LV-Nr. 541.035 , SS 09PS: Lektüre-PS: Geschichte der Philosophie BM 03 (John Locke)Leiter: Ass.-Prof. Dr.phil. Johannes BrandlFachbereich für Philosophie an der KGW-FakultätUNIVERSITÄT SALZBURG
KANN EIN KRIEG GERECHT SEIN?
Die Kriegsethik von John Locke
Philipp DollwetzelMatrikelnr.:0820518
20.07.2009
Inhalt
1 Einleitung 3
2 Was ist ein Präventivschlag? 3
3 Der Naturzustand 4
4 Die politische Gesellschaft und ihre Aufgaben 7
5 Der Staat im Kriegszustand 10
6 Drei Szenarien des gerechten Krieges 14
6.1 Im Verteidigungsfall 14
6.2 Im Falle der Neutralität 15
6.3 Der defensive Präventivschlag 17
7 Fazit 18
8 Literaturverzeichnis 21
1 Einleitung
Der Frage nach einem gerechten oder gerechtfertigten Angriffskrieg wurde in den
letzten Jahren, besonders im Zusammenhang mit den Kriegen in Afghanistan, Kosovo
und Irak wieder hohe Aktualität zugeschrieben. Herangezogen für diese Diskussion
wurden hauptsächlich jene Philosophen und Theologen, die sich in ihren Werken
explizit mit dem bellum iustum beschäftigt haben. Hier seien Augustinus, Thomas von
Aquin, Hugo Grotius, Francisco Suárez und Luis de Molina stellvertretend für
zahlreiche weitere einflussreiche Vertreter der Geisteswissenschaften genannt. John
Locke und seine Ansicht vom gerechten Krieg wurde in diesem Zusammenhang kaum
diskutiert, obwohl gerade die Regierungssysteme der Staaten, die die oben erwähnten
Kriege begonnen, im Kern dem in den Two Treatises of Government entwickelten
System entsprechen. Ein Grund hierfür mag sein, dass sich Locke nie explizit mit dieser
Thematik beschäftigte, d.h. keinen konkreten Katalog an Verboten, Geboten und
Bedingungen für das ius ad bellum und ius in bello erarbeitet hat. Da seine Position zur
Gerechtigkeit von Krieg mit seiner Theorie über legitime Herrschaft eng verwoben ist
und so schwer direkt greifbar ist, muss diese vielmehr erst aus seinen Treatises
herausgefiltert werden. So ist das Ziel dieser Abhandlung in der Hauptsache die Frage,
ob sich von Lockes Standpunkt aus eine Rechtfertigung eines Angriffs und im
Speziellen eines Präventivschlags entwickeln lässt. Dafür werde ich von der von Locke
geforderten Staatsform ausgehen und untersuchen, ob hier in einem Zusammenspiel von
Situationen, Innenpolitik und Außenpolitik eine Konstellation gefunden werden kann,
die solches unterstützt.
Lockes Theorien des Naturzustandes und der politischen Gesellschaft haben in diesem
Zusammenhang essentielle Auswirkungen auf die Untersuchung und müssen deshalb in
jedem Fall in die Betrachtung mit einfließen. Denn allein aus ihnen ergeben sich die
Verhaltensregeln im Fall eines Krieges.
Über die historische Entwicklung der Lehre vom gerechten Krieg wurde bereits sehr
viel sehr ausführlich geschrieben, weshalb ich dies hier ausklammere.1 Dem Ganzen
vorangestellt sei eine aktuelle Definition des Präventivschlags.
2 Was ist ein Präventivkrieg?
Bevor Lockes Text untersucht werden kann, muss festgelegt werden, was wir im
1 Ich verweise hier auf das Standardwerk zu diesem Thema: Walzer, Michael: Just and unjust wars. Amoral argument with historical illustrations. New York 1977.
3
Folgenden mit dem Terminus 'Präventivkrieg' (im weiteren Text synonym mit
'Präventivschlag') bezeichnen. Es gibt diverse Vorschläge, Präventivkrieg zu definieren.
Allen Definitionen ist jedoch gemeinsam, „dass es um das militärische Zuvorkommen
eines - in unmittelbarer oder ferner Zukunft - erwarteten Angriffs geht und der als
unvermeidlich angesehene Krieg daher als strategischer Überlegung begonnen wird.“2
Es handelt sich um einen „vorbeugenden Krieg“3, „der geführt wird, um der von einem
anderen Staat drohenden Gefahr rechtzeitig zuvorzukommen, bevor dieser übermächtig
wird.“4 Dabei geht es vor allem um die Vorbeugung von Veränderungen der
Mächtekonstellation zwischen Staaten. Ein Präventivkrieg wird also in der Hauptsache
geführt, um ein Mächtegleichgewicht zu bewahren.
„Der Präventivkrieg kann demnach Angriffs- aber auch Verteidigungskrieg sein, er
bildet keine eigene Kategorie dazwischen.“5
Die Einordnung eines Präventivkriegs in diese beiden Kategorien unterliegt diversen
Schwierigkeiten, da es hierfür entscheidend ist, „welches Wissen die den
Präventivschlag auslösende Partei über die militärische Stärke, Aufmarschbewegungen
und sonstige Vorbereitungen des Gegners hatte und ob diese Kenntnisse den Entschluss
zum Handeln maßgeblich bestimmt haben. (...) [Dies sind] oft schwer zu ermittelnden
Hintergründe und Absichten der Beteiligten.“6
Da John Locke eine eigene Definition des Kriegszustandes entwickelt hat, wird hier von
einer separaten Kriegsdefinition abgesehen.7
3 Der Naturzustand
Der Naturzustand ist nach Locke der Zustand bevor sich die Menschen „auf Grund ihrer
eigenen Zustimmung zu Gliedern einer politischen Gesellschaft machen.“8
Es ist heutzutage populär, hier die Theorien von Thomas Hobbes und John Locke als
gegensätzliche gegenüberzustellen, wobei nach Locke im Naturzustand eine gewisse
Harmonie unter dem Gesetz der Natur und nach Hobbes' Theorie dort gesetzloser Krieg
herrschen soll. Und dennoch, dies hat Richard Cox anschaulich in seinem Werk Locke
on War and Peace gezeigt, ist Lockes Naturzustand alles andere als harmonisch.9
2 Kunde, 2007, 11.3 ebd.4 Kunde, 2007, 10.5 Kunde, 2007, 11.6 Kunde, 2007, 12.7 Siehe hier bei Bedarf Kunde, 2007, 6-10.8 Locke, 1977, II.§15.9 Vgl. Cox, 1960, 45-63 & Specht, 1989, 179. Locke kannte, dies ist seinen Tagebucheinträgen zu
4
Locke definiert den Naturzustand am Anfang des zweiten Treatise wie folgt:
„Er ist [für die Menschen] ein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen
des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre
Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um
Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein.“10
Zudem sei er ein „Zustand der Gleichheit, in dem alle Macht und Rechtsprechung
wechselseitig sind, da niemand mehr besitzt als ein anderer“.11 Jeder Mensch habe im
Naturzustand das Recht die Vorteile der Natur zu genießen und seine angeborenen
Fähigkeiten zu gebrauchen, jedoch im Rahmen des Gesetzes der Natur, das
Gerechtigkeit und Barmherzigkeit fordert.12
Das Recht der Selbsterhaltung und das Recht auf Besitz sind Rechte der Natur, die sich
gegenseitig bedingen, und in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung.13 Locke
sieht den Selbsterhaltungstrieb als den angeborenen Faktor, der das menschliche
Handeln leitet.14 Die Vernichtung eines Lebewesens ist auch nur dann rechtens, wenn
dies zur Selbsterhaltung dient. Zu demselben Zweck hat der Mensch „unkontrollierbare
Freiheit, über seine Person und seinen Besitz zu verfügen“.15 Zudem gebe es keine
vorgeprägte Rangordnung unter den Menschen, die eine gegenseitige Vernichtung
rechtfertigen würde, denn sie seien alle Teil einer natürlichen Gemeinschaft.
„Wie ein jeder verpflichtet ist, sich selbst zu erhalten und seinen Platz nicht vorsätzlich
zu verlassen, so sollte er aus dem gleichen Grunde, und wenn seine eigene
Selbsterhaltung nicht dabei auf dem Spiel steht, nach Möglichkeit auch die übrige
Menschheit erhalten.“16
Solange also sein eigenes Leben nicht gefährdet ist, ist der Mensch durch das Gesetz der
Natur dazu verpflichtet, zum Erhalt seiner Artgenossen beizutragen.
„Er sollte nicht das Leben eines anderen oder, was zur Erhaltung des Lebens dient:
Freiheit, Gesundheit, Glieder oder Güter wegnehmen oder verringern, - es sei denn, daß
an einem Verbrecher Gerechtigkeit geübt werden soll.“17
entnehmen, Hobbes Philosophie sehr gut. (Vgl. Cox, 1960, 4-5) Seine Zeitgenossen sahen in ihmeinen ''Hobbisten''. (Vgl. Cox, 1960, 22-23) Locke bezeichnet sein Staatskonstrukt ebenfalls als„Leviathan“ (Locke, 1977, II.§98)
10 Locke, 1977, II.§4.11 ebd.12 Vgl. Locke, 1977, II.§5.13 Vgl. Cox, 1960, 88-89, vgl. Locke, 1977, II.§§215-231 zu Lockes Definition von Eigentum.14 Vgl. Locke, 1977, I.§86 & Euchner, 1969, 68-69.15 Locke, 1977, II.§6.16 Locke, 1977, II.§6.17 ebd. Leben, Freiheit und Eigentum sind die drei Güter, die in Lockes politischer Philosophie dem
Menschen von der politischen Gewalt garantiert werden müssen. (Vgl. Specht, 1989, 176)
5
Diese Ausübung von Gerechtigkeit liegt in der Hand des Geschädigten selbst und soll in
dem Maß erfolgen, dass eine Tatwiederholung verhindert wird. Falls materieller
Schaden entstanden ist, so hat der Geschädigte das Recht diesen am Eigentum des
Täters zu befriedigen. Der Strafakt dient nach Locke also zur Vergeltung und
Abschreckung.18 Für die Wiedergutmachung kann der Geschädigte Unterstützung
anfordern.19 Exekutive, Judikative und Legislative liegen also beim Individuum selbst,
was nach Locke rein aus der Notwendigkeit heraus entspringt, dass das Gesetz der
Natur ohne Richter und Vollstrecker keine Wirksamkeit besitzen würde.20
Die Problematik bei der üblichen Interpretation von Lockes Naturzustand - ein
harmonischer Zustand geregelt durch das Gesetz der Natur - ist, wie auch Richard Cox
richtig erkannt hat, die folgende. Wenn der Mensch im Naturzustand konsequent unter
dem Gesetz der Natur und Vernunft leben würde, dann würde dies bedeuten, dass er sich
der Prinzipien des Gesetzes der Natur bewusst wäre und bewusst danach handeln
würde. Es würde sich überhaupt nicht die Notwendigkeit ergeben, eine politische
Gesellschaft bilden zu müssen, wenn das Gesetz der Natur Leben, Freiheit und Besitz
der Menschen hinreichend sichern würde.21 Dies ist auch Locke bewusst.22 So ist die
Kenntnis der Gebote des Gesetzes der Natur alles andere als natürlich23 und der
Naturzustand in Wahrheit ein Zustand geprägt durch ständige Unsicherheit, „voll von
Furcht und ständiger Gefahr“.24
Locke weiß, dass die meisten Regierungen nicht durch Übereinkunft des Volkes
gebildet wurden, d.h. das Gesetz der Natur wurde in solchen Fällen „vollkommen
ignoriert“.25 An mehreren Stellen spricht Locke jeder solchen absoluten Herrschaft, sei
es eine Monarchie oder Aristokratie, das Potential ab, den Naturzustand beenden zu
18 Vgl. Locke, 1977, II.§§7-8 & II.§12. „Er darf somit jedem, der dieses Gesetz übertreten hat, sovielSchaden zufügen, wie es notwendig ist, ihn seine Tat bereuen zu lassen, um dadurch ihn und durchsein Beispiel auch andere davon abzuhalten, ein gleiches Unrecht zu begehen.“ (Locke, 1977, II.§8)
19 Vgl. Locke, 1977, II.§10.20 Vgl. Locke, 1977, II.§7.21 Vgl. Euchner, 1969, 184-185, 192-193 & Cox, 1960, 70-71. „If men are in fact all free and equal, and
under the law of nature or reason, this seems to mean that they naturally are cognizant of the properway of living, as well as of the proper principles for the founding of political societies. How does ithappen, then, that they must be taught those principles by Locke, who, in turn, has made a long anddifficult investigation of them?“ (Cox, 1960, 70)
22 Vgl. Locke, 1977, II.§§124-128 & II.§135 (in Lockes Kommentar).23 Vgl. Cox, 1960, 94.24 Locke, 1977, II.§123. (Hervorhebungen durch den Verfasser) Vgl. zudem Locke, 1977, II.§91 & Cox,
1960, 72-73 sowie Specht, 1989, 174, 178. „In Wirklichkeit gewinnen wir das natürliche Gesetz wiealle theoretischen und praktischen Prinzipien durch die Verallgemeinerung bestimmterEinzelerfahrungen. Seine Kenntnisse beruht also nicht primär auf Instinkt, auf einem allgemeinenKonsens aller Menschen, auf Eigennutz oder auf dem Prinzip der Selbsterhaltung. Allein dieWahrnehmung kann die wirkliche Quelle unserer Kenntnis dieses Gesetzes sein.“ (Specht, 1989, 174)
25 Vgl. Locke, 1977, II.§94, II.§175 & Cox, 1960, 71.
6
können, was eben nur einer einvernehmlich entstandenen Regierung zukäme.26 Die
absolute Monarchie sei eventuell noch schlimmer als der Naturzustand, denn „alle
Fürsten und Herrscher von unabhängigen Regierungen“ befänden sich im Naturzustand
gegenüber ihren Untertanen, während diese selbst weniger Freiheit besäßen als ihnen
natürlich gegeben.27
Aufgrund der relativen Seltenheit einer einvernehmlich entstandenen bürgerlichen
Regierung, ist klar, dass diese Gesellschaftsform keine natürliche ist, sondern Ziel einer
Entwicklung weg von der Natur des Menschen.28
4 Die politische Gesellschaft und ihre Aufgaben
Locke kennt also die Nachteile des Naturzustandes und das vernunftlose und parteiische
Handeln der Menschen und einzig „eine bürgerliche Regierung [sei] das geeignet
Heilmittel gegen die Nachteile des Naturzustandes“.29 Indem die Menschen ihre eigenen
Rechte der Legislative, Judikative und Exekutive einer unter Zustimmung aller
entstandenen Regierung übertragen (Gesellschaftsvertrag), versprechen sie sich mehr
Sicherheit für ihr Leben, ihre Freiheit und ihr Eigentum (d.h. vor allem Vermeidung des
Kriegszustandes). Das Wohl der Bürger ist somit Ziel der Regierung.30 Diese Regierung
ist die „gemeinsame Appellationsinstanz“, an die sich die Bürger richten können.31 Die
spezifische Regierungsform (Demokratie, Monarchie, etc.) ist dabei nicht entscheidend,
solange sie von der Mehrheit legitimiert wird und nicht absolut gesetzt wird, d.h. auch
ein Monarch ist dem Wohl des Volkes verpflichtet.32
Ich wiederhole, das Ziel einer bürgerlichen Regierung ist das Wohl ihrer Bürger, d.h.
Leben, Freiheit und Besitz der Bürger zu bewahren. Dies zeigt auch der von Locke für
diese Art der politischen Gesellschaft gewählte Bezeichnung 'Commonwealth', der im
weiteren Text in dieser Bedeutung verwendet wird.33
Besonders betont wird von Locke für die Erfüllung dieser Aufgabe zum einen die
26 Vgl. Locke, 1977, II.§§13-14 & II.§90. Sobald ein Mensch den Besitz eines Artgenossen, d.h. Leben,Freiheit und Gut, unter seine Gewalt bringen oder zerstören will, begibt er sich gegenüber diesem inden Kriegszustand, und dies ist bei der Machtergreifung eines Alleinherrschers der Fall.
27 Vgl. Locke, 1977, II.§§13-14 & Specht, 1989, 181.28 Vgl. Cox, 1960, 106.29 Locke, 1977, II.§13.30 Vgl. Locke, 1977, II.§§123-124; Cox, 1960, 70 sowie Specht, 1989, 178, 180 & Euchner, 1969, 196.
„Der Beschluß der Mehrheit [gilt] als der Beschluß aller“. (Locke, 1977, II.§96)31 Specht, 1989, 180.32 Vgl. Locke, 1977, II.§§152-153 & II.§§102, 106-107, sowie II.§132. „Aus welchem Grund auch
immer zuerst die Herrschaft einer einzigen Person übertragen wurde, sicher ist, daß sie dieser Personnur zum Wohl und Schutz der Allgemeinheit anvertraut wurde.“ (Locke, 1977, II.§110)
33 Vgl. Locke, 1977, II.§131 & II.§§133-134 & Euchner, 1969, 199-200.
7
Wichtigkeit von Strafe (im speziellen der Todesstrafe), um den Besitz von Innen, und
zum anderen die zentrale Rolle der Außenpolitik, um ihn vor Eingriffen von Außen zu
schützen.34
Locke trennt hierfür die politische Gewalt explizit in legislative, exekutive und
föderative Gewalt.35 Die Legislative ist die oberste Gewalt und oberster Richter, die zum
Wohle aller Bürger nicht willkürlich entscheidet.36 Damit dies gewährleistet ist, besteht
die Regierung aus gewählten Vertretern, die Gesetze gemäß dem Willen des Volkes und
im Einklang mit dem Gesetz der Natur verabschieden.37 Bei jeder Wahl gilt die
Entscheidung der Mehrheit.38
Nur die Regierung, also „die bürgerliche Gewalt [, darf] Gesetze zum Schutz des
Besitzes erlassen, Übertretungen bestrafen, über Krieg und Frieden entscheiden und bei
der Durchführung von Gesetzen die Hilfe der Bürger in Anspruch nehmen.“39
In diesem Zusammenhang hat die Regierung die Kompetenz „durch ein gelegentliches
Urteil, das durch die jeweiligen Umstände des Falles begründet wird, [zu] entscheiden,
wie weit Schädigungen von außen bestraft werden sollen. (...) [Hierfür] darf sie auf die
gesamte Kraft ihrer Mitglieder zurückgreifen, wenn dies notwendig sein sollte.“40
Dies bedeutet, der Bürger hat eine nicht unerhebliche Verpflichtung gegenüber dem
Staat. Eine Verweigerung der Wehrpflicht wäre beispielsweise demnach nicht nur gegen
das Gesetz, sondern auch moralisch höchst verwerflich. Die Verpflichtung des Bürgers
gegenüber der Regierung wird an diversen Stellen immer wieder betont.41
Locke sieht die so geartete politische Gesellschaft als „einen einzigen politischen
Körper, in dem die Mehrheit das Recht hat, zu handeln und die übrigen
mitzuverpflichten.“42 Der Begriff des Körpers wird besonders im Zusammenhang mit
der Außenpolitik wichtig, denn wenn sich „alle Staaten (...) untereinander im
34 Vgl. Locke, 1977, II.§3; Specht, 1989, 176 & Rostock, 1974, 107. Locke zum Wesen der frühenpolitischen Gesellschaft: „Es ist deshalb auch anzunehmen, daß ihre Sorge und ihr Denken zunächstnur darauf gerichtet war, wie sie sich gegen fremde Gewalt schützen konnten.“ (Locke, 1977, II.§107)
35 Eine genauere Analyse der Gewaltenteilung bei Locke wurde von Michael Rostock durchgeführt.36 Vgl. Specht, 1989, 181-182; Locke, 1977, II.§89, II.§135 sowie II.§149 & Euchner, 1969, 201. Die
Legislative kann niemals wieder an das Volk zurückfallen, solange die Regierung rechtmäßig besteht.(Vgl. Locke, 1977, II.§243)
37 Vgl. Locke, 1977, II.§87, II.§134 & II.§136.38 Vgl. Locke, 1977, II.§96 & Specht, 1989, 181.39 Specht, 1989, 180-181. (Hervorhebungen durch den Verfasser) Vgl. Locke, 1977, II.§88-89 & II.§130.40 Locke, 1977, II.§88. (Hervorhebungen durch den Autor) An derselben Stelle schreibt Locke zudem:
„So hat er [Anm. d. A.: der Bürger] doch dem Staat gleichzeitig (...) auch ein Recht verliehen, zurVollstreckung der Urteile des Staates seine Kräfte in Anspruch zu nehmen, so oft er dazu berufenwird. Denn es sind ja in Wahrheit seine eigenen Urteile, da sie von ihm selbst oder von seinenVertretern gefällt werden.“
41 Vgl. Cox, 1960, 116-117 sowie Euchner, 1969, 201-203, 212.42 Locke, 1977, II.§95. (Hervorhebungen durch den Verfasser) Vgl. zudem Locke, 1977, II.§96.
8
Naturzustand“43 befinden und diese Staaten als Körper bewegt durch ihre einzelnen
politischen Glieder agieren, dann gleicht die Beziehung zwischen Staaten der von
souveränen Menschen im Naturzustand.44
Aus diesem Zustand leitet Locke die sogenannte natürliche Gewalt ab. Sie ist die
spezielle Gewalt, die „über Krieg und Frieden, über Bündnisse und all die
Abmachungen mit allen Personen und Gemeinschaften außerhalb des Staates
[entscheidet], und man kann, wenn man will, von einer föderativen Gewalt sprechen.“45
Die Föderative ist also wie die Exekutive eine ausführende Gewalt, in der Aufgabe aber
unterschiedlich, da letztere rein für innere Belange zuständig ist. Beide sind an die
stehenden Gesetze der Legislative gebunden.46 Da aber die Föderative nach Lockes
Ansicht „weitaus schwerer durch vorher gefaßte, stehende, positive Gesetze zu leiten“
ist, bleibt hier nichts anderes als ein Kompromiss:
„Es [Anm.d.A.: die Föderative] muß deshalb notwendigerweise der Klugheit und
Weisheit derjenigen überlassen bleiben, in deren Händen sie liegt, sie zum öffentlichen
Wohl zu gebrauchen. (...) wie man sich aber Fremden gegenüber verhalten soll, hängt
zum großen Teil von deren Handlungsweise ab und von der Mannigfaltigkeit ihrer
Absichten und Interessen. Daher bleibt es auch zum großen Teil der Klugheit derjenigen
überlassen, denen diese Gewalt übertragen worden ist, sie nach bestem Können zum
Wohl des Staates zu handhaben.“47
Locke empfiehlt zur Verbesserung der Kontrolle hier eine Zusammenlegung von
Exekutive und Föderative unter die Aufsicht der Legislative.48 Falls die Föderative
gegen das Wohl des Volkes handelt, dann hat es das Recht die Legislative anzurufen, um
die föderative Gewalt zu regulieren.
Die Exekutive besitzt für unvorhersehbare Situationen (Katastrophen, plötzliche
Überfälle, etc.) zudem eine sogenannte Prärogative, deren Aufgabe es ist, in Fällen, wo
es noch kein stehendes Gesetz gibt oder die Legislative für eine Entscheidung zu
langsam ist, adäquat, d.h. für das Wohl des Volkes, solange stellvertretend zu handeln,
bis ein entsprechendes Gesetz beschlossen wurde. Die Prärogative wird in den meisten
Fällen durch einen Monarchen oder Präsidenten vertreten. Das Volk kann die Rechte der
43 Locke, 1977, II.§183.44 „Denn mit den Staaten verhält es sich wie mit einzelnen Menschen“. (Locke, 1977, II.§101)45 Locke, 1977, II.§146.46 Vgl. Locke, 1977, II.§147 & Cox, 1960, 124-127. Genaueres zur Exekutive bei Rostock, 1974, 107-
154.47 Locke, 1977, II.§147. „However, Locke supplies no very precise answer to the question of how much
independence.“ (Cox, 1960, 127)48 Vgl. Locke, 1977, II.§148 & II.§§152-153.
9
Prärogative ebenfalls eingrenzen.49 Sobald irgendein Teil der Regierung zum
dauerhaften Schaden des Volkes handelt, erhält das Volk das Recht zum Widerstand, um
die bestehende Regierung aufzulösen und neu zu bilden.50
„Man kann deshalb auch nie annehmen, daß sich die Gewalt der Gesellschaft oder der
von ihr eingesetzten Legislative weiter erstrecken soll als auf das gemeinsame Wohl.
(...) Wer immer daher die Legislative oder höchste Gewalt eines Staatswesens besitzt, ist
verpflichtet, nach festen, stehenden Gesetzen zu regieren, die dem Volke verkündet und
bekanntgemacht wurden, und nicht nach Beschlüssen des Augenblicks; (...) Weiter ist er
verpflichtet, die Macht dieser Gemeinschaft im Innern nur zur Vollziehung dieser
Gesetze, nach außen zur Verhütung und Sühne fremden Unrechts und zum Schutz der
Gemeinschaft vor Überfällen und Angriffen zu verwenden. Und all dies darf zu keinem
anderen Ziel führen als zum Frieden, zur Sicherheit und zum öffentlichen Wohl des
Volkes.“51
5 Der Staat im Kriegszustand
Nachdem nun die Verteilung der Kompetenzen im Commonwealth geklärt sind, kann
erarbeitet werden, wie dieser Apparat im Falle eines Krieges reagieren kann und darf.
Dazu wird im Folgenden zuerst der Kriegszustand, wie ihn Locke versteht, erläutert.
Danach kann anhand von den oben festgestellten Regelungen die Rechtfertigung von
Aggression, Neutralität und Defensive im Krieg entwickelt werden. Da Locke Staaten
und Menschen gleichermaßen als individuelle Körper im Naturzustand sieht, sind
Verhaltensregeln hier analog.52
Der Kriegszustand wird von Locke wie folgt definiert:
„Der Kriegszustand ist ein Zustand der Feindschaft und Vernichtung. Wer deshalb
durch Wort oder Tat einen nicht in Leidenschaft und Übereilung gefaßten, sondern in
ruhiger Überlegung geplanten Anschlag auf das Leben eines anderen kundgibt, versetzt
sich dem gegenüber, gegen den er eine solche Absicht erklärt hat, in den
Kriegszustand.“53
Sehr wichtig für die Fragestellung ist hier, dass der Kriegszustand auch „durch Wort“,
49 Vgl. Locke, 1977, II.§§159-168 & Cox, 1960, 128-129.50 Vgl. Locke, 1977, II.§§149-150.51 Locke, 1977, II.§281. „Sie ist verpflichtet, nach öffentlich verkündeten, stehenden Gesetzen und durch
anerkannte, autorisierte Richter für Gerechtigkeit zu sorgen und die Rechte der Untertanen zuentscheiden.“ (Locke, 1977, II.§136)
52 Vgl. Locke, 1977, II.§176, II.§183 & Cox, 1960, 137,148.53 Locke, 1977, II.§16. (Hervorhebungen durch den Verfasser)
10
„erklärte Absicht“ und Kundgebung entstehen kann, was nicht einem in Rage
ausgesprochenen Fluch entspricht, sondern einer offiziellen Kriegserklärung, aber auch
einer dauerhaften ernsthaften Provokation.54
Jeder Versuch, einen Menschen oder eine Gesellschaft in eine absolute Gewalt zu
zwingen, resultiert im Kriegszustand, da dies Raub der natürlichen Freiheit des
Menschen bedeutet (unrechtes Sklaventum).55
„Er [Anm.d.A.: der Angreifer] setzt somit sein Leben der Gewalt eines anderen aus, so
daß es ihm dieser oder sonst irgend jemand, der sich mit ihm zum Zwecke seiner
Verteidigung verbindet und Partei für ihn ergreift, nehmen kann.“56
Wie bereits im obigen Kapitel über den Naturzustand angedeutet, kann eine neutrale
Partei einem angegriffenen Staat beistehen und eine Allianz bilden. Ein Staat hat jedoch
keinerlei politische Gewalt über seine Allianzpartner.57
„Es ist vernünftig und gerecht, daß ich ein Recht habe, etwas zu vernichten, was mir mit
Vernichtung droht. Denn da das Grundgesetz der Natur verlangt, daß die Menschheit so
weit wie möglich erhalten werden soll, ist die Sicherheit des Unschuldigen vorzuziehen,
wenn schon nicht alle erhalten werden können. Man darf einen Menschen, der einem
den Krieg erklärt oder der eine Feindseligkeit gegen seine Existenz gezeigt hat, aus
demselben Grund töten, aus dem man einen Wolf oder Löwen tötet. Denn solche
Menschen sind nicht durch das gemeinsame Gesetz der Vernunft gebunden und kennen
keine anderen Regeln als die der rohen Kraft und Gewalt. Sie dürfen deshalb wie
Raubtiere behandelt werden, wie jene gefährlichen und schädlichen Geschöpfe, die
einen mit Sicherheit vernichten, sobald man in ihre Gewalt fällt.“58
Dieser Passus ist höchst problematisch. Hier stehen sich gnadenlose Brutalität und
Humanität gegenüber. Es ist fragwürdig, ob auf einen Akt der Gewalt zwangsläufig
durch einen Akt der Gewalt reagiert werden muss. Locke sieht hierin wohl eine
Notwendigkeit, wenn er behauptet, dass „in allen Lagen und unter allen Umständen (...)
es das beste Heilmittel gegen ungesetzliche Gewalt [ist], ihr Gewalt
entgegenzustellen.“59 Nach Locke bringt ein ungerechter Akt der Aggression
54 „Gewalt aber, oder die erklärte Absicht, gegen die Person eines anderen Gewalt anzuwenden,bedeutet, wo es auf Erden keinen gemeinsamen Oberherrn gibt, den man um Hilfe anrufen könnte,den Kriegszustand.“ (Locke, 1977, II.§19)
55 Vgl. Locke, 1977, II.§17 & Cox, 1960, 74-75. Eine absolute Gewalt ist charakterisiert durch absoluteWillkür. Definition natürlicher Freiheit: Vgl. Locke, 1977, II.§§22-23.
56 Locke, 1977, II.§16. (Hervorhebungen durch den Verfasser)57 Vgl. Locke, 1977, II.§177.58 Locke, 1977, II.§16. (Einige Hervorhebungen durch den Verfasser) Allein durch ungerechten
Gebrauch von Gewalt gerät man in den Kriegszustand. (Vgl. Locke, 1977, II.§181)59 Locke, 1977, II.§155. (Hervorhebungen durch den Verfasser) Im selben Abschnitt schreibt zudem: „In
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notwendigerweise eine Entmenschlichung des Aggressors mit sich. Hinzu kommt, dass
dieser sein Recht auf Leben durch den Angriff verwirkt hat und somit auf eine Ebene der
Wertigkeit gerät, die im Prinzip noch unter einer animalischen Stufe liegt. Besonders im
Zusammenhang mit Kriegsgefangenen erweist sich diese Haltung als zweifelhaft. Der
rechtliche Zustand von Kriegsgefangenen, die Locke mit Sklaven gleichsetzt, ist bei ihm
wie folgt charakterisiert:
Sklaven „sind Menschen, die in einem gerechten Krieg gefangengenommen wurden und
somit nach dem Recht der Natur unter der absoluten Herrschaft und willkürlichen
Gewalt ihres Herren stehen. Diese Menschen haben, wie ich schon sagte, ihr Leben, und
damit gleichzeitig ihre Freiheit verwirkt, und sie haben ihren gesamten Besitz verloren.
(...) so können sie in diesem Zustand auch nicht als Teil der bürgerlichen Gesellschaft
betrachtet werden.“60
Würde man dieser Argumentation in der Praxis konsequent folgen, dann wäre eine
Ermordung sämtlicher Kriegsgefangenen gerechtfertigt, im Besonderen falls sie die
Versorgung der Bürger mit Nahrung durch ihren Konsum gefährden würden.61
Der Sieger in einem gerechten Krieg besitzt eine vollkommene und ausschließlich
despotische Gewalt über den Besiegten, sie ist ein fortgesetzter Kriegszustand. Diese
despotische Gewalt unterscheidet sich jedoch von einer absoluten Gewalt. Der Sieger
besitzt Gewalt über Leben und Tod der Besiegten. Wobei er diese Gewalt nur über die
Personen hat, die den Krieg aktiv unterstützt haben.62 Das Leben und Eigentum von
Frauen, Kindern und unschuldigen Angehörigen darf generell nicht angetastet werden.
Locke ist sich aber bewusst, dass diese Unterscheidung meist nicht getroffen wird.63 Es
ist für den Sieger und Besetzer eines Landes praktisch unmöglich, zwischen Schuldigen
und Unschuldigen am Krieg zu unterscheiden. Hier sei die Problematik der
fehlgeschlagenen Entnazifizierung im Deutschland der Nachkriegszeit als Beispiel
erwähnt.
allen Lagen und unter allen Umständen ist es das beste Heilmittel gegen ungesetzliche Gewalt, ihrGewalt entgegenzustellen.“
60 Locke, 1977, II.§85. Sklaverei ist fortgesetzter Kriegszustand. (Vgl. Locke, 1977, II.§24)61 Auch Walter Euchner hat die dahinterstehende Problematik erkannt. Vgl. Euchner, 1969, 186-187.
62 Vgl. Cox, 1960, 119, 158. Eine Präzisierung der Bedeutung von 'aktiver Unterstützung' von Kriegbleibt uns Locke schuldig.
63 Vgl. Locke, 1977, II.§172, II.§§178-180 & II.§185. „Denn da er sich von der Vernunft abgekehrt hat,die von Gott verliehen wurde, damit sie den Menschen untereinander als Richtschnur diene und ihrgemeinsames Band sei, das Menschengeschlecht zu einer einzigen Gemeinschaft und Gesellschaft zuvereinigen, da er weiter auf den Weg des Friedens verzichtet hat, den die Vernunft uns lehrt, und dieGewalt des Krieges gebraucht, um einem anderen seine ungerechten Absichten aufzuzwingen, wozuer kein Recht hat“, ist die despotische Gewalt über den Angreifer gerechtfertigt.
12
„Wenn aber die unmittelbare Gewalt nicht mehr besteht, so ist der Kriegszustand (...)
beendet“, was der Fall ist, sobald eine gesetzgebende Instanz einvernehmlich eingesetzt
wurde. Verträge zwischen Kriegsparteien sind wie alle Verträge bindend und dürfen nur
unter ehrlicher Zustimmung der Besiegten abgeschlossen werden.64 Existiert diese nicht,
so dauert der Kriegszustand an. „Die unschuldige Partei hat dann solange das Recht,
den anderen, wo immer sie kann, zu vernichten, bis der Angreifer die Hand zum Frieden
bietet und den Wunsch zur Versöhnung äußert.“65
Das Vermögen und das Eigentum der Besiegten (nicht der unschuldigen Angehörigen
des Besiegten!) darf nur zur Entschädigung der durch den Krieg verursachten Schäden
aufgewendet werden.66 Der Eroberer hat generell kein Recht auf das Land und dessen
Erträge (natürliche Güter) des Besiegten.67 Die Problematik der Höhe von
Reparationszahlungen ist bekannt, hier gibt es keinen übergeordneten Gutachter, so
muss hier allein auf den Gerechtigkeitssinn und Ermessen des Eroberers vertraut
werden.
Angenommen, dass sämtliche Mitglieder einer Gemeinschaft als aktive Unterstützer
eines ungerechten Krieges betrachtet werden, dann sind aufgrund ihrer politischen
Unmündigkeit Kinder stets schuldlos und bleiben freie Menschen. Sie übernehmen dann
das Eigentum der Eltern und es ist dann ihre Aufgabe, eine neue Regierung zu bilden.68
Es ist zweifelhaft, ob es gerechtfertigt ist, beide Elternteile des Kindes zu
versklaven/hinzurichten. Hier steht m.E. eindeutig das Gebot der Erhaltung der
Menschheit über der Kriegsschuld, da Kinder ohne Versorgung der Eltern praktisch
hilflos sind.
Dennoch hat sich gezeigt, dass der Eroberer in gerechter Sache in seiner Gewalt über
das eroberte Land nach Locke rechtlich stark eingeschränkt ist.
Richard H. Cox fast dies sehr gut zusammen: „In principle the just causes of war are
separable into those of defence, recovery of and reparation for property damaged, and
64 Vgl. Locke, 1977, II.§195.65 Locke, 1977, II.§20. Bei Rechtsverdrehung, Parteilichkeit und Deckung von Kriegsverbrechen auf
beiden Seiten in der Phase des Wiederaufbaus besteht der Kriegszustand fort.66 Vgl. Locke, 1977, II.§182 & Euchner, 1969, 204-205. Frauen und Kinder „haben den Krieg nicht
geführt und ihn auch nicht unterstützt. Ich [Anm.d.A.: der Aggressor] konnte ihr Leben nichtverwirken, denn es gehörte mir nicht, daß ich es verwirken konnte. Meine Frau hatte einen Anteil anmeinem Vermögen; auch diesen konnte ich nicht verwirken. (...) die Kinder haben einen Anspruch aufdas Vermögen ihres Vaters zu ihrem Unterhalt. (...) Das grundlegende Gesetz der Natur verlangt, daßalles soweit wie möglich erhalten werden soll.“ (Locke, 1977, II.§183)
67 Vgl. Locke, 1977, II.§184, Locke, 1977, II.§193 & Euchner, 1969, 64-65.68 Locke, 1977, II.§73 & §§188-189. „Jeder Mensch wird mit einem zweifachen Recht geboren: Erstens
mit einem Recht auf Freiheit für seine Person, über die kein anderer Macht hat und über die nur erselbst frei verfügen kann. Zweitens mit einem Recht, zusammen mit seinen Brüdern vor allen anderenMenschen den Besitz seines Vaters zu erben.“ (Locke, 1977, II.§190)
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punishment to the offender so as to restrain him and warn others, in practice all three are
most likely to be joined together in the fighting of a war for lawful reasons.“69
6 Drei Szenarien des gerechten Krieges
Aus dem obigen Regelwerk, das vom Naturzustand ausgehend aufeinander aufbaut,
können nun die speziellen Verhaltensregeln für den Kriegsfall aufgestellt werden.
Hierzu werden drei Szenarien unterschieden. Im ersten Fall wird das Commonwealth
angegriffen, im zweiten ist es neutral und im letzten Szenario führt es selbst einen
Angriff aus. Es scheint auf den ersten Blick, dass ein Krieg im ersten Fall gerechtfertigt
ist, während in den anderen beiden Fällen keine Rechtfertigung erlangt werden kann.
Dies soll im Folgenden überprüft werden.
6.1 Im Verteidigungsfall
Wird das Commonwealth von einer fremden Macht angegriffen, so hat es das Recht und
die Verpflichtung gegenüber seinen Untertanen, sich zu verteidigen.70 Durch den Angriff
versucht der Aggressor, ein Volk unter seine absolute Gewalt zu zwingen, was bedeutet,
dass er versucht, den Mitgliedern des Commonwealth im Mindesten Freiheit oder
Eigentum zu rauben. Damit verstößt er gegen das Gesetz der Natur, dies erlaubt dem
Angegriffenen, die Verteidigung mit aller Härte auszuführen, da der Angreifer seinen
menschlichen Status durch seine Aggression praktisch verloren hat.71 Hierbei ist es eine
Notwendigkeit, zur Verteidigung Gewalt einzusetzen. Bei einem unvorhergesehenen
Überfall, der in seiner Art in den stehenden Gesetzen nicht berücksichtigt wurde, darf
auch die Prärogative einspringen.
Im Falle einer Verteidigung ist jeder Bürger verpflichtet, seinen Beitrag zu dieser zu
leisten. Eine Verweigerung, seine Kraft für den Krieg anzubieten, ist Verrat an der
Gesellschaft, da so die wechselseitige Verpflichtung zwischen Regierung und
Individuum missachtet werden würde. „Denn für die Sicherheit des Volkes ist es besser,
wenn einige wenige Privatpersonen hin und wieder Gefahr laufen, leiden zu müssen“.72
Das Primat der Selbsterhaltung der Gesellschaft steht nach Locke über dem Gebot der
Erhaltung der Menschheit. Barmherzigkeit ist jedoch, falls möglich, geboten, aber im
Falle einer Bedrohung nicht das primäre Maß der Handlungen.73
69 Cox, 1960, 157.70 Vgl. auch Locke, 1977, II.§239.71 Vgl. auch Locke, 1977, II.§235.72 Locke, 1977, II.§205. Vgl. zudem Cox, 1960, 119-120.73 Vgl. Cox, 1960, 85.
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Sollte der Angreifer siegreich sein, stehen dem eroberten Volk nach dem Gesetz der
Natur alle Mittel zur Verfügung gegen diese absolute Gewalt solange zu rebellieren, bis
sie die Möglichkeit erhalten, wieder eine eigene autonome Regierung zu bilden.74
Sollte der Verteidiger die Überhand erringen, wird der Verteidiger nun zum gerechten
Angreifer. Der gerechte Angreifer darf nun den ungerechten Aggressor solange
bekämpfen, bis dieser kapituliert. Der gerechte Angreifer hat solange eine despotische
Gewalt über den Besiegten, bis dieser durch einen Vertrag Frieden zusichert, d.h. der
siegreiche Verteidiger darf alle Personen, die die Aggression gegen ihn unterstützt
haben, töten oder versklaven, denn sie haben ihr Recht auf Leben und Besitz verwirkt.
Im Zuge der Reparation der Schäden hat er das Recht die Arbeit der versklavten
Gefangenen zu nutzen. Hinzu kommt, dass er sich vom Eigentum des Besiegten genau
nur soviel nehmen darf, um den verursachten Schaden zu begleichen. Die Versorgung
des eigenen Volkes ist wichtiger als die Versorgung der Sklaven und der Schuldlosen
des Angreiferstaates, was praktisch bedeutet, dass es gerechtfertigt ist, die einen zu
ermorden und die anderen durch Unterlassung verhungern zu lassen, um die eigene
Bevölkerung zu bewahren. Aber wenn möglich, verlangt „das grundlegende Gesetz der
Natur (...), daß alles soweit wie möglich erhalten werden soll.“75
Da der gerechte Eroberer weder ein Recht auf das Land, noch über Leben, Eigentum
und Freiheit der unschuldigen Bürger des Aggressorstaates besitzt, muss der siegreiche
Verteidiger das Land so zügig wie möglich verlassen, sobald die Hinterbliebenen
friedlich und einvernehmlich eine Regierung gebildet haben und die Reparationen
abgeschlossen wurden. Sobald der gerechte Angreifer gegen diese Punkte verstößt, wird
er zum ungerechten Angreifer und die unschuldigen Besiegten erhalten das Recht des
Widerstandes.76
6.2 Im Falle der Neutralität
Gesetzt sei der Fall, dass das Commonwealth in einem Konflikt eine praktisch neutrale
Position besitzt. Wenn mindestens einer der beiden Kontrahenten in diesem Konflikt
gemäß dem Gesetz der Natur im Recht ist, erlaubt es eben dieses Gesetz, dass das
Commonwealth diesem beisteht. Dies bedeutet, dass, auch wenn das Commonwealth
praktisch neutral ist und selbst nicht Opfer einer Aggression wurde, es selbst Aggression
gegen jeden ungerechten Angreifer auf der Welt in Allianz mit dem gerechten
74 Vgl. Cox, 1960, 156.75 Locke, 1977, II.§183. Vgl. hier im Besonderen Cox, 1960, 170-171.76 Vgl. Cox, 1960, 161.
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Angegriffenen anwenden darf. Das bedeutet, um eine gerechte Allianz zu bilden, darf
kein einziger Allianzpartner sich eines Unrechts schuldig gemacht haben. Obwohl das
Commonwealth also einen neutralen Status besitzt, hat es das Recht, rein für diesen Fall
eine Allianz zu bilden. Es übernimmt hier den rechtlichen Status eines gerechten
Verteidigers und ist somit an dieselben Verhaltensregeln, die oben erläutert wurden,
gebunden. Falls eine Allianz bereits vorher bestand, dann ist der Staat verpflichtet
seinem Partner beizustehen (keine Neutralität, Vertragsbindung).
Wichtig bei der Bildung von Allianzen ist die unbedingte Beachtung, dass das Verlassen
der Neutralität zum Wohl des eigenen Volkes und nach dessen Willen geschieht. Die
Entscheidung, Krieg zu führen, ist nicht rechtens, wenn der Erfolg des Krieges
zweifelhaft scheint, da hier, sofern sich das Blatt wenden sollte, das eigene Volk und
Eigentum in Gefahr geraten könnte. Das impliziert auch, dass ein Kriegseintritt nicht
gerechtfertigt ist, wenn die Finanzierung und Versorgung des selbigen nicht
gewährleistet werden kann.77 Locke glaubt, dass das Volk einen ungerechten Krieg nie
legitimieren würde.78 Einem Verbündeten sollte also nur beigestanden werden, wenn der
Krieg nach gründlicher Prüfung durch die Legislative Erfolg verspricht oder durch den
Verlust des Verbündeten das eigene Volk zwangsläufig in Gefahr gerät. Eine
Intervention aus ''humanitären Gründen'' kann somit nicht gerechtfertigt werden, da es
allein Aufgabe eines Volkes selbst ist, ihre ungerechte Regierung abzusetzen, wenn von
dieser keine Bedrohung des Commonwealth ausgeht.
Es handelt sich hier also um einen Akt gerechter Aggression aus dem Status der
Neutralität heraus. Somit haben wir, wenn man Lockes Argumenten streng folgt, hier
einen Fall eines gerechten Angriffskrieges. Als generelles Motiv kann Hilfe bei der
Bestrafung des Gegners angesehen werden, aber im Speziellen darf er auch als
Präventivkrieg angesehen werden, da durch ihn eine Machtkonstellation bewahrt
werden soll.
77 Denn die Regierung darf den Besitz des Volkes nicht grundlos antasten. Also auch kein Heer durchAbgaben versorgen, die vom Volk erzwungen wurden oder durch falsches Verhalten erzwungenwerden müssen. (Vgl. Locke, 1977, II.§222)
78 „Denn das Volk hat seinen Regierenden keinerlei Macht gegeben, ein solches Unrecht zu tun, wie zumBeispiel einen ungerechten Krieg zu führen (denn eine solche Macht hatte das Volk niemals selbstbesessen). (...) ebensowenig wie man es für irgendwelche Gewalttätigkeit und Unterdrückungschuldig sprechen kann, die die Regierenden gegen das Volk selbst oder einen Teil der Untertanengebrauchen, da sie werde zu dem einen noch zu dem anderen vom Volk ermächtigt worden sind.“(Locke, 1977, II.§179)
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6.3 Der defensive Präventivschlag
Angenommen sei, dass das Commonwealth in Allianz zu mindestens einem anderen
Staat steht und ein fremder Staat (aus welchen Gründen auch immer) dem
Commonwealth stetig mit Vernichtung droht.79 Durch die stetige Provokation und
Bedrohung versetzt sich der fremde Staat gegenüber dem Commonwealth in den
Kriegszustand, denn, so hat es Locke festgesetzt, allein die erklärte Absicht einer
Aggression reicht aus, um den Kriegszustand auszulösen.
Da das Commonwealth zum Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum seiner Bürger
verpflichtet ist, wäre es gemäß dem Gesetz der Natur in diesem Fall berechtigt, den
fremden Staat anzugreifen. Es handelt sich hierbei um einen Akt der Prävention von
Schaden durch Krieg, ein Präventivschlag.
Dabei erhielt bereits durch die verbale Bedrohung der fremde Staat den Status des
ungerechten Angreifers. Somit ist der gerechte Angreifer (Commonwealth) per
definitionem ein gerechter Verteidiger. Er verteidigt durch einen Angriff, also ein
defensiver Präventivschlag. Jeder andere Staat, der sich mit dem Commonwealth
alliiert, hätte somit ebenfalls das Recht den fremden Staat anzugreifen. Dies womöglich
auch, ohne dass das Commonwealth selbst mobil macht.
Der gerechte Angreifer ist an die oben erläuterten Verhaltensregeln gebunden, d.h. der
reine Zweck eines solchen Angriffs sollte die Beseitigung der Bedrohung sein und im
besten Fall die Unterstützung und Förderung der schuldlosen Nachfolgeregierung, um
eine friedlichere Beziehung zwischen den Nachbarn herzustellen.80
Genauso wie beim Angriff aus der Neutralität heraus gilt hier, dass der defensive
Präventivschlag Erfolg verspricht und nicht auf längere Zeit zum Schaden des Volkes
führt. Unter Schaden fällt hier hauptsächlich Nahrungsnot und Finanzierungsprobleme,
was beides zwangsläufig durch die Bürger getragen werden müsste. Eine übermäßig
hohe Anzahl an militärischen Opfern wäre nach Locke nicht so ohne weiteres
verurteilenswert.81 Die Entscheidung zum Krieg geht zwar von der Regierung und hier
79 Die Androhung von Vernichtung ist eine Absichtserklärung. Vgl. Locke, 1977, II.§16, Locke, 1977,II.§19 & Cox, 1960, 168-169.
80 Vgl. Euchner, 1969, 187-189.81 „Und um zu erkennen, daß selbst absolute Gewalt, wo sie notwendig ist, nur weil sie absolut ist, noch
lange nicht willkürlich sein muß, sondern immer durch jene Ursache beschränkt bleibt und auf jeneZiele ausgerichtet, die in manchen Fällen eine absolute Gewalt erforderlich machen, brauchen wirunseren Blick nur auf die gewöhnliche Übung der militärischen Disziplin zu richten. Die Erhaltungdes Heeres und damit des gesamten Staates verlangt einen absoluten Gehorsam gegenüber dem Befehldes höheren Offiziers, und es verdient mit Recht den Tod, selbst dem gefährlichsten oderunvernünftigsten Befehl den Gehorsam zu verweigern oder ihn anzuzweifeln. Aber dennoch sehenwir, daß weder der Feldwebel, der einem Soldaten befehlen kann, auf die Mündung einer Kanoneloszumarschieren oder in einer Bresche zu stehen, wo er fast sicher sein kann umzukommen, diesem
17
speziell von der Föderative aus, da die Regierung aber dem Willen des Volkes im
Prinzip verpflichtet ist, wäre ein Alleingang der Föderative hier ein Bruch mit dem Volk.
Im Fall eines defensiven Präventivschlags oder eines Angriffs aus der Neutralität heraus
bleibt üblicherweise genügend Zeit, sodass hier die Prärogative keine
Entscheidungsgewalt erhalten darf.
Alles andere außer dem defensiven Präventivschlag und einem solchen Angriff aus der
Neutralität wäre nach den Argumenten von Locke ein unrechtmäßiger Angriff82. Er hat
sich zu den erläuternden Fällen nie konkret geäußert und dennoch ergeben sich die
obigen Thesen aus seinen Äußerungen über Naturzustand und Aufgaben des Staates.
7 Fazit
Es hat sich gezeigt, dass es nach Lockes politischer Theorie mindestens zwei Fälle gibt,
in denen ein Angriffskrieg als gerecht bezeichnet werden kann.
Hierfür müssen von einem Staat mindestens diese neun Richtlinien eingehalten werden:
1. Um einen gerechten Krieg zu führen, muss ein Staat selbst ein gerechtes
politisches System besitzen.
2. Der Krieg muss in jedem Fall zum Wohl des Volkes beitragen, d.h. Leben,
Freiheit und Eigentum der Bürger schützen und dessen Frieden gewährleisten.
3. In keinem Fall und zu keinem Zeitpunkt darf von einem Staat im gerechten
Krieg das Gesetz der Natur gebrochen werden.
4. Ein Krieg darf nur begonnen werden, wenn das Volk eines Staates durch eine
dauerhafte Provokation, durch eine Kriegserklärung, durch einen Angriff oder
eine drohende Veränderung der Machtkonstellation gefährdet wird. (Vgl. 2.)
5. Die Durchführbarkeit und der Erfolg des Krieges muss zum Zeitpunkt des
Kriegseintritts gewährleistet sein. (Vgl. 2.)
6. Eine Allianz darf nur mit Staaten gebildet werden, die selbst ein gerechtes
politisches System besitzen. (Vgl. 1.).
7. Niemals darf von einem Staat Eigentum, Land, Leben und Freiheit unschuldiger
Soldaten befehlen darf, ihm einen Pfennig von seinem Gelde zu geben, noch der General, der ihn zumTode verurteilen kann, weil er seinen Posten verlassen oder den verwegensten Befehlen nicht gehorchthat, bei aller seiner absoluten Gewalt über Leben und Tod über einen Heller von dem Vermögen diesesSoldaten verfügen kann oder ihm auch nur das geringste von seinem Besitz nehmen darf. Und das,obwohl er ihm alles befehlen und ihn für den kleinsten Ungehorsam hängen lassen kann. Ein solcherblinder Gehorsam ist notwendig für jeden Zweck, zu dem der Befehlshaber seine Macht hat, nämlichzur Erhaltung der übrigen.“ (Locke, 1977, II.§139)
82 Vgl. Cox, 1960, 155-156. Darunter fallen Feldzüge für die Sklaverei, zum Vermögens- oderLandgewinn sowie rassistisch und religiös motivierte Aktionen.
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Personen angetastet werden. (Vgl. 3.)
8. Das Eigentum und Arbeitskraft von Aggressoren darf nur zur Reparation des
durch den Angriff entstandenen Schadens verwendet werden. (Vgl. 3.)
9. Krieg darf nur in gerechter Absicht geführt werden, d.h. Krieg zum Zweck von
Vermehrung von Eigentum, Geld, Land, Arbeitskraft und aus religiösen oder
rassistischen Gründen ist nie gestattet. (Vgl. 3.)83
Die Regelungen 4. bis 9. lassen sich im Grunde aus den ersten drei Forderungen
ableiten. So lautet die grundlegende Formel:
Ein gerechtes politisches System darf zum Wohl seiner Bürger und unter Beachtung des
Gesetzes der Natur einen Krieg legitim beginnen.
Das zentrale Prinzip des Gesetzes der Natur: Das Gesetz der Natur gewährt jedem
Menschen das Recht auf Selbsterhaltung, Eigentum und Freiheit und, wenn diese drei
Punkte nicht gefährdet sind, gebietet es die Erhaltung der übrigen Menschheit.
Aus 1. folgt, dass ein Krieg zwischen zwei Staaten, deren Regierungen Lockes Modell
der politischen Gesellschaft nicht entsprechen, in jedem Fall ungerecht ist. Dies ist
nachvollziehbar, da sich so zwei Systeme gegenüberstünden, die in ihrer Struktur bereits
ein Unrecht darstellen.
Besonders problematisch ist Lockes Definition von Sklaventum. Seine Unterscheidung
von gerechtem und ungerechtem Sklaventum ist heute nicht mehr zeitgemäß. Und so
auch Lockes Legitimation von Ausbeutung und Vernichtung der Kriegsgefangenen, falls
dies für das Wohl des Volkes zuträglich sein sollte.84 Es ist außerordentlich fraglich, ob
ein Soldat, der aufgrund seiner Verpflichtung gegenüber seiner Regierung in den Krieg
ziehen muss, seinen vollwertigen rechtlichen Status als Mensch verliert und wie ein Tier
behandelt werden darf. Gemäß Locke wären zudem somit alle Arten von Waffen, die
dem Gegner maximalen Schaden zufügen, legitim anwendbar. Es fehlt also die
Forderung nach der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Gewalt und Mittel.
Auch seine Definition der Staaten als Körper ist problematisch. So kann es auch hier
(nicht nur im Kriegsfall) dazu kommen, dass die Rechte des Individuums gegenüber der
Verpflichtung gegenüber dem Staat und der Macht der Mehrheit verschwinden. Im
Hintergrund von Lockes politischer Philosophie gilt hier wie stets das Primat der
Erhaltung des Commonwealth über die Erhaltung der übrigen Menschheit. So ergibt
sich in seiner Philosophie ein gravierendes ethisches Problem, in dem zwangsläufig
83 Vgl. hierzu Locke, 1977, II.§34, 36 & 42.84 Vgl. hierzu auch Euchner, 1969, 206-207 & Cox, 121.
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Menschenleben gegeneinander abgewogen werden müssen.85
Weiterhin entstehen hier weitere interessante Fragen, die hier nicht diskutiert werden
können. Sind Staaten Geschöpfe gleicher Gattung und von gleichem Rang? Ist es
legitim, Verhaltensweisen zwischen Individuen unverändert auf internationale Ebene zu
schieben? Kann unter despotischer Gewalt überhaupt ein einvernehmlicher und nicht
diktierter Vertrag geschlossen werden? Und vor allem, wie könnte seine Kriegsethik auf
die heutzutage zunehmende asymmetrische Art der Kriegsführung angewendet werden?
Kann durch einen Präventivschlag überhaupt allgemeine und dauerhafte Sicherheit
erzeugt werden? In wie weit befinden sich heutzutage Staaten überhaupt noch im
beschriebenen Naturzustand?
Kriege, in denen mindestens ein Teilnehmer das Gesetz der Natur auf seiner Seite hat,
dürfen als äußerst selten bezeichnet werden. Lockes Theorie vom gerechten Krieg
funktioniert aber nur, wenn von der gerechten Seite vorher absolut keine Provokationen
ausgegangen sind. Eine Erläuterung, wann und in wie weit ein militärischer Angriff als
Reaktion auf eine verbale Provokation verhältnismäßig ist, bringt Locke nicht. Hier
liegt es anscheinend an der Klugheit und Weisheit der Föderative, über eine
angemessene Reaktion zu entscheiden. Es ist einzusehen, dass durch die Föderative im
Ausland leicht verdeckte provokative Aktionen vollzogen werden können, ohne dass
das eigene Volk oder auch die Legislative hierüber informiert sein müsste. So könnten
die Bedingungen für einen gerechtfertigten Präventivschlag praktisch subtil
herbeigeführt werden.86 Dies führt uns wieder zur anfänglichen Problematik der
Einordnung eines Präventivschlags, bei der leicht ein illegitimer Angriff als
Verteidigung ausgegeben werden kann.
So werden einige Punkte, die heute teilweise aufgrund gravierender Veränderungen der
Art der Kriegsführung als wichtig erachtet werden, von Locke nicht beachtet oder sie
entsprechen nicht mehr der zeitgemäßen Bewertung. Dies kann ihm aber auf keinen Fall
vorgeworfen werden. Denn trotz dieser Mängel lässt sich eine durchdachte und in den
groben Zügen durchaus nachvollziehbare Theorie des gerechten Krieges ableiten. Als
Konsequenz dieser Analyse wäre eine Kritik von Lockes Theorie im Vergleich mit den
verschiedenen traditionellen, zeitgenössischen und aktuellen Theorien des gerechten
Krieges interessant und angebracht.
85 Vgl. Euchner, 1969, 204-205, Rostock, 1974, 110 & Cox, 1960, 120. „Locke's conception of whatbelongs to man by nature (...) follows the main principle of modern political 'realism', as firstarticulated by Machiavelli: a political doctrine, to be generally effective, must be based on what menin the mass actually want and do.“ (Cox, 1960, 68)
86 Vgl. Cox, 1960, 129-130.
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8 Literaturverzeichnis
Cox, 1960
Cox, Richard H.: Lock on war and peace. Oxford 1960.
Euchner, 1969
Euchner, Walter: Naturrecht und Politik bei John Locke. Frankfurt am Main
1969.
Gough, 1973
Gough, J.W.: John Lockes political philosophy. Eight Studies. Oxford ²1973.
Kunde, 2007
Kunde, Martin: Der Präventivkrieg. Geschichtliche Entwicklung und
gegenwärtige Bedeutung. Frankfurt am Main 2007.
Locke, 1977
Locke, John, Euchner, Walter (Hg.): Zwei Abhandlungen über die Regierung.
(Two Treatises of Government, engl.) Übers. v. Hans Jörn Hoffmann, Frankfurt
am Main 1977.
Rostock, 1974
Rostock, Michael: Die Lehre von der Gewaltenteilung in der politischen Theorie
von John Locke. Meisenheim am Glan 1974.
Specht, 1989
Specht, Rainer: John Locke. München 1989.
Uzgalis, 2007
Uzgalis, William: John Locke (2007), in: Stanford Encyclopedia of Philosophy,
URL: http://plato.stanford.edu/entries/locke/ (Zugriff am 12.07.2009).
21
Weiterführende Literatur zum gerechten Krieg:
• Elshtain, Jean B. (Hg.): Just war theory. Oxford 1992.
• Janssen, Dieter, Quante, Michael (Hgg.): Gerechter Krieg. Ideengeschichtliche,
rechtsphilosophische und ethische Beiträge. Paderborn 2003.
• Kreis, Georg (Hg.): Der gerechte Krieg. Zur Geschichte einer aktuellen
Denkfigur. Basel 2006.
• Lakitsch, Luisa: Kriege im Namen der Gerechtigkeit. Die Lehre vom gerechten
Krieg als kontroverser Eckpfeiler in der aktuellen Debatte um die Rechtfertigung
neuer Kriege. Salzburg, Dipl., 2008.
• Teichman, Jeny: Pacifism and the Just War. Oxford 1986.
• Schmoll, Peter: Der Begriff des gerechten Krieges und die Situation im
atomaren Zeitalter. Salzburg, Dipl., 1989.
• Sorabji, Richard, Rodin, David: The ethics of war. Shared problems in different
traditions. Aldershot 2006.
• Walzer, Michael: Just and unjust wars. A moral argument with historical
illustrations. New York 1977.
22