In der personalen Begegnung mit psychisch kranken
Menschen die Person stärken (Praxisbericht)
Abschlussarbeit für die Ausbildung in Logotherapie und
existenzanalytischer Beratung und Begleitung
von Bärbel Schenk
Mai 2008
Eingereicht bei:
1. Leser Dr. Christoph Kolbe
2. Leser Helmut Dorra
Angenommen
am…………………….
von……………………
Kurzfassung 2
Kurzfassung
Durch Logotherapie die Person trotz Handicap stärken.
Die Logotherapie basierend auf den Erkenntnissen der Existenzanalyse ist ein ideales
Instrument für die Beratung und Begleitung psychisch kranker Menschen.
Durch das Personenverständnis, das die organischen Eigenschaften von Gesund-
bzw. Kranksein ausschließt, wird der Mensch mit psychischen Handicaps nicht nur als
Krankheitsbild-Träger wahrgenommen.
Das Gesunde im ganzheitlichen Menschen wird gefordert und gefördert. Hierdurch wird
dem Klienten der Handlungsspielraum bewusst gemacht, in dem er eigenverantwortlich
und frei Entscheidungen treffen kann.
Seine Person kommt trotz Defizit zum Vollzug und er kann sein Leben sinnvoll gestal-
ten.
Abstract
To strengthen the person in spite of handicap with logo therapy.
The logo therapy based on the realizations of the existential analysis is for humans with
psychological handicaps an ideal instrument for the consultation and company hu-
mans.
By the special definition of the person, which excludes the organic characteristics from
healthy or rather illness, humans with psychological handicaps are not only noticed as
the carrier of the disease image.
The healthy in holistic humans is demanded and promoted. Thereby the scope of ac-
tion is made conscious for the client, in which it can make solely responsible and freely
decisions.
The person of the human comes despite deficit to the execution and he can arrange
live meaningful.
Abstract 3
Inhaltsverzeichnis
Kurzfassung .................................................................................................................. 2
Abstract ......................................................................................................................... 2
Inhaltsverzeichnis ......................................................................................................... 3
1 Einleitung ......................................................................................................... 4
2 Praxisbericht ................................................................................................... 5
2.1 Der Arbeitsplatz ................................................................................................. 5
2.2 Grundlagen logotherapeutischer und existenzanalytischer Beratung ............... 7
2.2.1 1. Grundmotivation ............................................................................................ 8
2.2.2 2. Grundmotivation ............................................................................................ 9
2.2.3 3. Grundmotivation .......................................................................................... 10
2.2.4 4. Grundmotivation .......................................................................................... 11
2.3 Prämissen für die Beratung psychisch kranker Menschen ............................. 12
2.4 Die Person ...................................................................................................... 14
2.4.1 Philosophischer Exkurs zum Begriff der Person ............................................. 14
2.5 Die personale Begegnung als Mittel und Weg, die Person zu bergen und zu stärken ........................................................................................................ 18
2.6 Die Praxis ........................................................................................................ 21
2.6.1 Josef ................................................................................................................ 21
2.6.2 Walter .............................................................................................................. 27
3 Zusammenfassung ....................................................................................... 31
Literaturverzeichnis .................................................................................................... 33
1 Einleitung 4
1 Einleitung
Ein Vortrag von Dr. Christoph Kolbe zum Thema „Was ist es, das den Men-
schen glücklich macht?“ hat mich an- gezogen und hin- gezogen zur Ausbildung
als logotherapeutisch-existenzanalytische Beraterin. Existentielle Gedanken und
Gefühle, die ich bis dahin bei mir wahrnehmen konnte aber eher diffus formu-
lierte, wurden durch die Betrachtungsweise und Wortwahl der Existenzanalyse
greifbar. Logotherapie als praktische Umsetzung der aus der Existenzanalyse
gewonnenen Erkenntnisse ist lebensnah nachvollziehbar.
Praktisch und lebensnah kann ich mittlerweile meine beraterische Kompetenz
innerhalb der Sozialpsychiatrischen Initiative (SPI) einsetzen und die Wirksam-
keit dieser phänomenologisch personalen Psychotherapie in dieser Abschluss-
arbeit dokumentieren.
Die SPI arbeitet mit unterschiedlichen Therapien und Maßnahmen um psy-
chisch kranke Menschen zu rehabilitieren. Durch diese Vernetzung und Ergän-
zung kann sie somit den Klienten ein Optimum an Unterstützung zur Verfügung
stellen. Eine Rehabilitationsmaßnahme ist die logotherapeutisch-
existenzanalytische Beratung und Begleitung.
Die vier Grundmotivationen (GM) der personalen Existenzanalyse sind die An-
haltspunkte für die lebensbehindernden Defizite. Durch eine vertrauensbildende
Grundhaltung des Beraters wird eine Atmosphäre geschaffen, in der sich die
Person in ihrem So-sein zeigen kann. Der Focus meiner Beratertätigkeit richtet
sich also auf die Person. Die Entwicklung des Personenbegriffs skizziere ich in
einem Exkurs von der Existenzphilosophie bis zur Personalen Existenzanalyse.
Abschließend zeige ich auf wie anhand der personalen Begegnung die Stär-
kung der Person umgesetzt wird. Zwei Fallbeispiele dokumentieren prägnant
die Auswirkungen.
Zur besseren Lesbarkeit des Textes verzichte ich auf die Unterscheidung der
maskulinen bzw. femininen Berufsbezeichnungen.
Zum Schutz der hier beschriebenen Personen fehlt der vollständige Name der
Arbeitsstätte und die Namen der Personen sind verändert worden. Dem Institut
der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse Deutschland ist beides
bekannt (www.gle-d.de).
2 Praxisbericht 5
2 Praxisbericht
2.1 Der Arbeitsplatz
Meine Arbeitsstätte ist ein Café für psychisch kranke Menschen. Dieser gastro-
nomische Betrieb ist ein Projekt der Sozialpsychiatrischen Initiative e.V., die seit
1981 engagiert ist in der Beratung, Behandlung und Rehabilitation seelisch
kranker und behinderter Menschen mit dem Ziel der Integration in Arbeit, Woh-
nen und Freizeit. Die SPI hat ein soziales Netzwerk aufgebaut, in dem diese
Menschen befähigt werden, gesunde Lebenskonzepte zu entwerfen und Le-
benssinn zu entwickeln.
Ein Baustein dieses Netzwerks ist das Café-Projekt. Die Zielsetzung ist hierbei
ein zusätzliches Freizeitangebot als Kommunikationszentrum für behinderte und
nicht behinderte Menschen.
Wenn sich psychisch Kranke aufgrund ihrer Behinderung in anderen Lokalitäten
ausgegrenzt fühlen, wenn sie sich langweilen oder sich einsam fühlen, finden
sie hier einen Ort, an dem sie in ihrer Eigenart angenommen werden und ani-
miert werden zu Gesprächen oder Freizeitaktivitäten wie Gesellschaftsspiele,
Karaoke- und Konzertveranstaltungen.
Eine weitere Intention ist die Schaffung von ehrenamtlichen Arbeitsplätzen für
Menschen, die aufgrund von Psychosen, Neurosen und Persönlichkeitsstörun-
gen in Behandlung stehen oder gestanden haben. Wenn die Klienten aufgrund
ihrer Erkrankung so eingeschränkt sind, dass sie nicht sofort oder nicht wieder
in die Arbeitswelt eingegliedert werden können, haben sie an dieser Stelle ein
Übungsfeld für den normalen Berufsalltag oder ein Erfahrungsfeld für sinnvolle
Beschäftigung.
So wird einerseits ein Kommunikationsdefizit ausgeglichen, andererseits dient
das Café als ein Element der regionalen gemeindepsychiatrischen Versorgung
und als wichtiger Bestandteil der Tagesstrukturierung von psychisch erkrankten
Menschen. Alle Zielsetzungen tragen letztendlich zur gesundheitlichen Stabili-
sierung bei und wirken krankheitsbedingten Rückfällen entgegen.
Zusammen mit einem Sozialarbeiter leite ich das Team, das für die Bewirtschaf-
tung zuständig ist. Die Krankheitsbilder der Teammitglieder sind: Persönlich-
keitsstörung, hebephrene Psychose, schizophrene Psychose, Zwangsneurose,
2 Praxisbericht 6
Borderline, Magersucht und Depression. Alle Teammitglieder sind medikamen-
tös eingestellt und sind oder waren in psychologischer Therapie.
Die Teamsitzungen gestalten wir gemeinsam, für die kulturellen Angebote ist
hauptsächlich mein Kollege zuständig, der hierbei auch die wirtschaftlichen As-
pekte des Projektes mit einbezieht. Ich betreue logotherapeutisch - existenzana-
lytisch beratend und begleitend die Gruppenmitglieder während der Dienstzei-
ten, führe Gespräche in Krisensituationen und biete Gesprächsreihen an.
2 Praxisbericht 7
2.2 Grundlagen logotherapeutischer und existenzanalytischer Beratung
Die Existenzanalyse ist eine anthropologische Forschungsrichtung, die das Ge-
dankengut der Phänomenologie und der Existenzphilosophie trägt. Analysiert
werden die Bedingungen, die dem Menschen ermöglichen ein erfülltes Leben
zu führen.
Viktor Frankl, Prof. der Neurologie und Psychiatrie, Dr. Phil., betont als Begrün-
der der Existenzanalyse und Logotherapie die Werteaffektivität. „Sinn erfüllen
wir allemal dadurch - unser Leben erfüllen wir mit Sinn – indem wir Werte ver-
wirklichen.“ [1] Längle, 1991, 5
Sich selbst als wertvoll zu empfinden und ausgerichtet zu sein auf die Werte in
der Welt, ist die existenzanalytische Basis, auf der der Mensch sein Leben zu
seiner Zufriedenheit sinnvoll gestalten kann.
Das ist jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich.
Dr. med. Dr. phil. Alfried Längle hat dazu diese Grundlagenforschung phäno-
menologisch und personal weiterentwickelt. Sein Augenmerk richtet sich auf
das subjektive Werteempfinden und die Beziehung, die zwischen den Werten
und der Person besteht.
Er hat untersucht welche Grundbedingungen für den Menschen gegeben sein
müssen, um sich auf die Werte in der Welt einlassen zu können. Dazu hat er
herausgefunden, dass drei Kernerfahrungen für den Menschen unerlässlich
sind:
Grundvertrauen (1. Grundmotivation)
Grundwerterleben (2. Grundmotivation)
Selbstwertgefühl (3. Grundmotivation)
Sie führen dazu, dass der Mensch erspüren kann, was für seine Person wichtig
ist, um somit ein sinnvolles und erfülltes Leben führen zu können
(4.Grundmotivation):
Wissen was ich will – und handeln
Wissen was ich nicht will – und lassen
- Leben sinnvoll gestalten -
2 Praxisbericht 8
2.2.1 1. Grundmotivation
Grundvertrauen als Fundament für den Lebenswillen
Das Grundvertrauen des Menschen basiert auf der Akzeptanz der Welt, wie sie
sich ihm zeigt, und in dem Bewusstsein in dieser Welt gehalten zu sein und hier
einen sicheren Platz vorzufinden. Mit der Erfahrung, dass er in diesem natürlich
begrenzten Lebensraum (ein durch die Geburt vorgegebenes biologisches, so-
ziologisches und psychologisches Umfeld) Halt und Sicherheit findet, kann er
sich vertrauensvoll auf das Leben einlassen. Insbesondere in Lebenskrisen wird
der Mensch dann nicht ins Bodenlose fallen, in die unendliche Verzweiflung.
In der Welt besteht dieses Sicherheitsnetz einerseits durch die Natur mir ihrer
Vielfalt und ihrer Beständigkeit im Wandel. Hier kann der Mensch sich wieder
finden als Teil des Universums und in seiner Bestimmung als wichtiger Bestand-
teil der Welt. Andererseits wird das Netz durch den Menschen selbst geknüpft -
durch sein Ja zu sich selbst und sein Da-sein für den Anderen oder durch sein
Schaffen von Gesetzen und Traditionen, gesellschaftlichen Strukturen und Reli-
gionen. Hierdurch wird seine Welt berechenbar. Der Mensch fühlt sich gehalten
vom Alltäglichen.
Dadurch erwächst der Mut und die Kraft sich auch der Zerbrechlichkeit der Le-
bensbedingungen stellen zu können. Der Lebenswille wird gestärkt durch Ge-
lassenheit und Hoffnung. Die Gewissheit, dass immer jemand oder etwas den
Menschen durchs Leben trägt, schafft Handlungsspielraum für seine Person. In
diesem Raum kann er sich existentiell verwirklichen.
Mangelt es an Grundvertrauen setzt Misstrauen ein, das Gefühl des Ausgelie-
fert-seins. ‘Nicht so leben können’ löst die Angst aus, nicht mehr lebensfähig zu
sein, behindert ein Leben - wollen.
2 Praxisbericht 9
2.2.2 2. Grundmotivation
Grundwerterleben als Fundament für Lebenslust
Lust haben auf Leben - Ging es beim Grundvertrauen um die Akzeptanz des
Faktischen spiegelt sich beim Grundwerterleben das Wertempfinden wider, die
Lebensqualität. Werte erfasst der Mensch dadurch, dass er Attraktionen wahr-
nimmt und Lust spürt in Beziehung zu gehen. Angefangen bei sich selbst- beim
erlebten Eigenwert - richtet er sich auf die Werte in der Welt aus. Jemanden
(vor allem sich selbst) mögen ohne Leistung einzufordern, dabei verweilen, sich
vertraut machen – all dies schafft Nähe und macht Beliebiges einmalig und
wertvoll. Damit verbunden ist das Erleben der Mannigfaltigkeit aller Emotionen,
wie z.B. Freude, Dankbarkeit, Liebe, Wut und Trauer.
Ein positiver Grundwert entwickelt sich durch Erfahrungen, bei denen Nähe und
Geborgenheit spürbar wurden. Sich selbst wertschätzen, die Zuwendung ande-
rer Menschen empfangen und dem Anderen zugeneigt sein, berührt sein von
der Natur, Kraft schöpfen aus einem Glauben – hierbei wird der Mensch vom
Leben berührt, er wird lebendig. Dadurch entwickeln sich eine optimistische
Wahrnehmung der Gegebenheiten und ein soziales Wohlbefinden.
Wenn das Grundwertempfinden nicht ausgeprägt ist, wird das Leben mehr als
Last denn als Lust empfunden. Die eigene Wertschätzung geht verloren und
das Gefühl, nicht liebenswert zu sein, beherrscht die Person. Der Mensch ver-
liert sich und hat Angst vor weiteren Beziehungsverlusten.
2 Praxisbericht 10
2.2.3 3. Grundmotivation
Selbstwertgefühl als Fundament für ein selbstbewusstes Leben
Wird der Mensch in seiner Eigenart, die unverwechselbar einmalig ist, gesehen
und respektiert, kann er sich Raum nehmen für die Entwicklung seiner Persön-
lichkeit.
Dieser Prozess beginnt mit dem Vertraut-werden mit sich selbst: Wer bin ich?
Was will ich? Was kann ich?
Durch den Freiraum, in dem der Mensch sein eigenes Selbstverständnis leben
kann (alles darf sein), durch ein Gegenüber, an dem er wachsen kann, und
durch das Recht auf Abgrenzung können diese Fragen beantwortet werden. Die
eigene Identität wächst, das Annehmen der persönlichen Beschaffenheit, und
mit ihr die Authentizität (das Bewusstsein darüber, was mit der eigenen Person
stimmig ist und was nicht).
Das gelebte Selbst wird wertvoll, weil es spürbar stimmig ist mit der Person und
von ihr auch nach außen vertreten werden kann. Ein selbstbewusstes Leben
will im sozialen und kommunikativen Miteinander gelebt werde, strahlt Lebens-
freude und Zufriedenheit aus.
Dazu braucht es jedoch Menschen, die die jeweilige Person als kostbares Indi-
viduum achten, sie fordern und fördern, loben und kritisieren. Menschen, die die
Person anfragen und versuchen zu verstehen anstatt sie den eigenen Vorstel-
lungen anzupassen.
Kann diese Erfahrung im eigenen sozialen Umfeld nicht in ausreichendem Ma-
ße gemacht werden, und dadurch das Eigene nicht gelebt werden, entsteht die
Angst vor Abhängigkeit und Verletzungen.
2 Praxisbericht 11
2.2.4 4. Grundmotivation
Der Lebenssinn
Grundvertrauen, Grundwerterleben und Selbstwertgefühl – wer hierin gefestigt
ist, wird sich auf die Sinnsuche begeben wollen. Er ist motiviert sich auf das Le-
ben einzulassen und darin die wertvollste Möglichkeit jeder Lebenssituation auf-
zuspüren. Damit gibt er seinem Leben Sinn, er führt ein erfülltes Leben.
Wer das Leben in seiner ganzen Fülle erleben kann hat jederzeit ‘genug Leben’
und kann mit diesem Gefühl auch die Begrenztheit der Lebensbedingungen und
des Lebens selbst annehmen.
Diese aufgeführten Grundmotivationen sind in jedem Menschen verankert, nicht
immer ausreichend und nicht immer gleich gut spürbar. Deshalb neigen wir zu
Copingreaktionen, sprich Verhaltensmechanismen, die dazu dienen, die Angst
aufzufangen, die durch die jeweilige Verunsicherung in den Grundmotivationen
entsteht.
Wir flüchten oder werden aggressiv, wir definieren uns über unsere Arbeit, wir
werden formalistisch oder rechtfertigen uns. Wenn wir unseren inneren Hand-
lungsspielraum verlieren, kann es dazu führen, dass wir neurotisch oder krank
werden.
Die existenzanalytische Beratung/Begleitung bezieht sich darauf, die Behinde-
rung in den Grundmotivationen aufzudecken und die vorhandenen Ressourcen
der Person außerhalb ihrer Blockaden oder Krankheit zu stärken.
2 Praxisbericht 12
2.3 Prämissen für die Beratung psychisch kranker Menschen
Die Vorgehensweise von Beratung hat A. Längle kurz und präzise folgender-
maßen definiert:
„Beratung vermittelt Kenntnisse und Anleitungen zur selbständigen Lösung von
seelisch-geistigen Problemen über das Mittel der Klärung (erkennen) und
Übung (Fähigkeiten und Ressourcen mobilisieren und in der Praxis einsetzen).“
[2] Längle, 2001, 8
Damit aber der Wille zur Veränderung und somit der Wunsch nach Beratung
von Menschen mit psychischen Handicaps geäußert werden kann, müssen Ver-
trauenswürdigkeit und Offenheit des Beraters für sie deutlich spürbar sein.
Diese Voraussetzung schafft der Berater meines Erachtens durch:
Verlässlichkeit, Berechenbarkeit und eine phänomenologische Haltung.
Das heißt zunächst einmal zuverlässig sein in der Präsenz.
Durch meine Mitarbeit im Café und meine telefonische Erreichbarkeit im Rah-
men notwendiger Flexibilität stelle ich meine Person und Zeit für Beziehung zur
Verfügung und öffne mich dadurch für Nähe. Die Teammitglieder und die psy-
chisch erkrankten Gäste können darauf vertrauen, dass ich durch meine Anwe-
senheit greifbar bin und sie meiner Zuwendung gewiss sein können
(1.GM/2.GM).
Ebenso vermitteln sich Halt und Vertrauen durch Berechenbarkeit.
Im Rahmen dieses Projekts können Raum, Zeit, Nähe und Distanz individuell
mit dem Klienten abgestimmt werden. In der Beratung ist auch Raum für meine
Person, sodass Nähe entstehen kann. Ich kann mich zeigen in meiner Eigen-Art
des Denkens, Handelns und Fühlens. Damit übernehme ich nicht nur aktiv eine
Rolle, sondern fülle sie mit meiner Persönlichkeit.
Indem ich mich öffne soweit wie möglich bzw. nötig, haben die Klienten auch
dadurch ein Gegenüber, das sie erfassen können (2.GM).
2 Praxisbericht 13
Letztendlich signalisiert die phänomenologische Haltung ein wirklich Interes-
siert-sein an dem Wesen des Anderen und die Wertschätzung gegenüber sei-
ner Person (3.GM).
Diese Haltung kommt zum Ausdruck
wenn der Berater den Gesprächspartner als Person anfragt und ihn nicht
‘als Krankheit‘ anspricht
wenn er offen ist, für das, was der Klient von sich zeigt und er ihn nicht
im Kontext seiner Vorstellungen und Erfahrungen interpretiert
wenn er dem emotionalen Verstehen-können Zeit lässt und sowohl sich
selbst als auch dem Anderen im Umgang miteinander Unsicherheiten
zugesteht
[3] vgl. Heitger-Giger, 1993, 58
Ist der Umgang des Beraters mit den psychisch erkrankten Menschen un-
beständig, nicht authentisch oder oberflächlich wird deren Person nicht sichtbar.
Ihr Verhalten ist dann geprägt von Copingreaktionen (ihr Schutzbedürfnis ist
sehr hoch) oder langjährige Klienten haben ein Repertoire programmierter
Handlungen und Äußerungen, mit dem sie schon viele Therapeuten zufrieden
gestellt haben.
2 Praxisbericht 14
2.4 Die Person
Ausgerüstet mit dem Gedankengut der Logotherapie und meiner Person geht
es mir nun hauptsächlich in meiner Arbeit darum, die Person der Klienten zu
stärken.
Doch was ist Person?
Ist jeder Mensch eine Person und infolgedessen auch eine Persönlichkeit?
Frankl formuliert es wie folgt:
„Während ich das Schicksal gestalte, gestaltet die Person, die ich bin, den Cha-
rakter, den ich habe, und dadurch gestaltet sich die Persönlichkeit, die ich wer-
de.“ [4] Frankl
Demnach ist jeder Mensch Person und stets werdende Persönlichkeit, die zum
Ausdruck bringt, wie der Mensch die Gegebenheiten mit seinen Möglichkeiten
gestaltet.
2.4.1 Philosophischer Exkurs zum Begriff der Person
In der Semantik hat der Begriff der Person mehr als eine Bedeutung. Im norma-
len Sprachgebrauch ist damit das menschliche Einzelwesen gemeint oder ein
Träger von Rechten und Pflichten (z.B. die juristische Person).
In der Philosophiegeschichte wird jedoch mit dem Begriff Person die Frage nach
dem Selbstverständnis eines vernunftbegabten Individuums gestellt.
Existenzphilosophen sprechen vom ‘wahren Ich’, das jede Maske durchtönt (lat.
personare) oder vom ‘Selbst-Sein’.
Annemarie Pieper fasst ihre Erkenntnisse wie folgt zusammen:
„Person ist vielmehr ein ganzheitlicher Vollzug, der unter einer Bedingung steht,
die dem Vollzug seine Richtung und damit einen Sinn gibt […] Zur Person
macht man sich jedoch selbst – in Gemeinschaft mit anderen Personen, von
2 Praxisbericht 15
denen man sich zugleich abgrenzt. […] Im personalen Selbstvollzug vermittelt
demnach das Individuum sich mit sich selbst über die Menschheit […] Person
ist somit ein normativer Begriff, der Verpflichtungscharakter hat. Man kann nicht
beliebig Person sein, aber man ist auch nicht unausweichlich gezwungen Per-
son zu sein. Da mit ‘Person’ ein Freiheitsvollzug angemahnt wird, der autonom
erfolgen soll, muss sich das Individuum einem Gesetz unterstellen, dem es per-
sonbildende Kraft zuschreibt.“ [5] Pieper, 2001, 164
Klarer wird der Personbegriff durch das erweiterte Menschenbild von Viktor
Frankl, wonach der Mensch nicht nur durch Körper und Psyche lebt sondern
auch durch einen Geist, einer existentiellen Dimension, aus der heraus er seine
Entscheidungen trifft, die sein Leben prägen. [6] vgl. Frankl 1983, 3
Die Person als geistige Kraft hat die Freiheit sich zu sich selbst und zur Welt zu
verhalten. Bezüglich des Umgangs mit sich selbst spricht er sogar von der
„Trotzmacht des Geistes“: Das Geistige kann sich mit dem Leiblichen und See-
lischen auseinandersetzen und sich davon distanzieren (Selbstdistanzierung).
[7] vgl. Frankl, 1983, 96
Person steht demnach sowohl für Individualität als auch für In-Beziehung-
stehen. Sie ist nichts Statisches oder Substantielles und wird nur im Vollzug
sichtbar. Treffend formulierte der Dialog-Philosoph Martin Buber: „Der Mensch
wird am Du zum Ich.“ [IN 1]
Im gegenwärtigen Personverständnis der Existenzanalyse lebt der historische
Doppelaspekt des Personbegriffs fort, so Helmuth Vetter: „Person als Individua-
lität im Prozess der Selbstfindung und Selbstwerdung und als Relationalität in
der Öffnung zur Welt als In-der-Welt-sein.“ [8] Vetter, 1998, 15
Alfried Längle erweiterte das Personenkonzept, indem er den zweiten Aspekt
der Tradition akzentuierte. Er geht vom Verständnis der Person als „dem in mir
Sprechenden“ aus, zu dessen Wesensbestimmung der Dialog gehört: ange-
sprochen werden, Stellung nehmen und antworten. Dies findet beim Menschen
im Zwiegespräch mit sich selbst statt und in der Beziehungsaufnahme zur Welt.
2 Praxisbericht 16
Philosophisch gesehen ist also der Begriff der Person nicht gut ins Alltagsleben
umsetzbar. Das, was ‘Person’ ausmacht, wird wie bereits erwähnt im Vollzug
sichtbar. Existenzanalytisch konnten aber daraus durchaus konkrete Wesens-
merkmale herausgestellt werden, die sich in Viktor Frankls Thesen über die
Person wieder finden:
Die Person ist geistig. Sie lässt sich nicht objektivieren und ist somit weder zeit-
lich noch räumlich festzumachen. Wir können sie nicht be-greifen, sondern nur
verstehen. Zum Verstehen bedarf es jedoch des Ausdrucks. Hier ‘bedient’ sich
die Person des Psychophysikums.
Durch Soma und Psyche kommt sie zum Vollzug. In ihrer Eigenständigkeit steht
sie mit Körper, Intellekt und Emotionen im Dialog, kann sich aber von deren Be-
findlichkeiten distanzieren und sich dazu frei verhalten. Die Person ist der Steu-
ermann im menschlichen Gefüge.
In dieser Freiheit grenzt sie sich auch ab von den organischen Eigenschaften
des Gesund- bzw. Krankseins. Sie ist immer ein Ganzes, nicht defizitär, nicht
leistungsorientiert, nicht bewertbar. Sie fühlt nicht und denkt nicht – sie spürt:
Wahrheit und Irrtum, Recht und Unrecht, Erfüllung und Verzweiflung.
Ebenso steht die Person im Dialog mit der Welt. Auch hier kann sie sich frei
verhalten. Aus dieser Freiheit gegenüber den Bedingtheiten (biologisches, so-
ziologisches und psychologisches Schicksal) erwächst die Verantwortlichkeit für
die Antwort auf Lebensfragen.
Ist die Dialogfähigkeit der Person mit ihrer Welt nicht gehemmt oder fixiert, sind
die individuellen Antworten auf die Gegebenheiten ein Kennzeichen für die Dy-
namik der Person und machen sie in ihrem So-sein und Da-sein unverwechsel-
bar und unvergleichbar. Wenn die Person zum Vollzug kommt, wird der Mensch
lebendig.
[9] vgl. Frankl, 1991,108; Kolbe, 2001, 54
Auf dieser Grundlage Frankls hat Alfried Längle den Begriff ‘Person’ in der Per-
sonalen Existenzanalyse mit dem Fragen nach den Voraussetzungen für eine
personale Existenz noch ‘persönlicher’ gefasst.
2 Praxisbericht 17
Längle richtet das Augenmerk auf den notwendigen Prozess, der dem sinnvol-
len Existenzvollzug vorausgeht. Durch ein phänomenologisches Vorgehen rückt
er die „subjektive Erlebnisweise des Personseins“ in den Vordergrund. Chris-
toph Kolbe beantwortet die Frage „Wie erlebe ich Person-sein?“ wie folgt:
„Frankl arbeitete mit seiner kopernikanischen oder existentiellen Wende heraus,
dass der Mensch ein vom Leben Befragter ist und im Beantworten der je eige-
nen Lebensfragen seine Existenz vollzieht. Das heißt unter anderem, dass der
Mensch angesprochen wird von der Welt, vom Leben, und das wiederum heißt:
Der Mensch ist ansprechbar. Von hierher könnten wir auch sagen: Ich will an-
gesprochen werden. Dabei spüre ich, dass es unverwechselbar um mich geht.
Ich will aber nicht nur angesprochen werden, ich will- zweitens - auch verstan-
den werden. Und drittens: Ich will, dass auf mich eingegangen wird, dass ich
nicht nur verstanden werde, sondern auch – im Eingehen auf mich – Antwort
erhalte. Zum Person-sein gehört nun nicht nur, dass ich diesen Dreischritt erle-
be, sondern, dass ich ihn auch selbst vollziehe, indem ich anspreche, verstehe
und antworte.“
Der Vollzug der personalen Existenz führt also über
den emotionalen Eindruck, den der Mensch als Wertberührung verspürt
das Selbst-bewusst-sein durch die Stellungnahme zum Eindruck unter
Berücksichtigung der Gesamtheit der Wertbezüge (Selbstdistanzierung)
das Erleben der Vollzugswirklichkeit im Ausdruck als Hinwendung zur
Welt (Selbsttranszendenz)
[10] Kolbe, 2000, 39
Dieser Prozess findet auf dem Nährboden der Grundmotivationen statt. Je
nachdem wie gut der Boden mit Vertrauen, Lebensfreude und Selbstbe-
wusstsein angereichert wurde, wird die Person durch das Gestalten der Gege-
benheiten wachsen können und ein erfülltes Leben ernten. Bei ‘Wachstumsstö-
rungen’ wird die Person gestärkt durch die Hinführung zu einem neuen Erleben
und Spüren, das Leben annehmen zu können und das Eigene leben zu dürfen
2 Praxisbericht 18
2.5 Die personale Begegnung als Mittel und Weg, die Person zu bergen und zu
stärken
Für mein Hauptanliegen, die Stabilisierung der Person, müssen wie bereits er-
wähnt die Defizite in den Grundmotivationen aufgespürt und aufgefüllt werden.
Das größte Wirk-Moment hat hierzu die personale Begegnung. Sowohl bei der
Teamarbeit im Café als auch in Einzelgesprächen bieten sich viele kontinuierli-
che Gelegenheiten.
Laut Beda Wicki werden Klarheit, Festigkeit und Halt durch die personale Be-
gegnung vermittelt. Das ist der Boden, um den Klienten darin zu unterstützen,
durch eigenes Erleben von Können, Zuwendung und Selbst-sein-dürfen seine
Fähigkeiten und Kräfte zu mobilisieren. [11] vgl. Wicki, 2006, 54
Um diesen Boden zur Selbstwerdung zu schaffen bedarf es:
eines gemeinsamen Erlebnisses oder einer gemeinsamen Aufgabe
der Beachtung des Anderen
dem Gerecht-werden seines Wesens
der Wertschätzung
der emotionalen Berührung
Das gemeinsame Ziel, das Café zu betreiben, bietet ein optimales Umfeld für
Berührungspunkte. Hier kann durch die Arbeit im Sich-zueinander-verhalten wie
Wagner es ausdrückt ein „lebendiges Lernen“ stattfinden.
[12] vgl. Wagner, 2006, 52
Das Lernen bezieht sich auf die Verrichtung der erforderlichen Tätigkeiten im
Rahmen des Cafébetriebes wie z.B. Kaffee kochen, Speisenzubereitung, das
Servieren, die Bedienung der Kasse oder das Putzen. Gleichzeitig geht es um
das Lernen bzw. das Wieder-erlernen von Höflichkeit, Pünktlichkeit, Zuverläs-
sigkeit und Zusammenarbeit.
In den wöchentlichen Teamsitzungen diskutieren die Mitarbeiter über die Aus-
stattung der Räumlichkeiten und die Hygienevorschriften, die Öffnungszeiten,
die Angebote von Speisen und Getränken und über die Veranstaltungen.
2 Praxisbericht 19
Neben der Klärung von organisatorischen Problemen geht es aber hauptsäch-
lich um die Auseinandersetzung mit den Verhaltensweisen der Teammitglieder.
Dabei werden die Klienten mit ihren Defiziten konfrontiert, sei es durch Kritik
oder durch Lob, durch die Erwartungshaltung der Mitarbeiter oder ihre eigenen
unrealistischen Erwartungen.
An dieser Stelle wird es wesentlich und es findet die logotherapeutisch-
existenzanalytische Begleitung durch den Prozess statt (formulieren der Fakten
- verstehen worum es ‘eigentlich’ geht - verändern oder vertreten). Aus diesem
Geschehen heraus ergeben sich zusätzlich Einzelgespräche, situativ, oder ge-
gebenenfalls längerfristige Gesprächsreihen, wenn der Klient den Wunsch nach
Erklärung und/oder Veränderung hat.
Bei der Gruppenarbeit Ideen zu sammeln und umzusetzen und/oder Probleme
aufzuzeigen und zu meistern, setzt voraus, der einzelnen Person ausreichend
Beachtung zu schenken.
„Die Hauptvoraussetzung zur Entstehung eines echten Gesprächs ist, dass je-
der seinen Partner als diesen, als eben diesen Menschen meint“, sagt Martin
Buber. [13] Buber, 2002, 283
Dazu gehört das Angesprochen-werden und das Sprechen-dürfen in einem laut
Pfanner „fehlertoleranten Klima“. Jeder darf sich zeigen in seiner Wahrneh-
mung, in seinem Denken und Fühlen, ohne Angst haben zu müssen, etwas
„Dummes“ zu sagen. [14] vgl. Pfanner, 2005, 26
Vorstellungen und Erwartungen haben Raum, damit sichtbar werden kann, was
dem Einzelnen wichtig ist. „Mich zu irren, mein unfertiges Denken öffentlich zu
machen, mich in dem zu zeigen, was mich bewegt, obwohl ich es noch nicht
verstehe, gehört zum Wagnis des Lernens.“ [15] Pfanner, 2005, 31
Deshalb bitte ich in den Teamsitzungen um die Stellungnahme jedes Einzelnen
und fordere zum ‘lauten Denken’ auf. Eingeübt werden an dieser Stelle auch
Kommunikationsregeln: den Anderen ausreden lassen, ihm zuhören und ihn
ernst nehmen, um ins Verstehen zu kommen.
Denn, Bezug nehmend auf H.Vetter, sind Zueinander-reden und Aufeinander-
hören wesentliche Bestandteile dessen, was in der Philosophie des Dialogs
‘Begegnung’ heißt. [16] vgl. Vetter, 1998, 20
2 Praxisbericht 20
Und das, was unverblümt zum Ausdruck kommt, ist in diesem Kreis ein Feuer-
werk an primären Emotionen, die sich bei einigen leider aber auch festge-
schrieben haben, nicht in gegenwärtige Wertbezüge eingebunden sind und so-
mit nicht mehr personal sind.
Durch die spontanen Impulse zeigt sich „die Person, die auf Grund ihres Ge-
wordenseins, ihrer Haltungen und Einstellungen, ihrer Persönlichkeitsstruktur
und ihrer Körperlichkeit zu dieser, im eigentlichen Sinn des Wortes ursprüngli-
chen Emotionalität fähig ist.“ [17] Längle, 1991, 47
Jetzt gilt es für den Berater, den ersten Eindruck wahrzunehmen, ihn verständ-
lich zu machen für die betreffende Person selbst und für die anderen Gruppen-
mitglieder, um dadurch dem Wesen der Person gerecht zu werden.
Die Kunst ist es durch eine emotionale Verbundenheit das Teammitglied zu er-
fassen in seinem Können und Wollen und ihm dadurch eine Wertschätzung zu-
teil werden zu lassen. Hierbei erlebt der Klient, dass er wichtig ist und dass er
es wert ist, dass sich jemand für ihn einsetzt (in diesem Fall der Berater, der ihn
darin unterstützt verständlich zu werden).
Wenn dem individuellen So-sein das Dürfen gegeben wird, wird dadurch der
Selbstwert gestärkt. (3.GM)
Emotionales Zugewandt- sein kann sich aus meiner Erfahrung jedoch nicht so-
fort einstellen. Durch ein grundsätzliches Ja zum Anderen beruht die Beziehung
zunächst auf Respekt und Achtung. Ein emotionales Berührt-sein, ein Spüren
des Gegenübers, hat sich jedoch bei mir vor allem in Einzelgesprächen erge-
ben, wenn sich atmosphärisch eine Geborgenheit einstellte, die es dem Klienten
erlaubte nur ‘Ich’ zu sein.
Die personale Begegnung sowohl im Team als auch in Einzelgesprächen bein-
haltet immer auch die Ausrichtung auf einen Wert, auf den eigenen Wert, auf
den Wert des Anderen oder der Aufgabe. Hierbei gilt es die Klienten, wie Milz
es ausdrückt, darin zu unterstützen, sich zu positionieren, sie zu fordern und zu
fördern:
gemäß ihrem Können
in dem, was sie grundsätzlich anspricht
wo sie mit ihren Neigungen und Fähigkeiten als Person gefragt sind und
wo sie etwas tun können, was im Gesamtkontext für sie und andere als
sinnvoll angesehen wird [18] Milz, 2005, 58
2 Praxisbericht 21
2.6 Die Praxis
Die Teammitglieder des Cafés haben unterschiedliche Defizite: sie sind psycho-
tisch, depressiv, alkoholkrank, verhaltensgestört. Einige sind seit langer Zeit da-
bei, andere sind mit dem Sprungbrett des Cafés ins ‘normale’ Leben entlassen
worden, wieder andere kommen immer wieder oder sie werden einmal mehr
von ihrem Krankheitsbild beherrscht. Das, was alle verbindet, ist ihre Erfahrung
bei der Arbeit im Café Erfolg gehabt zu haben durch persönliche Erfüllung.
Erfolg, der erfolgte durch Gesehen- und Gehört-Werden, durch Wertschätzung
ihrer Fähigkeiten, durch Verantwortung, die sie übernommen haben.
[19] vgl. Längle, 2007, 91
Anhand ihres Werdegangs, den ich begleitet habe bzw. begleite (zwischen 1
und 3 Jahren), werde ich veranschaulichen wie logotherapeutisch-
existenzanalytische Beratung bei psychisch kranken Menschen den Kreislauf
ihnen hinreichend bekannter Therapieformen durchbrechen kann, durch einen
anderen Blickwinkel und veränderte Bedingungen in der Beratung.
Der andere Blickwinkel stellt sich dadurch ein, dass die Klienten mehr zu ihrer
Person als zu ihrer Krankheit be- und hinterfragt werden (s. phänomenologische
Haltung des Beraters). Die nicht üblichen Bedingungen in einem logotherapeu-
tisch-existenzanalytischen Beratungsgespräch ergeben sich durch die Freiwil-
ligkeit und dadurch, dass sie selbst vorgeben was als Thema für sie im Hier und
Jetzt wichtig ist. Dadurch haben stereotype Antworten weniger Raum und die
Klienten müssen mehr Verantwortung übernehmen, indem sie den Freiraum
haben, ihr eigenes Ziel zu definieren, und indem sie sich ihrer Möglichkeiten
bewusst werden und Stellung beziehen müssen zu den getroffenen Entschei-
dungen. (Was willst du tun und/oder lassen, damit sich dein Leben gut anfühlt?)
Der Krankheitsaspekt rückt in den Hintergrund. Die Krankheit ist nicht persönli-
ches Kennzeichen, sondern als ein dazugehöriger Teil der Person und gleich
anderen Wesensmerkmalen sowohl begrenzt als auch veränderbar.
2.6.1 Josef
Josef (27) ist mit einer Körpergröße von 1,80 m und einem Gewicht von 130 kg
ein ‘ganzer Kerl’. Wenn er kommt, nimmt er Raum ein, im wahrsten Sinne des
2 Praxisbericht 22
Wortes. Während des Abiturs ist er psychotisch geworden, ist seitdem in Be-
handlung: medikamentös eingestellt, wöchentliche Gesprächstherapie. Von den
Medikamenten hat er stark zugenommen und sein Schlaf-Wach-Rhythmus ist
durcheinander geraten. 12-13 Stunden Schlaf täglich braucht er mindestens. In
den Schlaf findet er jedoch erst in den frühen Morgenstunden, sodass er seine
Tage verschläft. Dieses Leben macht ihn unzufrieden. „Meine Gedanken krei-
sen nur noch um mich selbst und die einzige Ablenkung sind die Nächte in den
Kneipen.“ Seine Therapeutin hat ihm empfohlen durch sinnvolle Arbeit im Café
diesen Kreislauf zu durchbrechen und eine Tagesstruktur aufzubauen.
Die Arbeitszeiten entsprechen seinem jetzigen Lebensrhythmus (16.00 – 22.00
Uhr) und so begegnen wir uns im Frühjahr 2006 zum ersten Mal. Josef wird für
den Thekendienst eingeteilt, in Zusammenarbeit mit mir. Das ermöglicht mir,
Eindrücke zu sammeln, Schwierigkeiten bzw. Förderungsmöglichkeiten zu er-
kennen.
Der erste Eindruck, den Josef hinterlässt, spiegelt das Bild eines ‘ganz norma-
len’ Jugendlichen wider. Die Erkrankung hat –so scheint es- die Zeit stillstehen
lassen: er ist intelligent und reflektiert, humorvoll und sensibel, er philosophiert
gern und flirtet gern – alles auf dem Niveau eines 18- Jährigen. Bei der Arbeit
wirkt er behäbig und neigt zur Faulheit, bei vermehrtem Kundenverkehr behält
er seine stoische Ruhe (zum Leidwesen der Kollegen, die ihn dann bitten, doch
mal ‘einen Schritt schneller’ zu gehen).
Josef wird schnell, wenn es um Musik geht: Keyboard, Gitarre, Gesang. Bei den
monatlichen Karaokeveranstaltungen wird er richtig lebendig, ist dann oft der
Beste des Abends und kann mit einem Preis nach Hause gehen.
In den wöchentlichen Teamsitzungen fällt er dadurch auf, dass er sich für Ande-
re einsetzt, schützend, wenn sie Fehler gemacht haben – aufmunternd, wenn
sie sich nicht trauen ihre eigene Meinung zu sagen.
Nach wenigen Wochen kommt Josef immer öfter verspätet zum Dienst. Er über-
legt, wieder auszusteigen, weil er einen Kopfdruck verspürt. Das wäre ein Zei-
chen dafür, dass ihm die Arbeit wohl doch zuviel sei. Er hätte auch Angst wieder
psychotisch zu werden. „Aber ich weiß jetzt schon: wenn ich hier aufhöre, macht
mich das noch unzufriedener.“
Diese Zerrissenheit zwischen dem Willen nach Veränderung und dem Fallen-
lassen in alte Lebensgewohnheiten – zwischen dem lebendigen Josef und der
von der Welt abgewandten Person (Schlaf/Psychose) – dieser innere Wider-
2 Praxisbericht 23
streit wird für mich die Grundlage für eine intensive Betreuung im Rahmen sei-
ner Mitarbeit.
Nach den Teamsitzungen treffen wir uns wöchentlich zu einem Gespräch und
innerhalb der Möglichkeiten, die das Café bietet, probiert sich Josef ganz prak-
tisch aus.
Seine Beweggründe sich mir anzuvertrauen und sich auf die Arbeit einzulassen,
sind sein beständig ‘schlechtes Gewissen’ und seine Unzufriedenheit, die seiner
Meinung nach durch sein übermäßiges Schlafbedürfnis verursacht wird.
Josefs Haltungen gründen sich u.a. auf folgende Geschehnisse:
Josef wurde in baptistischem Glauben erzogen und seine Wertmaßstäbe sind
überwiegend nach den Wertbezügen der depressiven Mutter ausgerichtet.
Mit 18 wurde er wie bereits erwähnt in der Abiturphase zum ersten Mal psycho-
tisch. Nach bestandenem Abitur begann er eine Ausbildung als Tischler, die er
abbrach, weil ihm das handwerkliche Geschick fehlte. Daraufhin wollte er Musik
studieren, um sein Hobby zum Beruf zu machen. Dieses Ansinnen wurde je-
doch massiv von der Mutter boykottiert, da so ein Berufswunsch nicht ihren
Vorstellungen von einem ‘guten christlichen Sohn’ entsprach. Josef fügte sich,
da er „sie liebte und sie durch ihre Krankheit Rücksichtnahme verdient hatte“. Er
begann ein Bibelstudium, um Prediger in der Gemeinde zu werden. Die Musik
sollte den Gottesdiensten vorbehalten bleiben. Wiederholt wurde er während-
dessen psychotisch und verbrachte mehrere Monate in einer psychiatrischen
Klinik.
Das Studium brach er ab.
Jetzt lebt er fernab von seiner Familie in einer eigenen Wohnung, nimmt regel-
mäßig Medikamente und hat wöchentliche Gesprächstherapie.
Sein Lebensgefühl ist in kindlicher Art und Weise durch die Begriffe angenehm
und unangenehm geprägt. Angenehm ist Bedürfnisbefriedigung (z. B. lange
schlafen, Fastfood essen), in Harmonie mit Gott zu sein, in der Gemeinde auf-
genommen zu sein, zum Wohlgefallen seiner Mutter zu leben. Unangenehm
wird es dann, wenn er sündigt: Bedürfnisse außerhalb dem religiös Zugestan-
denen befriedigt (z.B. in der Sexualität), wenn er Worte der Bibel anzweifelt,
wenn sein Wille unrecht ist, weil er nicht mit Gottes Willen übereinstimmt. Der
Leitspruch der Gemeinde erlaubt den eigenen Willen nur als Ausführungsorgan
2 Praxisbericht 24
für den Willen Gottes: „Gott leitet die Menschen durch den Heiligen Geist zum
rechten Verstehen der Bibel und zum Tun seines Willens.“
Die vermeintliche Sicherheit, die der Glaube bietet, muss erkauft werden durch
die Hergabe des Raumes für das Selbst-sein (3.GM).
Unzufriedenheit und das ‘schlechte Gewissen’ sind somit das vorsätzlich ge-
schaffene immer wackelnde Lebensgerüst für Josef, das die Kirche mit Verge-
bung und Buße stabilisiert und als Halt - Erfahrung der ‘ Liebe’ Gottes zuordnet.
Fazit:
Lebt Josef nach den Glaubensgrundsätzen der Kirche, werden seine Wert-
maßstäbe unterdrückt und seine Person kommt nicht zum Vollzug. Hört er hin-
gegen auf sein Gespür, gibt er seinen intentionalen Gefühlen Raum und nimmt
sich das Recht des Nach-Denkens und Quer-Denkens, fühlt er sich als Sünder,
der sich von Gott entfernt. (Die Verbundenheit mit Gott ist ihm ein hoher Wert.)
Beide Verhaltensweisen schließen also immer ein freies Verhalten seiner Per-
son aus und machen ihn letztendlich unzufrieden. Die Unzufriedenheit ist Kräfte
zehrend, sie macht müde. Reicht der Rückzugsort ‘Schlaf’ nicht aus, flüchtet
Josef in die Psychose (1.GM/Totstellreflex als Schutzmechanismus).
Josefs Ziel ist es zufriedener zu werden, das ‘schlechte Gewissen’ nicht mehr
sein Leben bestimmen zu lassen und eigenes Geld durch Arbeit zu verdienen.
In den Gesprächen reflektieren wir über zuständliche Gefühle (Bedürfnisse) und
intentionale Gefühle (auf einen Wert ausgerichtet). Josef wird sich dessen be-
wusst, dass er nicht, wie er befürchtet, als ‘personifiziertes Bedürfnis’ auftritt.
Bedürfnisbefriedigung findet immer im Kontext seiner Erziehung, seines Wis-
sens und seiner Wertmaßstäbe statt. Dies konnte ich ihm anhand mehrerer Bei-
spiele verdeutlichen. Schwieriger wird es das Gespür für seine authentischen
Wertbezüge zu bergen.
2 Praxisbericht 25
Da uns allen das Gespür für das „Eigene“ in unserem Leben in der Schnellle-
bigkeit des Alltags oft verloren geht, ist mir selbst nachfolgende These von
Frankl in meiner Ausbildung eine große Hilfe mir auf die Spur zu kommen:
“Solange es Angst vor Strafe gibt, die Hoffnung auf Belohnung oder den
Wunsch dem Über-Ich zu gefallen, ist das Gewissen noch nicht zur Sprache
gekommen.“ [20] Frankl
Aus diesem Blickwinkel heraus überprüfen wir gemeinsam Josefs Einstellungen
und Handlungen. Er erkennt Zusammenhänge, kann sich von einigen Einstel-
lungen distanzieren oder Handlungen bewusst zustimmen.
Schwerpunktthema ist in unseren Gesprächen jedoch Josefs Prägung durch die
Religion.
Das Grundvertrauen (1.GM), das durchaus im Glauben verankert sein kann, ist
für jeden Menschen lebenswichtig, um aus der Sicherheit und Geborgenheit des
Gehalten-werdens wachsen zu können.
Der baptistische Glaubensgrundsatz hingegen verkehrt Sicherheit in Indoktrina-
tion und Geborgenheit in Vereinnahmung. Dadurch wird die Person, deren
Hauptwesensmerkmal die Freiheit ist, unterdrückt. Kurzzeitige Entlastung durch
die Möglichkeit Lebensgestaltung und Probleme abgeben zu können, wirkt al-
lerdings verführerisch. Bei Josef zeigt sich indessen ganz deutlich, dass die
Person nicht manipulierbar ist: Unzufriedenheit durch die Unterdrückung des ei-
genen Gespürs für das Wesentliche statt Seelenheil.
Wichtig ist mir deshalb in den Gesprächen aufzuzeigen, dass Religion ein An-
gebot ist einen Schutzraum zu finden, in den der Mensch sich fallen lassen
kann. Doch das eigene Gespür ist immer wieder gefragt zu entscheiden, ob die-
ser Raum die Person umfängt oder einschließt. Josefs Aufgabe wird es sein das
zu überprüfen. Er wird entscheiden müssen, ob die Angst vor „geistiger Ob-
dachlosigkeit“ auszuhalten ist, um seiner Individualität und seiner Selbst-
Werdung gerecht zu werden. [21] vgl. Cammans, 1994, 370
So liegt das wichtigste Ergebnis in der Erkenntnis von Handlungsspielräumen,
die er parallel mit Leben ausfüllt.
Der erste Schritt ist der, dass ich ihn in seinem Vorhaben bestätige, sich inten-
siver mit der Musik zu beschäftigen.
2 Praxisbericht 26
Der Anfang war bereits gemacht. Josef musiziert mit seinem Vater auf privaten
Veranstaltungen von Gemeindemitgliedern. Darauf aufbauend planen wir zur
Weihnachtszeit im Café ein Konzert.
Hierbei geht es nicht nur um den öffentlichen Auftritt, sondern auch um die Ver-
antwortung für die Promotion und die Organisation. Josef kommt ‘in Wallung’.
Der vorher beklagte zu langsame Schritt verwandelt sich in leichtfüßigen Galopp
als es darum geht, Flyer zu entwerfen und zu verteilen, Aufbauten durchzufüh-
ren und Atmosphäre zu schaffen.
Die Konzerteinnahmen und die Einnahmen durch den Verkauf der CD‘s mit dem
Konzertmitschnitt sind neben dem Applaus ein sichtbarer und greifbarer Erfolg
seiner neuen Strategie: Ziel formulieren, Möglichkeiten sehen, Werte abwägen,
Entscheidungen treffen und handeln.
Um seine musikalischen Fähigkeiten weiterhin zum Einsatz bringen zu können,
ermutige ich ihn auch bei seiner Idee Keyboard-Unterricht zu erteilen. Zwei Kin-
der aus seiner Gemeinde nehmen das Angebot sofort an. Hierbei wird für ihn
erlebbar, dass auch in der Gemeinschaft Raum ist für sein Eigenes, dass sein
Eigenes nicht grundsätzlich im Widerspruch zu seinem Glauben steht, sondern
eher die individuelle Einstellung zu Geschehnissen be – bzw. verurteilt.
Josef bleibt auch im Thekendienst im Café und hat keine großen Schwierigkei-
ten die Dienstzeiten einzuhalten (manchmal gibt er doch seiner Faulheit nach).
Seine Belastbarkeit wächst langsam aber stetig.
Die neue Sichtweise der Lebensbedingungen verhilft ihm sogar zu dem Schritt,
sich einer anderen Baptistengemeinde anzuschließen, die seinem Erleben nach
die Auslegung der Bibel weniger streng lebt.
Nach zwei Jahren Arbeit im Café hat Josef einen Arbeitsplatz in den Werkstät-
ten der Institution. Die Arbeitszeit wird von 3 Stunden täglich sukzessive erhöht,
sodass letztendlich ein ‘ganz normaler’ Arbeitstag eingeübt wird. In seiner Frei-
zeit hat sich Josef einer Jazzband angeschlossen und ist nach wie vor der Star
bei Karaoke-Abenden. Zurzeit bemüht er sich um eine gesündere Lebenswei-
se, sprich sich das Rauchen abzugewöhnen und mehr frisches Gemüse anstatt
kalorienreicher Kost zu sich zu nehmen. Unsere Gespräche finden weiterhin je-
doch in größeren Abständen statt.
In kleinen Schritten erfolgen Erfolge durch die Ausrichtung auf das Eigene, auf
das Wert- und Sinnvolle.
2 Praxisbericht 27
2.6.2 Walter
Walters Lebensraum ist das Café. Es ist für ihn Familienersatz, Arbeitsstätte
und Hobbyraum. Walter ist 42 Jahre alt, 1,60 m groß, ein wenig rundlich. Die
meiste Zeit des Tages verbringt er im Café, um zu arbeiten oder als Gast. Er
kennt viele Gäste persönlich, bietet ihnen hier Gitarrenkurse an oder unterhält
sie zur Gitarre mit selbst komponierten Liedern. Ich erlebe ihn als fleißig, zuver-
lässig, hilfsbereit und immer gut gelaunt. Aufgrund seiner Krankheit nimmt er
regelmäßig Medikamente und lebt im Rahmen des Betreuten Wohnens in einer
eigenen Wohnung.
Nach ICD 10.61.0 liegt bei ihm eine dissoziale Persönlichkeitsstörung vor: labi-
les Persönlichkeitsbewusstsein, spontane Bedürfnisbefriedigung und intellek-
tuelle Minderbegabung. „Diese Art von Persönlichkeitsstörung gehört zu dem
gesetzgeberischen Begriff der seelischen Abartigkeit.“, heißt es in einer Beurtei-
lung der Psychiatrie, die ihm als Aktennotiz mitgegeben wurde auf seinen Weg
in die Freiheit. Freiheit hieß für ihn vor drei Jahren: Entlassung aus der Psy-
chiatrie nach dreizehn Jahren, weil er keine Gefahr für die Umwelt darstelle.
Normalerweise interessiere ich mich nicht so detailliert für die Krankengeschich-
te der Klienten. Ich erlebe die Menschen im Hier und Jetzt, in ihren Meinungen
und Handlungen. Sehr interessiert bin ich an dem, was ihnen heute wichtig ist.
Oft zur großen Verwunderung der Klienten, die bisher nur erlebt haben, dass
sie im Zusammenhang mit psychologischer Betreuung als erstes durch Akten
beschrieben und erklärt werden. Die Akte von Walter ‘musste’ ich im Rahmen
einer Gesprächsreihe lesen. Aber dazu später mehr.
Walters Position im Team des Cafés ist die des selbsternannten Hausmeisters,
wobei seine Betonung auf Meister liegt, manchmal durchaus ersetzbar durch
das Wort Chef.
Sein Aufgabenbereich erstreckt sich auf folgende Tätigkeiten: er erledigt die
Einkäufe, er versorgt die Bands, die im Café auftreten, mit technischem Equip-
ment und mit Verpflegung, er verteilt Flyer, und ist der Karaoke-Discjockey.
Wenn Personal fehlt, macht er zusätzlich Thekendienst und gegen einen klei-
nen Obolus putzt er am Wochenende die Räumlichkeiten.
Problematisch wird es, wenn er innerhalb dieser Tätigkeiten andere Teammit-
glieder kontrolliert und kritisiert, wenn er im Alleingang Entscheidungen trifft, die
ins Plenum gehören und wenn er Stellung nimmt zu Vorgängen, deren Beurtei-
lung der Leitung vorbehalten sein sollte.
2 Praxisbericht 28
Im Umgang mit ihm fällt mir auf, dass unsere Kontakte immer flüchtiger Art sind.
Er ist sehr impulsiv in seinen Handlungen, kommt schwer in den Dialog, indem
er oft nicht darauf achtet, ob sein Gegenüber ihm überhaupt zuhört respektive
zuhören kann.
Ende letzten Jahres bat Walter mich um Gespräche. Zu diesem Zeitpunkt hatte
er durch seinen Kontrollzwang und dadurch, dass er sich ungebetener weise
massiv in Leitungsaufgaben einmischte, das Gefühl sich immer rechtfertigen zu
müssen. Dies löste in ihm einen Zwiespalt aus: einerseits spürte er die Disso-
nanz zwischen ihm und den Teammitgliedern bzw. der Leitung – andererseits
war er der Meinung, dass sein Verhalten durchaus gerechtfertigt war. Er wollte
schließlich nur Gutes tun: der Betrieb sollte einwandfrei geführt werden, des-
halb hat er die Kollegen auf fehlerhafte Arbeiten aufmerksam gemacht und uns
wollte er unterstützen im Umgang mit den Anderen mittels ‘seines Gespürs für
kriminelle Energie’.
Wir vereinbaren wöchentliche Termine. Die Gesprächsführung gestaltet sich
anfangs schwierig. Walter wirkt nervös, hält keinen Blickkontakt, schweift vom
Thema ab und lässt mich gar nicht zu Wort kommen. Es gibt keinen Moment
des Verweilens weder optisch noch akustisch. Kein Halt. Keinen Dialog. Das
Beratungsgespräch gerät außer Kontrolle.
Dies ist der erste Ansatzpunkt für Veränderung. Bei den nachfolgenden Ge-
sprächen gebe ich die Sitzposition vor: wir sitzen einander gegenüber, ein Tisch
zwischen uns. Ich bitte ihn, mich während des Gesprächs anzusehen und spre-
che bewusst leise und langsam. Dieses Setting vermittelt ihm Halt (1.GM). Wir
kommen in den Dialog.
Das vordergründige Thema, seine Not sich immer rechtfertigen zu müssen, wird
schnell abgelöst durch die Thematisierung seiner Zeit in der Psychiatrie und der
sich daraus ergebenen Gefühle und Verhaltensweisen. Nach einer traumati-
schen Kindheit landet Walter verwahrlost auf der Straße. Er arbeitet als Strich-
junge und kommt wegen Betrugsdelikte und wiederholten Fahrens ohne Füh-
rerschein erst ins Gefängnis, später in die Psychiatrie aufgrund mangelnden
Unrechtbewusstseins. Dort wird er nach eigener Aussage für sein jetziges Le-
ben geschult. Er fühlt sich in der Psychiatrie ‘dem Abschaum der Gesellschaft
zugehörig’, da seine Mitinsassen auch Mörder und Sexualverbrecher sind. Er
fühlt sich ständig beobachtet und kontrolliert, als Person nicht gesehen und
nicht verstanden. Immer wieder hätte es Anhörungsverfahren gegeben, in de-
2 Praxisbericht 29
nen er auf Entlassung gehofft hatte. Da wäre dann aber jahrelang nach Akten-
lage entschieden worden, ohne genauer hinzuschauen inwieweit er sich verän-
dert hatte. Denn diese harte Schule hat ihn doch auf den richtigen Weg ge-
bracht – davon ist Walter überzeugt. Nur diese Beurteilungen, die ihn verurtei-
len, verunsichern ihn immer wieder. Walter zeigt mir seine Akte, in der seine
seelische Abartigkeit diagnostiziert wurde. (wie bereits erwähnt) Er möchte
dieses Schriftstück mit mir verbrennen. Er habe doch in den letzten drei Jahren
bewiesen wie gut er mit dem normalen Leben zurechtkommt, was ihm damals
keiner zugetraut habe.
Gemeinsam formulieren wir das Ziel um: nicht die Akte muss verbrannt werden,
sondern seine Einstellung zum angeblich Fest-geschriebenen. Dies versteht er.
Im Verlauf unserer Gespräche stellt sich heraus, dass ihm die Zeit in der Psy-
chiatrie fraglos dazu verholfen hat, sich seiner strafbaren Handlungen bewusst
zu werden. Er ist in den letzten Jahren nicht rückfällig geworden. Im Kontext
seiner Lebensgeschichte hat aber auch das Erleben des damaligen Freiheits-
entzugs massive Auswirkungen auf sein heutiges Lebensgefühl.
Für ihn sind feste Tagesstrukturen und feste Bezugspersonen sehr wichtig. Das
vermittelt ihm Halt und Vertrauen (1.GM). Entsteht darin ein Mangel, kommt es
zur zwanghaften Kontrolle seines Umfelds, damit seine Realität verlässlicher
wird. Wenn jedoch das Sicherheitsempfinden in ausreichendem Maße vorhan-
den ist, bricht das mangelnde Selbstwertgefühl auf (3.GM). Dann neigt er zur
narzisstischen Selbstbeschwörung.
All diese Erkenntnisse werden im alltäglichen Umgang miteinander umgesetzt:
Hatte er mir vorher, kaum dass ich das Café betreten hatte, mal ganz schnell
etwas ganz Wichtiges erzählt, so lässt er mich heute erst mal ankommen: Ja-
cke ausziehen, Tasche verstauen, Blickkontakt aufnehmen. In den Teamsit-
zungen achte ich darauf, dass er den Anderen ausreden lässt und zuhört ohne
Zwischenrufe. Mit Humor verweise ich ihn auf seine Position, wenn er seinen
Kollegen Anweisungen geben will oder ihr Verhalten aufgrund seiner langjähri-
gen Erfahrung aus ‘psychologischer Sicht’ interpretiert. Sein zwanghaftes Kont-
rollieren wird gezügelt durch das Regelwerk für die Teamarbeit. Das besagt,
dass derjenige, der nicht im Dienst ist, keinen Zutritt zu Thekenbereich und Kü-
che hat. Regeln kann Walter akzeptieren. Für die Stärkung seines Selbstwert-
gefühls trägt wesentlich das Erleben dazu bei, dass er für seine Leistungen ge-
lobt wird und für seinen Einsatz Dankbarkeit erfährt.
2 Praxisbericht 30
Die Situationen, in denen Walter von der Leitung ein rigoroseres Vorgehen ge-
genüber fehlerhaftem Verhalten einfordert, sind immer wieder Thema unserer
Gespräche. Sein Anliegen ist dabei, uns vor Missbrauch unserer Gutgläubigkeit
zu schützen und dem Verursacher durch Bestrafung auf den rechten Weg zu
verhelfen. An dieser Stelle frage ich sein Vertrauen uns gegenüber an, ob er
uns zutraut, dass wir bewusst handeln. Desweiteren versuche ich mit ihm zu
klären, ob die eingeforderte Bestrafung seiner Einstellung entspricht oder ob es
eher um eine Identifikation mit den damaligen Aufsehern gehe, den vermeintli-
chen Gut-Menschen, jenseits des ‘Abschaums’.
Es geht fortwährend darum, die Person Walter zu bergen, das Ich zu stärken.
Wie bei Josef wird seine Person sichtbar, wenn er sich musikalisch ausdrücken
kann. Das Selbst-sein kommt ebenfalls sichtbar zum Ausdruck, wenn er still
wird und sich traut Gefühle aufkommen zu lassen.
In unseren Gesprächen kann ich ihm die Sicherheit geben, dass er bestimmen
kann wie weit er sich offenbart und wie lange er belastende Gefühle aushalten
kann. Dadurch kann er Trauer und Wut in kleinen Schritten verarbeiten. Außer-
dem reflektieren wir gemeinsam, an welchen Stellen er sich über seine Arbeit
und Position definieren muss, um sich seiner selbst bewusst zu sein.
Mit der Ermutigung zum Selbst-sein-dürfen und dem Bewusstmachen vom
Entwicklungspotential seiner Person werde ich Walter weiter begleiten.
Walters Erfolg liegt in der Wahrnehmung, dass seine Fähigkeiten anerkannt
werden und dass er selbst stolz darauf sein kann. Er hat seine Möglichkeiten
gefunden mit den Bedingungen seines Lebens umzugehen. Die Person Walter
kann sich zum Schicksal frei verhalten und somit wird er weiter wachsen kön-
nen und ist kein festgeschriebenes Krankheitsbild.
Dies wird daran deutlich, dass er schneller Grenzüberschreitungen innerhalb
seiner Tätigkeitsfelder registriert und ihm manchmal schon selbst bewusst wird,
dass er sein Mitteilungsbedürfnis „entschleunigen“ muss. Außerdem hat er eine
Stelle als Karaoke-Discjockey außerhalb der Einrichtung angenommen, ein
kleiner Schritt ins „normale“ Leben.
3 Zusammenfassung 31
3 Zusammenfassung
Psychisch kranke Menschen wirkten in der ersten Begegnung befremdlich auf
mich. Krankheitsbilder, die mir im Kopf herumschwirrten vermischten sich mit
Bildern aus Film und Fernsehen, mit Berichten über Straftäter. Doch je öfter wir
uns begegneten und je mehr ich Vorstellungen und Erwartungen ausklammern
konnte, desto vertrauter wurden mir die Menschen und der Umgang mit ihnen
selbstverständlich.
Ich fand mich in ihnen wieder, in ihrem Denken und Fühlen und in den Verunsi-
cherungen in den Grundmotivationen. Wie bei jedem Menschen gibt es auch bei
mir Defizite. Der landläufig als gesund bezeichnete Mensch ist jedoch im Ge-
gensatz zu dem Kranken fähig, damit umzugehen, ohne dass sein Lebensvoll-
zug maßgeblich beeinträchtigt wird. Psychisch Kranke haben massive Störun-
gen in den Grundmotivationen und durch die Erkrankung wenig abrufbare Res-
sourcen, um diese aufzufangen.
Sie bekommen Hilfe durch Medikamente und Therapien. Für langjährige Klien-
ten gehören die Medikamenteneinnahme und die therapeutischen Gespräche
zum Alltag. Und so wie bei den Arzneien sind auch bei den Therapien ‘Abnut-
zungserscheinungen’ festzustellen. Die Logotherapie/Existenzanalyse bietet in
diesem Fall einen neuen Zugang zum Klienten.
Durch die Fokussierung auf die Person eröffnen sich dem Menschen mehr Frei-
heit, Eigenverantwortung und Handlungsspielraum. Die logotherapeutisch-
existenzanalytische Beratung und Begleitung ist deshalb eine ideale Ergänzung
zu den bewährten Psychotherapien. Obwohl der Zeitrahmen der Begleitung re-
lativ kurz war, konnte ich spürbare und sichtbare Veränderungen wahrnehmen.
Rückblickend auf meine Arbeit mit den Menschen, die ich beratend begleitet
habe, möchte ich noch folgenden Erfahrungswert hervorheben:
Im Hinblick auf die Klienten war und ist in der Beratung der Balanceakt zwi-
schen Nähe und Distanz besonders bedeutsam. Durch die phänomenologische
Haltung des Beraters entsteht für sie eine wohltuende Nähe, die dazu verführen
kann den Berater als Elternteil oder Freund zu sehen. Dies erfordert große
Achtsamkeit darauf, genügend Distanz zu wahren. Das Ziel, diesen Menschen
zur Eigenständigkeit zu verhelfen, darf nicht gefährdet werden.
3 Zusammenfassung 32
Die Quintessenz meiner Beobachtungen ist, dass psychische Erkrankungen oft
nicht nur einen medizinischen Hintergrund haben sondern auch Hinweisschilder
auf nicht gestillte Bedürftigkeiten sind. Die Lebensqualität kann sich jedoch
trotz Handicap steigern, wenn das, was der Person zu Eigen ist, gelebt werden
kann.
Wenn die psychisch erkrankten Menschen mit der Kraft ihrer Person in Berüh-
rung kommen, spüren sie, dass Veränderung durch die Freiheit des Werdens
immer möglich ist und sie somit wie Frankl „trotzdem Ja zum Leben sagen“
können.
Literaturverzeichnis 33
Literaturverzeichnis
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[IN 1] www.celtoslavica.de/sophia/Buber.html
Bildnachweis