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1. E I N L E I T U N G
1.1 VOM NUTZEN DES LESENS: EIGENE WELT UND FREMDE
WELTEN ÜBER LITERATUR ERLEBEN
Das Lesen von Literatur ist etwas Nützliches und Vergnügliches zugleich. Durch den Umgang
mit Literatur eröffnen sich der Schule einmalige Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten.
Schülerinnen und Schüler erhalten durch Lektüre Zugang zu fremden Welten. Entsprechend
kann die Schule den Lernenden die Teilhabe an einem kulturellen Bereich ermöglichen.
Der Umgang mit Literatur bietet Lernenden Entwicklungsmöglichkeiten im Kognitiven, im
Emotionalen sowie im Sozialen und kann durch nichts anderes ersetzt werden. Zudem stellen
literarische Texte spezifische Anforderungen an die Lesekompetenzen, und sie sind ein
spannendes Feld für das sachorientierte Lernen. Diesen Umstand möchten wir in der
Auseinandersetzung mit unserem Thema nutzen.
1.2 GRUNDMUSTER DES LITERARISCHEN LERNENS
1.2.1 Begriffe bilden und anwenden
Zum Verständnis von Gelesenem und für den Austausch darüber sind Begriffe etwas
Zentrales. Um ein Thema verstehen und auf andere Situationen übertragen und darin
anwenden zu können, braucht es Lernprozesse auf begrifflicher Ebene.
Literarische Begriffe, die auf der Sekundarstufe I nützlich sein können:
- Erzähltext
- Rahmenerzählung
- Perspektive; Innensicht, Aussensicht
- Kriminalroman – Detektivroman
- Figur – Rolle – Charakterisierung
- Drama: Komödie – Tragödie, Akt/Aufzug – Szene/Auftritt
- Dialog – Monolog
- Spannende Elemente
- Komische oder groteske Elemente
- Fantastische Elemente
- Elemente der Filmsprache
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In unserer Arbeit wollen wir einzelne dieser Begriffe themenbezogen aufnehmen und mit
Hilfe ausgewählter Werke bearbeiten.
1.2.2 Begleiten und beraten
Lehrpersonen haben eine wichtige Aufgabe in der Begleitung und Beratung ihrer
Schülerinnen und Schüler. Sie sollen im Sinne einer Vorbildfunktion ehrlich auftreten und
den Lernenden zu verstehen geben, dass ihre eigene Lesehaltung und ihre persönlichen
Interessen nur eine Möglichkeit unter vielen anderen ist. Wichtig ist für Lernende, dass sie
ihre Lehrperson als Lesende erfahren. So ist es beispielsweise sinnvoll, wenn Lehrpersonen in
stillen Lesezeiten ebenfalls still lesen.
Zu einer professionellen Beratungs- und Begleitungshaltung gehört, dass eine Lehrperson mit
den verschiedenen Lesegewohnheiten der Schülerinnen und Schüler umgehen kann, sie in
ihrer individuellen Lektürebiographie ernst nimmt und einbindet in einen schulischen
Lernprozess. Das heisst auch, den Lernenden durch die Begleitung und Beratung auch
Lektüreerfahrungen zu ermöglichen, die sie von sich aus nicht machen würden.
1.3 LITERARISCHES LERNEN
1.3.1 Literatur und sachorientiertes Lernen
Die sachorientierte Arbeit mit literarischen Texten kann sich auf folgende Aspekte richten:
- Figur
- Handlung
- Ort und Zeit
- Stil/Sprache
- Gattung/Textsorte
- Thema/Motiv
- Mediale Form: Text, Hörtext, Film, digitale Literatur
- Wirkung: spannend, komisch usw.
In der sachorientierten Arbeit mit literarischen Kontexten können folgende Aspekte
gewichtet werden:
- Biografie Autor/Autorin
- Historischer Hintergrund
- Soziologische Gegebenheiten
- Kulturell
- Geografisch
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Das Thema Schach ermöglicht sowohl in der Bearbeitung der literarischen Texte wie auch in
der Gewichtung der entsprechenden Kontexte einen breiten Zugang.
1.3.2 Literatur und persönlichkeitsorientiertes Lernen
Ein literarischer Text bietet den Lesenden eine zumeist erfundene Welt dar und ermöglicht
dadurch, im Gegensatz zu Sachbüchern, Anregungen für die menschliche Vorstellungskraft.
Jugendliche Leserinnen und Leser können sich via Literatur Vorstellungen von
Lebensbereichen machen, die ihnen durch eigene Erfahrung nicht zugänglich sind.
Literatur ist ein ideales Mittel, um sich mit Fremderfahrung auseinander zu setzen und diese
mit der eigenen Erfahrung zu verknüpfen.
1.4 WESHALB SIND WIR GERADE AUF DIESES THEMA
GEKOMMEN?
Den Einbezug des Schachspiels in den Schulunterricht praktizieren wir beide eigentlich schon
seit einiger Zeit, praktisch seit Beginn unserer Unterrichtstätigkeit. Wir schätzen vor allem die
vielfältigen Möglichkeiten, das Spiel in geeigneter Form einzusetzen, sei dies in Landschul-
wochen, Projektwochen, einzelnen Unterrichtssequenzen oder einzelnen Fächern wie im
Mathematikunterricht (Weizenkornlegende, Rösselsprung von Euler, Berechnungen der
Zugmöglichkeiten nach dem x-ten Zug), im Werkunterricht (Herstellung von Brett und
Figuren), im Musikunterricht (Musical „Chess“), im Geometrisch Technischen Zeichnungs-
unterricht (Sattelflächen), im Geschichtsunterricht (Entstehung des Schachspiels und seine
frühe Verbreitung bis zur heutigen Zeit, Vergleiche auf der Zeitliste mit wichtigen
geschichtlichen Ereignissen der gleichen Zeitepoche, Das Geheimnis des Schachautomaten
im Zusammenhang mit Napoleon, Die erste Partie aus dem All zur wissenschaftlichen
Untersuchung der Denk- und Gedächtnisfunktionen des logischen Denkens im kosmischen
Raum), im Geografieunterricht (Das Schachdorf Ströbeck, Marostica mit seiner alle zwei
Jahre stattfindenden Aufführung einer Partie mit lebenden Figuren) und natürlich im
Deutschunterricht, wo es viele interessante Beispiele aus den Literaturbereichen gibt, wie wir
bei unseren Recherchen haben feststellen dürfen. Einiges haben wir für diese Diplomarbeit
unterrichtsgerecht aufbereitet und in unseren Klassen teilweise erprobt.
Bei unseren Nachforschungen zu diesem Thema und dem Suchen nach geeigneten Beispielen
für unsere Unterrichtsstufe, der Sekundarstufe I, sind uns erst so richtig die mannigfaltigen
und gut geeigneten Einsatzmöglichkeiten bewusst geworden. Wir mussten aber schnell fest-
stellen, dass zu diesem Thema noch wenig Material zusammen getragen worden ist und wir
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deshalb gefordert waren, hier quasi Pionierarbeit zu leisten. Wir mussten uns denn auch auf
einige markante Beispiele beschränken.
Wir haben uns aber für dieses Thema nicht nur entschieden, weil wir uns für das Schachspiel
speziell interessieren, sondern auch, weil uns der Hinweis unserer Dozenten entsprechend
motiviert hat, sich für die Diplomarbeit einmal einem Thema anzunehmen oder ein Thema zu
bearbeiten, das man eigentlich schon immer gerne angegangen wäre.
1.5 WELCHE VORTEILE BIETET DER EINBEZUG DES
SCHACHSPIELS IN DEN SCHULUNTERRICHT?
Bevor wir uns dem eigentlichen Thema unserer Arbeit widmen, möchten wir einige allge-
meine Gedanken über das Spiel und speziell das Schachspiel in der Erziehung und im Schul-
unterricht festhalten.
Gesellschafts- und Familienspiele – und dazu darf man auch das Schachspiel zählen, obwohl
es natürlich, wie an einigen Stellen erläutert werden wird, nicht nur spielerische Aspekte bein-
haltet, – gewinnen in der heutigen Zeit mit den zahlreichen Ablenkungs- und Vergnügungs-
möglichkeiten der Informations- und Unterhaltungsindustrie unserer Meinung nach immer
mehr an Bedeutung, weil hier vor allem das soziale und spielerische Moment ideal zum Zuge
kommt. Sich im spielerischen Wettkampf mit einem Partner oder einer Partnerin zu messen,
bedeutet nicht nur Vergnügen, sondern ist auch eine entsprechende Herausforderung, sein
Spiel ständig zu verbessern, Fortschritte zu erzielen, um eine noch bessere Leistung zu er-
reichen. Klar vorgegebene Spielregeln einzuhalten, eine Niederlage zu akzeptieren und ent-
sprechend damit umgehen zu können, sind Elemente einer guten Lebensschulung, denn Spiele
sind stets auch mit Lernen verbunden, entweder als reines Wissen zu logischem und strate-
gischem Denken, mit dem Gewinnen und dem Zuwachs an Erfahrung, dem Akzeptieren von
Regeln und Normen und dem Aufdecken von verschiedenen Rollen und Interessen.
Diese Zusammenhänge in der Bedeutung des Spiels und speziell auch des Schachspiels zu
kennen und zu verstehen, ermöglichen ein besseres Verständnis der Situationen, die in den
Literaturformen im Zusammenhang mit dem Schachspiel auftreten. Sie sind ein wichtiges
Element und bedeuten oft so etwas wie den roten Faden in einem Werk, wie man unschwer
feststellen wird.
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1.6 DIE FÄCHERÜBERGREIFENDEN EINSATZMÖGLICHKEITEN
DES SCHACHSPIELS
Unsere Erfahrungen mit ganzheitlichen Themen, die im Unterricht fächerübergreifend
eingesetzt werden können, haben uns immer wieder gezeigt, dass hiermit eine grosse
Nachhaltigkeit erzielt werden kann. Das Schachspiel mit seinen vielfältigen Einsatz-
möglichkeiten und seinem Facettenreichtum ist unserer Meinung nach hierfür besonders gut
geeignet. Diesen Aspekt wollen wir denn in unserer Arbeit ebenfalls aufzeigen und haben
damit bewusst das Thema etwas weiter gefasst, weil die Verbindungen zu anderen Fächern
auf der Hand liegen und sich praktisch von selber ergeben. Wir widmen denn auch diesem
Aspekt einen angemessenen Anteil in unserer Arbeit.
2. G R U N D L A G E N
2.1 ALLGEMEIN
Nachfolgend versuchen wir, einzelne Literaturformen, die uns für den Schulunterricht und
insbesondere für den Deutschunterricht geeignet erscheinen, aufzuarbeiten und praktische
Anwendungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Wir erläutern hierbei die ausgewählten Beispiele
und versehen sie mit einigen Hintergrundinformationen, unter anderem zu den entsprech-
enden Autoren. Aus den zahlreich gefundenen Möglichkeiten mussten wir eine Auswahl
treffen, die natürlich subjektiv ist, aber wir hoffen, eine gute Mischung gefunden zu haben.
Die fett markierten und damit herausgehobenen Titel werden wir im Kapitel 4 bei der
praktischen Umsetzung für den Unterricht näher ausführen und aufzeigen, wie wir die
ausgewählten Beispiele für unseren Unterricht aufgearbeitet und eingesetzt haben.
2.2 AUSGEWÄHLTE LITERATURFORMEN
2.2.1 Gedichte
„Das Schachspiel“ von Johannes Gottfried Herder
„Trübes Wetter“ von Gottfried Keller
„Ein Mensch“ von Eugen Roth
2.2.2 Romane
„Mein Name sei Gantenbein“ von Max Frisch
„Die Schachspielerin“ von Bertina Henrichs
„Remis für Sekunden“ von Icchokas Meras
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2.2.3 Kriminalromane
„Die grossen Vier“ von Agatha Christie
„Der Springer greift an“ von William Faulkner
2.2.4 Kurzgeschichten
„Schach dem Zaren“ von Scholem Alejchem
„Der Schachspieler“ von Friedrich Dürrenmatt
„Die Schach-Sitzbank“ von Jürg Halter
„Ein Kampf“ von Patrick Süskind
2.2.5 Hörspiele
„Biografie: Ein Spiel“ von Max Frisch
„Die Grünstein-Variante“ von Wolfgang Kohlhaase
2.2.6 Parodien
„Erlkönig“ von Eduard Vollmar
„Schachgedicht“ frei nach Theodor Fontane
2.2.7 Novelle
„Schachnovelle“ von Stefan Zweig
2.2.8 Märchen
„Der Knabe mit den Karos im Kopf“ von Richard Reich
„Alice hinter den Spiegeln“ von Lewis Carroll
„Scheherazade“ aus 1001 Nacht
2 .2.9 Phantastische Erzählung
„Harry Potter und der Stein der Weisen“ von Joanne Kathleen Rowling
2.2.10 Andere Möglichkeiten ohne speziellen Literaturbezug
„Schachbretträtsel“ im Zusammenhang mit dem Rösselsprung von Euler
„Bei Anruf Matt“, ein Kurzfilm
„Liebesgrüsse aus Moskau“, ein „James Bond-Film“ nach dem Buch von Ian
Lancaster Fleming
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2.3 HINTERGRUNDINFORMATIONEN ZU DEN AUSGEWÄHLTEN
BEISPIELEN
2.3.1 Gedichte
„Das Schachspiel“ von Johannes Gottfried Herder (1744 – 1803):
Der deutsche Dichter, Philosoph und Ästhetiker gab für die Entwicklung der deutschen
Sturm- und Drangzeit und der Klassik wichtige Impulse. Er erkannte als erster die Bedeutung
der Volksdichtung, die er aus verschiedenen Kulturbereichen sammelte und übersetzte
(„Stimmen der Völker in Liedern“ 1778/79). Von nachhaltiger Wirkung waren auch seine
Studien zum Ursprung der Sprache und zu Fragen der Menschheitsgeschichte („Ideen zur
Philosophie der Geschichte der Menschheit“ 1784/91).
Seine demokratische Weltanschauung veranlasste ihn, die Ideen der Französischen
Revolution zu begrüssen („Briefe zur Beförderung der Humanität“ 1793/97).
Herder schrieb in „Terpsichore“ (1795) ein Gedicht mit dem Titel „Das Schachspiel“ (Seiten
6 bis 9):
Warum schlagen wir noch Bücher und Blätter auf?
Alle Lehre Sokrates‘ über die Nichtigkeit
Unsres Erdegedrängs lehret im Spiel uns hier
Ein mit Puppen besetztes Brett.
Siehst du, Freund, wie das Glück Würden und Ämter teilt?
Wie’s die Plätze bestimmt? Wie sie im Wechsel sind?
Freund, so spielen auch wir, selber ein Spiel des Glücks,
Ungleich, aber im Ausgang gleich.
Mächtig stehet ein Heer gegen das andre auf;
Hier Trojaner und hier tapferer Griechen Reih’n,
Stark mit Türmen verwacht. Mutige Ritter stehn
Vor den Türmen. Es schweigt das Heer.
Wartend schweiget das Feld: denn die Gebieter sind
Noch im Kampfe mit sich, sinnen Entwürfe. Furcht
Und die Ehre gebeugt. Jetzo beginnt die Schlacht.
Arme Bauern, in euren Reih’n!
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Schau, sie fallen dahin. Siehe, mit ihrem Blut
Wird der Lorbeer erkauft. Ihre Gefilde mäht,
Ihre Hütte beraubt jeder der Streitenden:
Sie nur haben die Schuld verübt.
Armer Corndon, du! Armer Aleris, du!
Liegt und schlafet. Die Herren stehen noch hinter euch. –
Auf dann, wappne dich Mann, wenn du gleich Bauer bist,
Werd’ ein streitender Tamerlan.
Doch wer springet hervor? Listiger Springer, du?
Aus der Mitte des Heers, über die Köpfe der Kämpfer?
Willst du zurück, Partner! Es hütet sich
Vor dir Schwarzem das ganze Feld.
Und doch wünschet sich auch keiner den Tod von dir,
Narr und Läufer. Du hast eine beträchtliche
Zunft in unserer Welt; Narren und Läufern stehn
Häuser offen und Hof und Zelt.
Sieh, die Königin regt als Amazone sich,
Geht, wie ihr es beliebt; Damen ist viel erlaubt.
Vor ihr weichet hinweg Ritter und Elefant,
Bauer, Parus und Hannibal.
Alles weichet der Macht weiblicher Krieger, die
Viel begehren und viel wagen; sie kennen nicht
Das Zuviele. Die jetzt ihren Gemahl beschützt
Ist’s, die jetzo den Herrn verrät.
Schach dem Könige! Tritt, höchster Gebieter, selbst
Von dem Platze der Ruh! Traue die Majestät
Nicht Beamten allein, nicht der Gemahlin an!
Aber leider, es ist zu spät.
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Schach dem Könige, Schach! – Siehe, geendet sind
Unsre Züge; du siehst Ritter und Bauern jetzt,
König, Springer und Narr hier in der Büchse Grab
Durch- und übereinander ruhn.
Also gehet die Welt: Lictor und Konsul geht
In die Büchse, der Held und der Besiegte.
Du vollführe dein Amt; spiele des Lebens Spiel,
Das ein Höherer durch dich spielt.
Anmerkung: In der praktischen Aufarbeitung unter 4.1.1 (Seite 93 ff) gehen wir näher auf
den Namen von Tamerlan aus diesem Gedicht ein und zeigen dessen Beziehung zum
Schachspiel.
„Trübes Wetter“ von Gottfried Keller (1819 – 1890):
Der schweizerische Schriftsteller vertrat als bürgerlicher Demokrat die Ideen der Revolution
von 1848. Von 1861 bis 1876 war er Erster Staatsschreiber in Zürich. Als grosser Erzähler
setzte er die Traditionen des klassischen deutschen Humanismus fort. Neben meisterhaften
Gedichten („Gedichte“ 1846) und einer umfangreichen, meist von humorvollen Tönen
beherrschten Novellistik („Die Leute von Seldwyla“ 1855 / 74; „Züricher Novellen“ 1877)
hinterliess er mit „Der grüne Heinrich“ (4 Bände, 1878) einen der bedeutendsten autobio-
graphischen Romane der Weltliteratur.
In einem seiner Gedichte aus „Gedichte“ (1846), veröffentlicht in „Gottfried Keller:
Sämtliche Werke in acht Bänden“ (Band 1, Berlin 1958 – 1961, Seiten 54 und 55), erwähnt
Keller auch das Schachspiel:
Trübes Wetter
Es ist ein stiller Regentag,
So weich, so ernst, und doch so klar,
Wo durch den Dämmer brechen mag
Die Sonne weiss und sonderbar.
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Ein wunderliches Zwielicht spielt
Beschaulich über Berg und Tal,
Natur, halb warm und halb verkühlt,
Sie lächelt noch und weint zumal.
Die Hoffnung, das Verlorensein
Sind gleicher Stärke in mir wach;
Die Lebenslust, die Todespein,
Sie ziehn auf meinem Herzen Schach.
Ich aber, mein bewusstes Ich,
Beschau das Spiel in stiller Ruh,
Und meine Seele rüstet sich
Zum Kampfe mit dem Schicksal zu.
„Ein Mensch“ von Eugen Roth (1895 – 1976):
Der deutsche Dichter war ein Humorist, „... der das Ungenügen am Dasein zutiefst spürt, der
es aufdeckt, um es in Erkenntnis zu verwandeln, die ein befreiendes Lachen auslöst. ...
Inmitten unseres Jahrhunderts, in dem Mode und Macht sich verbünden, hat der Zeitgeist
einen Aussenseiter gefunden. Sein Name ist Eugen Roth.“ So wurde er einmal gewürdigt.
Mit der Formel „Ein Mensch ...“ beginnen die Gedichte in den heiter-philosophischen
Versbüchern, mit denen der Münchner Schriftsteller Millionenauflagen erzielte. Auf den
Band „Ein Mensch“ (1935) folgten 1948 „Mensch und Unmensch“ und 1964 „Der letzte
Mensch“.
Das Allzumenschliche war sein Thema; Verskomik und Wortspiele waren die Mittel, mit
denen er seine sanfte Kritik an alltäglichen Verhaltensmustern übte.
In seinem Werk „Ein Mensch“ (1935) ist auch ein Gedicht enthalten, das sich mit dem
Schachspiel auseinandersetzt und den Titel „Die Meister“ trägt (Seite 37):
Ein Mensch sitzt da, ein schläfrig trüber,
Ein andrer döst ihm gegenüber.
Sie reden nichts, sie stieren stumm.
Mein Gott, denkst du, sind die zwei dumm!
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Der eine brummt, wie nebenbei,
Ganz langsam: Turm c sechs c zwei.
Der andere wird allmählich wach.
Und knurrt: Dame a drei g drei Schach!
Der erste, weiter nicht erregt,
Starrt vor sich hin und überlegt.
Dann plötzlich, vor Erstaunen platt,
Seufzt er ein einzig Wörtlein: matt!
Und die du hieltst für niedre Geister,
Erkennst du jetzt als hohe Meister!
Anmerkung: Im praktischen Teil 4.1.1 (Seite 97) zeigen wir eine mögliche Mattsetzung des
schwarzen Königs, wie sie in diesem Gedicht geschildert wird.
2.3.2 Romane
„Mein Name sei Gantenbein“ von Max Frisch (1911 – 1991):
Der Schweizer Schriftsteller zerpflückte mit spitzer Feder in den Nachkriegsjahrzehnten so
ziemlich alles, was dem durchschnittlichen Schweizer Bürger hoch und heilig war. Er
prangerte die Konzeptlosigkeit, Rückwärtsgewandtheit und Immobilität der schweizerischen
Gesellschaft an. Neutralität, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie und immer wieder die
Schweizer Armee waren seine Themen.
Das „Tagebuch 1946 bis 1949“ (1950), die Romane „Stiller“ (1954) und „Homo Faber“
(1957) und die Theaterstücke „Biedermann und die Brandstifter“ (1958) und „Andorra“
(1961) machten ihn weit über den deutschen Sprachraum hinaus zum gefeierten Erzähler und
Theaterautor.
Mitte der 50er-Jahre zog er einen tiefen Schnitt in seine eigene Biographie: Er verliess seine
Familie und löste sein Architekturbüro auf, um sich ganz auf das Schreiben konzentrieren zu
können.
Sein Leben lang war er unterwegs. Er reiste dauernd in der Welt herum und lebte jahrelang im
Ausland, in New York, Rom und Berlin, kehrte aber immer wieder nach Zürich zurück. In
„Tagebuch 1966 – 1971“ ist einiges von dieser Unruhe eingeflossen.
Bis zu seinem Tod trat er immer wieder mit pointierten Stellungnahmen zu aktuellen Themen
an die Öffentlichkeit.
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In seinem dritten grossen Roman „Mein Name sei Gantenbein“ (1964) ist Frischs zentrales
Thema das Problem der Identität, die Spannung des Ichs zum anderen. Der Roman spiegelt
die Verschiebung von Realität und Fantasie im Bannkreis einer Situation, die die erprobte
Rolle eines Menschen in Frage stellt, sein Ich freilegt. Die Geschichten des Buches sind nicht
Geschichten im üblichen Sinne. Es sind Geschichten wie Kleider, die man probiert und
Lebensrollen und Lebensmuster, die die Wirklichkeit erraten haben.
Das Schachspiel wird an einigen Orten erwähnt: (Seite 182)
... Gantenbein als Reiseführer –
Gantenbein beim Zerlegen von Forellen –
Gantenbein als Schachspieler –
Gantenbein an der Krummen Lanke –
Gantenbein als Gastgeber –
Gantenbein vor dem Stadtarzt –
Gantenbein bei Kurzschluss im Haus –
Gantenbein bei der Dior-Boutique –
Gantenbein beim Sträussebüscheln –
Gantenbein am Flugplatz –
Gantenbein als blinder Gatte –
All dies kann ich mir vorstellen.
Aber Gantenbein als Freund?
Seite 93 ff:
... Eine alte Leidenschaft von Gantenbein, so nehme ich an, ist das Schach. Und auch das geht
ohne weiteres.
„Hast du gezogen?“ fragte ich.
„Moment“, sagte mein Partner, „Moment.“
Ich sehe und warte.
„Ja“, sagt mein Partner, „ich habe gezogen.“
„Nun?“
„S b 1 x a 3“, meldet mein Partner.
„Also mit dem Springer,“ sage ich, und vor allem Partner, die noch nicht daran gewöhnt sind,
dass ich das Brett im Kopf habe, sind meistens verdutzt, wenn ich meine Pfeife stopfe und
sage: „Also mit dem Springer!“ Und am meisten verdutzt sie, dass ich immer noch weiss, wo
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meine Figuren stehen, die ich natürlich nie berühre; ich zünde jetzt die Pfeife an, während ich
sage: „L f 8 x a 3.“
Mein Partner hat gehofft, ich hätte meinen Läufer vergessen, und ist beschämt; dadurch büsst
er nicht bloss seinen Springer ein, sondern sein Gewissen, ich seh’s, er beginnt zu pfuschen.
„Nun?“ fragt Lila, „wer gewinnt denn?“
„Gantenbein!“ sagt er, die Stimme so heiter wie möglich, aber nervös, ich sehe seine Finger.
Heimlich zählt er die Figuren, er kann’s nicht fassen. Früher hat mein Partner mich immer
geschlagen, und ich habe nichts hinzugelernt, nichts, was mit Schach zu tun hat. Er wundert
sich bloss. Er denkt nicht, sondern wundert sich.
„Hast du gezogen?“ frage ich.
Es ist, als sehe er nichts mehr.
„Also gut“, sagt er, „b 2 x a 3!“
Mein Partner hält mich wirklich für blind.
„D e 5 x a 1!“ bitte ich, und während mein Partner eigenhändig seinen Turm hinauswerfen
muss, um meine Königin in seine Königsreihe zu stellen – er schüttelt den Kopf, und für den
Fall, dass Gantenbein nicht im Bild ist, sagt er es selbst: „Schach!“ – sage ich zu Lila, sie soll
uns jetzt nicht stören, aber zu spät; mein Partner legt seinen König auf den Bauch, was zu
sehen mir nicht zukommt; ich warte, meine Pfeife saugend.
„Matt!“ meldet er.
„Wieso?“
„Matt!“ meldet er.
Ich werde ein Phänomen.
Anmerkung: Im praktischen Teil unter 4.1.2 (Seite 98) zeigen wir eine mögliche
Mattsetzung des weissen Königs im beschriebenen Ende dieser Partie.
Seite 126:
... Ich halte neuerdings meine beiden Fäuste hin und Burri wählt: ich habe also Schwarz. –
Später dann, nachdem ich stundenlang nur mit Läufer und Springer und Türmen gedacht
habe, beschäftigt es mich doch, was Burri berichtet hat; die Schachtel mit den elfenbeinernen
Figuren auf meinem Knie, jetzt wieder allein, da Burri noch einen Krankenbesuch machen
muss, weiss ich nicht, was ich meinerseits täte in einem solchen Fall. ...
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Seite 138:
... Für Burri, ich verstehe, ist es ein heikler Fall. Er weiss nur, dass der Zettel auf seinem Tisch
lag, und der Verdacht, dass Enderlin diesen Zettel gelesen haben könnte, beschäftigt ihn so
sehr, dass er bei unserm abendlichen Schach eine miserable Partie liefert. ...
... Und ich widerspreche nicht, damit wir jetzt weiterspielen können, eine zweite Partie, eine
bessere hoffentlich. Ich habe jetzt Weiss. Burri lässt es keine Ruhe; drum stellt er so langsam
auf, so, als müsste er sich besinnen, wo Läufer und wo Pferdchen zu stehen haben. Ob denn
ich, fragt er, nachdem ich bereits mit dem Königsbauer eröffnet habe, weiterleben würde wie
bisher, wenn ich wüsste, dass ich spätestens in einem Jahr gestorben bin. Ich weiss es nicht.
Ehrenwort. Ich kann’s mir nicht vorstellen.
Ich spiele, um einmal abzuwechseln, ein Gambit. ...
Seite 188:
... Gespräch mit Burri nach einem Schach, das ich verloren habe, über Frauen, scheinbar über
Frauen, eigentlich über Männer, die Unheil anrichten, indem sie die Frau zu wichtig nehmen
...
Seite 189:
… „Ja“, sage ich. „Du bist am Zug.“
Burri nach seinem Zug:
„Was deine Lila betrifft“ –
„Meine?“
Ich habe gezogen.
„Aha“, sagt Burri, „aha.“
...
Anmerkung: Die fett markierten Schachausdrücke erklären wir unter 4.1.2 (Seite 98) im
praktischen Teil.
“Die Schachspielerin” von Bertina Henrichs (1966 - ):
Die in Frankfurt am Main geborene Autorin studierte Literatur- und Filmwissenschaft und
lebt heute in Paris, wo sie als Filmemacherin arbeitet. 2005 schrieb sie ihren ersten Roman
„Die Schachspielerin“.
Zum Inhalt:
Als Szenerie dient die griechische Insel Naxos. Die Hauptperson ist ein Zimmermädchen mit
Namen Eleni. Bei ihrer täglichen Arbeit in einem Hotel stösst sie im Zimmer eines
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französischen Ehepaares ungeschickterweise an ein Schachbrett mit einer unvollendeten
Partie. Eine Figur purzelt zu Boden und ihr Platz zurück lässt sich nicht mehr finden. So
landet das hölzerne Etwas schliesslich neben dem Brett, allerdings mit der betrüblichen
Erkenntnis, ein geistiges Tête-à-tête gestört und eine Zauberkraft der Logik erahnt, aber nicht
begriffen zu haben. Ein Wunsch, der alle Konventionen ihres bisherigen Lebens sprengt,
beginnt zu reifen.
Erst wird der Ehemann Panos, ein Automechaniker, als Lernpartner auserkoren, denn sie
schenkt ihm unter Mithilfe ihres früheren Lehrers nicht nur ein Brett und Figuren, sondern
gleich einen Schachcomputer, der allerdings beim Ehegatten keinerlei Interesse auslöst,
womit nur der Weg der Selbsterkenntnis bleibt. Der ehemalige Lehrer unterstützt bei
heimlichen Treffen ihr Üben, Lehrbücher geben Ideen grosser Meister preis und der
Computer – in der Tiefkühltruhe gut vor der Familie versteckt – versüsst die nachmittägliche
Langeweile. Der Alltag gerät aber plötzlich aus den Fugen: Ehekrach, Unverständnis der
beiden Kinder, Missachtung durch die Dorfgemeinschaft, Getratsche über ihre plötzliche
Verrücktheit, aber nichts bringt Eleni davon ab, in die Tiefen des Schachspiels vorzudringen.
Um die aus den Fugen geratene Lage zu lösen, überwindet sich der Lehrer und bittet einen
Jugendfreund, dem er wegen einer Fehde ein halbes Leben lang aus dem Weg gegangen ist,
als spielstärkerer Partner einzuspringen, denn das Feuer von Elenis plötzlicher
Spielleidenschaft soll auf eine grosse Probe gestellt werden durch die Teilnahme von ihr an
einem Schachturnier in der Hauptstadt. Die Reise nach Athen wird für Eleni der endgültige
Schritt zur Emanzipation. Dies erkennt als erster ihr Trainingspartner, der als ausgebildeter
Apotheker dem naturwüchsigen Talent nach und nach Respekt zollt. Auch daheim schlägt die
Stimmung um, so dass das Abenteuer einen Ausweg nimmt, der mit verkrustetem
Traditionsdenken nicht möglich wäre.
Obwohl einige „schachtechnische Mängel“ im Buch auftauchen – zum Beispiel, dass
Fernschach nicht mit dem Telefon gespielt wird, dass bei einem Angriff auf den schwarzen
König die weissen Figuren nicht auf der siebten und achten Diagonalen ankommen, sondern
auf der siebten und achten Reihe oder dass bei der Bauernumwandlung neben Dame, Turm
und Springer auch ein Läufer möglich ist – besticht die Autorin durch gute Schachkenntnisse,
was sich zum Beispiel in den Bezeichnungen der Eröffnungen und Verteidigungen zeigt.
(Siehe hierzu unter 4.1.3 Seite 99 ff)
Nachfolgend eine zum Schmunzeln anregende Stelle im Buch, wo sich Henrichs wie folgt
über die wenigen im Schach auftauchenden Frauen äussert (Seite 84):
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„ … Das Schachspiel verlangte allerdings so viel Konzentration, dass sie darüber ihre
Einsamkeit vergass. Ob künftige Meisterin oder verirrte Hochstaplerin, sie konnte nichts halb
machen. Das Universum der vierundsechzig Felder verlangte nach absoluter Unterwerfung.
Eleni kommunizierte auf geheimnisvolle Weise mit den grossen Erfindern der Partien. Jeder
von ihnen schien ihr die Lösungen für ihre Probleme einflüstern zu wollen. Über Epochen
hinweg schienen sie miteinander zu diskutieren, bestimmte Themen je nach Temperament zu
untermauern oder abzulehnen. Diese Zänkereien nisteten sich in Elenis Kopf ein. Sie wusste,
dass sie all diese Herren davonjagen musste, um einem Gegner mit klarem Kopf entgegen zu
treten, aber sie fühlte sich schwach, eine formbare Puppe in den Händen der grossen,
legendären Schmiede.
In so einer Nacht des Kampfes wurde ihr bewusst, dass alle grossen Theoretiker Männer
waren. Sie hatte noch nie von einer bedeutenden Schachspielerin gehört. Das Genie des
Schachbretts sass offenbar irgendwo in den Hoden. Sicher nicht in denen von Panos, wohl
aber in denen der Meister. Und trotzdem herrschte nicht der König über die Partie, ebenso
wenig wie der Turm, der Springer oder die Dame. Nur im Zusammenspiel erhielten die
Figuren ihre Bedeutung.
Der Bauer war die Basis des Spiels, der kleine gehorsame Soldat, der geradewegs auf sein
einziges Ziel zumarschierte: der Blockade der feindlichen Armee oder dem gesellschaftlichen
Aufstieg. Er konnte zur Dame, zum Turm oder Springer werden, je nach Bedarf im Spiel.
Wenn der Bauer die Seele des Spiels war, wie Philidor behauptete, so war die Dame das
Herz.
Irgendwo zwischen dem Bauern und der Dame, dem Schwächsten und der Stärksten,
zwischen Beharrlichkeit und Macht gab es einen Platz, den Eleni einnehmen konnte. Daran
musste sie sich halten. Wenn es ihr gelang, das Spiel mit ihrer eigenen Fantasie zu beleben,
konnte sie gewinnen. Das Feld der abstrakten Beziehungen zu verlassen und sich die Psyche
dieser Figuren zu Eigen zu machen, war der einzige Weg, den Sieg davonzutragen.
Aber sobald sie wieder vor dem Schachbrett sass, gegenüber von Kouros, dessen Besorgnis
sie instinktiv wahrnahm, kehrten die Meister des Scharfsinns und der Belehrung zurück und
machten ihr das Leben schwer. …“
Anmerkung: Im Anhang unter 9.1 und 9.2 (Seiten 121 bis 124) zeigen wir mit Fragebögen,
wie wir diesen Roman in unseren Klassen ausgewertet haben.
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“Remis für Sekunden” von Icchokas Meras (1934 - ):
Der jüdisch-litauische Schriftsteller ist in Kelme in Litauen geboren und verlor seine Eltern
früh durch die Judenverfolgung im Osten. Nur durch glückliche Umstände entgehen seine
Schwester und er dem sicheren Tod. Eine litauische Familie hält die Geschwister versteckt,
bis der Nationalsozialismus in Litauen 1944 ausgespielt hat.
Auf dem Hintergrund der leidvollen Zeit spielt sich in seinem Werk „Remis für Sekunden“
(1963) eine Schachpartie auf Leben und Tod ab. Das ist seit dem Mittelalter nichts Neues.
Neu ist jedoch das Thema in Verbindung mit dem Dritten Reich. Schoger, der sadistische
Lagerkommandant des Gettos, zeigt nur da menschliche Züge, wo er Schach spielt. Er spielt
nicht schlecht und tritt auch gegen mehrere Offiziere simultan an, um sie alle zu schlagen.
Nur dem jungen Isaak, einem Bewohner des Gettos, ist er nicht gewachsen. Eines Tages im
Jahre 1943 zwingt er den jüdischen Jungen in einer Laune zu einer Partie auf Leben und Tod.
Es geht nicht nur um Isaaks Leben, sondern um das der gesamten Gettokinder, denen der
Abtransport in ein Vernichtungslager droht. Isaak sieht sich vor die Entscheidung gestellt,
seine Menschenwürde aufzugeben oder das Leben einzusetzen. Gewinnt er die Partie, muss er
sterben, aber die Kinder des Gettos sind gerettet, verliert (verspielt!) er, bleibt er am Leben,
aber die Kinder werden weggebracht. Schoger will nicht nur die Macht über Leben und Tod,
er will die Unterwerfung des Verstandes, der Persönlichkeit. Aber was ist bei einem
Unentschieden? Das kalkuliert der grausame Schoger nicht ein.
Seite 149 ff …: „Wenn dein Sohn gewinnt, bleiben die Kinder im Getto, aber ihn werde ich
erschiessen. Ich selbst. Wenn dein Sohn verspielt, bleibt er am Leben, und die Kinder werden
morgen weggebracht. Hast du verstanden?“ … „Gut“, sagt er, „ich bin einverstanden. Aber
einen Fall haben sie ausser Acht gelassen, Herr Kommandant. Wenn es nun ein Remis gibt?“
„Du verstehst nichts vom Schachspiel, Lipman. So hätte dein Sohn nie gefragt. Es ist
schwerer, ein Remis zu erreichen als zu gewinnen oder zu verspielen. Nein, ein Remis wird es
nicht geben. Aber … gut, diesmal gebe ich nach, Lipman. Wenn es ein Remis gibt … wenn
dein Sohn das schafft, bleibt er am Leben und die Kinder bleiben im Getto. Bist du
zufrieden?“ …
Dieses Leben des schachbegeisterten Isaak lässt Meras in mehr als „50 Zügen“ Revue
passieren. Da kommen viele Einzelschicksale von Verwandten und Freunden hoch, der Tod
sämtlicher Geschwister, eingestreut in schicksalsschweren Kapiteln. Und Isaak, des alten
Lipmans letztes Kind, hat es sehr schwer, sich auf die Partie zu konzentrieren. Remis muss sie
werden – remis! Der zynische Kommandant Schoger, „mit eisiger Kälte in den Augen“, treibt
ein böses Spiel mit ihm. Der letzte Zug muss die Entscheidung bringen! Der hintertriebene
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Offizier Schoger begreift zu spät, dass selbst seiner Brutalität Grenzen gesetzt sind. Isaak setzt
Schoger matt. Dieser greift zu seiner Pistole, doch die Menschen aus dem Getto, die das Spiel
verfolgt haben, stehen eng wie eine Mauer um den Lagerleiter herum. Er erkennt sofort, dass
er nicht entrinnen kann, bekommt Angst und wagt es nicht, Isaak zu erschiessen.
Der Junge hat nicht nur seine geistige, sondern auch seine moralische Überlegenheit
bewiesen.
2.3.3 Kriminalromane
“Die grossen Vier” von Agatha Mary Clarissa Christie (1891 – 1976):
Die englische Schriftstellerin war eine der erfolgreichsten Kriminalautorinnen des 20.
Jahrhunderts. Ihre spannenden Geschichten „Dreizehn bei Tisch“ (1933), „Das Spinnennetz“
(1954), „Zeugin der Anklage“ (1956) und „Die unvergessliche Mörderin“ (1966) sind stets,
was Schuld und Verbrechen anbelangt, raffiniert psychologisch, aber kaum einmal sozial
motiviert. Als Verfasserin von Kriminalschauspielen hatte sie vor allem mit dem Stück „Die
Mausefalle“ (1952) einen Welterfolg.
Als Standardfiguren benützte sie für die meisten ihrer Romane den belgischen Kriminalisten
Hercule Poirot oder die altjungferlichgescheite Miss Marple.
Im Kapitel 11 aus „Die grossen Vier“ muss sich ihr Held Hercule Poirot intensiv mit dem
Schachspiel auseinandersetzen (Seiten 93 und 94): …
„Mein Freund, Sie befinden sich in einem grossen Irrtum. Die grösste Macht, das grösste
Übel, welches heute auf der Welt existiert, das sind die grossen Vier. Was sie beabsichtigen,
weiss niemand, aber noch nie hat es eine derartige Verbrecherorganisation gegeben. Ihr
intelligentester Kopf hat in China die Leitung, ferner gibt es noch einen amerikanischen
Millionär, eine Französin, übrigens eine wissenschaftliche Kapazität, und – was den vierten
betrifft – “
Japp unterbrach ihn.
„Ich weiss, ich bin völlig im Bilde. Das ist nun einmal Ihr Steckenpferd. Nach und nach wird
Ihnen diese Angelegenheit zur Manie, Monsieur Poirot. Aber lassen Sie uns das Gesprächs-
thema wechseln.
Interessieren Sie sich für Schach?“
„Ja, ich habe zuweilen Schach gespielt.“
„Haben Sie denn gestern das merkwürdige Spiel mit angesehen? Ein Meisterschaftsspiel
zwischen zwei weltbekannten Grössen, einer davon ist während des Spiels gestorben.“
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„Ich habe etwas darüber gelesen. Dr. Savaronoff, der russische Meister, war einer der Spieler,
und der andere, der einem Herzschlag erlegen ist, war ein flotter junger Amerikaner namens
Gilmour Wilson.“
„Ganz recht. Savaronoff schlug vor einigen Jahren Rubinstein und wurde Weltmeister. Von
Wilson behauptet man, er sei ein zweiter Capablanca.“
„Ein sehr merkwürdiger Fall“, bemerkte Poirot gedankenvoll. „Wenn ich nicht irre, haben Sie
also Interesse an der Sache?“
Japp stiess ein verlegenes Lachen aus.
„Sie haben es erraten, Monsieur Poirot. Es bedeutet für mich ein Problem. Wilson war gesund
wie ein Fisch im Wasser, keine Spur eines Herzleidens. Sein Tod gibt uns Rätsel auf.“
„Verdächtigen Sie etwa Dr. Savaronoff, ihn aus dem Wege geräumt zu haben?“ rief ich.
„Kaum“, sagte Japp trocken. „Ich glaube, dass nicht einmal ein Russe seinen Rivalen
beseitigen würde, nur um im Schach nicht zu unterliegen; jedenfalls, soweit ich feststellen
konnte, war Savaronoff der Favorit – man sagt, nur Lasker sei ihm überlegen.“ Poirot nickte
gedankenverloren. …
Seite 95: ...
(Poirot äussert den Verdacht, dass der Giftanschlag nicht Wilson gegolten habe.)
„Gibt es jemand, der persönliche Vorteile durch Savaronoffs Tod gehabt hätte?“
„Nun, ich nehme an, seine Nichte. Er ist kürzlich zu grossem Vermögen gelangt, es wurde
ihm durch Madame Gospoja hinterlassen, deren Gatte ein Zuckerindustrieller während des
alten Regimes war. Sie standen früher in engsten Beziehungen zueinander, soviel ich weiss,
und sie weigerte sich seinerzeit hartnäckig, an die Berichte über seinen angeblichen Tod zu
glauben.“
„Wo fand das Schachturnier statt?“
„In Savaronoffs eigenem Hause. Er ist Invalide, wie ich Ihnen bereits sagte.“
„Waren viele Zuschauer dort?“
„Mindestens ein Dutzend, vielleicht auch mehr.“ …
Seite 97: …
Poirots Aufmerksamkeit wandte sich dem Inhalt der Taschen des Toten zu, den ein Polizei-
beamter vor uns ausbreitete. Es war nicht viel – ein Taschentuch, ein Schlüssel, seine Brief-
tasche, gefüllt mit Banknoten – und einige Briefe ohne Bedeutung. Jedoch ein Gegenstand
fand Poirots besondere Aufmerksamkeit.
„Eine Schachfigur!“ rief er aus. „Es ist ein weisser Läufer! War dieser in seiner Tasche?“
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„Nein, er hielt ihn krampfhaft in seiner Hand, und es kostete ziemlich Mühe, ihm diesen zu
entwinden. Man muss ihn gelegentlich Savaronoff zurückgeben. Er gehört zu einem sehr
schönen Satz von Elfenbeinfiguren.“
„Gestatten Sie, dass ich ihm diese Figur persönlich übergebe? So habe ich dann wenigstens
einen Anlass, ihn aufzusuchen.“ …
Seite 100: …
Poirot betrachtete den Schachtisch mit einer, wie mir schien, übertriebenen Aufmerksamkeit.
Er führte die Untersuchung ganz anders, als ich es für zweckmässig hielt. Viele seiner Fragen
erschienen mir völlig sinnlos, und andererseits behandelte er wirklich wichtige Punkte mit
scheinbarer Gleichgültigkeit. Ich kam zu der Überzeugung, dass er bei der Erwähnung der
grossen Vier gänzlich aus der Fassung geraten war.
Nachdem er eine Zeitlang den Tisch und dessen tatsächlichen Standort untersucht hatte, bat
er, die Schachfiguren sehen zu dürfen. Nachdem Sonja Daviloff sie in einer Schachtel
hereingebracht hatte, betrachtete er einige davon recht flüchtig. …
Seite 102: …
„Genug darüber, ich wollte Sie nur warnen, das ist alles. Was ich jedoch wissen möchte, ist,
wie der Verlauf des Spieles an dem betreffenden Abend gewesen ist.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Nun, ich bin zwar kein routinierter Schachspieler, aber ich verstehe so viel davon, dass es
verschiedene Möglichkeiten gibt, ein solches Spiel zu beginnen – das Gambit, sagt man nicht
so?“
Dr. Davaronoff konnte sich eines leichten Lächelns nicht erwehren.
„Ah, ich begreife, was Sie wissen möchten. Wilson eröffnete mit Ruy Lopez – einem der
geschicktesten Züge, die es gibt. Man wendet ihn häufig bei Turnieren an.“
„Und wie lange spielten Sie schon, als das Ereignis eintrat?“
„Es muss etwa der dritte oder vierte Zug gewesen sein, als Wilson plötzlich wie vom Blitz
getroffen vornüberfiel.“ …
Seite 103: …
Poirot steckte seine Hand in die Tasche und zog – einen weissen Läufer hervor.
„Was“, rief ich, „hast du vergessen, diesen Dr. Savaronoff zurückzugeben?“
„Du bis im Irrtum, mein Freund. Jener Läufer befindet sich noch in meiner linken Rocktasche.
Ich nahm einen gleichen aus der Schachtel mit den Schachfiguren, die mir Mademoiselle
Daviloff freundlicherweise zur Untersuchung überliess. Der Plural von einem Läufer sind –
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zwei Läufer.“ Er sprach dies mit eigenartiger Betonung, mir war alles vollkommen unver-
ständlich. …
Seite 104: …
„Kommst du noch nicht dahinter, Hastings? So will ich es dir erklären. Wilson wurde nicht
vergiftet, sondern durch einen elektrischen Schlag getötet. Ein dünner Metallfaden führt
genau durch die Mitte der Figur bis zum Kopf. Der Tisch hatte eine sinnreiche Einrichtung
und wurde auf einen bestimmten Punkt am Fussboden gesetzt. Als nun der Läufer auf eines
der mit Silber belegten Karos gesetzt wurde, ging der starke elektrische Strom durch Wilsons
Körper und tötete ihn auf der Stelle. Nur ein kleines Brandmal zeigte sich an seiner Hand, und
zwar der Linken, da er Linkshänder war. Der Spezialtisch enthielt einen äusserst geschickt
arbeitenden Mechanismus. Der Tisch jedoch, den ich untersuchte, war ein völlig normales
Duplikat davon und wurde unmittelbar nach dem Mord ausgewechselt.
Die elektrische Betätigung erfolgte von der darunterliegenden Wohnung aus, die, wie du dich
erinnern wirst, möbliert vermietet worden ist. Jedoch zumindest ein Komplize hielt sich
unterdessen in Savaronoffs Räumen auf. Das Mädchen ist eine Agentin der grossen Vier und
daran interessiert, Savaronoff zu beerben.“ …
Seite 105: …
„Hör einmal zu, mein Freund. Dies sind die Ruy Lopez-Anfangszüge: 1. e 4 e 5 2. S f 3
S c 6 3. L b 5 - sodann wird hier die Frage erörtert, welches der beste dritte Zug für
Schwarz sei, man hat die Wahl über verschiedene Gegenzüge. Es war der dritte Zug von
Weiss, der Gilmour Wilson tötete. 3. L b 5, einzig und allein der dritte Zug – sagt dir das
nichts?“ …
Anmerkung: Unter 4.1.3 (Seite 99 ff) schreiben wir etwas zu den heute bekannten
Eröffnungen. Die erwähnte „Ruy Lopez-Eröffnung“ wird auch noch in der heutigen
Turnierpraxis oft gespielt, ist aber unter der Bezeichnung „Spanische Partie“ geläufig.
Seite 107: …
„Aber, wer hat dann versucht, ihn zu töten?“
„Das hat niemand versucht. Es war von Anfang an sein Bestreben, Wilson zu töten.“
„Aber aus welchem Grund?“
„Mein lieber Freund, Savaronoff war der zweitgrösste Schachspieler der Welt. Nummer vier
kannte aller Wahrscheinlichkeit nach nicht einmal die elementarsten Grundregeln des Spieles.
So war er nicht fähig, sich einem routinierten Spieler gegenüber als Gegner auszugeben.
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Zuerst versuchte er einem Schachturnier auszuweichen. Als ihm dies aber nicht gelang, war
Wilsons Tod eine beschlossene Sache. Mit allen Mitteln musste er die Entdeckung
verhindern, dass der grosse Savaronoff gar keine Ahnung vom Schachspiel hatte. Es gehörte
zu Wilsons Routine, mit der Ruy Lopez-Figur zu beginnen, und man konnte mit Sicherheit
annehmen, dass er auch dieses Mal damit begänne. Nummer vier hatte es so eingerichtet, dass
der Tod beim dritten Zug eintreten würde, bevor es zu irgendwelchen Komplikationen in der
Verteidigung kommen konnte.“ …
Seite 108: …
„Certainement, Hastings“, rief er aus, „es gab noch andere Wege, aber keinen so sicheren.
Ausserdem bist du der Meinung, dass ein Mord an einem Menschen vermieden werden kann.
Nummer vier ist aber durchaus anderer Meinung. Ich habe mich an seine Stelle versetzt, eine
Sache, die dir nicht liegt. Ich lasse dich einmal seine Gedanken lesen. Er gefällt sich nun
einmal in seiner Rolle, als Professor an diesem Turnier teilnehmen zu können. Ohne Zweifel
hat er Schachturniere besucht, um seine Studien zu machen. Er sitzt in Gedanken vertieft, gibt
damit vor, grosse Züge vorzubereiten, und während der ganzen Zeit fühlt er sich innerlich
belustigt. Er weiss zu genau, dass er im Höchstfall nur zwei Züge beherrscht, und das ist alles,
was er benötigt. Er empfindet Gefallen daran, die kommenden Ereignisse im Voraus zu
bestimmen und einen Menschen zu seinem eigenen Henker zu machen, und zwar in dem
Moment, der ihm, Nummer vier, geeignet erscheint. Ja, Hastings, ich beginne unseren Freund
und seine Gedankengänge zu begreifen.“
“Der Springer greift an” von William Harrison Faulkner (1897 – 1962):
Der nordamerikanische Schriftsteller, der den Literaturnobelpreis 1950 erhielt, fand erst
relativ spät und zwar mit seinem Roman „Die Freistatt“ (1931) literarische Anerkennung.
Später wurde er zu einem der einflussreichsten Autoren der nordamerikanischen Literatur.
Sein umfangreiches Romanschaffen ist fast ausnahmslos in den Südstaaten angesiedelt, deren
soziale und historische Problematik er kenntnisreich gestaltete, vor allem auch hinsichtlich
der gesellschaftlichen Benachteiligung der Afro-Amerikaner, wie in „Licht im August“
(1932) und „Griff in den Staub“ (1948) nachgelesen werden kann.
In „Der Springer greift an“ (1949) geht es um einen eifersüchtigen Zwanzigjährigen, der
eine Möglichkeit sucht, wie er einen argentinischen Hauptmann und Pferdenarr, der auf
seinem Anwesen aufgetaucht ist und scheinbar sowohl hinter seiner verwitweten Mutter wie
auch seiner Schwester her ist, aus dem Weg schaffen kann. Er glaubt die Lösung gefunden zu
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haben, indem er dem Ungeliebten ein unzähmbares Pferd zukommen lässt und hofft, dass
dieses ihn abwerfen und töten wird. In letzter Minute können die beiden Hauptpersonen
Charles Mallison und sein Onkel Gavin Stevens diesen teuflischen Plan verhindern, indem sie
dem Hauptmann eine Wette anbieten, wonach dieser das Pferd nicht ausreitet.
An einigen Stellen wird das Schachspiel erwähnt und sogar als Erklärung für die Rettung
„bemüht“: Seite 195: … (Der Onkel sagt zu seinem Neffen):
„Ein Ritter (englisch „knight“ und deutsch Springer) taucht plötzlich von irgendwoher auf,
von Westen nehmen wir mal an, und bietet der Königin und dem Turm mit ein und demselben
Zug Schach. Was tust du?“
Darauf wenigstens wusste er jetzt die Antwort: „Man opfert den Turm und rettet die
Königin.“ Und er beantwortete auch die andere Sache: „Aus dem Westen – aus Argentinien.“
Er sagte: „Es ging um das Mädchen. Und die kleine Harriss. Du hast ihm das Mädchen als
Wetteinsatz geboten. Damit er nicht durch die Koppel geht und die Stalltür aufmacht. Und er
hat verloren.“ …
2.3.4 Kurzgeschichten
„Schach dem Zaren“ von Scholem Alejchem (1859 – 1916):
Der russische Schriftsteller, ein jiddischer Erzähler und Dramatiker, dessen Pseudonym (für
Scholem Rabinowitsch) „Friede sei mit Euch“ bedeutet, verhalf der jiddischen Literatur zu
internationalem Rang mit seinen Novellen und Romanen aus dem jüdischen Milieu des
zaristischen Russlands. Weltruhm erlangten insbesondere „Tewje, der Milchmann“, das
Musical „Der Fiedler auf dem Dach“ (1894), „Der Sohn des Kantors“ (1907) und „Vom
Jahrmarkt“ (1915).
Die Kurzgeschichte „Schach dem Zaren“ erschien 1915 in der Originalfassung „Von Ostern
bis zu den Ostern der Käfige“ und behandelt ein Erlebnis eines Schachspielers. Erzählt wird
von einem armen jüdischen Uhrmacher, der als Schachspieler sogar die Aufmerksamkeit des
Zaren auf sich zieht:
Eines Tages hielt die Kutsche eines Prinzen vor dem Haus meines Grossvaters. Mein
Grossvater war Uhrmacher. Der Prinz stieg aus der Kutsche aus und betrat das Haus, gefolgt
von zwei Höflingen, die in Uniformen voller Orden gekleidet waren.
„Wo ist der Jude, der sich Ruben Rubinstein nennt?“, fragte der Prinz mit lauter Stimme.
Mein Grossvater war anfänglich etwas ängstlich, aber bald hatte er sich beruhigt und
antwortete: „Ich bin der Jude Rubinstein!“ Nun blickte der Prinz freundlich und gütig zu ihm
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hin. „Wenn Sie Rubinstein sind, dann bin ich sehr erfreut. Befehlt ihnen, uns das Schachspiel
und die Verpflegung zu bringen. Die Leute sagen, dass Sie noch niemand schachmatt gesetzt
hat.“ … Sie spielten zusammen viele Partien. … Die Verpflegung war bald einmal
aufgebraucht und sie assen Süssigkeiten und das Gebackene, das meine Grossmutter
bereitstellte.
Eine Menge Leute versammelte sich um die Kutsche herum. Einige von ihnen meinten, dass
der Prinz das Haus aufgesucht habe, weil der Uhrmacher wegen Betrügereien angeklagt sei.
Sie sagten, er benütze gefälschtes Gold bei seinen Arbeiten. Jemand habe ihn fälschlicher-
weise hierfür beschuldigt. Niemand wagte es, sich ins Haus zu begeben, ungeachtet der
Tatsache, dass alle vor Neugier fast platzten.
Der Prinz war ein starker Schachspieler, aber mein Grossvater setzte ihn jedes Mal matt.
So wie sich alles einmal dem Ende zuneigt, war nun auch ihre letzte Partie angebrochen.
Auch diese gewann mein Grossvater und der berühmte Prinz schüttelte ihm die Hand und
sagte: „Hören Sie, Ruben Rubinstein, die Wahrheit ist, dass Sie der beste Schachspieler nicht
nur in meinem Gebiet sind, sondern im ganzen Zarenreich und vielleicht sogar auf der ganzen
Welt. Ich selber schätze mich glücklich, dass ich die Ehre hatte, gegen jemanden wie Sie
spielen zu können. Seien Sie versichert, dass von heute an Ihr Name überall bekannt sein
wird. Ich werde Sie berühmt machen unter allen Ministern. Ich werde über Sie am Hof
berichten.“ … „Minister! Hof!“ Grossvater traute seinen Ohren nicht. „Wer sind Sie, meine
Hoheit?“, fragte er schüchtern. „Ich bin der Gouverneur dieses Bezirkes“, antwortete der
noble Gast ganz stolz auf sich selbst. Wiederum packte meinen Grossvater die Angst, denn
wenn er gewusst hätte, wer sein Gegenüber war, hätte er nicht so gespielt und den Prinzen
zwei bis drei Partien gewinnen lassen. Wie auch immer, der Gouverneur verabschiedete sich
freundlich und fuhr davon.
Nun drängte sich die Menge der Neugierigen in Grossvaters Haus. Die Nachricht verbreitete
sich in Windeseile, dass der Gast niemand anderes als der Gouverneur gewesen war.
Jedermann staunte darob. In den nächsten Wochen und Monaten sprachen alle über diese
Begebenheit. Nach einer gewissen Zeit aber war alles vergessen. Sogar mein Grossvater
dachte nicht mehr daran, denn er spielte noch andere Spiele.
Dann kam die Osterzeit. Mein Grossvater sass an seinem Werktisch und versuchte, eine Uhr
zu flicken. Sie hatten keinen Osterkuchen und die Kinder besassen kaum Schuhe und Kleider.
Jetzt wurde die Tür geöffnet und zwei Polizisten traten ein. „Guten Tag“, sagten sie und
Grossvater erinnerte sich augenblicklich an den Gouverneur und sein Versprechen: die Zeit
der Revanche war gekommen. Ja, vielleicht wollte ihm der Gouverneur Geschenke bringen.
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Es konnte in diesen Tagen geschehen, dass ein Jude über Nacht reich wurde wegen der Gunst
eines Prinzen. Die Polizisten erklärten ihm, dass er sich unverzüglich zu Fuss in die
Hauptstadt des Reiches zu begeben habe. „Nach St. Petersburg zu Fuss?“, fragte mein
Grossvater ungläubig. „Ja,“ meinten die Polizisten. „Und wozu?“ Sie konnten ihm nicht mehr
sagen. So lautete eben der Befehl und sie hatten zu gehorchen. „Wir sind sicher, dass Sie
einige schmutzige Sachen verbrochen haben“, fügten sie vielsagend bei. „Sie gestehen besser
gleich!“
Grossvater schwor bei seinem Gott, dass er unschuldig sei, nichts getan habe, nicht einmal
einer Fliege etwas zu leide tun könne und das ganze Dorf als Zeuge habe. Sie aber mussten
ihn mitnehmen, so lautete der Befehl und das bedeutete, dass sie ihn in Ketten zusammen mit
anderen Gefangenen abführen mussten.
Üblicherweise starb die Hälfte der Gefangenen auf einem solchen Transport in die Hauptstadt
wegen Erschöpfung und Hunger. Mein Grossvater war aber ein starker Mann, der nicht so
schnell aufgab. Alle Dorfbewohner begleiteten ihn ein Stück auf dem Weg in die Hauptstadt.
Sie wollten ihm nicht für immer Lebewohl sagen und ihn nicht beten lassen, wie dies
diejenigen tun, die sich auf den Tod vorbereiten, sogar wenn sie wussten, dass das Ziel der
Transporte in den meisten Fällen Sibirien war.
Sie alle weinten um ihn, aber sie ermutigten ihn, dass er bald wieder zurückkommen werde.
Den ganzen Sommer lang war der Transport unterwegs in die Hauptstadt. Manchmal stoppte
der Konvoi, um unterwegs andere Gefangene aufzunehmen. Als sie endlich in St. Petersburg
ankamen, wurde mein Grossvater in ein Loch gesteckt, in dem er weder stehen, sitzen noch
liegen konnte.
In diesem Loch gab sich mein Grossvater fast auf und verlangte nach dem Priester, der die
Gefangenen auf ihren Tod vorbereiten musste, denn er sah den Todesengel die ganze Zeit vor
sich. Inzwischen hatten die Dorfbewohner viele Eingaben gemacht. Sie sammelten auch Geld
für Anwälte.
Diese nahmen das Geld und verlangten noch mehr, um dann am Ende freundlich zu erklären,
dass sie nichts für meinen Grossvater tun könnten. „Die Unschuld eines Pferdediebes kann
bewiesen werden, weil wir die Tat kennen, aber wie können wir die Unschuld von jemandem
beweisen, der wegen nichts angeklagt ist? Wer weiss? Von dem Moment an, wo der Zar die
Anklagepunkte offen legt, können wir einen Handel wegen eines politischen Verbrechens
machen, denn ein politisches Verbrechen kann nicht bewiesen werden!“
Der Augenblick kam, wo die Zelle meines Grossvaters geöffnet wurde und man ihn vor den
Zaren führen wollte. Zwei andere Polizisten, die von Kopf bis Fuss bewaffnet waren, führten
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ihn mehr tot als lebendig zu einem Sitz in einem Wagen. Der Prozess war das nächste, was
folgen sollte. Alles, sogar die Todesstrafe, war für meinen Grossvater besser als zurück in die
verhasste Zelle geführt zu werden.
Der Wagen hielt vor dem Eingang einer Festung. Mein Grossvater musste aussteigen. Sie
führten ihn in einen Raum und wuschen ihn. Nachher musste er wieder in den Wagen steigen.
Diesmal hielten sie vor einem schönen Palast. Er wurde vor ein paar Generälen durchgeführt,
die mit Goldorden geschmückt waren, und kam in eine mit schönen Bildern geschmückte
Halle. Ein stattlicher Mann mit langem Backenbart stand vor ihn hin. Dann folgte folgendes
Gespräch:
Der Zar: „Wie heissen Sie?“
Mein Grossvater: „Rubinstein, Ruben Rubinstein.“
Der Zar: „Wie alt sind Sie?“
Grossvater Rubinstein: „Ich bin 57.“
Der Zar: „Man sagte mir, Sie spielen Schach?“
Grossvater Rubinstein: „Meine ganze Familie spielt Schach.“
Der Zar: „Die Leute sagen, Sie seien der beste Schachspieler im ganzen Reich…“
Mein Grossvater wollte antworten, es sei wohl besser, nicht der Beste zu sein. Wenn der Zar
ihn dann nach dem Warum gefragt hätte, wollte er antworten, dass ihm die Art und Weise,
wie ein Schachmeister behandelt werde, nicht gefalle. Aber die Zeit der Audienz war schon
vorbei. Der Zar gab ein Zeichen mit seiner Hand. Die Polizisten brachten meinen Grossvater
vom Hof weg und sagten ihm, dass er frei sei, aber sofort nach Hause zurückkehren solle,
weil es Juden nicht erlaubt sei, in der Hauptstadt zu bleiben.
Das Brechen dieser Regel war ein schwerwiegendes Vergehen!
„Der Schachspieler“ von Friedrich Dürrenmatt (1921 – 1990)
Als Dramatiker, Essayist, Erzähler und Hörspielautor machte sich der schweizerische
Schriftsteller einen Namen. Er wollte auf gesellschaftliche und moralische Widersprüche
hinweisen und sein Publikum zur kritischen Reflexion bewegen. Zu Welterfolgen wurden
seine Dramen „Der Besuch der alten Dame“ (1956) und „Die Physiker“ (1962).
In seinen Kriminalromanen wie „Der Richter und sein Henker“ (1952), „Der Verdacht“
(1958) und anderen Prosatexten kritisiert er die selbstgefälligen und unmenschlichen
Konventionen der zeitgenössischen Gesellschaft.
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Frischs Liebe zum Schachspiel kommt in vielen seiner Werke immer wieder zum Vorschein.
Eine spezielle Äusserung hört man in der Verfilmung zu „Der Richter und sein Henker“, wo
man ihn in einer kleinen Nebenrolle an einem Schachbrett sieht:
„Ich bin der einzige Mensch, der auf meinem Niveau spielt“, sagt Dürrenmatt, als er gefragt
wird, warum er mit sich selber Schach spiele.
„Sind Sie so gut?“
„Nein, so schlecht.“
„Und wer gewinnt?“
„Immer der andere.“
Die Kurzgeschichte „Der Schachspieler“ wurde erstmals postum 1998 in der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“ veröffentlicht (5. September 1998) und wirkt zunächst wie ein Exposé
für eine grössere Geschichte, in der eine tödlich verlaufende Schachpartie zwischen einem
Staatsanwalt und einem Richter geschildert wird.
Dürrenmatt, der ja selbst ein passionierter Schachspieler war, wies dem königlichen Spiel in
seinem Schaffen etliche Rollen zu. So zeigt seine Skizze „Im Jenseits“ eine Welt mit
Schachbrettmustern. Die Dramaturgie seiner Texte wiederum führt regelmässig zu einem
„Endspiel“ samt Schachmatt, zur laut Dürrenmatt „schlimmstmöglichen Wendung“.
In dem düsteren Prosastück erheben sich die beiden Schachspieler zu übermenschlichen
Instanzen. Sie spielen um das Leben ihrer Nächsten und unwillkürlich erinnert man sich hier
an die schaurige Wette in „Der Richter und sein Henker“ (Seite 67): Gastmann sagt dort zu
Kommissar Bärlach: „… Ein Verbrechen zu begehen nanntest du eine Dummheit, weil es
unmöglich sei, mit Menschen wie mit Schachfiguren zu operieren. Ich dagegen stelle die
These auf, mehr, um zu widersprechen als überzeugt, dass gerade die Verworrenheit der
menschlichen Beziehungen es möglich mache, Verbrechen zu begehen, die nicht erkannt
werden könnten, dass aus diesem Grunde die überaus grösste Anzahl der Verbrechen nicht
nur ungeahndet, sondern auch ungeahnt seien, also nur im Verborgenen geschehen. … “
Dürrenmatts Ansichten über das Schachspiel sind am eindrücklichsten in seinem Vortrag
„Albert Einstein“ von 1979 aus dem Band 7 der Gesammelten Werke (1991) Seite 733 ff aus
dem Diogenes Verlag AG Zürich nachzulesen: (Auszug)
„ … Stellen wir uns das Weltgeschehen als ein Schachspiel vor, so sind zuerst zwei Partien
denkbar, eine deterministische und eine kausale. Beim deterministischen Schachspiel sitzen
sich zwei vollkommene Schachspieler gegenüber, zwei starre und sture Göttergötzen der
Urwelt etwa, Ormuzd und Ahriman meinetwegen, oder das gute und das schlechte Prinzip
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oder der alte und der neue Zeitgeist oder die alte und die neue Klasse oder zwei vollkommene
Computer usw., die miteinander kämpfen. Die Menschen sind die Schachfiguren. Diese sind
in dieser Partie determiniert, Folgerungen der aussermenschlichen Schachüberlegungen; ob
die Menschen Gutes oder Schlechtes vollbringen, ist gleichgültig, sie sind, ob weisse oder
schwarze Figuren, von den gleichen Gesetzen bestimmt: von den Regeln des Schachspiels.
Die manichäischen Religionen sind symmetrische Konzeptionen, das Gute und das Böse sind
im Gleichgewicht; zwei vollkommene Schachspieler vermögen sich nicht zu besiegen, sie
verharren in ewigem Patt, in ewiger Koexistenz, Siege sind nur Scheinsiege.
Die Welt ist durch Prädestination determiniert, statt des Chaos herrscht eine unbarmherzige
Ordnung. Bei der kausalen Partie dagegen spielen die Schachfiguren selber, sie sind die
Ursachen ihrer Wirkungen, ihre guten Züge sind die ihren. Die zwei vollkommenen
Schachspieler fallen in einen Schachspieler zusammen, der die Partie nicht mehr spielt,
sondern begutachtet, genauer, er spielt sie auf eine delikatere Weise als die beiden Spieler des
deterministischen Schachs: er führt die Partie als Schiedsrichter. Als solcher ist er nicht
unbedingt gerecht, die Welt ist eine abgefallene Welt, das Chaos ist grösser als die Ordnung.
Dass das Spiel nicht abgebrochen wird, hängt allein von der Gnade und der Barmherzigkeit
des Schiedsrichters ab. Gnädig und barmherzig kann jedoch kein Prinzip sein, sondern nur
eine Person.“ …
Es war wie stets bei Dürrenmatt: auch das Werk „Stoffe“, dessen erste Teile 1981 und dessen
letzte 1990 erschienen, kennt jene Seitentriebe, Skizzen und Kapitel, die der Autor zunächst
nicht drucken liess, sondern vielmehr für eine spätere Bearbeitung beiseite legte. „Der
Schachspieler“ ist ein solcher Seitentrieb, denn Dürrenmatts Gebot folgend, führt die
Kurzgeschichte in der Tat „die schlimmstmögliche Wendung“ eines Geschehens vor.
Der Schachspieler
Ein junger Staatsanwalt geht zur Beerdigung seines Vorgängers, eines alten Staatsanwalts,
und lernt bei dieser Gelegenheit einen Richter näher kennen, welcher der Freund des
verstorbenen Staatsanwalts gewesen ist. Während die beiden hinter dem Leichenzug dahin
schreiten, erzählt der Richter, er habe jeden Monat einmal mit dem Verstorbenen Schach
gespielt. Der Staatsanwalt meint – sie nähern sich schon dem Krematorium, – auch er sei ein
Liebhaber des Schachspiels. Die beiden nehmen an der Trauerfeier teil, dann schreiten sie
nicht weit hinter dem Sarg dem ausgehobenen Grab entgegen. Der alte Richter fragt den
jungen Staatsanwalt, ob er ihn nicht auch zu einer Schachpartie einladen könne. Der
Staatsanwalt nimmt die Einladung an. Sie verabreden sich auf den nächsten Sonnabend. Des
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Staatsanwalts junge Frau ist ebenfalls eingeladen. Zwar ist der alte Richter Witwer, doch führt
dessen Tochter den Haushalt. Am nächsten Sonnabend trifft gegen sieben Uhr der junge
Staatsanwalt mit seiner Frau beim alten Richter ein, der in einer Villa wohnt, umgeben von
einem grossen Park mit riesigen Tannen, alles in einer Vorstadt gelegen, wo nur die Reichen
wohnen, im sogenannten „englischen Viertel“. Von den Tannen und Bäumen her hört man
noch Vogelgezwitscher, ferner scheinen letzte Sonnenstrahlen. Das Mahl ist ausgezeichnet,
die Weine auserlesen.
Nach dem Essen führt die Tochter des Richters die Frau des Staatsanwalts in den Salon; die
Herren ziehen sich in das Arbeitszimmer zurück. Das Schachspiel steht schon bereit. Der alte
Richter serviert Cognac. Die beiden setzen sich gegenüber, doch bevor das Spiel beginnt,
äussert der alte Richter, er habe dem Staatsanwalt ein Geständnis zu machen. Es sei zwanzig
Jahre her, dass er den eben verstorbenen Staatsanwalt kennen gelernt habe, und zwar
anlässlich der Beerdigung des Richters, dessen Nachfolger er geworden sei. Während dieser
Beerdigung sei er mit dem eben verstorbenen Staatsanwalt aufs Schachspiel zu sprechen
gekommen, denn auch der eben verstorbene Staatsanwalt habe mit dem vor zwanzig Jahren
verstorbenen Richter monatlich eine Schachpartie durchgeführt, und zwar eine ganz
besondere: Die Schachfiguren nämlich bedeuteten bestimmte Personen, die ein Spieler für
sein Spiel selber bestimmen konnte. Die Dame hatte die Person zu sein, die dem Spieler am
nächsten stand. Für den Staatsanwalt war es dessen Schwester, die ihm nach dem Tode seiner
Frau den Haushalt führte, für den Richter seine Frau. Von beiden Spielern wurden die Läufer
mit befreundeten Pastoren oder Lehrern, die Springer mit Rechtsanwälten oder Offizieren, die
Türme mit Industriellen oder Politikern gleichgesetzt; die Bauern stellten einfache Bürger dar,
auch das eigene Dienstmädchen oder den Milchmann.
Die Regel des Schachspiels bestand nun darin, dass jeder Spieler, verlor er eine Figur, den
Menschen, der durch diese Figur dargestellt wurde, töten musste. Das Spiel konnte erst
wieder aufgenommen werden, wenn der Mord ausgeführt worden war. Wer jedoch
schachmatt gesetzt wurde, musste sich das Leben nehmen, was dazu führte, dass ein Spiel
Jahrzehnte dauerte. Jeder Zug wurde oft monatelang überdacht. So hatte der alte Staatsanwalt
mit dem Vorgänger des alten Richters fünfzehn Jahre lang gespielt, bis er diesen mattsetzen
konnte, hatte allerdings vorher – wie auch sein Gegner – seine Frau ermorden müssen. Wer
das Spiel erfunden hatte, war nicht auszumachen – auch der Vorgänger des Richters habe es
mit dem Vorgänger des eben verstorbenen Staatsanwalts gespielt, der es ebenfalls vom
Vorgänger des Vorgängers des Richters übernommen hatte. Immer hätten wohl in dieser Stadt
der Richter und der Staatsanwalt dieses geheime Spiel geführt.
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Das sei die Erklärung des alten Staatsanwalts gewesen, die dieser ihm, dem Richter,
abgegeben habe, und dieser Erklärung sei eine Beichte der Morde erfolgt, die der alte
Staatsanwalt mit dem verstorbenen Richter begangen hätte. Seine erste Reaktion, fährt der
alte Richter fort, sei gewesen, den Vorgänger des jetzigen Staatsanwalts sofort zu verhaften,
doch dann habe er der Versuchung nicht widerstehen können, mit dem Staatsanwalt ein neues
Spiel zu beginnen. Der Staatsanwalt hätte als Dame seine älteste Tochter, die ihm den
Haushalt führte – da seine Frau aus Schachspielgründen hatte das Zeitliche segnen müssen, –
und er seine junge Frau eingesetzt. Das Leben hätte von nun an für ihn einen anderen Sinn
bekommen: Durch das Schachspiel hätten sie über bestimmte Personen die Macht von
Göttern bekommen, wie Arimah und Orzmuzd seien er und der alte Staatsanwalt einander
gegenüber gesessen.
Zwanzig Jahre hätten sie so miteinander gespielt, er hätte um jede Figur gerungen, es sei
entsetzlich, aber gleichzeitig gewaltig gewesen, wenn man eine Figur hätte opfern müssen,
und nie vergesse er den Tag, wo er – um sich vor dem Schachmatt zu retten – seine eigene
Gattin hätte hergeben müssen – bis sich endlich vor einer Woche der alte Staatsanwalt hätte
das Leben nehmen müssen, weil er selber schachmatt gesetzt worden sei. Es sei vielleicht
erstaunlich, dass die Morde, die sie im Verlaufe dieser zwanzig Jahre hätten begehen müssen,
nie entdeckt worden seien, doch – abgesehen davon, dass sie sehr sorgfältig ausgeführt
worden seien, was der Richter mit einigen Beispielen belegt – habe der Grund darin gelegen,
dass niemand hinter den Morden ein so ausgefallenes Motiv wie ein Schachspiel hätte
vermuten können.
Der junge Staatsanwalt hört sich die Beichte des alten Richters mit Entsetzen an. Der Richter
lehnt sich zurück, aus dem Nebenzimmer ist das muntere Gespräch der beiden Frauen zu
hören. „So, Sie können mich verhaften“, sagt der Richter. Der junge Staatsanwalt denkt nach,
greift dann nachdenklich zu den Figuren, die neben dem Spielbrett stehen, und stellt die Dame
auf ihren Platz. „Ich setze meine Frau“, sagt er. Der alte Richter entgegnet: „Ich setze meine
Tochter“, und stellt seine Dame aufs Spielbrett.
Anmerkung: Im praktischen Teil zeigen wir unter 4.1.4 (Seite 100), wie wir die in dieser
Kurzgeschichte erwähnte Thematik der „Opfer“ (Bauernopfer, Damenopfer, Königsmord)
umgesetzt haben.
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„Die Schach-Sitzbank“ von Jürg Halter (* 1949):
Der Berner Dichter schildert in der Berner Zeitung vom 7. Mai 2008 in der Rubrik „Porträt
einer Stadt“ eine interessante Begebenheit unter dem Titel „Die Schach-Sitzbank“:
Tag für Tag beobachtet sie die Männer, die zum Schachspiel kommen. Die Sitzbank beim
Schachbrett auf dem Bärenplatz versteht wenig von diesem Spiel; trotzdem ist sie dankbar
dafür, dass sie dort steht und nicht auf einem Feldweg.
„Hier stehe ich und versuche, mich alleine durch die Konzentration auf das Spiel, von dem ich
nichts verstehe, selber zu kurieren. Die Sonne scheint, und ich bin erkältet wie seit dem
Winter nicht mehr. Ach ja, entschuldigen Sie mich, habe mich Ihnen ja noch gar nicht
vorgestellt: Ich bin eine Sitzbank, stehe auf dem Bärenplatz unter den Bäumen vor dem Café
Fédéral und sehe jetzt gerade einer Gruppe von Männern beim Schachspielen zu. Ich fühle
mich so schwer die Tage, obwohl nun endlich die Sonne so schön warm scheinen würde, läuft
und läuft meine Nase, als ob sie den Wettbewerb mit einem Fluss aufnehmen wollte. Meinen
Sitzbank-Nachbarn kommt es schon gar nicht mehr in den Sinn, mir nach einer meiner
zahllosen Niesser „Gesundheit“ zu wünschen. So sei es.
Also konzentriere ich mich auf das Spiel, von dem ich so wenig verstehe. Auf dem am Boden
aufgemalten Schachbrett befinden sich zu Beginn der Partie insgesamt 32 Spielsteine, 16
weisse und 16 schwarze Schachfiguren. Es gibt Bauern, Damen, Läufer, Springer, Türme und
die zwei Könige. Das, was zwischen dem ersten und dem letzten Spielzug geschieht, ist für
mich vor allem faszinierendes Ausdrucksspiel in den Gesichtern der zwei Gegner und ihrer
zahlreichen, meist selbst ernannten Beratern. Die zwei Spieler, die sich zu Beginn der Partie
wie entwaffnete Westernhelden gegenübergestanden sind, kämpfen nun scharf denkend
alleine darüber nach, wie ihr König zu schützen sei und wie der des Gegners zu stürzen sei.
Seit langem, eigentlich seit ich hier stehe, und das sind mittlerweile auch schon ein paar
Jährchen, beobachte ich diese Männer, die hier täglich zum Spiel kommen. Sie sind mir aber
wie das Spiel selbst bis heute fremd, verschlüsselt geblieben. Es scheint mir fast, es handle
sich um eine eingeschworene Gruppe, mit zwar wechselnden, unterschiedlichen Mitgliedern,
doch wenn sie um dieses magische schwarzweisse Feld stehen, scheint die Welt ausserhalb
für sie das Uninteressanteste zu werden. Die Männer kommen mir dann vor wie Figuren in
einer Glaskugel, in der, würde man schütteln, es zu schneien beginnen würde. Und ich glaube,
noch dann würde keiner der Männer sich vom Spiel ablenken lassen.
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Jetzt flucht einer der Berater, er hätte den Spielzug des Kollegen selbst niemals getan. Einer
reibt sich immer wieder die Hände, ein anderer fährt sich mit dem Kamm durchs Haar, einer
steht still und starr da, gerade als ob er selbst eine der Figuren wäre oder sich in eine
hineinzuversetzen versuchte. Ich mag diese Männer, und ich bin dankbar dafür, dass ich hier
stehe und zum Beispiel nicht auf einem Feldweg, wo ich vielleicht vor lauter
Gedankenlosigkeit und Natur den Verstand verlieren würde.
„Schachmatt“, ruft einer, aber mehr als ein zufriedenes Lächeln gesteht er sich selbst nicht zu.
Das Leben ist schliesslich ein Schlachtfeld und eine gewonnene Partie nur ein Schritt,
beziehungsweise ein Zug darauf. Dieses Spiel hier ist noch lange nicht zu Ende.“
Anmerkung: Im Anhang unter 9.5 (Seiten 131 bis 136) zeigen wir – in Anlehnung an dieses
Thema – einen Schreibanlass in unseren Klassen mit „Eine Schachfigur erzählt“ oder „Aus
dem Leben einer Schachfigur“.
“Ein Kampf” von Patrick Süskind (1949 - ):
Der deutsche Schriftsteller schrieb mit „Das Parfum“ (1985) den weltweit erfolgreichsten
deutschsprachigen Roman der Achtzigerjahre. Die Protagonisten seiner Werke sind oft
egozentrische Sonderlinge wie in „Der Kontrabass“ (1984), wo ein Musiker dem Publikum
seine von einem Instrument verursachte Isolation erläutert.
Bekannt wurde er ausserdem als Co-Drehbuchautor der TV-Serien „Monaco Franze“ (1983)
und „Kir Royal“ (1986).
In seinen „Drei Geschichten und eine Betrachtung“ ist die kurze Erzählung „Ein Kampf“
(1985) aufgeführt. Geschildert wird eine Schachpartie im Jardin du Luxembourg in Paris
zwischen einem jungen Mann als Herausforderer und dem lokalen Schachmatador Jean,
einem Siebzigjährigen.
Einige Ausschnitte daraus (Seite 25): …
„Die ersten Züge des Spiels verliefen in der üblichen Weise. Dann kam es zweimal zum
Abtausch von Bauern, dessen zweiter damit endete, dass Schwarz auf einer Linie einen
Doppelbauern zurückbehielt, was im Allgemeinen nicht als günstig gilt. Der Fremde hatte
jedoch den Doppelbauern gewiss mit vollem Bewusstsein in Kauf genommen, um in der
Folge seiner Dame freie Bahn zu schaffen.
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Diesem Ziel diente offenbar auch ein sich anschliessendes Bauernopfer, eine Art verspätetes
Gambit, das Weiss nur zögernd, beinahe ängstlich annahm. Die Zuschauer warfen sich
bedeutende Blicke zu, nickten bedenklich, schauten gespannt auf den Fremden. ...
Jean zögert und überlegt. Er weiss, dass keiner mehr einen Sou auf ihn setzen würde. Aber er
weiss nicht warum. Er versteht nicht, dass die anderen – doch alles erfahrene Schachspieler –
die Stärke und Sicherheit seiner Stellung nicht erkennen. Dazu besitzt er ein Übergewicht von
einer Dame und drei Bauern. Wie können sie glauben, dass er verliert? ...
Die Antwort von Schwarz kommt ohne Verzögerung. Schwarz bricht den gestoppten Angriff
nicht ab, sondern führt Verstärkung heran: Sein Pferd deckt den angegriffenen Läufer. Das
Publikum jubelt. Und nun geht es Schlag auf Schlag: Weiss holt einen Läufer zu Hilfe,
Schwarz wirft einen Turm nach vorn, Weiss bringt sein zweites Pferd, Schwarz seinen
zweiten Turm. ...
Nach sieben, acht Zügen und Gegenzügen ist das Schachbrett verödet. Die Bilanz der
Schlacht sieht verheerend für Schwarz aus: Er besitzt nur noch drei Figuren, nämlich den
König, einen Turm, einen einzigen Bauern. Weiss hingegen hat neben König und Turm seine
Dame und vier Bauern aus dem Armageddon gerettet. ...
Der junge Mann sass da und schwieg. Dann rollte er die Zigarette mit dem Daumen an die
Spitze von Zeige- und Mittelfinger und steckte sie sich in den Mund. Zündete sie an, nahm
einen Zug, blies den Rauch übers Schachbrett. Glitt mit seiner Hand durch den Rauch, liess
sie einen Moment über dem schwarzen König schweben und stiess ihn dann um.
Es ist eine zutiefst ordinäre und böse Geste, wenn man den König umstösst zum Zeichen
der eigenen Niederlage. Es ist, wie wenn man nachträglich das ganze Spiel zerstört. Und es
macht ein hässliches Geräusch, wenn der umgestossene König gegen das Brett schlägt. Jedem
Schachspieler sticht es ins Herz.
Der junge Mann, nachdem er den König verächtlich mit einem Fingerschlag umgestossen
hatte, erhob sich, würdigte weder seinen Gegner noch das Publikum eines Blicks, grüsste
nicht und ging davon. ...“
Jean zieht für sich seine Lehren aus dieser Partie und beschliesst, mit dem Schach Schluss zu
machen, ein für allemal. Künftig wird er Boules spielen wie all die anderen Rentner auch, ein
harmloses, geselliges Spiel von geringerem moralischem Anspruch.
Anmerkung: Unter 4.1.4 (Seite 100 ff) zeigen wir, wie sich das Ende dieser Partie abgespielt
haben könnte, führen die Schilderung „Es ist eine zutiefst ordinäre und böse Geste, wenn man
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den König umstösst zum Zeichen der eigenen Niederlage“ näher aus, indem wir aufzeigen,
wie heute eine Partieaufgabe korrekt erfolgen sollte und erklären die fett markierten
Schachausdrücke.
2.3.5 Hörspiele
„Biografie: Ein Spiel“ von Max Frisch (1911 – 1991):
Zu seinem einst skandalumwitterten Stück „Biografie: Ein Spiel“ (1967) und in neuer
Fassung 1984, in dessen Zentrum Hannes Kürmann, ein Verhaltensforscher steht, dessen
Wunsch „Wenn ich noch einmal anfangen könnte, ich wüsste, was ich anders machen würde“
mit Hilfe eines Spielleiters in Erfüllung geht, sagte Frisch: „Nicht die Biografie des Herrn
Kürmann, die banal ist, sondern sein Verhältnis zu der Tatsache, dass man mit der Zeit
unweigerlich eine Biografie hat, ist das Thema des Stücks, das die Vorkommnisse nicht
illusionistisch als Gegenwärtigkeit vorgibt, sondern das sie reflektiert ... Ich habe es als
Komödie gemeint.“
Im ersten Teil kommt das Schachspiel zum Zuge (Seite 12 ff): …
Spielleiter: Spielen Sie Schach? Antoinette: Nein. Spielleiter: Dann lernen Sie es heute Nacht.
Antoinette: Warum? Der Spielleiter geht hinaus. Antoinette: Warum bestellen Sie kein Taxi?
Der Spielleiter kommt mit einem Schach. Spielleiter: Hier: die Bauern. Die können nicht
zurück. Das ist ein Springer. Ferner gibt es Türme. Hier: das sind Läufer. Einer auf Weiss,
einer auf Schwarz. Das ist die Dame. Die darf alles. Der König. Pause, bis er sämtliche
Figuren aufgestellt hat. Ich bin nicht müde, aber wir werden nicht sprechen, bis der Morgen
graut und draussen die Vögel zwitschern, kein Wort. Sie nimmt ihre Handtasche und erhebt
sich. Spielleiter: – Sie können hier schlafen, aber es wäre besser, wenn Sie es nicht täten,
offen gesprochen, es wäre mir lieber. Sie setzt sich auf ein Sofa, um ihre Lippen zu malen, der
Spielleiter sitzt vor dem Schach und stopft sich eine Pfeife, Blick auf das Schach. Spielleiter:
Sie sind am Zug. Antoinette: Auch ich habe morgen zu arbeiten. Spielleiter: Sie haben Weiss,
weil Sie der Gast sind. Er zündet die Pfeife an. – Ich bin nicht betrunken, und Sie sind es auch
nicht, wir wissen beide, was wir nicht wollen. Er braucht ein zweites Streichholz – ich bin
nicht verliebt. Er braucht ein drittes Streichholz. Sie sehen, ich rede schon ganz vertraulich,
und das ist genau, was ich nicht wollte, und dabei kenne ich nicht einmal Ihren Namen.
Antoinette: Antoinette. Spielleiter: Wir sehen einander heute zum ersten Mal: Sie gestatten,
dass ich Sie nicht beim Vornamen nenne. Antoinette: Stein. Spielleiter: Fräulein Stein – Sie
schraubt den Lippenstift zu. Antoinette: Ich spiele nicht Schach. Sie nimmt die Puderdose.
Spielleiter: Ich erkläre Ihnen Zug für Zug. Sie eröffnen mit dem Königsbauer. Gut. Ich
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sichere: ebenfalls mit dem Königsbauer. Jetzt kommen Sie mit dem Springer heraus. Sie
pudert sich. Spielleiter: Fräulein Stein, ich schätze Sie. Antoinette: Wieso? Spielleiter:
Das weiss ich nicht, aber wenn wir jetzt nicht Schach spielen, so weiss ich, wie es weitergeht.
Ich werde Sie verehren, dass die Welt sich wundert, ich werde Sie verwöhnen. Spielen wir
Schach. ...
„Die Grünstein-Variante“ von Wolfgang Kohlhaase (* 1931):
Der deutsche Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur schrieb das Hörspiel „Die
Grünstein-Variante“, eine Geschichte in Erinnerung an Geschichten, die Ludwig Turek
erzählt hat:
Paris 1939. In der Zelle eines Untersuchungsgefängnisses sitzen drei Männer in
Abschiebehaft. Der deutsche Seemann Lodek, ein begeisterter Schachspieler, ein Grieche von
der Insel Korfu, der zu dem ehemaligen deutschen Kaiser nach Doorn will, um für ihn zu
kochen, und der jüdische Schlächter Grünstein aus Polen, der wegen einer Erbschaft nach
Paris gefahren ist. Man hat ihnen mit einem Trick ihre Pässe abgenommen, um sie dann durch
den nächsten Beamten als nicht identifizierbare Personen verhaften und ausweisen zu können.
Über die Dauer von mehreren Wochen sitzen die drei Männer, zur Untätigkeit gezwungen
und ohne zu wissen, was mit ihnen geschehen wird, in der Zelle. Aus Langeweile bringt
Lodek dem Juden Grünstein das Schachspielen bei. Die Figuren werden aus Brotteig geformt,
das Brett in den Zellentisch gekratzt. Grünstein, ein zurückhaltender, aber kluger und witziger
Mensch, gewinnt nach vielen Niederlagen endlich gegen Lodek mit einem „genialen, selbst-
entwickelten Zug“, den Lodek die „Grünstein-Variante“ nennt.
Eines Tages verlässt Lodek für immer die Zelle. Er allein wird den Krieg überleben. Sein
Leben lang wird er nach dem genialen Schachzug Grünsteins suchen, der ihm entfallen ist.
„Die Grünstein-Variante“ wurde 1984 verfilmt.
Anmerkung: In der praktischen Umsetzung unter 4.1.5 (Seite 102) zeigen wir, wie sich
dieses geschilderte Ende der Partie abgespielt haben könnte, denn hier wird der von Lodek
gerühmte Springerzug, an den er sich später nicht mehr erinnern kann, als „ersticktes Matt“
dargestellt, das allerdings nicht auf Grund einer genialen Schachstrategie des Führers der
schwarzen Figuren (Grünstein), sondern vielmehr als Folge mehrerer grober Fehler von Weiss
(Lodek) zustande kommt.
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2.3.6 Parodien
„Erlkönig“ von Eduard Vollmar (* 1935):
Der Schweizer Chemiker verbindet in seinem Buch „Schachparodien (von Goethe bis
Brecht)“ (1986) seine Liebe zum Schachspiel und zur Poesie, indem er in geschickter und
amüsanter Art und Weise bekannte Gedichte der Weltliteratur mit Ausdrücken und
Formulierungen aus der heutigen Zeit und der Welt des Schachspiels kombiniert.
Als Beispiel zeigen wir das Gedicht „Erlkönig“ von Johann Wolfgang Goethe (Seite 11):
Erlkönig
Wer sitzt noch so spät vor dem Brett und denkt?
Es ist der Meister, vom Gegner bedrängt.
Er hat noch die Dame, den König und Turm
und erwartet des Gegners entscheidenden Sturm.
„Mein König, was birgst du so bang dein Gesicht?“
„Siehst Vater du den Mattzug nicht?
Den Zug, der so grausam uns unterjocht!“
„Mein König, es wird nicht so heiss gekocht!“
Den lockt in die Falle der Gegner geschwind,
er ist schon vom Kampfe ermüdet und blind.
Er sieht nicht den Springer, er fühlt nur die Not
und ahnet das tödliche Schachgebot.
„Mein Vater, mein Vater, jetzt macht er den Zug!“
„Mein König, es ist doch nur fauler Betrug!
Ich hab ihm ja eben die Dame geraubt.“
Doch der König ächzt müde und senkt sein Haupt.
Dem Meister grausets, er zieht noch geschwind,
obgleich er dem Abgrund nicht mehr entrinnt.
Er glaubt, er erreiche das rettende Patt,
doch wehe, o weh, sein König ist matt.
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Anmerkung: Unter 4.1.6 (Seite 102) findet man eine mögliche Mattsetzung, die sich auf die
erwähnten Züge in dieser Parodie bezieht und eine Gegenüberstellung mit dem Original im
Anhang unter 9.6 (Seite 137).
„Schachgedicht“ frei nach Theodor Fontane
Wir zeigen im Anhang unter 9.7 (Seiten 138 und 139) ein weiteres Beispiel einer Parodie und
die Gegenüberstellung mit dem Original „John Maynard“.
2.3.7 Novelle
„Schachnovelle“ von Stefan Zweig (1881 – 1942):
Der österreichische Schriftsteller, der 1938 wegen des aufkommenden Nationalsozialismus
nach Grossbritannien emigrierte und 1940 über New York ins brasilianische Exil floh, wo er
1942 durch Selbstmord aus dem Leben schied, wurde durch Werke wie „Brennendes
Geheimnis“ (1911), „Amok“ (1922), „Sternstunden der Menschheit“ und „Verwirrung der
Gefühle“ (1927), „Baumeister der Welt“ und „Ungeduld des Herzens“ (1938) und dem erst
nach seinem Tod veröffentlichten „Die Welt von gestern“ (1942) weltberühmt.
Die „Schachnovelle“ wurde unmittelbar nach dem tragischen Selbstmord von Zweig auf
seinem Schreibtisch gefunden, bald veröffentlicht und weltbekannt.
Die Haupthelden der „Schachnovelle“ sind auf der einen Seite der Schachweltmeister Mirko