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Page 1: 9/37...2019/01/15  · schaft als «private Aneignung von Profiten » und warum sie, was andere Arbeitsbeschaffung nennen, als «Beanspruchung» von Arbeitslei-stung der Gesellschaft

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Samstag/Sonntag, I7./18. August 1985 Nr. 189 37

Nach dem wiederholten Ende des Zweiten Weltkrieges

Plädoyer für eine zeitgemässe ZeitgeschichteVon Georg Kreis, Universität Basel

Die sogenannte Zeitgeschichte wird allge-

mein als Sonderbereich der Geschichtswissen-schaft verstanden. Wenn auch der Unterschiedzwischen dieser und der anderen Geschichte beinäherer Betrachtung gar nicht so gross ist - einegewisse Besonderheit besteht trotzdem: Zeitge-

schichte ist die Bezeichnung für den von Zeitge-

nossen erlebten Zeitraum wie (in der auch fürdie allgemeine Geschichte geltenden Doppel-deutigkeit) auch für die wissenschaftliche Verar-beitung dieses Zeitraums. Dass auch die Zeitge-

schichte ihren Platz in der wissenschaftlichenLehre und Forschung haben soll, muss heutzu-tage eigentlich nicht mehr betont oder gar er-neut begründet werden. Die Zeiten sind in derTat vorbei, da die Zeitgeschichte wegen ihrerGegenwartsnähe der klassischen Geschichtswis-senschaft suspekt war und da sie als «gegen-wartsverfallen», als «histoire immediate» undim Angelsächsischen als «presentisme» abgetan

wurde. Die Zeitgeschichte scheint kein Plädoyermehr nötig zu haben.

Was ist das aber für eine Zeitgeschichte, diesich mittlerweile so gut etabliert hat? Es ist - inder Schweiz etwas stärker als im Ausland -grosso modo die Geschichte der Jahre1918-1945; es sind die Epochen der Zwischen-kriegszeit und des Zweiten Weltkrieges. Allein:Was in den ersten Nachkriegsjahren noch alsjüngste Vergangenheit empfunden werdenkonnte, ist inzwischen doch älter geworden.Diese «Zeitgeschichte» verliert immer mehr denCharakter von Zeitgeschichte.

Erlebnisraum der Zeitgenossenschaft

Es bereitet uns einige Mühe, der TatsacheRechnung zu tragen, dass sich mit dem Wandelder Zeitgenossenschaft auch deren Erlebnis-raum verschiebt. Das Ende des Zweiten Welt-krieges ist nach wie vor eine starke Zäsur, derZeitraum nach 1945 noch immer ein wenig er-schlossenes Niemandsland. Wie sehr die histori-sche Forschung zögert, in diesen Zeitraum vor-zustossen, zeigen für Deutschland die Beiträgeder angesehenen «Vierteljahrshefte für Zeitge-schichte», die erst in jüngerer Zeit etwas häufi-ger auch Themen aus dem Zeitraum nach 1945behandeln. Wäre die deutsche Zeitgeschichts-forschung schneller zur Bearbeitung der Nach-kriegszeit übergegangen, hätte man ihr gewissvorgeworfen, eine schmerzliche Phase der deut-schen Geschichte verdrängen zu wollen.

In Frankreich ist man im Überwinden derZäsur von 1945 .etwas weitergekommen: DasDokumentationszentrum. des Comite d'Histoirede la Deuxieme Guerre Mondiale wurde schon1978 in ein neu geschaffenes Institut d'Histoiredu Temps Present integriert - allerdings nichtnur aus akademischer Einsicht, sondern weilStaatspräsident Giscard d' Estaing damit auchden aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegange-nen Gaullismus treffen wollte. (Bekanntlich ver-suchte Giscard d'Estaing auch den «8. Mai» ab-zuschaffen.) In Frankreich besteht generell einwenig die Tendenz, die ältere Zeitgeschichte zuüberspringen und sich direkt der jüngeren Zeit-geschichte anzunehmen und so den selbstzer-fleischenden Auseinandersetzungen um dienicht sehr ruhmvolle Ära der Niederlage undder Kollaboration aus dem Wege zu gehen.

Und in der Schweiz? Das von Klaus Unteraufgebaute und seit 1974 in die ETH Zürichintegrierte Schweizerische Archiv für Zeitge-schichte ist ebenfalls aus dem besonderen Inter-esse an der Zwischenkriegs- und Kriegszeit ent-standen. Es hat aber mit seinen systematischenBefragungen von zeitgenössischen Persönlich-keiten schon immer lebenslaufbedingte Vor-stösse in die Zeit nach 1945 unternommen. Zu-dem decken manche der von ihm gesicherten

und gesichteten Privatbestände den Zeitraumbis in die sechziger Jahre ab. Aber noch interes-siert sich der grössere Teil der Benützer für dieZeit vor 1945.

Beschleunigter Wandelund Überbenachrichtigung

Bleibt die Zeitgeschichte bei 1945 stehen,wird das «geschichtslose» Feld zwischen derVergangenheitsforschung der Historiker undder Gegenwarts- und Zukunftsfoischung derPolitologen und ökonomen immer grösser.Dies aber ist aus mehreren Gründen zu bekla-gen.

Zunächst gilt natürlich auch für diese Zeitdie Binsenwahrheit, dass wir die Gegenwartnicht verstehen, wenn wir die Vergangenheitnicht kennen. Sie gilt für die Vorgeschichte derGegenwart und für die besonders schnellebigeGegenwart sogar in besonderem Masse. Zwarwird sich wohl jede Zeit im Vergleich zur ge-mächlicheren Vorzeit einem beschleunigtenWandel ausgesetzt gefühlt haben. Die allge-meine Entwicklung hat aber unzweifelhaft auchobjektiv eine starke Beschleunigung erfahren.Die Nachrichten über die beschleunigten Inter-aktionen fallen in immer stärkerer Intensitätund kürzerer Kadenz an und werden entspre-chend schnell wieder vergessen - durch neueNachrichten gelöscht. Erich Gruner hat schonvor Jahren darauf hingewiesen, dass die techni-schen Umwälzungen, die so plötzlich über unsgekommen sind und eine bisher unvorstellbareBeschleunigung des geschichtlichen Ablaufsverursachen, uns in einer vorher kaum je dage-

wesenen Weise von der Vergangenheit ab-schneiden.

In Anbetracht des von der Überbenachrichti-gung ausgehenden Löscheffekts wäre es wünsch-bar, dass im Windschatten des aktualitätsbezo-genen Interesses die Gegenwart von gestern undvorgestern ohne grossen zeitlichen Verzug ge-sichtet, bearbeitet und zu einem ersten Bild ver-dichtet würde. Der im Überblick zutage tretendeVerlauf unserer Vorgeschichte muss im übrigen

nicht unbedingt bisher unbeachtet gebliebeneVeränderungen sichtbar machen. Schon beimersten Betrachten des von der hektischen Ge-genwart zurückgelassenen Geschehens könntesich nämlich herausstellen, dass die mittel- undlängerfristigen Entwicklungsverläufe trotz densteten Wechseln, die wir kurzfristig wahrneh-men, so wechselreich gar nicht sind. Die Dauerim Wandel - auch das wäre ein wichtiger Be-fund.

Man mag es als paradox empfinden: UnsereKenntnisse und Vorstellungen werden, auchwenn es sich um scheinbar bewusst miterlebteZeit handelt, oft dürftiger, je näher die Vorgän-ge, um die es geht, an unserer Gegenwart liegen.

Eine gegenwartsnähere Zeitgeschichte könnteaber nicht nur das Verständnis der an Vorgän-gen von allgemeiner Bedeutung bereits interes-sierten Zeitgenossen fördern, es könnte auch dasInteresse der zunächst noch Desinteressiertenwecken. Erfahrungsgemäss ist man nämlich inFragen, in denen ein zum Beispiel durch zeitge-

schichtliche Publikationen vermitteltes Vorwis-sen bereits vorhanden ist, ansprechbar unddarum auch aufnahmefähiger.

Vom Krieg zum Frieden

Für ein Überschreiten der Zäsur von 1945spricht auch der besondere Umstand, dass dieAufmerksamkeit der klassischen Zeitgeschichte

einer Zeit gilt, die im Grunde gar nicht als Vor-geschichte der Gegenwart aufgefasst wird, son-dern als eine ganz andere, als eine ausserordent-liche und - aus dem Bewährungserlebnis heraus- als «hohe» Zeit. Auch wenn die Kriegszeit -auch für die Schweiz - eine sehr dichte Zeit war,das Denken einer ganzen Generation prägte

und - nun bloss indirekt auch für die Schweiz -manchen Entscheid brachte, der die gegenwärti-gen Verhältnisse schicksalshaft bestimmte, undwenn auch die Vorkriegs- und Kriegszeit nochlängst nicht abschliessend historisch verarbeitetsind (was sie ja ohnehin nie sein können), ist dieAufnahme der" Nichtkriegszeit in unser histori-sches Bewusstsein, in unsere geistige Bilderweltauch darum angezeigt, weil deren innere Über-einstimmung mit unserer Gegenwart das Ver-ständnis gerade dieser Gegenwart fördert. Zu-dem ist - vor allem nun für die Schweiz - 1945eigentlich gar kein epochaler Einschnitt. DieNachkriegszeit hatte in einem gewissen Sinnschon 1943 begonnen, und die Jahre 1943-1948bilden wahrscheinlich mindestens so sehr eineEinheit wie die Jahre 1939-1945.

Im Wettlauf mit Legendenbildungen

Eine neue Zeitgeschichte ist auch aus einemanderen Grund vonnöten: ZeitgeschichtlicheGeschichtsschreibung findet nämlich auch dannstatt, wenn sich die Geschichtswissenschaft ausBerührungsangst ihrer nicht annimmt. Die amGeschehen beteiligten Parteien haben ein Inter-esse daran, mit ihrer Sicht der Dinge das künf-tige Geschichtsbild zu prägen. Diese Art von Ein-flussnahme erlebt die Zeitgeschichte vor allemvon seiten der militanten und doktrinären Par-teien. Eine nachgeführte, das heisst an die Ge-genwart näher herangeführte Zeitgeschichte

könnte dazu ein gewisses Gegengewicht bilden.Sie könnte das Einnisten von Legenden gewiss

nicht verhindern, aber erschweren und derenWirkung eindämmen. Oft ist von zunehmenderGeschichtslosigkeit die Rede. Wenn damit dasFehlen eines hier nicht näher bestimmbaren hi-storischen Denkens gemeint ist, mag das zutref-fen. Das Interesse an der Möglichkeit, die Ver-gangenheit politisch zu nutzen, ist in unsererGegenwart indessen kaum geringer geworden.

Kommt ein weiterer Grund hinzu: Lässt diezeitgeschichtliche Verarbeitung auf sich warten,entgeht der Nachwelt zwangsläufig ein Teil derhistorischen Dokumentation. Materialien gehenverloren, die der Historiker im Laufe seiner Re-cherchen sichern könnte oder die als Reaktionauf erste zeitgeschichtliche Publikationen anfal-len würden. Natürlich ist dieser Verlust nicht inallen Bereichen gleich gross. Im Bereich bei-spielsweise der klassischen Staatsgeschichte ister geringer als im Bereich etwa der Mentalitäts-geschichte, die sich stärker auf private, auchmündliche Quellen abstützt.

Dies sind in Kürze die wichtigsten Gründe,die einen Aufbruch in die jüngere Vorgeschichte

als dringlich erscheinen lassen. Kürzlich ist mitbemerkenswert viel Aufwand das Ende desZweiten Weltkrieges vergegenwärtigt worden.Nun sollte das Interesse an dem, was «vor 40Jahren» geschehen ist, nicht wieder einschlafen,

nun sollte die Erinnerungsbereitschaft auch derNachkriegszeit zugute kommen, allerdings nichtnur in dezimalen Erinnerungsritualen, sonderndurch Bemühungen, eine ganze Ära zu erschlies-sen.

Erste Vorarbeiten von Erich Gruner . .

Die Zeit nach 1945 ist allerdings nicht nurterra incognita. Eine wertvolle Vorarbeit stellt

der vom bereits zitierten Erich Gruner herausge-gebene Sammelband «Die Schweiz seit 1945»(Bern 1971) dar. Das Werk ist aus einem Volks-hochschulkurs herausgewachsen, der - wie die-ses Plädoyer es anlässlich des 40. Gedenkjahrestut - anlässlich des 25. Gedenkjahres den Auf-bruch in die Nachkriegszeit einleiten wollte.Gruner stellte damals fest, man sei zwangsläufignoch sehr materialnah geblieben und vielfachüber ein erstes Sortieren des geschichtlichenRohstoffes nicht hinausgekommen. In diesemBand geben 17 Autoren einen informativenQuerschnitt durch die wichtigsten Gebiete desöffentlichen und des privaten, des ökonomi-schen, politischen und kulturellen Lebens. DieFrage, welches die dominanten Kräfte der Zeitseien, wurde in der Einleitung zwar gestellt,musste damals aber noch unbeantwortet blei-ben. Auch die Frage der Periodisierung konntenur am Rande besprochen werden. Immerhinwurde die vorläufige Aussage gewagt, dass demJahr 1970 wegen des stärker gewordenen Dissensund der entsprechenden Infragestellung des Bil-des der nationalen Schicksalsgemeinschaft dieBedeutung eines Epocheneinschnitts (oder einerWendezeit) zukomme (S. 359).

Wiederum als Folgeprodukt eines Volks-hochschulkurses, nun aus den Jahren 1980/81,entstand die von Christoph Dejung verfasste«Schweizer Geschichte seit 1945» (Frauenfeld1984). Dieses Werk, das auch die achtzigerjahrein seine Darstellung einbezieht, leitet in kurzenChronologien, thematisch geordnet, einzelneEntwicklungsstränge aus der Zwischenkriegs-zeit, zum Teil sogar aus dem 19. Jahrhunderther und gibt mit einem eigenen Text einen leichtfasslichen Überblick über die Vorgänge derNachkriegszeit und mit beigegebenen Doku-menten Einblicke in Positionen, die bekannteExponenten unserer Gesellschaft zu bestimmtenFragen eingenommen haben.

. . . sowie von Cilg/Hablützel

Ein wesentliches Stück weiter in der konzep-tionellen Erfassung und der Verdichtung kamenPeter Gilg und Peter Hablützel mit ihrem Beitragim 3. Band der «Geschichte der Schweiz undder Schweizer» (Basel 1983). Publizierten Gru-ner und Dejung ihre Werke noch unter demzurückhaltenden Arbeitstitel «. . . seit 1945»,hoben Gilg und Hablützel die ihres Erachtenswichtigsten Epochenmerkmale hervor und setz-ten sie über ihren Beitrag den Titel «Beschleu-nigter Wandel und neue Krisen». Mit bemer-kenswerter Selbstverständlichkeit definierten sienun übrigens die Zeitgeschichte als Geschichteder Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrie-ges.

Mit einem starken reflektorischen Ansatz ar-beiteten sie vier Leitideen heraus, die ihnen alsErklärungszusammenhänge dienten: den Ge-danken

'

des beschleunigten Wandels, der sichverstärkenden weltweiten Interdependenz, des

wachsenden Organisationsgrades von Wirtschaftund Gesellschaft und An fortschreitenden Auflö-sung herkömmlicher Bildungen. Die Autorenverstanden ihre Darstellung als (eigene) Inter-pretation, beabsichtigten aber, deren Standort-bedingtheit sichtbar und dank dieser Deklara-tion auch nachvollziehbar zu machen.

Die mit dem Handbuchcharakter des Werkesschwer vereinbaren Positionsbezüge konnten aufdem zur Verfügung stehenden Raum dann aller-dings doch selten als solche kenntlich gemachtwerden. Dem Leser wird zum Beispiel nichtklar, warum die Autoren von einem «Wieder-aufstieg» des Kapitalismus nach 1945 reden,warum sie diesen Wiederaufstieg als «erstaun-lich», warum sie die Erträge der Privatwirt-schaft als «private Aneignung von Profiten»und warum sie, was andere Arbeitsbeschaffungnennen, als «Beanspruchung» von Arbeitslei-stung der Gesellschaft bezeichnen.

Wenn - um auf den gleichen, willkürlichherausgegriffenen Seiten (197/8) zu bleiben -von der «sogenannten» freien Welt und von der«vermeintlichen» Bedrohung durch das feindli-che System die Rede ist, geschieht dies wohl imBestreben, sich von einer allzu geläufigen com-munis opinio zu lösen. Wir müssen uns aber fra-gen, inwiefern solche Emanzipierungsversuchenicht zugunsten neuer Bindungen unternommenwerden, die als Prämissen ebenfalls explizit dar-gelegt werden sollten.

Gilgs und Hablützels interpretatorische Zu-griffe sind eine Herausforderung - eine begrüs-

senswerte Herausforderung, sofern es Dialog-partner gibt, die sich herausgefordert fühlen.Auffallenderweise fühlen sich Leser aber weni-ger durch diese Bearbeitung der jüngsten Zeitprovoziert als durch die von Hans Ulrich Jost imgleichen Werk gegebene Darstellung der Zeitvon 1914 bis 1945. Dies zeigt - und hier sind wirwieder an unserem Ausgangspunkt -, wie sehrdie ältere Zeitgeschichte noch immer dominiertund wie wichtig es wäre, dass auch der jüngerenZeitgeschichte ein Platz in unserem historischenBewusstsein eingeräumt würde.

Schule der Selbstdisziplin

Die grosse Gegenwartsnähe der jüngerenZeitgeschichte stellt höchste Ansprüche an dieHistoriker. Hans Rothfels hat schon 1953 vonder Zeitgeschichte gesagt, sie müsse beweisen,«dass mit der Nähe und stärkster Betroffenheitdurchaus ein Abstandnehmen von den Leiden-schaften des Tages sich verbinden lässt, ohnedeshalb zu relativistischer Skepsis zu führen».So besehen, ist die Zeitgeschichte in höchstemMasse eine Schule der Selbstdisziplin und alssolche von eminent politischer Bedeutung. Unddies wiederum ist der letzte, aber nicht der un-wichtigste Grund, der zeigt, wie nötig es ist,dass wir eine zeitgemässe Zeitgeschichte pfle-gen.

Kleine Einführungen ins TessinZwei neue Publikationen

rf. Dieses Jahr sind zwei Bändchen erschie-nen, die sich zur Einführung ins Tessin aufs an-genehmste ergänzen, obwohl dies gewiss nichtgeplant war. Beide sind schmal, erheben nichtden Anspruch, umfassend zu sein oder gar ge-wichtigere Werke wie die Tessin-Geschichte vonRossi und Pometta (1980 bei Armando Dandoneu aufgelegt, deutsch vergriffen) zu ersetzen.Aber sie haben den Vorzug, leichter greifbarund zu lesen zu sein.

Das eine dieser Bändchen heisst «Kleine Ge-schichte des Kantons Tessin» (Edizioni SanPietro, Ascona) und stammt aus der Feder des1977 verstorbenen Ernst Merz, eines Pfarrers,der sich nach S. Abbondio über dem Langenseezurückgezogen und dort auch einige Zeit, wäh-rend der Kriegsjahre, als Sindaco geamtet hatte.Heinrich Ammann hat eine Reihe historischerAufsätze von Merz, die in den fünfziger Jahrenim Winterthurer «Landboten» erschienen sind,zusammengestellt und zwei bisher unveröffent-lichte Manuskripte über die Jahre des Faschis-mus und über die Emigration hinzugefügt. Dieandere Broschüre ist in der Reihe erschienen,die die Schweizerische Bankgesellschaft den ein-zelnen Kantonen widmet, und zwar in deut-scher und in italienischer Sprache; als Verfasserzeichnen Thomas Lips und Gianni Moresi.

Die beiden Publikationen nun ergänzen sicheinmal dadurch, dass die eine vor allem derVergangenheit, die andere eher der Gegenwartgewidmet ist, zum anderen aber auch in ihremganz unterschiedlichen Vortrag. Die eine eignetsich trefflich, für eine besinnliche Lektüre in diePergola mitgenommen zu werden. Merz lässt,wie man so sagt, den Blick durch die weite Ge-schichte schweifen, liebt es, die Zeitläufte aneinzelnen Schicksalen oder Orten (was gleichAnregung zu einem kleinen Ausflug sein kann)sichtbar werden zu lassen, und lässt es sich nichtnehmen, wenn da schon von den Langobardenim Tessin die Rede ist, auch zu erzählen, wieKönig Alboin aus dem Schädel des erschlage-nen Schwiegervaters einen mit Silber beschlage-nen Pokal anfertigen und seine Gattin daraustrinken liess. In Nummer 92 der SBG-Schriftenzu Wirtschafts-, Bank- und Währungsfragenhingegen geht es naturgemäss nüchterner zu;hier herrschen Zahlen, Graphiken, Prozentevor, eingefügt aber in einen leserlichen undübersichtlich gegliederten Text.

Die kleine Tessiner Geschichte zieht also denweiten Bogen von der Zeit der Römer bis zur

Mitte unseres Jahrhunderts; sie zeichnet nach,wie der Wettbewerb zwischen den beiden Städ-ten Como und Mailand ins Tessin ausstrahlte,und zeigt auch, wie das Tessin in das Kräftefeldvon Süd und Nord eingespannt ist, wie bei-spielsweise die Christianisierung der Alpentälervon Norden her dauernde Bindungen an dieBündner Klöster zur Folge hatte oder hinter derGegenreformation des Mailänder ErzbischofsBorromeo auch ein sprach- und kulturpoliti-sches Engagement vermutet werden kann. DerLeser wird daran erinnert, wie der Bund von1291 Vorläufer in Freiheitsbewegungen südlichder Alpen hatte, etwa in Torre oder Biasca. Hatman so sich die Geschichte wieder gehörig inErinnerung rufen lassen, wird man auch im an-deren Büchlein keinen Schaden nehmen an derWendung, dass das Schicksal des Tessins «bisins 12. Jahrhundert eng mit jenem der Lombar-dei verbunden» geblieben sei.

Tatsächlich aber ist die Broschüre der SBGkeineswegs eingleisig abgefasst. Sie versucht,ein differenziertes Bild der facettenreichenWirklichkeit des Tessins zu geben, und auch dasKapitel, das mit «Finanzplatz: Konsolidierungnach dem Boom» überschrieben ist und demTessin in dieser Publikationsreihe wohl Prioritätverschafft hat, ist angesichts der Bedeutung die-ser Sparte für das Tessin keineswegs zu grossgeraten ; das Tessin rangiert weit oben auf derListe der Finanzplätze, und nirgends ist der An-teil der Beschäftigten im Bankensektor so gross

wie in Lugano (12 Prozent). Nach der anfäng-

lich raschen Expansion (stark durch die ungün-stigen Verhältnisse in Italien bedingt) mit ihrenoft wenig erfreulichen Begleiterscheinungen -das die Quintessenz dieses Abschnittes - hat derFinanzplatz Tessin eine eigenständige und brei-ter gelagerte Dynamik entwickelt, so dass Re-striktionsmassnahmen und gebremster Kapital-zustrom ihm den Schwung nicht nehmen konn-ten. Gerade die wirtschaftliche Ausrichtung derBroschüre ist geeignet, ein allzu idyllisches Bildvom Tessin zu korrigieren und etwa bewusstzu-machen, dass es diese «Sonnenstube» ihren Be-wohnern keineswegs leichtgemacht hat. DerUmschlag vom Auswanderungs- zum Einwan-derungsgebiet in den sechziger Jahren, die Ag-glomerationstendenz, die Überalterung, dieGrenzgänger, der Wechsel von der Agrar- zurDienstleistungsgesellschaft machen viele Sorgenverständlicher, mit denen dieser Kanton heutezu kämpfen hat.

Neue Zürcher Zeitung vom 17.08.1985

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