Biologischer Lebensstandard vor- und frühgeschichtlicher
Bevölkerungen
Bisherige Überblicksstudienzur Vor- und Frühgeschichte
bisher nur sehr bescheidene Fallzahlen, z.T. uneinheitliche Schätzmethoden der KG
Steckel (im Erscheinen): Körpergrößenabnahme in Skandinavien vom Mittelalter bis zum 19. Jh.
ähnliche Abnahme für Niederlande:Maat, G. (2003). Male Stature. A Parameter of Health and Wealth in the Low Countries, 50- 1997 AD. In: Wealth, Health and Human Remains in Archaeology. Symposium Nederlands Museum Anthrop. Praehist. Amsterdam. 57-88
Weitere Literatur
Cohen, M./Armelagos G. (1984), Paleopathology at the Origins of Agriculture. Orlando]: Zivilisation beeinträchtigt die Gesundheit (und KG), aber nur bis zum späten 19. Jh.
Gilbert, R., und Mielke, J. (1985),The Analysis of Prehistoric Diets. Orlando/London.
Schröter, P. (2000), Anthropologie zur Römerzeit. In: L.Wamser, C. Flügel und B. Zieghaus (eds.), Die Römer zwischen Alpen und Nordmeer: Zivilisatorisches Erbe einer europäischen Militärmacht. Ausstellungskat. Mainz. 177-181.
Galloway, P., Long-Term Fluctuations in Climate and Population in the Preindustrial Era, in: Population and Development Review 12-1 (1986), 1-24.
„2 millennia-Paper“:Schwerpunkt der Studie
Varianz der Durchschnitts-KG als Proxy für die Ernährungsqualität
Neuheit der Studie Art der Datenquelle (Knochen) Untersuchungsperiode
Hauptfrage: Hatte die Romanisierung negative oder positiven Einfluß auf den BioL?
zentraler Schwerpunkt: unterschiedliche Entwicklung von bzw. Veränderungen in Durchschnitts-KG und Sterbealter der antiken/vor- und frühgeschichtlichen Bevölkerung: zwischen den Geschlechtern, sowie über die Zeit und zwischen Regionen
Datenquelle: Knochen
Schätzung der KG v.a. anhand von Daten zu Skeletten/ Knochenmaterial aus anthropologischen Untersuchun-gen zu Gräberfeldern, z.T. Rüstungen
verschiedene Methoden zur Bestimmung von Alter, Geschlecht und insbes. KG
Erhaltungszustand der Skelette keine notwendige Voraussetzung für die KG-Rekonstruktion
generelles Problem: in römischer Zeit vergleichsweise geringe Anzahl von Skeletten und (Einzel)Knochen, auf-grund der Brandbestattungssitte
Schätzmethode der KG-Verteilung
Basis: Langknochen (v.a. Oberschenkelknochen = Femur) haben relativ konstantes Verhältnis zur KG
auch zwischen Knochenköpfen (Leichenbrand) und Langknochen bzw. KG besteht konstantes Verhältnis, aber Meßfehler höher
individuelle Abweichungen werden durch Mittelwertbildung relativ unwichtig
mehrere Schätzgleichungen erfordern Standardisierung=> hier: Wahl von Regressionsmethode Breitinger/Bach bzw. Rösing
Bedeutung genetischer Faktoren für die mittlere KG
Zusammensetzung der provinzial-röm. Bevölkerung aus vielen verschiedenen ethnischen Gruppen
aber: Untersuchungen ergaben, daß genetische Faktoren nur geringfügig Einfluß haben für die Durchschnitts-KG einer Population
umweltbedingte Determinanten wesentlich bedeutender (e.g. Habicht et.al. 1974; Bogin 1988; Coll/Quiroga 2002)
KG-Potential der europäischen Bevölkerung ist relativ homogen (see e.g. Baten 1999b; Quiroga Valle 1998; Steckel and Prince 2002)
Bedeutung sozio-ökonomischer Faktoren für die mittlere KG
Einkommen beeinflußt KG hier: Zuordnung des Status anhand der Grabbeigaben Daten entsprechen Erwartungen bzgl. der Entwicklung
der Beigabeausstattung
=> ökonomische Zusammensetzung der Beobachtungen nicht Ursache für beobachtete KG-Variation
Durchschnittsbevölkerung erfaßt
„2 millennia-Paper“:momentaner Forschungsstand
9477 KG, z.T. aber aggregiert, daher 2974 Mittelwerte oder Einzeldaten
314 Orte in Europa Aufteilung in Mittelmeerraum, Zentral- und Westeuropa
(anfangs röm. Einfluss) und Nord-/Osteuropa (niedrige Bevölkerungsdichte, günstige Proteinversorgung, v.a. vor „Kleiner Eiszeit“)
Datenlage
Datenlage II
für römische Zeit ausreichend im frühen Mittelalter sogar recht günstig ab dem 12. Jh. kleinere Fallzahlen, weil Friedhöfe
wiederbenutzt Ergänzung durch Ritterrüstungen und Harnische keine großen Probleme durch Rundung und
abgeschnittene Verteilungen („truncated distributions“)
KG-Verteilung: Normalverteilung
Height (Males)
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100
50
0
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Birth Century
He
igh
t in
cm
KG-Entwicklung in Europa im 1.-18. Jh. n.Chr(Männer u. Frauen gemittelt)
Das Niveau wurde durch gewichtete Mittelwerte auf „Durchschnitts-Europäer“ gesetzt
No progress?
astonishing
increasing population,bad climate
medieval warm
Bestätigung der zeitliche KG-Entwicklung
Betrachtung disaggregierter Reihen: nach Regionen und Geschlecht
bei ähnlichem Verlauf der disaggregierten KG-Serien (bzw. Abweichungen die aus theoretischer Sicht Sinn machen) und erwartungsgemäßem Verlauf => Absicherung
z.B. fällt N/O-Europa in der „Kleinen Eiszeit“ zurück: dies stimmt mit Erwartung überein
Überprüfung von KG-Entwicklungen an Orten mit Siedlungskontinuität über mehr als ein Jahrhundert und genereller Entwicklung: korrespondierend?! (traf meist zu)
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Birth Century
Hei
gh
t in
cm
centre_west mediterr north_east
KG-Entwicklung nach Regionen (1.-18. Jh. n.Chr., Männer u. Frauen gemittelt)
North/East looses leadership
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Birth Century
Mal
e H
eig
ht
in c
m
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159
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Fem
ale
Hei
gh
t in
cm
Male Female
KG-Entwicklung nach Geschlecht(1.-18. Jh. n.Chr., Regionen gemittelt)
Dark Ages were darkfor women
Renais-sancegood
Regression zur Schätzung der zeitlichen Entwicklung der KG und deren Determinanten
Erklärende Variablen
Sozialstatus hoher/mittlerer Status: besser für KG (aber insignifikant) Meßfehler
nicht immer feststellbar welcher Schicht jeweiliges Individuum zuzuordnen
nicht sicher, ob Nekropolen komplett erfasst=> manchmal doch Selektion möglich
“age 51-59” mangelhaft ernährte, dementsprechend kleinere Individuen
sind höherem Risiko ausgesetzt früher zu sterben aber: insignifikant
Erklärende Variablen II
Migration genetisches Potential? (aber: Bogin 1988, 1995 u.v.a.) Lebensumstände in den erste Lebensjahren
ausschlaggebend für End-KG Aufwachsen von Migranten im Vgl. zu autochtoner
Bevölkerung unter anderen Lebensumständen (z.B. vom Mittelmeer- in den mitteleuropäischen Raum könnte KG geringer erscheinen lassen)
bei starker Migration Veränderung der Produktionsweise
hier: mediterrane Zuwanderer: von signifikant kleinerer KG
Erklärende Variablen III
Geschlecht um sämtliche Fälle nutzen zu können: weibl. und männl.
KG gepoolt; Differenz mit Dummyvariable kontrolliert Voraussetzung: säkulare KG-Trends beider
Geschlechter entwickeln sich ähnlich
Koeffizienten der Regionen-Dummies bestätigen Erwartungen (z.B. N-Europa mit geringer Bevölkerungsdicht und traditionell hoher Proteinproduktion per capita weist die höchsten KG auf)
Zeit-Dummies ermöglichen Beschreibung der KG-Entwicklung
Weitere mögliche Einflussfaktoren der KG-Entwicklung
(Raum-/Zeit-Einheiten) Klima Ungleichheit zwischen den Geschlechtern Land pro Kopf und Urbanisierung Technologie und öffentliches Gesundheitswesen soziale Ungleichheit
Klima
in vorindustrieller Zeit: Adaptation landwirtschaftlicher Produktionsmethoden kaum möglich
unmittelbarer Einfluß auf die landwirtschaftliche Produktion
Kalt/feucht => erschwerte Nahrungsmittelproduktion: Hunger des Viehs, schlechte Ernten v.a. nördlich der Alpen, Mutterkorn (s. Baten [2002])
Beeinflussung der Ernährungsqualität zu erwarten
Entwicklung von KG und Temperatur
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Birth Century
Mea
n H
eigh
t (in
cm)
13.5
14
14.5
15
15.5
16
Tem
pera
ture
(in
°C)
Mean Height (in cm) Mean temperature in absolute terms (in °C)
Roman Optimum
Pessimum of the
Migration Period
Little Ice Age
Medieval Warmth Period
Geschlechtsspezifische Ungleichheit
Argumentation von Osmani und Sen (2003): Diskriminierung von Frauen
=> niedriger Ernähungsstatus
=> negative Auswirkung auf die KG sowohl von
Töchtern, als auch von Söhnen
(see also Klasen [2002]) zu erwarten: höhere geschlechtsspezifische Ungleichheit
beeinflußt ceteris paribus Durchschnitts-KG negativ
Geschlechtsspezifische Ungleichheit:ein Vergleich
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2
4
6
8
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12
14
16
difference of female andmale heights (in cm)dimorphism in %
Land pro Kopf und Urbanisierung
Malthus: Land ist limitierender Faktor für menschliche Entwicklung
bei zu extremer Bevölkerungszunahme
=> Nahrungsmittelproduktion unzureichend
=> demographische Katastrophe zum ‚Ausgleich‘ nach bedeutenden Mortalitätskrisen (z.B. Pest)
=> reduzierte Bevölkerungsdichte
=> mehr Land/Kopf verfügbar
=> verbesserte Versorgungsmöglichkeit
Land pro Kopf und Urbanisierung II
durch verstärkte Urbanisierung negative Auswirkung möglich
Stadtbewohner abgeschnitten von Versorgung mit de facto unverhandelbaren Gütern wie z.B. Milch
leichtere Ansteckungsgefahr aber andererseits auch positive Auswirkung denkbar
bessere Infrastruktur bessere Organisation der Versorgung
Öffentliches Gesundheitswesen
Vorstellung einer eindrucksvollen hygienebezogenen Infrastruktur und allgemein verbesserter Technologie in römischer Zeit: korrekt?
in welchem Ausmaß brachen die Verhältnisse nach Niedergang des W-röm. Reichs (Wegfall des röm. Thermen-und Wasserversorgungs-Systems) zusammen (s. Grewe [1986]; Hermann [1985])?
waren Ausgaben des öffentlichen Gesundheitswesens evtl. endogen?
Soziale Ungleichheit
wichtige Determinante (s. andere Studien, z.B. Steckel [1995]): Zunahme senkt die Durchschnitts-KG
für das 1. Jtsd. keine bzw. unzuverlässige Einkommensschätzungen (Schätzungen von Maddison [2001] basierend auf Urbanisierungsraten und Bevölkerungswachstum
aber: KG-Daten ermöglichen ungefähre Schätzung von Ungleichheit (see Baten [2000], Pradhan/Sahn/Younger [2002])
0
1
2
3
4
5
6
Antiquity (1-4) Early MA (5-9) High MA (10-14) Modern (15-18)
Time Period (Century)
Hei
ght d
iffer
ence
(mal
es, c
m)
Entwicklung der KG-Ungleichheit
Anstieg vom frühen zum hohen Mittelalter, sowie im 15.- 18. Jh.
Gesamttrend hin zu größerer Ungleichheit entspricht Ergebnis anderer Untersuchun-gen (s. O’Rourke/ Williamson 2002; van Zanden 1995)
Determinanten der KG-Entwicklung
Schätzergebnisse I
verschiedene Modelle erbringen ähnliche Ergebnisse statistisch signifikant
Regionen-Dummies sowie Zeitdummy für die Antike „Roman bath/technology“-Dummy in Regression ohne
Zeitdummies;
Koeffizient ist negativ => ungünstige Auswirkung viele Meßfehlerquellen, daher statistische Signifikanz
nicht einzige Meßlatte ökonomische Signifikanz: bei KG-Unterschieden im
Bereich 1-3 cm gegeben, um 0.5 cm geringe Bedeutung
Schätzergebnisse II
Temperaturanstieg vom vorhergehenden zum folgenden Jh. hat ökonomisch signifikanten positiven Einfluß auf die Durchschnitts-KG
höhere Bevölkerungsdichte bedeutsam: Malthus Theorie (bis 1800) bestätigt
soziale Ungleichheit und geschlechtsspezifische Ungleichheit allenfalls geringen, negativen Einfluß
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Birth Century
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GDP
per
cap
ita
GDP per capita
KG- und BIP-Entwicklung
Quelle: Maddison (2001) u. Tab. 1
Zweifel an Maddison‘s (2001) intuitiver Schätzung, daß 0 – 1000 eher Abnahme und 1000-1800 deutliche Zunahme der Wohlfahrt in Europa
KG-Entwicklung bestätigt insbes. für 1000-1800 pessimistische Sicht von van Zanden (2004) und Federico/ Malanima (2002): Stagnation bzw. Abnahme von Reallöhnen und Konsum
Exkurs zur Römischen Kaiserzeit I:Mittleres Sterbealter verschiedener Altersgruppen
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birth date (half centuries)
mea
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e at
dea
th (
in y
ears
)
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mor
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average age of all individuals
averge age of individuals aged>=20apercentage of individuals aged<= 5aaverage age of all individuals
averge age of individuals aged>=20aSeniles
percentage of individuals aged<= 5aLinear (percentage ofindividuals aged <= 5a)Linear (percentage ofindividuals aged <= 5a)
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perc
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age
5
average age of allindividualsaverge age ofindividuals aged >=20apercentage ofindividuals aged <= 5aLinear (percentage ofindividuals aged <= 5a)
Exkurs II: Langzeit-VergleichMittlere KG in römischer Zeit und im 19.Jh. Durchschnitts-KG der provinzial-römischen Bevöl-kerung
im bayerischen Raum (bzw. im Römischen Reich) war bemerkenswert hoch: mittlere KG der Männer: ca. 168 cm (bzw. 169 cm) mittlere KG der Frauen: ca. 160 cm (bzw. 161 cm)
Vergleich mit Situation im Bayern des 19.Jh. (s. z.B. Baten/ Murray (2000)): mittlere KG der Männer: ca. 167 cm mittlere KG der Frauen: ca. 157 cm
während der römischen Zeit war die Bevölkerung der bayerischen Region im Durchschnitt ca. 2 cm größer als im 19.Jh.
Zusammenfassung
erste anthropometrische Schätzungen des BioL in Europa des 1. Jhts. n.Chr.
Gesamtentwicklung: stagnierende KG insbes. während der römischen Kaiserzeit
pessimistischere Sicht als allgemein; dennoch vergleichsweise hohe Durchschnitts-KG
andererseits als Erfolg wertbar: Anstieg der Bevölkerungs-zahl bzw. KG-Stagnation trotz extrem erhöhter Bevölkerungsdichte
erstaunlich: KG-Anstieg im 5./6.Jh. mögliche Erklärung: reduzierte Bevölkerungsdichte als Folge des Zusammenbruchs des W-röm. Reichs im 6.Jh. evtl. Auswirkung der Pest
Zusammenfassung II
zwischen 1000 und 1800 keine merkliche Verbesserung der Ernährungsbedingungen in Europa – trotz Schätzungen wachsenden BIP/Kopf
bemerkenswert: synchrone KG-Entwicklung in den 3 ‚Großregionen’ Europas (insbes. 5/6.Jh.!)
Ergebnisse der Regressionsanalyse Bevölkerungsdichte: ökonomisch signifikante
Determinante der KG Malthus’ Überlegungen / Theorie des abnehmenden
Grenzprodukts scheint für die Zeit vor 1800 korrekt
Zusammenfassung III
Urbanisierung mit positivem Einfluß, wenn für Bevölkerungsdichte kontrolliert
geringfügig signifikant: Klima (wärmere Temperaturen mit positivem
Einfluß auf den Ernährungsstatus), soziale sowie geschlechtsspezifische Ungleichheit
(beide Faktoren reduzieren die Durchschnitts-KG) insges. Fehlerwahrscheinlichkeit von KG-Daten geringer
als bei anderen Bestimmungsmethoden des Lebensstandards des 1. Jhts. n.Chr. (s. z.B. Maddison)
für eine Langzeitstudie der Wirtschaftsgeschichte liefern bes. anthropometrische Techniken wichtige Information