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Finanzwissenschaft:
Entwicklung und Struktur der
Staatstätigkeit Vorlesung an der Universität Heidelberg
SS 2007
Prof. Dr. Lars P. FeldRuprecht-Karls-Universität Heidelberg,ZEW Mannheim, Universität St. Gallen
(SIAW-HSG), CREMA Basel und CESifoMünchen
FiWi I
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Das Wachstum der StaatsausgabenAufbau der Vorlesung
• Das Wagner‘sche Gesetz• Der Niveauverschiebungseffekt• Das Popitz‘sche Gesetz• Das Brecht‘sche Gesetz• Baumols ungleichgewichtiges Wachstum• Die empirische Evidenz• Polit-ökonomische Ansätze: Nachfrage
und Angebot• Zusammenfassung
FiWi I
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Das Wagner‘sche Gesetz I
• Adolph Wagner (1864): Gesetz der wachsenden Ausdehnung der öffentlichen und speziell der Staatstätigkeit
• absolute und relative Ausrichtung• Fragen:
– Wie wird dies gemessen?– Stimmt das Gesetz?– Was sind die Ursachen?
FiWi I
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Das Wagner‘sche Gesetz II
• Zur Messung der Staatsaktivität– Anteil der öffentlichen Ausgaben am BIP– alle Körperschaften zusammen– Ausgaben für Güter und Dienste– Nicht die Ausgaben für öffentliche Unternehmen:
Peacock and Scott (2000)• Gerade diese sind es, die Wagner meinte.
– Transfers müssen berücksichtigt werden.– Problem: Inputmessung, da oft keine Output-
messung möglich
FiWi I
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Das Wagner‘sche Gesetz III
• Zur empirischen Überprüfung– Was bedeutet ‚Gesetz‘?
• Entwicklungstendenz, die nicht zwangsläufig zwingend ist.
– Problem der Preisentwicklung• Dienstleistungen mit geringer Steigerung der
Arbeitsproduktivität• Sinkende Ausnutzung der Staatsaktivität zu laufenden
Kosten• aber: realer Anstieg.
– Expansion der Staatstätigkeit ist nicht stetig.
FiWi I
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Das Wagner‘sche Gesetz IV
• Zur empirischen Überprüfung– Bis zum Ersten Weltkrieg lässt sich eine relative
Konstanz der Staatsausgaben beobachten.– Kräftiger Anstieg in den Kriegen– Absinken der Staatstätigkeit nach dem Krieg– Aber kein Rückgang auf das ursprüngliche Niveau
(Niveaueffekt)– geringerer Anstieg in Friedenszeiten.– Problem neutraler Länder (Schweiz, Schweden).– Indirekte Kriegsbelastung?
FiWi I
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Das Wagner‘sche Gesetz V
• Zur empirischen Überprüfung– Verdeckter Staatsbedarf
• Leistungen für den Staat werden nicht oder nur ungenügend entlohnt
• ehrenamtliche Tätigkeiten (Gemeinderat)• Zwangsmassnahmen (Wehrpflicht)• Auflagen durch die Bürokratie (Statistiken, Verwaltungs-
reformen)• Entwicklung des verdeckten Bedarfs?
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Das Wagner‘sche Gesetz VI
• Zur empirischen Überprüfung– Entwicklung des militärischen und zivilen
Aufwandes• Während des Krieges: Expansion der Militärausgaben• Nach den Kriegen: Rückgang der Militärausgaben• aber Anstieg der zivilen Ausgaben: Kriegsfolgelasten• Insgesamt: kein Anstieg des Anteils der Militärausgaben
an den Staatsausgaben und am BIP• Zunahme der zivilen Ausgaben.
FiWi I
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Das Wagner‘sche Gesetz VII
• Gründe für einen langfristig steigenden Staatsanteil– Wagner unterscheidet zwei Kategorien von Staats-
tätigkeiten– Rechts- und Machtzweck:
• zunehmende Komplexität
– Kultur- und Wohlfahrtszweck: Bildung, Gesundheit, Sozialfürsorge
• steigende Nachfrage• Einkommenselastizität der Nachfrage nach öffentlichen
Gütern ist größer als 1.• Warum?
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Der Niveauverschiebungseffekt I
• Peacock und Wiseman (1961)– Ausgangspunkt: Anstieg der Staatsausgaben im
Krieg mit folgendem Niveauverschiebungseffekt– Annahme: Die Staatsausgaben werden von den zur
Verfügung stehenden Steuereinnahmen bestimmt.– Problem der Regierung: Steuerwiderstand– In normalen Zeiten sind daher keine Ausweitungen
der Staatstätigkeit in größerem Ausmaß möglich.– In Krisenzeiten lassen sich neue Steuern leichter
durchsetzen.– Man erkennt die Notwendigkeit des Staatshandelns.
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Der Niveauverschiebungseffekt II
• Peacock und Wiseman (1961)– geringerer Steuerwiderstand– Gewöhnungseffekt– zusätzliche Staatsausgaben: Kriegsfolgelasten– höheres Steuerniveau nach der Krise– dadurch kommt der Displacement-Effekt zustande.– Problem:
• Warum fragt die Regierung autonom Staatstätigkeit nach?• Warum gibt es einen Steuerwiderstand?• Wieso lässt sich ein wachsender Trend der Staatstätigkeit
auch in Friedenszeiten beobachten?
FiWi I
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Timm‘s Ansatz des Staatsausgabenwachstums I
• Timm (1961, Finanzarchiv) stellt einen Anstieg der Staatsausgaben in folgenden Kategorien fest– Leistungen für Industrialisierung und Urbanisierung:
Energie, Verkehr.– Regelungen von Privataktivitäten durch
Staatskontrolle: Verkehr, Monopole.– Beseitigung sozialer Folgen der Industriegesellschaft
(soziale Sicherheit).– Gesundheit, Erziehung und Bildung.
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Timm‘s Ansatz des Staatsausgabenwachstums II
• Bis zum Ersten Weltkrieg: Absoluter, aber kein relativer Anstieg.
• Nach dem Ersten Weltkrieg auch ein relativer Anstieg.
• Begründung für die Verzögerung aufgrund superiorer Bedürfnisse– Nachfrage nach öffentlichen Gütern hat eine
Einkommenselastizität > 1 (Wagner).– Natürlicher Lag aufgrund einer späten Artikulation der
Bedürfnisse, dann aber überproportionaler Anstieg.
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Timm‘s Ansatz des Staatsausgabenwachstums III
• superiore Bedürfnisse:– Systembedingter Lag aufgrund der Kaufkraftent-
wicklung und der Entwicklung des Verhältnisses von Gewinnen und Löhnen.
• Begründung aufgrund des Demokratisie-rungsprozesses:– Institutioneller Lag, da Bedürfnisse auch im demo-
kratischen Prozess durchgesetzt werden müssen.– Ideologischer Lag wegen der prinzipiellen
Bekämpfung der Ausnutzung der Staatsausgaben.FiWi I
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Timm‘s Ansatz des Staatsausgabenwachstums IV
• Nach Überwindung der Verzögerungen:– stark steigendes Staatsausgabenwachstum– Begünstigung durch progressive Steuern
• Fazit:– wenig Theorie, meist ex post Beschreibung– Verwandtschaft mit Wagners Gesetz– Wagners Gesetz bisher empirisch teilweise bestätigt.– Keine Voraussage für die weitere Entwicklung.– Verhaltenshypothesen zu wenig entwickelt.
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Das Popitz‘sche Gesetz I
• Langfristige Zentralisierungstendenz– „Gesetz der Anziehungskraft des übergeordneten
Haushalts.“ (Popitz, 1927)
• Ursachen:– Veränderung in der politischen Entwicklung des
Staates• Einfluss der Zentralisten und Föderalisten• Bsp.: Schweiz (Zweiter Weltkrieg, s. Blöchliger und Frey),
USA (New Deal, s. Oates und Wallis), BRD (1965 - 1980)
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Das Popitz‘sche Gesetz II
• Ursachen:– Militärausgaben und Kriegsfolgelasten
• Niveauverschiebung
– Strukturwandel in einer wachsenden Wirtschaft• zusätzliche Anforderungen an die Gemeinden• unzureichende Finanzausstattung• Eingriff der übergeordneten Gebietskörperschaften• zusätzliche Ausgaben für Soziales, Bildung und
Gesundheit• Bsp. Schweiz: Koalition der armen Kantone mit dem Bund
gegen die reichen Kantone zur Einführung der AHV (Sommer).
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Das Popitz‘sche Gesetz III
• Ursachen:– ähnliche Ursachen wie beim Wagner‘schen Gesetz.– Moderne Ausformung der Theorie bei Dani Rodrik
(1998, JPE)– Die Globalisierung führt zu steigenden
Staatsausgaben.– Empirische Evidenz: Je offener eine Volkswirtschaft
ist, um so höher sind die Staatsausgaben.– Die Staaten müssen die Verlierer für die
Auswirkungen der Globalisierung kompensieren.
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Das Brecht‘sche Gesetz I
• Einfluss der Agglomerationen:– „Progressive Parallelität von Ausgaben und
Bevölkerungsmassierung“ (Brecht, 1932).– Die öffentlichen Ausgaben sind ceteris paribus um
so höher (niedriger), je stärker die Bevölkerung räumlich zentralisiert (dezentralisiert) ist.
– Ceteris paribus: Einkommenseffekte werden konstant gehalten.
– Notabene: Widerspruch zu Samuelsons Nicht-Rivalität im Konsum.
FiWi I
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Das Brecht‘sche Gesetz II
• Gründe:– zusätzliche staatliche Dienstleistungen in
Agglomerationen• hauptberufliche Verwaltungstätigkeit: Entstehung von
Bürokratien.• Verkehr• Polizei- und Sicherheitsdienste: Abnahme der informellen
sozialen Kontrolle
– zusätzliche Bedürfnisse im Kultur-, Bildungs- und Gesundheitswesen.
– Steigende Bodenpreise in Agglomerationen.
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Das Brecht‘sche Gesetz III
• Gründe:– höherer Lebensstandard mit höherer Nachfrage nach
öffentlichen Gütern– soziale Zusatzlasten wegen externer Effekte privater
Aktivität (Umweltschutz)
• Problem:– Nicht-Rivalität im Konsum entspricht steigenden
Skalenerträgen in der Nutzung– Durchschnittskosten öffentlicher Ausgaben sind um
so niedriger, je mehr Personen sie nutzen. – Grad der Rivalität aus der Bevölkerungselastizität δ
FiWi I
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Theorie des ungleichgewichtigen Wachstums I
• Baumol (1967, AER): Unbalanced Growth• Baumol‘sche Kostenkrankheit• Staat stellt Dienstleistungen mit geringerer
Arbeitsproduktivität bereit.• Modell
– Annahmen: unterschiedliche Wachstumsraten in der Arbeitsproduktivität: Arbeit x
– γ1: Produktivität im privaten Sektor.– γ2: Produktivität im öffentlichen Sektor.– Konstantes Verhältnis beim Output y.
FiWi I
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Theorie des ungleichgewichtigen Wachstums II
1111)()( cetxty t ⋅⋅= γ
2222)()( cetxty t ⋅⋅= γ
)()()( 21 tytyty +=
)()()( 21 txtxtx +=
• Annahme
cconsttyty
==>)()(,
2
121 γγ
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Theorie des ungleichgewichtigen Wachstums III
• Modell– Daraus folgt
tt etxcetx 21 )()( 21γγ ⋅=⋅
tectxtx )(
2
1 12
)()( γγ −⋅=
0)()(
2
1lim =∞→ tx
txt
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Theorie des ungleichgewichtigen Wachstums IV
• Modell– langfristig wandern immer mehr Ressourcen in den
Bereich mit der niedrigeren Wachstumsrate– Bei Outputmessung: konstante Entwicklung.– Bei Inputmessung: steigender Staatssektor.– Wenn x1+x2=const.=x, dann geht x1 gegen 0 und x2
gegen x.– Staatliche Dienstleistungen sind arbeits- und
(lohn)kostenintensiv.
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Theorie des ungleichgewichtigen Wachstums V
• Modell– Rationalisierung ist nur in einem beschränkten
Ausmaß möglich.– Im privaten Sektor werden Lohnsteigerungen durch
Produktivitätssteigerungen kompensiert.– Wenn die Löhne im öffentlichen Sektor gleich stark
steigen wie diejenigen im privaten Sektor, dann führt dies zu einer steigenden Staatsquote.
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Theorie des ungleichgewichtigen Wachstums VI
• Kritik am Modell– Produktivitätswachstum im Dienstleistungssektor
durch Informationstechnologien bei weiterem Staatswachstum.
– Landesverteidigung und Verkehr sind kapitalintensiv.– Keine Anwendung auf Transfers möglich.– Die Baumol‘sche Kostenkrankheit führt zu einer
Steigerung der Staatsausgaben, wenn die Steuerpreiselastizität der Nachfrage γ < 1.
FiWi I
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Zwischenbemerkung I
• Die ‚Gesetze‘ sind im allgemeinen wenig aussagekräftig:– Anhaltspunkte, welche Größen zu berücksichtigen
sind.– Keine wirkliche Theorie zur Erklärung von Niveau
und Entwicklung der Staatsausgaben
• Wachstum und Konzentration der öffentlichen Ausgaben gehen mit einer veränderten Struktur einher.
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Zwischenbemerkung II
• Anteil der staatlichen Transfers an den öffentlichen Ausgaben steigt.
• Anteil der öffentlichen Investitionen sinkt.• Anteil des Staatskonsums steigt.• Verwaltungsausgaben bleiben relativ
konstant.• Militärausgaben bleiben relativ konstant,
sind vorübergehend gesunken.• Bildungsausgaben steigen.
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Zwischenbemerkung III
• Weshalb hat man insbesondere einen Anstieg der Transfers?
• Bedürfnis nach Umverteilung bei höheren Einkommen?
• Sinkender Grenznutzen des Einkommens?
• Ohne polit-ökonomische Ansätze sind diese Fragen nicht zu beantworten.
FiWi I
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Die empirische Evidenz I
• Staatsausgabenmodell:– lnX = α + β ln Y + γ ln tp + δ ln N + u.
– mit: • X = staatliche Leistungen• Y = Einkommen• tp = Steuerpreis• N = Bevölkerungszahl• α, β, γ, δ = Parameter.• u =Störterm.• Parameter können aufgrund der logarithmischen
Spezifikation als Elastizitäten interpretiert werden.
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Die empirische Evidenz II • Staatsausgabenmodell:
– lnX = α + β ln Y + γ ln tp + δ ln N + u.– Wagner: β > 1.– Baumol: γ < 1.– Nicht-Rivalität: δ = 0.– Empirische Evidenz:
• β schwankt um 1.• γ < 1: etwa 31% des relativen Wachstums der
amerikanischen Staatsausgaben lassen sich damit erklären.
• δ = 1 und positives Vorzeichen.• Insgesamt lässt sich weniger als die Hälfte der
Varianz der Staatsausgaben damit erklären.FiWi I
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Polit-ökonomische Ansätze: Die Nachfrageseite I
• Medianwählermodell:– Die Bürger fragen eine bestimmte Höhe der
Staatsausgaben nach.– Ein Beispiel
• Drei Stimmbürger A, B und C stimmen über die Häufigkeit der Müllabfuhr in einer Gemeinde ab.
• Es gibt drei Varianten: • Häufig: H = 2 mal wöchentlich• Mittel: M = 1 mal wöchentlich• Wenig: W = 1 mal alle 14 Tage.
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Polit-ökonomische Ansätze: Die Nachfrageseite II
FiWi I
• Medianwählermodell:– Ein Beispiel
• Die Stimmbürger A, B und C haben unterschiedliche Präferenzen, die sich in unterschiedlichen Rangfolgen ausdrücken.
• A ist reinlich und präferiert H > M > W.• B ist mittelmässig interessiert und will M > W > H.• C möchte möglichst wenig Müllabfuhr: W > H > M.• Stimmt man über diese Alternativen paarweise mit einfacher
Mehrheit ab, so ergibt sich ein Abstimmungszyklus (cycling).• (1) H gegen M 2:1; H > M.• (2) M gegen W 2:1; M > W.• (3) W gegen H 2:1; W > H• damit: H > M > W > H.
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Polit-ökonomische Ansätze: Die Nachfrageseite III
FiWi I
Wähler A B C C*
Rangfolge
I H M W W
II M W H M
III W H M H
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Polit-ökonomische Ansätze: Die Nachfrageseite IV
Abbildung 2: Zyklische Mehrheiten bei mehrgipfligenPräferenzen
FiWi I
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Polit-ökonomische Ansätze: Die Nachfrageseite V
FiWi I
• Graphische Darstellung des Medianwählermodells
Abbildung 3: Das Medianwählermodell bei eindimension-alen Entscheidungen
W C* B A H
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Polit-ökonomische Ansätze: Die Nachfrageseite VI
FiWi I
• Das Medianwählermodell gilt unter folgenden Annahmen– Stimmbürger sind gleichzeitig Konsumenten
der öffentlichen Güter und Steuerzahler.– Alle Wahlberechtigten stimmen ab.– Der Kostenaufteilungsschlüssel zur
Finanzierung der öffentlichen Güter ist unabhängig vom konkreten Projekt festgelegt.
– Budgetdeckung ist vorgeschrieben.– Es wird über jede Vorlage separat abgestimmt.
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Polit-ökonomische Ansätze: Die Nachfrageseite VII
FiWi I
• Das Medianwählermodell gilt unter folgenden Annahmen– Die Präferenzordnungen sind eingipflig. Diese
Annahme bedeutet eine Einschränkung in den überhaupt zugelassenen Präferenzen.
– Angenommen wird ein Projekt nach der einfachen Mehrheitsregel.
– Koalitionen unter den Wählern werden aufgrund von Verhandlungskosten als unmöglich erachtet.
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Polit-ökonomische Ansätze: Die Nachfrageseite VIII
• Besonderheiten– Das Medianwählergleichgewicht ist im
allgemeinen kein Pareto-Optimum. – Stabile Mehrheiten ergeben sich auch unter
anderen Mehrheitsregeln (qualifiziertes Mehr). – Die Ergebnisse des Medianwählermodells
ergeben sich nur in der direkten Demokratie.
FiWi I
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Polit-ökonomische Ansätze: Die Nachfrageseite IX
• Bei Mehrgipfligkeit der Präferenzen gilt das Medianwählermodell nicht.– Mit zyklischen Mehrheiten ist um so eher zu
rechnen, je vielgestaltiger die Präferenz-ordnungen der Individuen sind.
– Zyklen können nur dann ausgeschlossen werden, wenn die Präferenzordnungen völlig homogen sind.
– Schleicht sich ein Verteilungselement in den kollektiven Entscheidungsprozess ein, so sind Zyklen wahrscheinlich.
FiWi I
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Polit-ökonomische Ansätze Die Nachfrageseite X
FiWi I
• Meltzer und Richard– Berücksichtigung von Einkommensumverteilung im
Medianwähleransatz. • Nachfrage nach Einkommensumverteilung, wenn das
Median- unter dem Durchschnittseinkommen liegt.
– Abbildung 4• Der Medianstimmbürger betreibt eine ausgewogene
Verteilungspolitik, d.h. er wählt den Steuersatz tm (und damit rm) anstelle des wesentlich höheren Steuersatzes t0, den jene präferieren, die kein Einkommen erzielen.
• Die Indifferenzkurve des Medianwählers Im hat eine positive Steigung, weil eine höhere Transferzahlung den Nutzen des Medianwählers steigert, während eine höhere Steuerzahlung ihn schmälert.
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Polit-ökonomische Ansätze Die Nachfrageseite XI
Transfer r
r= t y
I0
IM
rm
r0
Steuersatz ttm t0
Abbildung 4: Das Modell von Meltzer und Richard
FiWi I
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Polit-ökonomische Ansätze Die Nachfrageseite XII
FiWi I
• Meltzer und Richard– Die höchstmögliche Indifferenzkurve derjeni-
gen ohne Arbeitseinkommen I0 ist unabhängig von Steuersatzänderungen.
– Liegt das Durchschnittseinkommen über dem Medianeinkommen, so hat der Medianwähler einen Anreiz, mehr Einkommensumverteilung zu betreiben.
– Dynamisch: Staatsausgabenwachstum• zunehmende Transferausgaben.
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Polit-ökonomische Ansätze Die Nachfrageseite XIII
FiWi I
• Meltzer und Richard– zunehmende Transferausgaben werden erklärt
durch• Ausweitung des Stimmrechts in der Vergangenheit• Bevölkerungsschichten, die in der Vergangenheit
ein zusätzliches Stimmrecht erhielten, waren jene mit Arbeitseinkommen unterhalb des Medianein-kommens.
• Festlegung eines höheren Steuersatzes.
– Probleme des Ansatzes• progressive Einkommensteuer: Mehrdimensio-
nalität.
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Polit-ökonomische Ansätze Die Nachfrageseite XIV
FiWi I
• Meltzer und Richard: Probleme des Ansatzes– Warum sollte der Medianwähler einer Stimm-
rechtsänderung zustimmen?• Veränderung seiner Position im politischen Gefüge.• Medianwähler nach Ausweitung des Stimmrechts ist
ärmer.• Der aktuelle Medianwähler muss zahlen.
– Keine Erklärung• Anstieg der Beschäftigung im öffentlichen Sektor.• Anstieg der Anzahl an Steuerschlupflöchern.• Anstieg der Regulierung.• Unübersichtliches vs. monolithisches Verteilungssystem
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Polit-ökonomische Ansätze Die Nachfrageseite XV
FiWi I
• Nachfrage nach Umverteilung durch spezifische Interessengruppen– konzentrierter Nutzen bei diffusen Kosten– aber: aggregierter Kostenanstieg.– Viele staatliche Programme kommen nur
bestimmten Gruppen zugute.– Gruppen bilden sich, wenn sie homogene
Präferenzen haben und relativ klein sind.– Zwei grundlegende Ansätze zur Erklärung des
Interessengruppeneinflusses.
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Polit-ökonomische Ansätze Die Nachfrageseite XVI
• Nachfrage nach Umverteilung durch spezifische Interessengruppen– Becker (1985): vollständiger Wettbewerb zwischen
Interessengruppen.– Gruppen mit höherer Lobby-Effizienz sind in der
Lage, die an sie fliessenden Transfers zu erhöhen bzw. ihre Steuerlast zu vermindern.
– Politisch erfolgreiche Interessengruppen sind klein.– Das Ausmaß der gleichgewichtigen
Transferzahlung geht zurück, wenn allokative Verzerrungen zunehmen.
FiWi I
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Polit-ökonomische Ansätze Die Nachfrageseite XVII
• Nachfrage nach Umverteilung durch spezifische Interessengruppen– Wettbewerb der Interessengruppen bringt eine
effiziente Besteuerungsmethode hervor.– Es werden Politikmaßnahmen getroffen, die
effizienzsteigernd sind.– Dem Ansatz von Becker steht die Rent-Seeking-
Theorie gegenüber.– Demnach besteht ein unvollständiger Wettbewerb
zwischen Interessengruppen bei asymmetrischer Information.
– Rent dissipation.FiWi I
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Polit-ökonomische Ansätze Die Nachfrageseite XVIII
• Nachfrage nach Umverteilung durch spezifische Interessengruppen– Olson (1982): stabile institutionelle
Rahmenbedingungen schaffen das nötige Vertrauen unter den Mitgliedern einer Interessengruppe, um das Freifahrerproblem zu lösen und Gruppen zu bilden.
– Die Zahl und Macht der Interessengruppen steigen daher über die Zeit.
– Wenn diese Zahl der Gruppen positiv mit der Anzahl an Stimmentauschgeschäften korreliert ist, steigen die Staatsausgaben.
– Das Anwachsen der Umverteilung verschlechtert die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. FiWi I
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Polit-ökonomische Ansätze Die Nachfrageseite XIX
• Fiskalillusion– asymmetrische Information: Die Bürger
unterschätzen die Belastung durch (indirekte) Steuern.
– Komplexität des Steuersystems.– Steuerprogression aufgrund von Inflation: ‚kalte‘
Progression– Defizitfinanzierung bei Kurzsichtigkeit.
• Nachfrage nach sozialer Absicherung im Zuge der Globalisierung (Rodrik 1998).
FiWi I
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• Baumol‘sche Kostenkrankheit • Bevölkerung:
– Nicht-Rivalität und Agglomerationskosten– Samuelson vs. Brecht.
• Der Einfluss der Bürokratie– Niskanen (1971): Präferenz der Bürokraten für ein großes
Budget.– PPP: Prestige, Power and Pay.– Bürokraten als Budgetmaximierer.– Asymmetrische Information über die Grenzkosten öffentli-
cher Projekte zuungunsten der Politiker als Prinzipale der Bürokraten. FiWi I
Polit-ökonomische Ansätze Die Angebotsseite I
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Polit-ökonomische Ansätze Die Angebotsseite II
• Der Einfluss der Bürokratie– Programmangebot an die Politiker als Alles-oder-
Nichts-Entscheidung– Die öffentliche Verwaltung legt ein höheres
Outputniveau fest als optimal wäre.– Williamson (1965, 2001), Migué und Bélanger– Management Slack/ X-Ineffizienz– Bürokraten als Manager der öffentlichen Verwaltung
leisten sich große Dienstwägen, Reisen, Personal usw.– Höhere Verwaltungsausgaben.– Anstieg der Beschäftigung im öffentlichen Dienst.
FiWi I
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Polit-ökonomische Ansätze Die Angebotsseite III
• Politiker als Stimmenmaximierer– Stimmentausch: Pork-Barrel Politics.– Politische Konjunkturzyklen– Politiker tätigen vor den Wahlen zusätzliche
Staatsausgaben, um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren und ihre Wiederwahl zu sichern.
– Nach der Wahl bekämpfen sie eine dadurch induzierte Inflation.
– Zwischen den Wahlzeitpunkten verfolgen sie ihre ideologischen Ziele.
– Annahme, dass linke Regierungen höhere Ausgaben tätigen.
FiWi I
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Polit-ökonomische Ansätze: Gleichgewichte?
• Empirische Evidenz– Zu den traditionellen Variablen siehe das
Medianwählermodell– Nachfrage nach Umverteilung (Meltzer/Richard)
• Feld und Kirchgässner (1999, 2001), Borge und Rattsø(2001): Steigt das Verhältnis von Durchschnitts- zu Medianeinkommen, so steigen die Gemeindeausgaben.
– Interessengruppen• Feld und Kirchgässner (1999, 2001), Rattsø (1999):
Anteil der alten und jungen an der Bevölkerung als Interessengruppeneinfluss.
• Mueller (2003): Je höher die Anzahl an Interessengruppen, desto höher sind die Staatsausgaben.
FiWi I
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Polit-ökonomische Ansätze: Gleichgewichte?
• Empirische Evidenz– Politiker als Stimmenmaximierer
• Ideologie spielt eine Rolle.• Politische Konjunkturzyklen im Bereich der Ausgaben sind
empirisch gut belegt.• Einfluss von Logrolling auf die Staatsausgaben ist kaum
untersucht.• Rolle von Koalitionsregierungen.• Frage der Fragmentierung der Regierung.
– Zentralisierung• gemischte Evidenz, inwiefern föderalistische Staaten geringere
Staatsausgaben haben (Survey von Kirchgässner 2001, Evidenz für die Schweiz von Schaltegger 2001, Kirchgässner 2002, Feld, Kirchgässner und Schaltegger 2003).
FiWi I
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Zusammenfassung I
FiWi I
• Staatsausgabentheorie ist von einer Reihe partialanalytischer Ansätze gekennzeichnet.
• Dies gilt sowohl für die traditionellen Ansätze der Staatstätigkeit als auch für die politisch-ökonomischen Ansätze.
• Ein umfassender empirischer Ansatz fehlt ebenfalls, obwohl leicht um spezifische Einflussfaktoren erweiterbare grundlegende Ansätze existieren.
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Zusammenfassung II
FiWi I
• Solche Ansätze– Medianwähleransatz– Marktansatz.
• Zentrale Variable in allen Ansätzen– Einkommen– Bevölkerung– Demographische Faktoren– Kontrollvariablen für die Beziehungen zwischen
gebietskörperschaftlichen Ebenen.
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Zusammenfassung III
FiWi I
• Diese zentralen Variablen haben häufig einen signifikanten Einfluss.
• Evidenz für Interessengruppeneinfluss und die Rolle der Bürokratie ist nicht überwältigend.
• Untersuchung des Einflusses von Stimmentausch auf die Staatsausgaben ist ungenügend.
• Ideologievariablen haben nicht immer den erwarteten Einfluss.