Einleitung 1
Bewertung des selbsttätigen Losdrehens hochbeanspruchter Schraubenverbindungen unter zyklisch wirkender Beanspruchung
Fachgebiet und Institut für WerkstoffkundeProf. Dr.-Ing. Matthias Oechsner Dr.-Ing. Jörg Beyer Andrea Eberhard M.Sc.
Lehrstuhl für Maschinenelemente, Verbindungstechnik und Produktinnovation Prof. Dr.-Ing. Christoph Friedrich Dr.-Ing. Georg Dinger
1 Einleitung
Die Schraube hat als wichtigstes lösbares Verbindungselement eine sehr große Verbreitung in
nahezu allen Bereichen des konstruktiven Ingenieurwesens. Die prozess- und betriebssichere
Auslegung einer Schraubenverbindung ist deshalb von großer Bedeutung.
Ein Vorspannkraftverlust im Betrieb kann durch unterschiedliche Ursachen hervorgerufen
2 Ziel
werden: Setzen oder Kriechen kann das Lockern der Schraubenverbindung zur Folge haben.
Zum selbsttätigen Losdrehen von Schraube oder Mutter kann es durch schwingende mechani-
sche Beanspruchung, Verringerung der Reibung z. B. durch Temperatureinfluss und einherge-
hender Aufhebung der Selbsthemmung des Gewindes kommen. Eine häufige Folge des Vor-
spannkraftverlusts sowie der zyklischen Überbeanspruchung von Schraubenverbindungen ist
der Dauerbruch und damit der Funktionsverlust der Verbindung [1]. Um ein Lockern oder
Losdrehen der Schraubenverbindung zu verhindern, werden daher oft Sicherungselemente
eingesetzt.
Schadensfälle durch selbsttätiges Losdrehen sind zwar u.a. aus den Veröffentlichungen des
Kraftfahrtbundesamtes bekannt, die Vermeidung wird aber meist erst nach Auftreten von Los-
drehereignissen experimentell gestützt vorgenommen.
Zurzeit existiert keine etablierte Methode bei der Auslegung von Schraubenverbindungen, die
ein selbsttätiges Losdrehen berücksichtigt.
2 Ziel
Ziel des Forschungsvorhabens war es, den Mechanismus und die Chronologie des selbsttätigen
Losdrehens näher zu untersuchen. Dies sollte über die rein vergleichende Prüfung hinaus, wie
sie am Vibrationsprüfstand nach Junker möglich ist, mit numerischen und analytischen Be-
rechnungsmodellen erfolgen. Hieraus sollten Kriterien abgeleitet werden, die sowohl bei der
Verbindungsprüfung, als auch bei Realbauteilsystemen eine Sicherheit gegen selbsttätiges
Losdrehen ermöglichen.
3 Vorgehensweise
In dem Forschungsvorhaben wurden Sechskantschrauben mit Flansch der Abmessung M10
und M16 unter Variation der Oberflächen, Schmierungen, Klemmlängen und Vorspannkräfte
hinsichtlich ihrer Losdreheigenschaften untersucht. Hierbei erfolgte zunächst eine Grundcha-
rakterisierung der unterschiedlichen Schraubenverbindungen mit mechanisch-technologischen
Prüfungen (Zugversuch, metallographische Untersuchung, Anziehversuche in Anlehnung an
DIN EN ISO 16047 [2] und VDA 235-203 [3]), um die Eingangsgrößen für die numerischen
Modelle und die analytische Beschreibung zu bestimmen. Die Charakterisierung beinhaltete
auch einen Ringversuch mit Anziehprüfständen, der mit Mitgliedern des projektbegleitenden
Arbeitskreises durchgeführt wurde.
Ergebnisse 3
Aufbauend auf diesen Untersuchungen wurden numerische Modelle für:
die Schraubenverbindung am Vibrationsprüfstand nach Junker mit transversaler Belas-
tung und unterschiedlichem Detaillierungsgrad der Gewindegeometrie sowie
die Realverschraubung mit sowohl transversaler, rotatorischer als auch kombinierter
Belastung aufgestellt,
um an ihnen den Mechanismus und die Chronologie des selbsttätigen Losdrehens zu analysie-
ren und die kritischen Bewertungsgrößen (Verschiebung, Querkraft, Rotationswinkel) heraus-
zustellen.
4 Ergebnisse
4.1 Mechanisch-technologische Eigenschaften
Zunächst wurden Eingangsdaten für die numerischen und die analytischen Berechnungen des
selbsttätigen Losdrehens ermittelt. Zur Charakterisierung der Oberflächen und zur Ermittlung
der Reibungszahlen beim Anziehen und Losdrehen wurden umfangreiche Untersuchungen an
einem Anziehprüfstand durchgeführt. Die hierbei ermittelten Reibungszahlen haben bei den
zink-phosphatierten Schrauben eine gute Übereinstimmung mit den Reibungszahlen am Vib-
rationsprüfstand nach Junker gezeigt. Durch Variation der im Forschungsvorhaben verwende-
ten Schmiermittel ergab sich vor allem eine Veränderung in der Kopfreibungszahl μ , wohin-
gegen die Reibung im Gewinde μ kaum beeinflusst wurde.
Beim Vergleich von Versuchen am Anziehprüfstand und Prüfungen in Anlehnung an
VDA 235-203 [3] am Torsionsprüfstand stellte sich heraus, dass das Verhältnis von Losdreh-
moment zu Anziehdrehmoment M M ⁄ nicht alleine geeignet ist, das selbsttätige Losdrehen
zu bewerten. Der Quotient M M ⁄ kann nur in Kombination mit der durchschnittlichen Ge-
samtreibungszahl ∅μ verwendet werden. Dennoch gilt die qualitative Aussage, dass ein
selbsttätiges Losdrehen unwahrscheinlicher wird, wenn eine hohe Reibungszahl μ und ein
großes Verhältnis M M⁄ vorliegen.
Anziehversuche an beiden Forschungsstellen ergaben, dass unabhängig von den Schrau-
benabmessungen (M10, M16), Schraubenoberflächen (zink-phosphatiert, vergütungsschwarz)
und verwendeten Schmierungen die Kopfreibungszahl μ beim Losdrehen größer ist als beim
Anziehen (∆μ μ μ 0) und die Gewindereibungszahl μ beim Los-
drehen kleiner ist als beim Anziehen (∆μ μ μ 0). Hingegen ist die
4 Ergebnisse
Differenz der Gesamtreibungszahlen ∆μ μ μ 0 fast unverän-
dert. Der Unterschied der Reibungszahlen beim Anziehen und Losdrehen wurde anhand von
REM- und EDX-Untersuchungen an der Schraubenkopfauflage betrachtet, sowie im Rahmen
eines Ringversuchs mit dem projektbegleitenden Arbeitskreis (Auszug siehe Bild 1) unter-
sucht. Die Ursachen der unterschiedlichen Reibungszahlen beim Anziehen und Losdrehen
konnten im Rahmen dieses Forschungsvorhabens nicht abschließend geklärt werden, da die
Differenzen der Teilreibungszahlen in Abhängigkeit von der Prüfstandsart voneinander abwi-
chen. Zudem ergab sich für Links- und Rechtsgewinde ein gegenläufiges Verhalten. Es kann
geschlussfolgert werden, dass es sich gegebenenfalls um einen messtechnischen oder einen
tribologischen Effekt handelt.
Bild 1: Ringversuch: Auswertung der Reibungszahldifferenz ∆ für alle Erstanzüge bei zink-phosphatierten Schrauben der Abmessung M10 und einer Vorspannkraft von
4.2 Untersuchungen am erweiterten Vibrationsprüfstand nach Junker
Mit den Untersuchungen am Vibrationsprüfstand nach Junker in Kombination mit dem opti-
schen Messsystem PONTOS konnte der Mechanismus und die Chronologie des selbsttätigen
Losdrehens näher untersucht werden. Hierzu wurde ein Flussdiagramm (siehe Bild 2) erstellt,
das vereinfacht die verschiedenen Zustände am Vibrationsprüfstand nach Junker darstellt,
sowie deren Zusammenhänge.
G1 G2 G3 G4 G5 G6 G7 K1 K2 K3 K4 K5 GK1-0.12
-0.10
-0.08
-0.06
-0.04
-0.02
0.00
0.02
0.04
0.06
0.08
0.10
0.12
Prüfstand
=
Lo
sdre
hen
-
An
zieh
en
g
ges
K
G
Gemessen:G MA, FV, MGK MA, FV, MKGK MA, FV, MG, MK
Ergebnisse 5
Bild 2: Ablaufmatrix des selbsttätigen Losdrehens am Vibrationsprüfstand nach Junker
Es konnten die Größen der maximalen und der kritischen Grenzverschiebung (s und s ∗)
sowie der maximalen und der kritischen Querkraft (F und F ∗) ermittelt werden
(siehe Bild 3), die später zur Verifizierung der numerischen Modelle verwendet wurden (siehe
Bild 4). Sobald es zum kompletten Gleiten des Schraubenkopfes kommt, kann der Schrauben-
kopf der steigenden effektiven Amplitude s des Prüfstands nicht mehr folgen. Es ist die ma-
ximale Grenzverschiebung s [4] des Schraubenkopfes erreicht sowie die maximale Quer-
kraft F [4] der Schraube. In diesem Forschungsvorhaben wurde abweichend von Koch
[4] die kritische Grenzverschiebung s ∗ definiert, die dann überschritten ist, wenn es zu ei-
ner Steigungsänderung der relativen Amplitude des Schraubenkopfes bezogen auf den zeitli-
chen Verlauf kommt. An dieser Stelle wurde zusätzlich auch die kritische Querkraft F ∗
bestimmt.
6 Ergebnisse
Bild 3: Bestimmung der maximalen Grenzverschiebung und der maximalen Querkraft (oben) so-
wie der kritischen Grenzverschiebung ∗ und der kritischen Querkraft ∗ (unten) mit Verlauf der
effektiven Amplitude , der Verschiebung des Schraubenkopfes , der relativen Verschiebung des Schraubenkopfes , und der Querkraft
Bei den numerischen Modellen wurde der Detailierungsgrad des Gewindes näher betrachtet.
Hierbei zeigte sich, dass ein Modell mit axialsymmetrischem Gewinde (ohne Gewindestei-
gung) in Kombination mit einem vorgegebenen inneren Losdrehmoment M für die Ermitt-
lung der Kenngrößen herangezogen werden kann. Gleiches gilt für ein Modell mit Gewinde
und Gewindesteigung. Es wurde die vorgenommene Vereinfachung, die Vorspannkraft axial in
der Schraubenverbindung aufzubringen, durch eine Gegenüberstellung mit drehender Monta-
ge bestätigt. Darüber hinaus wurde die Sensitivität der Modelle bezüglich der Abhängigkeit
des selbsttätigen Losdrehens von den Reibungszahlen betrachtet sowie das Verhalten bei un-
terschiedlicher Gewindetoleranz.
Ergebnisse 7
Bild 4: Vergleich der maximalen Grenzverschiebung (links, oben), der kritischen Grenzverschiebung (links, unten), der maximalen Querkraft (rechts, oben) sowie der kritischen Querkraft
(rechts, unten) von Versuchen am Vibrationsprüfstand mit dem optischen Messsystem PONTOS mit den Ergebnissen der Simulation bei den Klemmlängen , und ,
Die Formel der theoretischen Grenzverschiebung [1] wurde für die maximale und kritische
Grenzverschiebung (s und s ∗) mit Hilfe von FE-Simulationen und den untersuchten
Schraubenverbindungen weiterentwickelt, indem die Exponenten der Vorspannkraft und
der Klemmlänge sowie die Steifigkeitsfaktoren (k und k ∗) angepasst wurden:
⋅ ⋅ ⋅ ⋅
, ⋅ ⋅ ,
8 ⋅ ⋅
∗ ⋅ ⋅ ∗ ⋅ ⋅
, ⋅ ⋅ ,
15 ⋅ ⋅
4-1
4-2
Weiterhin wurden die sich ergebenden Formeln für die beiden Grenzverschiebungen mit den
Versuchsergebnissen verglichen (siehe Bild 5). Zusätzlich wurde für die untersuchte Schrau-
benverbindung das Verhältnis aus kritischer und maximaler Grenzverschiebung (s ∗ und
s ) ermittelt:
0 10 20 30 400
0.1
0.2
0.3
0.4
0.5
0.6
0.7
0.8
Vorspannkraft FV in kN
max
Gre
nzv
ersc
hie
bu
ng
sm
ax in
mm
0 10 20 30 400
0.5
1.0
1.5
2.0
2.5
3.0
3.5
4.0
Vorspannkraft FV in kN
max
Qu
erkr
aft
F Q m
ax in
kN
0 10 20 30 400
0.1
0.2
0.3
0.4
0.5
0.6
0.7
0.8
Vorspannkraft FV in kN
krit
Gre
nzv
ersc
hie
bu
ng
sk
rit* i
n m
m
0 10 20 30 400
0.5
1.0
1.5
2.0
2.5
3.0
3.5
4.0
Vorspannkraft FV in kN
krit
Qu
erkr
aft
F Q k
rit* i
n k
N
8 Ergebnisse
s ∗ 815
⋅ s ⋅ F , ⋅ l , 4-3
Bild 5: Vergleich der maximalen Grenzverschiebung nach Formel 4-1 (oben) und der kritischen Grenzver-schiebung ∗ nach Formel 4-2 (unten) über der Vorspannkraft mit Versuchsergebnissen für die
Klemmlängen , ⋅ und , ⋅
4.3 Losdrehverhalten von verschraubten Realbauteilen
Bei realen Bauteilsystemen treten noch weitere Aspekte gegenüber der einaxialen Querver-
schiebung bei der modellbezogenen Vibrationsprüfung auf. Dies sind: a) mehrere Schrauben
im Bauteilsystem, die wechselwirken, b) unterschiedliche Belastungsarten, c) überlagerte Ro-
tations- und Querverschiebungsbewegungen aufgrund der Bohrungstoleranzen der einzelnen
Schrauben. Die Aspekte werden nachfolgend näher erläutert.
Bei a) wird sofort ersichtlich, dass sich bei mehreren Schrauben unterschiedliche Klemmkraft-
verteilungen einstellen können, auch in Abhängigkeit von den erzielten streuenden Montage-
vorspannkräften je nach Montageprozess (z.B. mehr oder weniger große Abhängigkeit von
den Reibungszahlen oder von den verwendeten Schraubgeräten). Dementsprechend können
sich bei unterschiedlichen Klemmkräften an den einzelnen Schraubstellen unterschiedliche
Bauteilbewegungen bei Belastung einstellen.
Zudem kann bei einem realen Bauteilsystem die Belastungsart sehr unterschiedlich sein
(Aspekt b; nicht wie bei der Vibrationsprüfung nur reine Querkraftbelastung, die zudem weg-
0 10 20 30 400
0.1
0.2
0.3
0.4
0.5
0.6
0.7
0.8
Vorspannkraft FV
in 103 N
max
Gre
nzv
ersc
hie
bu
ng
sm
ax in
10
-3 m
0 10 20 30 400
0.1
0.2
0.3
0.4
0.5
0.6
0.7
0.8
Vorspannkraft FV
in 103 N
krit
Gre
nzv
ersc
hie
bu
ng
skr
it* in
10
-3 m
Ergebnisse 9
gesteuert ist). In Bild 6 sind die vier möglichen prinzipiellen mechanischen Belastungsarten
(A, B, C, D) mit unterschiedlicher Wirkung auf das Losdrehverhalten für eine aus einem Ge-
samtsystem separierte Einschraubenverbindung dargestellt. Diese prinzipiellen Belastungsar-
ten treten meist kombiniert auf. Haupteinflussparameter sind dabei Klemmlänge , Vor-
spannkraft , Nenndurchmesser der Schraube , Reibungszahlen in der Kopfauflagefläche
� , im Gewinde � und in der Trennfuge � , Elastizitätsmodul des Schraubenwerkstoffes ,
Geometrie des Schraubenkopfes, Gewindespiel, Gewindesteigung und Biegenachgiebigkeit
des verspannten Bauteils � .
Bild 6: Losdrehkritische Lastfälle für separierte Einschraubenverbindung [5]
Schließlich ist zu bedenken, dass meist erhebliche Bohrungstoleranzen bei den einzelnen
Schrauben ein begrenztes Gleiten und Rotieren des Bauteils bei Belastung und zu kleiner
Klemmkraft ermöglichen (Aspekt c). Dadurch können sich ein Gleitweg und ein Rotationswin-
kel einstellen. Dies wird im Kapitel 4.5 näher vertieft. Die Ausprägung ist bei kraftschlüssiger
Verbindung besonders deutlich; bei formschlüssiger Verbindung sind die möglichen Bauteil-
bewegungen erheblich kleiner, hängen jedoch stark von der elastischen Bauteilverformung
unter Last sowie von der Fertigungsgenauigkeit ab und sind deshalb auch nicht Null wie bei
einer Starrkörperbetrachtung.
4.4 Kenngrößen zur Bewertung des Kontaktzustandes
Eine Bewertung des Losdrehverhaltens kann numerisch anhand des lokalen Kontaktzustandes
in der Kopfauflage und im Gewinde der Schraubenverbindung erfolgen [5, 6]. Bild 7 stellt die
vektorielle Reibkraft FS_N und Normalkraft FN_N je Kontaktknoten in der Kopfauflagefläche, die
zur Berechnung der Kenngrößen zur Bewertung des Kontaktzustandes verwendet werden, für
zwei unterschiedliche Querverschiebungen dar. Zur gleichzeitigen Darstellung des Kontakt-
Fx oder Fz
A: transversal B: zentrisch axial C: exzentrisch axial D: rotatorisch
Fy
2
Mx oder Mz
MyFy
2
10 Ergebnisse
zustandes (entweder Haften oder Gleiten) sind den Vektoren unterschiedliche Farben zuge-
ordnet. Aus Reibkraft _ und Normalkraft _ , je Kontaktknoten, wird die Kraftschlussaus-
nutzung des Kontaktes je Knoten berechnet. Entsprechend der sich aus der Vorspannkraft
für jeden Kontaktknoten einstellenden Normalkraft _ ergeben sich an Hand der Rei-
bungszahl die maximal übertragbare Reibkraft _ je Kontaktknoten.
Bild 7: Beispiel für Bewertung des lokalen und globalen Kontaktzustandes; DIN 6921 M10x60; ; ; ; , ; , [5]
Die Richtung der Reibkraft _ verändert sich mit der Querverschiebung . Das Torsions-
moment im Schraubenschaft führt zu einer umfangsorientierten Ausrichtung, die Quer-
kraft zu einer Ausrichtung in Richtung der Querverschiebung. Für die kritische Querver-
schiebung 0,55 haften nur noch 19% der Kontaktfläche unter Kopf
und im Gewinde liegt vollständiges Gleiten vor 0%. Die Ausnutzung des Kontaktes
unter dem Kopf ist hoch 92%, auch in den noch haftenden Bereichen 19%. Die
zyklisch wechselnde Querverschiebungsamplitude 0,55 führt dazu, dass inner-
halb eines kompletten Zyklus in allen Teilbereichen der Kontaktfläche unter Kopf sequentiell
partielles Gleiten stattfindet. Dies ermöglicht dem gesamten Kontaktgebiet innerhalb eines
gesamten Zyklus Relativbewegungen auszuführen. Im Gewinde liegt bereits für eine
Querverschiebungsamplitude von 0,55 aufgrund des kleineren Durchmessers im
Ergebnisse 11
Vergleich zum Auflagedurchmesser ein vollständiges Gleiten vor [5]. Im Ergebnis bedeutet
dies, dass die Schraube bereits bei sequentiell-partiellem Gleiten einen Losdrehwinkel
aufbauen kann – deshalb ist ein Losdrehen schon vor Erreichen der bisher analytisch betrach-
teten maximalen Querverschiebung möglich.
4.5 Kombinierte Belastung bei Mehrschraubenverbindungen
In realen Schraubenverbindungen wirken in sehr vielen Fällen die meist einzeln behandelten
Belastungen aus Translation sowie Rotation gleichzeitig (siehe Kapitel 4.3). Das kombinierte
Auftreten der elementaren losdrehkritischen Lastfälle (A, B, C, D in Kapitel 4.3) führt zu einer
Superposition der Ausnutzungen an den Kontaktstellen der Schraube in der Kopfauflagefläche
und im Gewinde. Bild 8 zeigt das daraus resultierende Losdrehkennfeld für eine Beispielver-
schraubung. Dieses Kennfeld enthält sowohl numerisch berechnete Datenpunkte, als auch eine
experimentelle Verifizierung ( 0,4 und | | 1°).
Bild 8: Kennfeld für das Losdrehen bei kombinierter Belastung (Querverschiebung und Rotation); die schwar-zen Markierungen bezeichnen kein Losdrehen, die gelben und roten Markierungen bezeichnen ein Losdrehen; das Diagramm enthält Datenpunkte für Berechnungsergebnis und Versuchsergebnis, bein-haltet also eine Verifizierung der Berechnung, zu erkennen an einer einheitlichen Grenzlinie zwischen den Bereichen ohne/mit Losdrehen ( , und | | °;
, °/ ; DIN 6921 M10x60; ; ; ; , ; , ) [5]
-1.2
-1.0
-0.8
-0.6
-0.4
-0.2
0.0
0.0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5
Querverschiebungsamplitude sQmax [mm]
Dre
hw
inke
lam
plit
ud
e
Hm
ax [
°]
Nein - Simulation Ja - Simulation
Nein - Experiment Ja - Experiment
max
skrit smax
kein Losdrehen Losdrehen
12 Ergebnisse
Die Ergebnisse aus numerischer Berechnung und Experiment zeigen im Rahmen der Vielzahl
an nichtlinearen Einflussgrößen eine wirklich gute Übereinstimmung. Es wird deutlich, dass
selbsttätiges Losdrehen (beispielsweise 0,2 ; 0,7°) deutlich unterhalb
der Grenzen für die jeweiligen Einzelbewegungen auftritt. Im allgemeinen Fall ist mit den
eindimensionalen kinematischen Kenngrößen ( , , ) eine sichere Bewertung des
selbsttätigen Losdrehens nicht möglich. Die zuverlässige Bewertung, ob ein selbsttätiges Los-
drehen stattfindet, muss an Hand eines (berechneten oder gemessenen) Losdrehwinkelgradi-
enten im Vergleich mit einem kritischen Losdrehwinkelgradienten erfolgen.
4.6 Bewertung des selbsttätigen Losdrehens
Ziel der Auslegung gegen selbsttätiges Losdrehen einer Schraubenverbindung ist es, die wäh-
rend des Betriebs wiederholt auftretenden Belastungen unter Einbeziehung der Umgebungs-
bedingungen in der vorgesehenen Nutzungsdauer ohne Losdrehereignis bei Aufrechterhaltung
der Klemmkraft zu ertragen. Die losdrehkritischen Kenngrößen dienen der Quantifizierung
der Losdrehgefahr einer gegebenen Schraubenverbindung mit bekannter Betriebsbelastung
(Lastfall). Die Vorgehensweise zur Ermittlung der maximalen Querverschiebung und
maximalen Querkraft einer transversal belasteten Schraubenverbindung ist in [4, 5] be-
schrieben. Diese Kenngrößen erfassen, wann ein vollständiges Gleiten in der Kopfauflageflä-
che stattfindet, das zu einem selbsttätigen Losdrehen führt. Diese Parameter stellen für die
Bewertung der Losdrehgefahr einer Schraubenverbindung nur eine notwendige, aber keine
hinreichende Bedingung dar, da es bereits für partielles Gleiten in der Kopfauflagefläche zu
einem selbsttätigen Losdrehen kommen kann (siehe Kapitel 4.4). Dies kann jedoch zunächst
ohne Beachtung eines Rotationsfreiheitsgrads mit den Kenngrößen losdrehkritische Querver-
schiebung und dazugehörende Querkraft beschrieben werden. beschreibt die
transversale Auslenkung des Schraubenkopfes bezogen auf die Mittelachse des Muttergewin-
des, bei der ein Losdrehwinkel am Schraubenkopf einen festgelegten kritischen Losdreh-
winkelgradienten überschreitet. Dabei liegt in der Kopfauflagefläche nur partielles Glei-
ten vor.
Zur Bestimmung des maximalen Drehwinkels des verspannten Bauteils bei rotatorischer Belas-
tung wird die Drehwinkelamplitude des verspannten Bauteils je Versuchsdurchlauf
solange iterativ vergrößert, bis sich ein relativer Losdrehwinkel am Schraubenkopf einstellt
(kritischer Losdrehwinkelgradient 0,01/ ). Diese Winkelamplitude des
Ergebnisse 13
verspannten Bauteils entspricht nach erfolgter Verifizierung durch Wiederholversuche
dann dem maximalen Drehwinkel des verspannten Bauteils .
Führen kombinierte Belastungen zu einem selbsttätigen Losdrehen der Schraubenverbindung
ist die Verwendung der oben genannten Kenngrößen, die sich auf die reinen losdrehkritischen
Lastfälle transversal oder rotatorisch beschränken, nicht mehr möglich. Die Beschreibung des
sich einstellenden Losdrehwinkels pro Zyklus erfolgt mit Hilfe des Losdrehwinkelgradient
Δ /Δ . Dieser Kennwert gibt die Steigung des Losdrehwinkels über die Zyk-
lenanzahl an und führt im Experiment zu einem vollständigen selbsttätigen Losdrehen. Für die
Auslegung muss wegen der Messauflösung und des Torsionsspannungsabbaus ein zulässiger
kritischer Losdrehwinkelgradient definiert werden. Der Parameter kann als eine vorge-
gebene Mindestsicherheit der Simulationsergebnisse betrachtet werden und sollte je nach
Anwendungsfall definiert werden. Dies ist ebenfalls auch bei kombiniert belasteten Mehr-
schraubenverbindungen zu beachten (siehe Bild 8). In diesem Projekt wird ein kritischer Los-
drehwinkelgradient von 0,01°/ verwendet.
4.7 Auslegungsansatz gegen selbsttätiges Losdrehen
Für einen Ablaufplan zur numerisch unterstützten Auslegung gegenüber selbsttätigem Losdre-
hen ist in Bild 9 die Vorgehensweise zur losdrehkritischen Bewertung in Abhängigkeit vom
losdrehkritischen Lastfall gezeigt.
Die direkte Bewertung des Losdrehwinkelgradienten stellt die einfachste und zuverlässigste
Methode dar. Mit ihr kann jedoch nur bewertet werden, ob ein selbsttätiges Losdrehen auftritt
oder nicht. Es kann nicht direkt beurteilt werden, wie weit oberhalb oder unterhalb der Gren-
ze man sich befindet, für die selbsttätiges Losdrehen beginnt. Darum kann keine Aussage zur
Sicherheit gemacht werden. Die Bewertung kann für die nicht überlagerten losdrehkritischen
Lastfälle transversal und rotatorisch auch anhand der kinematischen Kenngrößen ( , )
vorgenommen werden. Liegen diese Kenngrößen nicht vor, muss die Bewertung mit Hilfe des
kritischen Losdrehwinkelgradienten durchgeführt werden.
14 Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und Ausblick
Bild 9: Losdrehkritische Bewertung in Abhängigkeit vom losdrehkritischen Lastfall [5]
5 Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und Ausblick
Der Mechanismus und die Chronologie des selbsttätigen Losdrehens wurden bei der Vibration-
sprüfung und bei unterschiedlichen losdrehkritischen Lastfällen analysiert (nichtlineares Über-
tragungsverhalten). Dabei ist zum einen quantifiziert worden, wie eine weggesteuert aufge-
brachte Querverschiebung zum (partiellen) Gleiten mit in der Folge Losdrehwinkeln ab einem
Amplitudenschwellwert führt, zum anderen, wie bereits vor dem vollständigen Abgleiten
ebenfalls Losdrehwinkel entstehen können ( , , ∗). Ein analytischer Berechnungs-
ansatz wurde entwickelt, um das Losdrehverhalten zu erfassen. Da für das Losdrehverhalten
neben vielen anderen konstruktiven und werkstofflichen Parametern (z.B. Klemmlänge auf-
grund der konstruktiven Gestaltung, der Vorspannkrafthöhe und der Werkstoff-Festigkeit der
Schraube) auch die Reibungszahlen in Losdrehrichtung wichtig sind, wurden diese bei eige-
nen Messungen und in einem Ringversuch detailliert ermittelt; dadurch lagen auch verlässli-
che Eingabedaten für die numerischen Berechnungen vor. Im Hinblick auf Realverschraubun-
gen mit Bauteilen spielt die Berücksichtigung von lokal transversal und rotatorisch überla-
gernden Verschiebungen oder Verdrehungen an den Kontaktstellen einer Einzelschraube eine
Losdrehkritische Bewertung
losdrehkritischer Lastfall bekannt
transversalzentrisch axial exzentrisch axialrotatorisch
losdrehkritischer Lastfall unbekannt oder kombinierter Lastfall
kombiniert
kein selbsttäti-ges Losdrehen bei ausreichend
hoher Vor-spannkraft FV
kinematische Kenngrößen vorhanden?
janein
Bewertung mit kritischem
Losdrehwinkel-gradient Gkrit
Sicherheit erforderlich?
Bewertung an-hand der drei
Fälle sowie des max. Verdreh-winkels max
ja nein
Aussage:Losdrehsicherheit S
Aussage:Selbsttätiges Losdrehen?
Erforderliche Sicherheit Serf indirekt z.B. durch höhere Belastung be-
rücksichtigenSerf
. sQ; Serf . FQ
Aussage:Losdrehsicherheit S
S > 1 kein selbsttätiges LosdrehenS < 1 selbsttätiges Losdrehen
G < Gkrit S Serf
G > Gkrit S < Serf
> G < Gkrit
G > Gkrit nein
Bewertung mitkinematischen Kenngrößen
(skrit, Fkrit)
skrit
max(sQ)odermit
Fkrit
max(FQ)= S
max
max(H)= S
ja
Praktischer Nutzen 15
wichtige Rolle. Der Einfluss der Verdrehung auf das selbsttätige Losdrehen konnte für die
kombinierte Belastung nachgewiesen und quantifiziert werden. Die Unvollständigkeit der An-
wendung von kinematischen Kenngrößen ( , und ) zur Bewertung des selbsttäti-
gen Losdrehens für kombinierte Belastung bei Realbauteilen, wie sie meist bei Mehrschrau-
benverbindungen vorliegt, wird deutlich; dies bedeutet, dass ein selbsttätiges Losdrehen bei
kombinierter Belastung auch unterhalb der kritischen kinematischen Kennwerte, die sich auf
eine rein transversale oder rotatorische Belastung beziehen, möglich ist. Eine Bewertung mit
Hilfe des kritischen Losdrehwinkelgradienten ist jedoch für alle losdrehkritischen Last-
fälle möglich (z.B. 0,01°/ ).
6 Praktischer Nutzen
Durch die detaillierte Betrachtung des Mechanismus und der Chronologie des selbsttätigen
Losdrehens sowie der Beschreibung von kritischen Bewertungsgrößen für die Verschiebung,
die Querkraft und den Drehwinkel bei unterschiedlichen Belastungen konnte dieser Versa-
gensfall von Schraubenverbindungen eingehend untersucht werden. Begleitet wurden diese
Untersuchungen sowohl experimentell, als auch numerisch und analytisch. Die abgeleiteten
Bewertungsgrößen erlauben bereits im Auslegungsprozess die Berücksichtigung der Risiken
für diesen Versagensfall. Dies ermöglicht eine Beurteilung, ob ein Einsatz von Sicherungsele-
menten oder anderer konstruktiver Maßnahmen notwendig ist. Dadurch ergibt sich eine Ver-
kürzung des Auslegungsprozesses, da zurzeit hauptsächlich experimentelle Untersuchungen
an Realbauteilen / Prototypen durchgeführt werden. Damit sind die Grundlagen verfügbar,
um eine Losdrehauslegung bei verschraubten Bauteilen vorzunehmen.
7 Hinweis auf Förderung
Das IGF-Vorhaben 16807 N der Forschungsvereinigung
Forschungsgesellschaft Stahlverformung e.V. wurde über die AiF
im Rahmen des Programms zur Förderung der industriellen
Gemeinschaftsforschung und – entwicklung (IGF) vom Bundes-
ministerium für Wirtschaft und Energie aufgrund eines Be-
schlusses des Deutschen Bundestages gefördert. Die Langfassung
des Schlussberichtes kann bei der Forschungsgesellschaft Stahl-
verformung e.V., Goldene Pforte 1, 58093 Hagen, angefordert
werden.
16 Literatur
Literatur
[1] Kloos, Thomala (2007): Schraubenverbindungen, Grundlagen, Berechnungen, Eigen-
schaften, Handhabung, 5. Auflage, Springer-Verlag Berlin Heidelberg
[2] DIN Deutsches Institut für Normung e. V. (Oktober 2005): DIN EN ISO 16047 Verbin-
dungselemente – Drehmoment/Vorspannkraft-Versuch, Beuth Verlag, Berlin
[3] Verband der Automobilindustrie e. V. (August 2005): VDA 235-203 VDA-Prüfblatt Ver-
schraubungsverhalten / Reibungszahlen Praxis- und montageorientierte Prüfung, Frank-
furt
[4] Koch (2011): Beitrag zur numerischen Simulation des selbsttätigen Losdrehverhaltens
von Schraubenverbindungen, Dissertation, Universität Siegen, Shaker Verlag
[5] Dinger (2013): Ermittlung des selbsttätigen Losdrehens bei Mehrschraubenverbindun-
gen, Dissertation, Aachen, Shaker
[6] Dinger G., Friedrich C. (2011): Avoiding self-loosening failure of bolted joints with nu-
merical assessment of local contact state, Engineering Failure Analysis, Vol. 18, 2188–
2200