Henric J.J. Seeboth ist lizensierter Berater & Trainer und
Geschäftsführer von HRDT - Human Resource Development & Training.
Es sind unzählige Visions- und Leitbildprojekte in unterschiedlichsten
Branchen und Unternehmen, bei denen er Erfahrung gesammelt hat.
Von seinen Erfahrungen berichtet er im Interview mit business-
wissen.de-Redakteurin Petra Oberhofer.
Herr Seeboth, was ist der Zweck von Leitbildern für
Unternehmen?
Gut gehandhabt bietet das Leitbild Orientierung und Unterstützung bei
der Definition von konkreten Zielen und bei der Entwicklung effektiver
Strategien zur Zielerreichung. In strittigen Fragen unterstützt das
Leitbild, sich auf das Wesentliche zu besinnen, Friktionen und
Reibungsverluste zu reduzieren und „Nebenkriegsschauplätze“ zu
vermeiden. Es wird deutlich, was genau Sinn und Zweck des
Unternehmens sind, und wie es diese erfüllen möchte. Dadurch können
sich alle Beteiligten daran orientieren, ausrichten und Prioritäten
setzen.
Ein weiterer Punkt ist, dass die Unternehmenskultur im Innen- und
Außenverhältnis begreifbarer wird. Das Leitbild beantwortet Fragen,
wie: Welchen Normen und Werten fühlt sich das Unternehmen
verpflichtet? Worauf können sich die die Adressaten und Beteiligten
verlassen? Woran wollen wir uns messen lassen bzw. wird der
Unternehmenserfolg gemessen? Was unterscheidet uns vom
Wettbewerb?
Zusammengefasst hat das Leitbild demnach mehrere Funktionen, unter
anderem eine Motivationsfunktion, eine Identifikationsfunktion, eine
Orientierungsfunktion sowie eine Marketing- und PR-Funktion.
Eignen sich Unternehmensleitbilder auch für kleine und
mittelständische Unternehmen?
Ich habe beobachtet, dass kleine und mittelständische Unternehmen
sich noch nicht selbstverständlich mit dem Thema Leitbildentwicklung
befassen. Insbesondere Arztpraxen, Dienstleistungsunternehmen und
Handwerksbetriebe sind der Meinung, dass die Beschäftigung mit
einem Leitbild vom Wesentlichen ablenken könne, unverhältnismässig
viel Zeit koste und keinen konkret nachvollziehbaren Beitrag in der
Wertschöpfungskette leiste. Manch andere Mittelständler finden den
Gedanken hingegen sehr reizvoll, wissen aber nicht so recht, wie sie es
umsetzen könnten.
Dabei ist es auch für kleine Unternehmen, bis hin zum
einzelkämpfenden Freiberufler, lohnenswert, sich mit Leitbild und den
sich daraus ergebenden Strategieempfehlungen aktiv zu beschäftigen.
Sicherlich werden Sinn und Zweck eines Leitbildes mit jedem
Mitarbeiter, Interessenten, Kunden, Klienten oder Patienten
bedeutsamer.
Unternehmensleitbilder unterstützen auch Inhaber dabei, sich selbst,
ihren Führungskräften, Mitarbeitern, Partnern, Interessenten und
Kunden eine wertvolle Orientierung zu Sinn, Zweck, Dienstleistungen,
Produkten des Unternehmens zu geben.
Unternehmensleitbilder unterstützen somit kleinst- und
mittelständische Unternehmen sowie ihre Mitarbeiter dabei, sich im
Markt kenntlich zu machen, sich von Mitbewerbern abzuheben, sich für
Kunden überzeugend darzustellen und sich gezielt zu profilieren.
Beeinflussen Leitbilder den Unternehmenserfolg? Was meinen
Sie, wie stark sie darauf Einfluss nehmen?
Ich denke, dass aufgrund der stetig wachsenden Komplexität und
Veränderungsdynamik von Unternehmensstrukturen sowie der
drastischen Beschleunigung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und
technologischer Veränderungsprozesse, die Mitarbeiter und Kunden in
der Privatwirtschaft zunehmend verunsichert sind.
Sicherlich sind in den Köpfen einzelner Manager deutliche
Vorstellungen zu Unternehmenszielen und Wertmassstäben im
unternehmerischen Handel vorhanden. Die Praxis zeigt jedoch, dass sie
diese viel zu selten nachvollziehbar und verständlich kommunizieren.
Dies führt dazu, dass zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten immer
seltener Zielkonsens herrscht, es dem Mitarbeiter damit immer
schwerer fällt, sich mit seinem Arbeitgeber zu identifizieren.
Motivationsverluste und Produktivitätseinbussen sind die Folgen. Der
interne Zielkonsens und Einigkeit zu Verhaltensweisen einer
Organisation durch gemeinsame Leitbilder sind meiner Ansicht nach
unabdingbare Voraussetzung für eine unverwechselbare Profilierung
beziehungsweise den Markterfolg einer Organisation. Und dazu möchte
ich noch einen Hinweis geben: Leitbilder behalten vor diesem
Hintergrund auch künftig ihre wesentliche Bedeutung: Sowohl als Beleg
erreichter Übereinstimmungen als auch als Orientierungsraster für
zielführendes Verhalten.
Gibt es eine Möglichkeit, die Wirksamkeit von Leitbildern zu
messen? Wenn ja, wie?
Vielfach wird angenommen, dass man Leitsätze nur präzise genug
formulieren und durch nachprüfbare Indikatoren konkretisierten muss,
um deren Umsetzungserfolg messen zu können. Eine Konkretisierung
ist zwar zweifellos nützlich, weil sie sowohl den Mitarbeitern als auch
der Führungsmannschaft die extrem frustrierenden nachträglichen
Diskussionen um die Auslegung erspart. Je präziser man aber zu jedem
Leitsatz festlegt, was er genau bedeutet (und was nicht!) und woran
man erkennt, ob er erfüllt ist oder nicht, desto unwahrscheinlicher wird,
dass es zu grundlegend unterschiedlichen Deutungen kommt.
Dennoch sollten wir uns von der Vorstellung verabschieden, in einem
Anlauf eine Gesamtlösung schaffen zu können, die dann für immer
(oder wenigstens für ein paar Jahre) gilt. Wenn Leitbild und
Führungsgrundsätze nicht bloß Marketing sein sollen, sondern die
Kultur und das Verhalten wirklich und dauerhaft verändern sollen, ist
ein sequentielles Herangehen erforderlich. Zugleich ist damit die
Konzentration auf einige wenige, aber zentral definierten Ziele und
Maßnahmen wichtig. Natürlich sollten auch Termine für die
Überprüfung des Zielerreichungsgrades festgelegt werden.
Wenn die Führungsgrundsätze beispielsweise in die
Leistungsbeurteilung für Führungskräfte einfließen, signalisiert das
allen Beteiligten einen hohen Grad von Ernsthaftigkeit. Möglicherweise
stellt sich dann heraus, dass die Vorgesetzten manche Ziele in den
Bereichen Führung und Zusammenarbeit nicht oder nur teilweise
erreicht haben. Dann müssen weitere geeignete Controlling-Methoden
eingesetzt werden. So kommen in diesem Zusammenhang auch
Aufwärtsbeurteilungen oder ein 360-Grad-Feedback in Betracht. Wer
vor solchen Umsetzungsschritten zurückschreckt, weil sie zu viel
Aufwand sind oder zu viel Unruhe bringen, sollte die Finger besser ganz
von Leitbildern lassen. Zu groß ist die Gefahr, die Loyalität der
Mitarbeiter unnötig zu strapazieren und am Ende nur Enttäuschung zu
produzieren.
Wie schätzen Sie das Thema Unternehmensleitbild für die
Zukunft ein?
Ich habe festgestellt, dass die Unternehmen Leitbilder nach der großen
Wirtschaftskrise wieder zunehmend als essenzielles und aktuelles
Führungsinstrument wahrnehmen. Dafür gibt es nachvollziehbare
Gründe: In komplexen modernen Wirtschaftssystemen sorgen
Unternehmensleitbilder, wie bereits erwähnt, intern für Orientierung
und Identität. Extern vermitteln sie Transparenz und signalisieren die
Bereitschaft zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung.
Dazu kommt, dass Leitbilder wirtschaftskriminelle Handlungen
verhindern können. In einer KPMG-Umfrage zur Wirtschaftskriminalität
nannten 40 Prozent der befragten Unternehmen, dass
Unternehmensleitbilder als wichtige Maßnahme zur Verhinderung
wirtschaftskrimineller Handlungen und zur Förderung der
Unternehmensintegrität geeignet sind.
Besondere Relevanz erhält das Thema Leitbild auch durch die
Tatsache, dass deutsche Unternehmen, die auf dem amerikanischen
Aktienmarkt gelistet werden wollen, bei Rechtsverstößen (zum Beispiel
gegen den Federal Corrupt Practices Act) unter die sogenannten
„Sentencing Guidelines“ fallen. Sollte es hier zu Verstößen kommen,
drohen den Unternehmen enorme Geldstrafen. Können sie jedoch auf
das Vorhandensein eines aktiv gelebten Unternehmensleitbildes oder
Verhaltenskodex (Code of Conduct) in Verbindung mit spezifischen
organisatorischen Maßnahmen zu deren Durchsetzung nachweisen,
besteht die Möglichkeit, das Strafmaß erheblich zu reduzieren.
Meiner Einschätzung nach werden Leitbilder auch künftig kein
kurzlebiger Modetrend sein, sondern sie stellen in Zukunft einen
wesentlichen Bestandteil des unternehmerischen Erfolgs dar.
Dementsprechend wird der Bedarf an Orientierung und praktischen
Handlungsempfehlungen durch Leitbilder künftig bestehen bleiben.