez...
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Dominique Pradelle: Par-dela la revolutioncopernicienne. Sujet transcendantal et facultes chez Kantet Husserl
Paris: PUF, 2012, 407 Seiten. ISBN 978-2-13-059056-9, € 32
Michela Summa
� Springer Science+Business Media Dordrecht 2013
Das Verhaltnis zwischen Husserl und Kant zahlt zu den kontroversesten Themen im
Bereich systematischer Forschung zur Transzendentalphilosophie. Dieses Verhalt-
nis ist unter anderem deshalb kompliziert, weil Husserl relativ ambivalent uber
Kants Philosophie urteilt. Einerseits betrachtet er Kant als den Entdecker der
Transzendentalphilosophie und somit auch als Vorlaufer der transzendentalen
Phanomenologie. Andererseits außert er sich gegenuber bestimmten Aspekten der
Philosophie Kants, die er als Reste einer nicht uberwundenen metaphysischen
Tradition betrachtet, kritisch. Die Anerkennung einer solchen Ambivalenz scheint
der Ausgangspunkt von Pradelles Forschungen zu Husserl und Kant zu sein. Diese
bewegen sich zwischen der Hervorhebung der Bedeutung der Kant’schen Erbschaft
fur Husserls Phanomenologie und der Anerkennung, dass eine solche theoretische
Erbschaft eine tiefreichende Anderung, wenn nicht sogar eine Umkehrung,
innerhalb der Phanomenologie erfahrt. Das zeigt sich sowohl in dem 2000
erschienenen L’archeologie du monde. Constitution de l’espace, idealisme et
intuitionnisme chez Husserl als auch im neueren Buch, Par-dela la revolution
copernicienne. Sujet transcendantal et facultes chez Kant et Husserl. Die
argumentative Strategie ist in beiden Studien in verschiedenen Hinsichten ahnlich.
Ausgehend von der Frage nach den Moglichkeitsbedingungen der Erfahrung und
der Bedeutung ihres Apriori, die sowohl Kants als auch Husserls Forschungen leitet,
wird die Spezifitat des jeweiligen Ansatzes zur Transzendentalphilosophie her-
vorgehoben. Dies kommt besonders in Par-dela la revolution copernicienne zum
Vorschein. Hier werden die zentralen Momente von Kants kopernikanischer Wende
systematisch als Leitfaden genommen, um das Vorhaben der Husserl’schen
Untersuchungen zu beleuchten. Die Verschiebung der Fragestellung vom Kantis-
chen zum Husserl’schen Hintergrund mundet aber in eine eigentumliche
M. Summa (&)
Klinik fur Allgemeine Psychiatrie, Sektion Phanomenologische Psychopathologie und
Psychotherapie, Universitat Heidelberg, Voß-Str. 2, 69115 Heidelberg, Germany
e-mail: [email protected]; [email protected]
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DOI 10.1007/s10743-013-9132-y
Umkehrung solcher Fragen, welche wiederum die Eigentumlichkeit von Husserls
anti-kopernikanischer Wende ausmacht. Festzuhalten ist, dass der Ausdruck ‘‘anti-
kopernikanische Wende’’ keine bloße Widerlegung der kopernikanischen Wende
von Kant zugunsten der Ruckkehr zu einer realistischen Position, d.h. zur These der
Unabhangigkeit alles Seienden von dem erfahrenden Bewusstsein, bedeutet. Die
Entdeckung der transzendentalen Dimension der subjektiven Erfahrung und der
ontologischen Differenz zwischen Subjektivitat und innenweltlichem Seienden wird
von Husserl nicht in Frage gestellt. Diese Entdeckung erweist sich aber, wie wir
sehen werden, in der Phanomenologie als anders begrundet.
Die Argumentation in Par-dela la revolution copernicienne setzt in verschiede-
nen Hinsichten diejenige fort, die Pradelle in L’archeologie du monde entwickelt
hatte. Zweck dieser fruheren Arbeit war, die Bedeutung von Husserls Idealismus
und Intuitionismus anhand der Frage nach der Konstitution des Raumes zu
beleuchten. Schon in diesem Zusammenhang taucht die Frage nach der Moglichkeit
einer Transzendentalphilosophie auf, die nicht auf den Strukturen der endlichen
Subjektivitat, sondern auf den Strukturen des Erscheinenden als solchen grundet
(vgl. Pradelle 2000, S. xii). Vor allem wird diese Frage in diesem ersten Werk in
Zusammenhang mit Husserls Projekt einer phanomenologisch begrundeten trans-
zendentalen Asthetik erortert. Statt wie bei Kant als parallel zur Unterscheidung der
menschlichen Vermogen von Sinnlichkeit und Verstand betrachtet zu werden (KrV
B 74–88/A 50–64), wird die Unterscheidung von Asthetik und Analytik von Husserl
a parte objecti bestimmt, namlich in Bezug auf das Wesen der jeweiligen
intentionalen Korrelate der schlichten Anschauung und der Idealisierung.
Dies schließt die Idee einer Schichtung von Asthetik und Analytik ein, welche
der Schichtung der Typen von Gegenstandlichkeit und ihrer jeweiligen
Gegebenheitsweise entspricht. Husserls Kritik an Kants kopernikanischer Wende
und an dessen mangelhafter Auffassung der konstitutiven Leistungen der Sinnlichkeit
dient daher zur Ausarbeitung der eigentumlichen Methode der phanomenologischen
Asthetik. Es handelt sich um eine Methode, die von unten her fortschreitet, indem sie
von den niedrigsten Stufen der Erfahrung ausgeht, um sowohl ihre Autonomie als
auch ihre fundierende Rolle in Bezug auf die hoheren Stufen aufzuzeigen.
In L’archeologie du monde hinterfragt Pradelle aber die Tragweite dieser
Vorgehensweise und behauptet schließlich, dass Husserls Analysen der sinnlichen
Erfahrung oft von oben an geleitet sind, i.e. von dem teleologischen Prinzip der
Begrundung des idealisierenden Denkens. Dies aber scheint das ganze Projekt einer
rein deskriptiven Phanomenologie in Frage zu stellen.
In Par-dela la revolution copernicienne wendet Pradelle seine argumentative
Strategie an, um die Frage nach der Bestimmung der transzendentalen Logik im
Verhaltnis zur Asthetik bei Husserl und Kant und die Frage nach der jeweiligen
Bestimmung der transzendentalen Subjektivitat zu erortern.1
1 Es muss hier hervorgehoben werden, dass Pradelle die Kant’sche Unterscheidung von Asthetik und
Logik aufnimmt und sie zur Interpretation der Texte Husserls heranzieht. Das kann den Leser, der mit
Husserls Bestimmung der transzendentalen Logik vertraut ist, insofern irrefuhren, als die transzendentale
Asthetik bei Husserl Teil der transzendentalen Logik ist, und zwar ihre Grundstufe (vgl. Hua XVII, S.
296). Sicherlich vernachlassigt Pradelle diese Bestimmung der transzendentalen Logik als geschichtete
Welt-Logik in seinem Werk nicht. Deswegen gilt diese Anmerkung nur als eine terminologische
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In Ubereinstimmung mit Kern (1964, S. 423) zeigt Pradelle, dass die Divergenz
zwischen Husserls und Kants Philosophien in erster Linie eine methodologische ist.
Nichtsdestotrotz betont er auch, dass eine solche methodologische Divergenz sich in
dem unterschiedlichen Verstandnis der Transzendentalphilosophie und ihrer
Begrundung spiegelt. Die Frage nach der Bedeutsamkeit der kopernikanischen
Wende bei Kant und ihrer ,,Uberwindung‘‘ bei Husserl verbindet daher das
methodologische Problem der Tragweite einer regressiven und konstruktiven
Methode mit dem erkenntnistheoretischen Problem des Verhaltnisses zwischen den
Strukturen der Subjektivitat und den Strukturen der Erfahrung.
Die Besprechung aller Themen, die in den acht Kapiteln von Par-dela la
revolution copernicienne diskutiert werden, wurde den Rahmen dieser Rezension
sprengen. Wir werden uns daher auf die drei wesentlichen und miteinander
verbundenen Schwerpunkte beschranken: (1) das Verhaltnis zwischen Strukturen
der Subjektivitat und Strukturen der Erfahrung; (2) die Husserl’sche ,,Entsubjekti-
vierung‘‘ [desubjectivation] der transzendentalen Vermogen und der Gesetze der
Erfahrung; (3) die Teleologie des wissenschaftlichen Denkens. Anschließend
werden wir diskutieren, wie sich die Husserl’sche ,,Uberwindung‘‘ der kopernik-
anischen Wende in der phanomenologischen Bestimmung der Subjektivitat der
Erfahrung widerspiegelt.
1 Strukturen der Subjektivitat und Strukturen der Erfahrung
Die Revolution der Denkart, die unter dem Namen der kopernikanischen Wende
bekannt ist, basiert grundsatzlich auf der Verwerfung des metaphysisch-realis-
tischen erkenntnistheoretischen Ansatzes, nach dem die Erkenntnis sich nach den
Gegenstanden an sich richten sollte. Gegen diese Position betont Kant, dass die
Gegenstande als Erscheinungen sich nach den apriorischen Strukturen unserer
Erkenntnis richten mussen (KrV, B XV f.). Diese These enthalt nach Husserl zwei
wichtige Implikationen: einerseits die Stiftung einer transzendentalen Philosophie,
nach der die Gegenstande der Erfahrung und der Erkenntnis erst durch die
Leistungen der reinen Subjektivitat als solche konstituiert werden; andererseits aber
die Wiederkehr einer Art Anthropologismus und Psychologismus bezuglich der
Idee, dass die Strukturen der Gegenstandlichkeit am Leitfaden der Strukturen des
erkennenden Subjekts bestimmt werden sollen. Trotz seiner Anerkennung der ersten
Implikation ist Husserl gegenuber der zweiten sehr kritisch.
Dieser Aspekt der Husserl’schen Kritik an Kant wird von Pradelle schon in
L’archeologie du monde zum Zweck der Bestimmung der Spezifitat der phanom-
enologischen transzendentalen Asthetik ausfuhrlich diskutiert. Statt als Formen der
Sinnlichkeit (KrV, B 37–66/A 22–49) werden Raum und Zeit von Husserl
als Formen des Erscheinenden als solchen verstanden (Hua XVI, S. 43; Hua Mat IV,
Footnote 1 continued
Warnung bezuglich der unvollkommenen Uberlappung der Husserl’schen und Kantischen Begrifflichkeit.
Ein weiteres Buch uber die Archaologie der Logik, das die angesprochene Unterscheidung
hochstwahrscheinlich auch thematisieren wird, ist als Fortsetzung der vorliegenden Studie geplant. Vgl.
(Pradelle 2012, 19 f.).
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S. 121). Schon bezuglich der transzendentalen Asthetik stellt Pradelle daher die
Bestimmung der apriorischen Strukturen der Erfahrung a parte subjecti (Kant) und
a parte objecti (Husserl) einander gegenuber.
In Par-dela la revolution copernicienne wird diese Gegenuberstellung analog in
Bezug auf die Strukturen der Erkenntnis und die transzendentale Logik wieder
aufgenommen. Wie bei der transzendentalen Asthetik handelt es sich um eine
,,Reinigung‘‘ der anthropologischen und psychologischen Voraussetzungen bezug-
lich der Verfassung des endlichen Subjekts, und zwar diesmal bezuglich der
Strukturen des endlichen Verstandes. Inwiefern impliziert aber die kopernikanische
Wende eine Form von Anthropologismus und Psychologismus?
Die Anthropologismuskritik konzentriert sich vor allem auf die Annahme der
menschlichen Subjektivitat als ,,Maßstab‘‘ der Strukturen der Erkenntnis. Diese
Kritik richtet sich daher insbesondere auf die zusammengehorigen Begriffe des
Dinges an sich und des intellectus archetypus. Beide Begriffe werden von Husserl
als sinnlos betrachtet (Hua VII, S. 364) und als Reste einer bodenlosen Metaphysik
(Hua VII, S. 362). Husserls Kritik der Zusammengehorigkeit der Begriffe des
Dinges an sich und des intellectus archetypus beruht hauptsachlich auf dem
positiven Verstandnis des Dinges an sich als noumenon. Dies ist namlich nicht nur
negativ als das verstanden, was sich der menschlichen Erkenntnis entzieht, sondern
auch als der Gegenstand einer moglichen nicht-menschlichen intellektuellen
Anschauung.2 Die menschliche Subjektivitat ist zu intellektueller Anschauung
nicht imstande, weshalb sie keinen Zugang zu den Dingen an sich hat. Eine solche
Anschauung konnte jedoch prinzipiell von einer nicht-menschlichen, unendlichen
Subjektivitat vollzogen werden. Dies aber scheint nach Husserl den Geltungsansp-
ruch des Apriori zu unterminieren. Denn die Gultigkeit der apriorischen Gesetze
ware, so verstanden, auf eine bestimmte Art der Subjektivitat begrenzt. Stattdessen
versteht Husserl die Universalitat und die Notwendigkeit der apriorischen Gesetze
im Sinne der Gultigkeit fur jedes mogliche Subjekt.
Was die Kritik am Anthropologismus mit der Kritik am Psychologismus
verbindet, ist die Ruckfuhrung der apriorischen Gesetze der Erkenntnis auf die
empirische Allgemeinheit der Strukturen der menschlichen Subjektivitat oder des
seelischen Lebens.3 Husserls Psychologismuskritik versteht Pradelle vor allem in
Bezug auf Kants Theorie der Vermogen. Wenn die Vermogen als eingeborene
psychologische Strukturen der menschlichen Subjektivitat aufgefasst werden und
dennoch als Grundlage fur die Unterscheidung von verschiedenen Modalitaten der
Erkenntnis fungieren sollen, scheint jeder Unterschied zwischen dem transzendent-
alen und dem empirisch-psychologischen Subjekt nivelliert zu werden. Daruber
hinaus zeigt die reflexive Wissenschaft der Erkenntnis, die Kant dank der
2 Zur Unterscheidung der positiven und negativen Definition des noumenon vgl. (KrV B 307 ff./A 249
ff.) Der Begriff des intellectus archetypus taucht in diesem Zusammenhang nicht auf. Kant erwahnt hier
aber wohl die Moglichkeit eines Subjekts, das nicht nur sinnliche, sondern auch intellektuelle
Anschauung vollziehen konnte. Der Begriff des intellectus archetypus taucht stattdessen in der Kritik der
Urteilskraft in Gegensatz zum intellectus ectypus auf. Letzterer ist diskursiv und der Bilder bedurftig,
wahrend ersterer intuitiv ist. Vgl. (KU AA 05, 405–410).3 Dies wurde schon in den Prolegomena hervorgehoben in Bezug auf die damalige Debatte zur
Begrundung der Logik. Vgl. (Hua XVIII, S. 122–158).
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kopernikanischen Wende etabliert, die Ursprunglichkeit und respektive Heteroge-
nitat der Vermogen und somit der Quellen der Erkenntnis (Pradelle 2012, S. 99 f.).
In diesem Sinne begrundet die Aufdeckung der invarianten Formen der endlichen
Subjektivitat (Vermogen, Stamme und Quellen der Erkenntnis) die Idee einer
transzendentalen Faktizitat. Impliziert aber die Hervorhebung dieser Faktizitat bei
Kant tatsachlich eine Form von Anthropologismus und Psychologismus ante
litteram? Dass Husserls Position diesbezuglich nicht so eindeutig ist, wird in dem
Text der Prager Konferenz bewiesen. Dort behauptet Husserl, dass ‘‘Kants
transzendentale Subjektivitat, die der transzendentalen Akte und Vermogen, welche
das ganze Thema der Kantischen Philosophie ausmacht, […] ganz und gar nicht die
menschlich und tierisch real vermeinte Seele [ist]’’ (Hua XXIX, S 114). Kants
Philosophie sollte daher nicht als subjektivistisch und psychologistisch bezeichnet
werden, denn gerade ‘‘diesen Psychologismus fur immer zu entwurzeln, ist Kants
Unternehmen’’ (Hua XXIX, S.114).
Indem er davor warnt, Kants Theorie der Vermogen als eine Art Psychologismus
zu verstehen, scheint Husserl anzuerkennen, dass diese Vermogenstheorie eine
transzendentale Theorie sein will.
Obwohl diese Bemerkung im vorliegenden Text nicht genauer entwickelt wird,
lasst sich Husserls Hinweis im Zusammenhang mit der systematischen Darstellung
der Vermogen in der dritten Kritik weiter verfolgen. Die Idee eines durch eine
innere Regelmaßigkeit organisierten Systems der Vermogen taucht schon in der
ersten Einleitung auf (EEKU AA 20, 208–211). Und in der zusammenfassenden
Tafel der Vermogen am Ende der gedruckten Einleitung wird diese Systematizitat
gezeigt. Ein erster bedeutsamer Aspekt ist, dass das Erkenntnisvermogen sowohl im
empirischen Bereich unter den Gemutsvermogen vorkommt, als auch im transzen-
dentalen Bereich, wo es als Oberbegriff fur die Vermogen des Verstandes, der
Urteilskraft und der Vernunft betrachtet wird (KU AA 05, 197). Dieses doppelte
Vorkommen und die Diskrepanz zwischen der empirischen und der transzendent-
alen Ebene zeigen,4 dass kein strikter Parallelismus zwischen empirischen und
transzendentalen Vermogen besteht. Daruber hinaus weist der Zusammenhang
zwischen Gemutsvermogen und transzendentalen Vermogen auf den Zusammen-
hang zwischen dem Empirischen und dem Apriori hin. Zwar setzt die Klassifizie-
rung der transzendentalen Vermogen eine gewisse Faktizitat der Erfahrung voraus.
Sie zeigt aber auch die nicht mehr faktischen, sondern apriorischen Strukturen, die
der Erfahrung zugrunde liegen. In diesem Sinne, um Husserls Vokabular
aufzunehmen, scheint die Faktizitat der transzendentalen Vermogen nicht eine
bloße Tatsache zu bezeichnen, sondern eher auf die Notwendigkeit eines Faktums
hinzuweisen.5
Ohne auf diese Aspekte einzugehen, scheint Pradelle aber selbst die Anthropo-
logismuskritik durch den Hinweis auf den Unterschied zwischen dem empirischen
4 Im empirischen Bereich ist das Erkenntnisvermogen Unterbegriff, wahrend es im transzendentalen
Bereich Oberbegriff ist.5 Zu Husserls Unterscheidung zwischen Tatsache und Faktum und zur Betrachtung der Gesetzmaßigkeit
oder Rationalitat der Erfahrung als ein unerklarbares Faktum, vgl. (Hua III/1, S. 98; Hua XVI, S.
289–290).
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(phanomenalen) und dem intelligiblen (noumenalen) Charakter des Menschen
(KrV, B 561/A533-B 586/A 558) zu nuancieren (Pradelle 2012, S. 102 f.). Diese
Kant’sche Unterscheidung entspricht derjenigen zwischen naturlicher Kausalitat
und Freiheit: Als freies denkendes und agierendes ist das Subjekt von keiner
Ursache bestimmt, sondern ist selbst causa efficiens von Handlungen. Dies scheint
eine gewisse Entformalisierung der Subjektivitat zu begrunden (Pradelle 2012, S.
111). Die Faktizitat des transzendentalen Subjekts ist nicht diejenige der empiris-
chen Vermogen, sondern in erster Linie diejenige solcher Vermogen, die konstitutiv
fur seine intelligible (d.h. nicht-empirische) Natur sind.
2 Die Entsubjektivierung der Vermogen und der Gesetze der Erfahrung
Trotz der erwahnten Nuancierung der Anthropologismuskritik und
Psychologismuskritik behauptet Husserl, dass eine angemessene Theorie der
Erfahrung nicht mit den Strukturen der Subjektivitat anfangen soll, sondern mit
den apriorischen Gesetzen, die die eigentumliche Gegebenheitsweise von
verschiedenen Gegenstandsklassen und somit die Korrelation von Subjekt und
Welt bestimmen. Diese These wird von Pradelle in drei zentralen Kapiteln seines
Buchs im Sinne einer mehrfachen Entsubjektivierung der Vermogen und der
Gesetze der Erfahrung interpretiert (Pradelle 2012, S. 169–304).6 Zunachst
betrifft die so angelegte Entsubjektivierung die Unterscheidung von Sinnlichkeit
und Verstand und das Fundierungsverhaltnis zwischen beiden. Statt Sinnlichkeit
und Verstand als zwei verschiedene Vermogen des endlichen Subjekts zu
verstehen, geht Husserl noematisch von der Unterscheidung zwischen Klassen
von Gegenstanden aus, um die entsprechenden noetischen Strukturen zu
untersuchen. Sinnlichkeit und Verstand werden daher nicht mehr als Vermogen
der Anschauung und Vermogen der Synthese einander gegenubergesetzt. Denn
eine eigentumliche Synthese ist schon im Rahmen der sinnlichen Erfahrung
operativ, z.B. bei der Konstitution eines identischen Gegenstandes durch seine
perspektivischen Erscheinungsweisen (Pradelle 2012, S. 183 f.).
Damit verbunden ist auch das Verstandnis des Apriori. Letzteres bezieht sich
nicht auf die formellen Strukturen der Subjektivitat, sondern auf die Wesensgesetze
der Gegebenheit von Gegenstanden als Korrelate der Erfahrung. Die Klassifizierung
der verschiedenen Bewusstseinsakte und das Fundierungsverhaltnis zwischen Akten
der schlichten und der kategorialen Anschauung erweist sich daher als noematisch
begrundet: Es ist das Wesen des jeweiligen Gegenstandes, das die entsprechende
Struktur der subjektiven Erfahrung bestimmt (Pradelle 2012, S. 170 f.). Den
unterschiedlichen Weisen des Zuganges zu den verschiedenen Schichten der
Gegenstandlichkeit entspricht in diesem Sinne die Schichtung der Strukturen der
subjektiven Erfahrung. Durch diese Bestimmung der Strukturen der Subjektivitat
6 Die Frage, ob eine solche Entsubjektivierung der Vermogen ihrer Geschichtlichkeit auch gerecht wird
und ob die Geschichtlichkeit nicht auch eine Ruckbeziehung zur faktischen Endlichkeit impliziert, die
Husserls transzendentalen Idealismus in Frage stellen wurde, soll das Thema eines zweiten angekundigten
Werkes von Pradelle sein. Vgl. (Pradelle 2012, S. 20–21).
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anhand der Typisierung und der ontologischen Hierarchie der Gegenstande scheint
Husserl sich vom transzendentalen Subjektivismus abzugrenzen.7
Ein weiteres Moment der Entsubjektivierung der transzendentalen Vermogen
betrifft nach Pradelle die teleologische Struktur der Vernunft (Pradelle 2012, S. 199
f.). Nach Kant ist die Vernunft von ihrem Bestreben nach dem Unbedingten oder
nach dem Absoluten gekennzeichnet und als solche ist sie das Vermogen der Ideen
(KrV B 377/A 321 f.). Das Bestreben der Vernunft besteht grundsatzlich darin, allen
Erkenntnissen eine systematische Einheit zu verleihen. Dies impliziert die Suche
nach der Totalitat der Erkenntnisbedingungen oder nach ihrem ersten unbedingten
Prinzip. Eine solche Auffassung erweist sich aber nach Husserl wiederum als nur
anthropologisch begrundet. Demgegenuber versteht er die Vernunft als vereinheit-
lichendes und teleologisches Prinzip, welches das Ganze der intentionalen
Erfahrung von der Sinnlichkeit bis zu den hoheren Konstitutionsstufen umfasst.
Ein solches Verstandnis der Vernunft setzt zwei wesentliche Strukturen voraus:
erstens die teleologische Struktur der Intentionalitat, nach der jede Intention nach
ihrer Erfullung strebt; zweitens das Prinzip, nach dem jedes regionale Wesen eine
bestimmte Modalitat der Evidenz und der Konstitution vorschreibt. Selbst der Frage
nach der Einheit der Vernunft, die bei Kant durch die Hervorhebung der
Vermittlung von der theoretischen und der praktischen Vernunft durch die
Urteilskraft beantwortet wird, versucht Husserl anhand der Analogisierung zwis-
chen verschiedenen Formen des Gegenstandsbewusstseins und den entsprechenden
Aktklassen (Vorstellungen, Wertungen und Gemutsakte) nachzugehen. Die Logik
der Analogie und der Korrespondenz zwischen verschiedenen Schichten der
Erfahrung von Gegenstanden liegt der Einheit des Bewusstseins mit seinen in
verschiedenen Bereichen rekurrierenden Gesetzen zugrunde.
Der Begriff der Vernunft umfasst somit alle phanomenologischen Probleme der
Geltung und des Geltungsanspruchs. Die ,,regulativen Ideen‘‘ der Apodiktizitat und
der Adaquatheit, die den Geltungsanspruch von verschiedenen Formen des
Gegenstandsbewusstseins leiten und somit die Teleologie der Vernunft ausmachen,
stammen nicht aus den Bedurfnissen der Vernunft als subjektives Vermogen. Sie
entsprechen vielmehr den regulativen Strukturen von bestimmten Gegenstands-
klassen. Statt subjektiv begrundet zu sein, ist die Einheit der Vernunft vielmehr im
Eidos Welt als omnitudo realitatis verankert. Nur anhand dieses Verstandnisses der
7 Ein weiteres Beispiel dieser Vorgehensweise der Entsubjektivierung betrifft die Unterscheidung von
sinnlichen Begriffen, kategorial vermischten Begriffen und reinen kategorialen Begriffen (Hua XIX/2,
711–714). Nur in Zusammenhang mit einer solchen Unterscheidung lassen sich die jeweiligen noetischen
Strukturen bestimmen, und zwar: die sinnliche Abstraktion, die durch Generalisierung die sinnlichen
Begriffe konstituiert; die syntaktische Synthese und die Nominalisierung oder Idealisierung, der die
kategorial vermischten Begriffe entsprechen; und schließlich die rein kategoriale Abstraktion, die durch
Formalisierung die rein kategorialen Begriffe ergibt. Vgl. (Pradelle 2012, S. 192 f.). Dieser Aspekt wird
auch von De Palma hervorgehoben. Anhand der Bemerkungen uber die autonome Organisation des
sinnlichen Bereichs und uber die Unterscheidung von materialen und formalen Kategorien (d.h. von
sinnlichen und rein kategorialen Begriffen) behauptet De Palma, dass Husserls Phanomenologie kein
transzendentaler Idealismus sei, sondern vielmehr eine eigentumliche Art von Empirismus, wobei die
Subjektivitat zwar als ‘‘letzte Statte’’ jeder Ausweisung, nicht aber als Prinzip der Weltkonstitution
verstanden werde. Vgl. (De Palma 2005, 2010). Pradelle scheint stattdessen in diesem Werk den
transzendentalen Status der Phanomenologie Husserls trotz der Abgrenzung vom Subjektivismus nicht in
Frage zu stellen. Das Transzendentale wird aber aufgrund des Apriori der Korrelation neu bestimmt.
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einheitlichen Rationalitat aller Welterfahrung und aller verschiedenen Evidenz-
modalitaten kann Husserls Phanomenologie als eine Kritik der Vernunft betrachtet
werden.
3 Die Teleologie des wissenschaftlichen Denkens
Die Bemerkungen uber die verschiedenen Formen der Entsubjektivierung der
Erkenntnisvermogen fuhren zu einer neuen Bestimmung des wissenschaftlichen
Denkens. Letzteres ist teleologisch durch das Ideal der objektiven Gultigkeit
geleitet. Auch diesbezuglich scheint die kopernikanische Wende zugleich
bestatigt und verworfen zu sein. Sie wird bestatigt, indem das Ideal der
absoluten Gultigkeit des wissenschaftlichen Denkens zum teleologischen Prinzip
fur die Auslegung der Strukturen der Erfahrung wird. Die kopernikanische
Wende wird aber zugleich auch widerlegt, indem die Idee der universalen
Geltung bei Husserl nicht auf der faktischen Organisation der subjektiven
Vermogen und auf den kategorialen Strukturen des Verstandes beruht, sondern
auf dem teleologischen Ideal einer prinzipiell universellen und ‘‘omni-subjekti-
ven’’ Gultigkeit. In Korrelation dazu wird das transzendentale Subjekt selbst zu
einem teleologischen Ideal, namlich zur teleologischen Idee eines Ego uberhaupt,
dessen universale Korrelate eben die Wahrheit an sich und das Sein an sich sind
(Pradelle 2012, S. 305 f.). Der universale ,,Wille zur Wahrheit‘‘, der dieses Ideal
von Subjektivitat bestimmt, durchdringt alle Momente der Erfahrung, von der
basalen und quasi-paradoxen Tendenz zur allumfassenden oder adaquaten
Wahrnehmung eines Gegenstandes bis hin zum Ideal der vollstandigen wissens-
chaftlichen Bestimmung (Pradelle 2012, S. 310). Selbst die Methode der
transzendentalen Logik, als Logik der wissenschaftlichen Erkenntnis verstanden,
ist durch das teleologische und axiologische Ideal der absoluten Wahrheit
bestimmt: Ausgehend von der durch die transzendentale Asthetik thematisierten
Natur befreit das idealisierende Verfahren die Erkenntnis der Natur von jeder
Relativitat, die ihre Geltung zur faktischen subjektiven Verfassung noch
begrenzen konnte.8
Den Parallelismus mit Kant fortfuhrend, spricht Pradelle von einer
,,teleologischen Deduktion‘‘, die der transzendentalen Deduktion der Kategorien bei
Kant entsprache (Pradelle 2012, 305 f.). Anders als bei Kant betrifft diese Deduktion
aber nicht die Anwendung der Begriffe des Verstandes auf die Erfahrung, sondern
vielmehr die Rechtfertigung solcher Begriffe, nach den Kriterien der Normativitat,
der Intersubjektivitat und der Mathematisierung. Diese Deduktion ließe sich zu den
8 Die Frage nach den in der transzendentalen Asthetik implizierten ,,Relativitaten‘‘ ware genauer zu
erortern. Denn die raum-zeitlichen Strukturen der sinnlichen Erfahrung sind zwar in Bezug auf die
situative Raumzeitlichkeit des erfahrenden und leiblichen Subjekts als Nullpunkt der Orientierung
gefasst. Andererseits aber sind solche Strukturen nicht relativ in dem Sinne, dass sie keine allgemeine
Gultigkeit hatten. In Gegenteil sind solche Strukturen fur jedes mogliche Subjekt der sinnlichen
Erfahrung gultig. Die hier angesprochene Relativitat versteht sich daher nur im Gegensatz zur
,,Irrelativitat‘‘ der formellen und idealisierten Gesetze, die vom konkreten Moment der Sinnlichkeit und
der Situiertheit des erfahrenden Subjekts abstrahieren.
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Kategorien der Quantitat (z.B. in Bezug auf die Idealisierung des Anschauungsraumes),
der Qualitat (in Bezug auf die Mathematisierung der Plena) und der Relation (in Bezug
auf die Generalisierung und Idealisierung der ungefahren ,,wenn-dann‘‘ Beziehung in
der Wahrnehmung zum exakten Kausalitatsgesetz) anwenden (Pradelle 2012,
S. 311–344). Wie De Palma (2010) anhand der Unterscheidung von formalen und
sinnlich-materialen Kategorien betont, ist die phanomenologische Deduktion der
formalen (d.h. durch Idealisierung und Formalisierung konstruierten) Kategorien ein
Prozess, der von unten bzw. von den Strukturen der Erfahrung beginnt. Im Gegensatz
zur regressiv-erklarenden (d.h. von oben erfolgenden) Kantischen Deduktion ist die
phanomenologische daher eine progressiv-beschreibende Deduktion, die am Leitfaden
der sachlichen Wesensinhalte und Wesensstrukturen der vorpradikativen Erfahrung statt
der Urteilsformen der Logik vollzogen wird.
Pradelle wurde meines Erachtens diese Bemerkung unterschreiben und das
symbolische System der formalen Kategorien als heteronom in Bezug auf die
Strukturen der Erfahrung betrachten. Dennoch lasst sich die phanomenologische
Deduktion der formalen Kategorien nach seiner Analyse auch als eine in zweierlei
Hinsicht teleologische verstehen. Erstens ist die Deduktion gerade darum
teleologisch, weil das Ideale ausgehend von dem Intuitiven konstruiert wird, um
im Nachhinein wiederum auf das Intuitive angewandt zu werden. Die
wissenschaftlichen Kategorien gelten somit als ,,epistemische Vektoren der idealen
d.h. der omni-subjektiven Geltung‘‘ und haben eine objektivierende Funktion
bezuglich der idealisierten Natur (Pradelle 2012, S. 345). Diese ist die Teleologie
der absoluten Gultigkeit der Gesetze, die aufgrund der Idealisierung der Strukturen
der Erfahrung formuliert werden. Um absolut gultig zu sein, mussen diese Gesetze
auf jede mogliche und auch nur denkbare Erfahrung angewandt werden konnen. Die
Strukturen der Erfahrung sind daher sowohl der Ausgangspunkt, von dem
der Idealisierungsprozess ausgeht, als auch der Endpunkt zur Uberprufung der
eigentlichen Gultigkeit der idealen Gesetze. Zweitens hat die Deduktion der
wissenschaftlichen Kategorien aber auch eine pragmatische Teleologie in Bezug auf
den originaren Sinn der wissenschaftlichen Praxis. Die Idealisierung der
Wissenschaften dient den Zwecken der vitalen Praxis oder den Interessen des Lebens.
Nach Pradelle ist Husserls Position in diesem Zusammenhang nicht so weit entfernt von
derjenigen Nietzsches, Bergsons und der Lebensphilosophie (Pradelle 2012, S. 347).
Wir konnen zum Schluss zur Frage nach dem Zusammenhang zwischen Husserls
Auseinandersetzung mit Kants kopernikanischer Wende und seiner eigenen
Bestimmung der transzendentalen Subjektivitat zuruckkehren. Wie Pradelle schon
in dem ersten Kapitel seines Buchs betont, verwerfen sowohl Husserl als auch Kant
die ,,Verdinglichung‘‘ der Subjektivitat, d.h. ihre Bestimmung nach dem Modell
einer Substanz mit Akzidenzien (Pradelle 2012, S. 29–76). Wie die Kritik des ersten
Paralogismus zeigt (KrV, A 348–351), versteht Kant die Identitat und das
Fortdauern der Subjektivitat nicht nach dem Modell der Beharrlichkeit der
Substanz. Die Identitat des Subjekts ist vielmehr mit der transzendentalen Freiheit
verbunden und in diesem Sinne sind auch die subjektiven Vermogen in Zusam-
menhang mit dem freien Verhalten zu verstehen.
Nach Husserl konstituiert sich die transzendentale Subjektivitat durch den
irreversiblen zeitlichen Strom der Erlebnisse hindurch. Innerhalb des Stromes
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fungiert das Ich als das operative Zentrum aller aktiven und passiven Erlebnisse und
als Identitatsprinzip. Als solches ist das reine Ich eigentumlicherweise unbeschreib-
bar und lasst sich nur in Zusammenhang mit den Erlebnissen und den Modi des
Verhaltens betrachten. Das Ich ist daher kein Gegenstand, sondern Urstand. Dies
begrundet die Idee einer nicht-substantiellen, sondern funktionellen Identitat, die
sich nach den Modalitaten des Vollzugs der Intentionalitat bestimmt. Es handelt
sich daher nicht um die Identitat eines unzeitlichen Substrats, sondern um eine
Identitat, die sich durch die Zeitigung des Erlebnisstromes hindurch konstituiert.
Im Schlusswort wird anhand der durchgefuhrten Analysen ein Fazit bezuglich
der Frage nach der phanomenologischen Bestimmung der transzendentalen
Subjektivitat ,,jenseits‘‘ der kopernikanischen Wende gezogen. Statt als Ruckkehr
zu einer Form des Realismus sollte dieses ,,Jenseits‘‘ als eine Radikalisierung der
kopernikanischen Wende verstanden werden. Wie Husserl selbst bemerkt, sei die
Phanomenologie selbst namlich diejenige Philosophie, die eine solche Wende
konsistent durchfuhren kann, d.h. die Philosophie, die eine angemessene Theorie
der Subjektivitat der Erfahrung durch die Analyse des Apriori der Weltkorrelation
ausarbeiten kann (Hua XVII, S. 456 f.). Die Entsubjektivierung der Vermogen
bedeutet daher, dass das Apriori der Korrelation selbst in der Phanomenologie
verabsolutiert wird: Die Gegebenheit alles Seienden lasst sich nur in Korrelation mit
der erfahrenden Subjektivitat beschreiben.
Dieses Fazit ermoglicht Pradelle schließlich, Cavailles Einwand gegen Husserls
Verstandnis der transzendentalen Logik zu begegnen, nach welchem der Seinssinn
alles Seienden die absolute Subjektivitat sei (Pradelle 2012, S. 377). Anstelle einer
solchen Reduktion des objektiven Sinnes auf die subjektive Sinngebung enthalten
die Radikalisierung der kopernikanischen Wende und die Verabsolutierung des
Korrelationsapriori eine gewisse Spannung zwischen zwei Thesen. Einerseits wird
die transzendentale Subjektivitat als der absolute Ursprung aller Sinngebung und
somit aller objektiven Geltung aufgefasst. Andererseits durfen die Strukturen der
subjektiven Erfahrung aber nicht als subjektive Invarianten vorausgesetzt werden,
sondern mussen vielmehr am Leitfaden des Wesens der jeweiligen Ge-
genstandlichkeit und ihrer Gegebenheitsweise beschrieben werden. Husserls Losung
besteht auf der Unterscheidung zwischen Seinssinn und Seinsgeltung. Der Seinssinn
eines Gegenstandes versteht sich namlich immer anhand der subjektiven Sinnge-
bung. Die Seinsgeltung aber – obwohl sie auch in Korrelation mit der subjektiven
Bewahrung steht – entsteht aus einem unpersonlichen oder anonymen Prinzip,
namlich aus dem Prinzip der Geltung fur jedes mogliche Erfahrungssubjekt
(Pradelle 2012, S. 374). Die oben erwahnte Spannung stellt also keinen Teufelskreis
dar; sie ist vielmehr der Motor der phanomenologischen Forschung. In diesem Sinne
ist die Idee des Bewusstseins (oder der Vernunft) als korrelativer Bereich der
Gegebenheit von Gegenstanden und der Sinnkonstitution ursprunglicher als jede
Trennung von Subjet und Objekt. Somit kommt Pradelle zum Schluss zu folgender
Umschreibung der Kant’schen Formel:
[…] nous pourrions dire que les conditions de possibilite de l’experience (ou
de la conscience) d’objet sont en meme temps les conditions de possibilite de
tout sujet d’experience. Plus vieille que le sujet, et lui imposant structures et
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normes, est le champ habite par la multiplicite des types de conscience d’objet
possibles, dont mon flux de conscience propre offre une exemplification
immanente sur laquelle je puis dechiffrer les lois eidetiques inherentes a toute
conscience en general. Le veritable absolu phenomenologique, au lieu de
s’assimiler a un sujet producteur de sens et de la validite de tout etant, reside
sans doute dans cette multiplicite anonyme des declinaisons regionales de l’a
priori de correlation: morte la subjectivite pure, morte la divinite, ne demeure
que l’absoluite de l’a priori de correlation au sein d’un champ transcendantal
anonyme. (Pradelle 2012, S. 387)
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