KOSMOS GROSSER ENTDECKER
Huw Lewis-Jones | Kari HerbertVorwort von Robert Macfarlane
KOSMOS GROSSER ENTDECKER
Leben, Skizzen und Notizen
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I N H A LT
08 VO RWO R T Robert Macfarlane
10 E I N L E I T U N G
DIESE SCHLICHTEN ZEILEN Huw Lewis-Jones | Kari Herbert
L E B E N , S K I Z Z E N U N D N O T I Z E N
22 ROALD AMUNDSEN
24 JOHN JAMES AUDUBON
28 JOHN AULDJO
34 THOMAS BAINES
40 HENRY WALTER BATES
44 LUDWIG BECKER
48 WILLIAM BEEBE
52 GERTRUDE BELL
56 FRANZ BOAS
60 CHRIS BONINGTON
62 JAN BRANDES
68 WUNDERBARE WÄLDER Sir Ghillean Prance
72 ADELA BRETON
76 WILLIAM BURCHELL
82 HOWARD CARTER
86 BRUCE CHATWIN
88 JAMES COOK
94 WILLIAM HEATON COOPER
98 CHARLES DARWIN
100 AMELIA EDWARDS
102 CHARLES EVANS
104 RANULPH FIENNES
106 MARGARET FOUNTAINE
108 VIVIAN FUCHS
110 EUGENE VON GUERARD
114 ROBIN HANBURY-TENISON
116 CHARLES TURNBULL HARRISSON
122 SVEN HEDIN
126 WALLY HERBERT
130 THOR HEYERDAHL
132 ED HILLARY
134 WILLIAM HODGES
140 HECTOR HOREAU
144 ALEXANDER VON HUMBOLDT
146 EINE ANDERE WELT Alan Bean
150 MERIWETHER LEWIS
154 CARL VON L INNÉ
160 DAVID L IV INGSTONE
164 GEORGE LOWE
168 PR INZ MAXIMIL IAN ZU WIED-NEUWIED
174 MARGARET MEE
178 MARIA S IBYLLA MERIAN
184 JAN MORRIS
186 EDWARD LAWTON MOSS
190 FR IDTJOF NANSEN
194 MARIANNE NORTH
200 UNENDLICHE SCHÖNHEIT Tony Foster
204 EDWARD NORTON
210 HENRY OLDFIELD
214 JOHN LINTON PALMER
218 SYDNEY PARKINSON
222 TITIAN RAMSAY PEALE
228 ROBERT PEARY
230 KNUD RASMUSSEN
234 PHILIP GEORG VON RECK
238 NICHOLAS ROERICH
242 UNVERZICHTBARE FREUNDE David Ainley
246 ROBERT FALCON SCOTT
250 ERNEST SHACKLETON
252 GEOFF SOMERS
254 JOHN HANNING SPEKE
258 FREYA STARK
260 MARC AUREL STEIN
262 ABEL TASMAN
268 JOHN TURNBULL THOMSON
272 COLIN THUBRON
274 ALEXANDRINE TINNE
280 ZEICHEN SETZEN Wade Davis
284 OLIVIA TONGE
288 NAOMI UEMURA
290 GODFREY THOMAS VIGNE
294 ALFRED RUSSEL WALLACE
298 JAMES WALLIS
300 JOHN WHITE
306 EDWARD WILSON
314 AUTOREN UND GASTAUTOREN
315 WEITERFÜHRENDE LEKTÜRE
318 BILDNACHWEIS
318 DANK
319 REGISTER
Impressum
Erstmals veröffentlicht in Großbritannien 2016 von Thames & Hudson Ltd, London
Englischer Originaltitel: Explorers’ Sketchbooks. The Art of Discovery & Adventure
Explorers’ Sketchbooks © 2016 Thames & Hudson Ltd, LondonGestaltung: Sarah Praill
© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe Sieveking Verlag, München www.sieveking-verlag.de
Übersetzung: Tracey J. Evans, München Lektorat: Ute Heek, München Produktion und Satz: Sieveking Verlag, München
ISBN 978-3-944874-47-0
Printed in China
Auf dem Einband (Vorderseite, im Uhrzeigersinn von oben links): © Sven Hedin Foundation, im Museum für Ethnografie, Stockholm; Royal Geographical Society (mit IBG), London; akg images; The Trustees of the Natural History Museum, London; Bristol Museums, Galleries & Archives; (Rückseite): Herbert Ponting
Schmutztitel: Charles Harrissons Schlittenlogbuch in phonetischer Kurzschrift aus der Antarktis, 1912.
Seiten 2 – 3, im Uhrzeigersinn von oben links: Tierzeich-nungen aus Philip Georg von Recks Tagebuch, 1730er-Jahre; Edward Norton, Skizze eines Bergkameraden, 1924; Hector Horeau, »Tempelansicht des Aufgangs mit Sphin-gen und des Pylons«, Wadi as-Subu, 1838; Ludwig Becker, Drosselkrähe, 1860; Seiten aus von Recks Tagebuch, 1730er-Jahre; Titian Ramsay Peale, Eisbär, 1830; Karte, gezeichnet von Ludwig Becker, 1860.
Frontispiz: Feldtagebücher der Lewis-und-Clark-Expe-dition, Seite 10: Eine Seite mit Seevögeln von Jan Brandes aus den 1780er-Jahren
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Odysseus ging auf große Fahrt, und Homer schrieb darüber. Zu entdecken und zu offenbaren –
so geht jeder Künstler ans Werk. Ich denke, alle Kunst ist eine Art der Erkundung.
R O B E R T J . F L A H E R T Y , 1 9 4 9
Drei Millionen Meilen von der Erde entfernt, erhascht eine Raumsonde den ersten Blick auf eine eisige Welt am Rande des Sonnensystems. Es ist der 14. Juli 2015, und die Sonde ist fast zehn Jahre durchs All geflogen, um nun
den Zwergplaneten Pluto in größtmöglicher Nähe zu passieren. Die Weltpresse hat sich versammelt, als im Kontrollzentrum in Maryland die ersten Bilder eintreffen. Für das Team der New Horizon ist es ein historischer Moment: Ihr »Konzertflügel mit Satellitenschüssel« – wie ihre Schöpfer die Sonde beschreiben – hat 150 Beobachtun-gen von Pluto und Charon, einem seiner Monde, aufgezeichnet. Die ersten Früchte dieser entdeckerischen Leistung wurden als kleine Datensignale durch die schwarze Leere des Raumes nach Hause geschickt.
Neue Welten offenbaren sich in Bildern. Diese elektronischen Skizzen zeigen uns etwas, was nie zuvor ein Mensch gesehen hat. Wir erfahren von Plutos gewaltigen Gebirgsketten aus Eis, so hoch wie die Alpen, durchzogen von Graten und tiefen Schluchten, entstanden durch uns noch unbekannte vulkanische Prozesse. Die kleine Sonde fliegt weiter in den Kuipergürtel, eine gewaltige Scheibe aus Asteroiden und Brocken aus gefrorenem Gas. Wohin sie auch fliegt, macht die Raumsonde Fotos. Wir warten auf weitere Bilder, vielleicht vergeblich. Steven Hawking schrieb in einer Grußbotschaft an das Team: »Diese neuen Erkenntnisse […] können zu einem besse-ren Verständnis der Entstehung des Sonnensystems beitragen. Wir forschen, weil wir Menschen sind und uns nach Wissen sehnen.«
Vor etwas mehr als hundert Jahren schleppte sich ein Entdecker einer anderen Ära durch eine eisige Einöde, über die ebenfalls wenig bekannt war und von der es damals noch keine Karten gab – eine Landschaft, die der Oberfläche dieses fremden Planeten glich. Datenübertragung per Funk, Liveschaltung und Satelliten-Upload gab es für Robert Scott und seine Gefährten nicht. Ihre Rettung war unwahrschein-
lich, die Hindernisse riesig. Aber Scott hatte eine Aufgabe – Informationen zu sam-meln, um dem Chaos der Leere, das vor ihm lag, einen Sinn abzuringen. Im langen antarktischen Winter, von der Welt abgeschnitten, kritzelte er nachts Notizen in sein Tagebuch, während er und sein Team sich gen Süden manövrierten. Zu Hause war-tete eine von ihrem Unterfangen begeisterte Generation gebannt auf Nachricht.
Aber es war der Norweger Roald Amundsen, der die weite Leere des Südpols als Erster erreichte, beschrieb und fotografierte. Erst über ein Jahr später erfuhr die Welt Scotts Geschichte. Während Amundsen noch die Schlagzeilen beherrscht, versuchen sich er und seine Gefährten zu retten. Seine Schlittenlogbücher führt Scott in Skizzen-büchern, die bequem in die Tasche passen, mit am Rand perforierten Seiten, dün-nen, unlinierten Blättern, in Leder gebunden. Ein Blizzard tobt und hält ihn und sein Team im Zelt gefangen. Zuletzt bleibt Scott allein. Alle seine Gefährten sind tot. Er weiß, Hilfe wird keine kommen. Er wartet auf das Ende. »Hätten wir überlebt, ich hätte eine Geschichte zu erzählen gehabt von der Kühnheit, der Ausdauer und dem Mut meiner Gefährten, die das Herz jedes Engländers bewegt hätte«, schreibt er, kurz bevor er nicht mehr zu schreiben vermag. »Diese schlichten Zeilen und unsere toten Körper müssen [nun] die Geschichte erzählen.«
Acht Monate später findet man sie. Am Mittag des 12. November 1912, 18 Kilometer südlich von einem Proviantlager, das ihre Rettung gewesen wäre, ist die Spitze ihres Zelts auszumachen, die Zeltwände verborgen unter Driftschnee. Als die Mitglieder der Suchmannschaft das Zelt ausgraben, erkennen sie die Umrisse dreier Männer; auf dem Bodentuch liegt ein kleiner Stapel Briefe. Ein Zeitmesser, eine Fahne, Socken, ein paar Bücher. Mit einer Lampe aus Blech und einem Docht, aus den Fellhaaren eines Rentierstiefels hatten sie den wenigen Spiritus verbrannt, der ihnen geblieben war, bevor das Licht für immer erlosch. Später haben die Männer der Suchmannschaft
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die Zeltstangen entfernt und das Zelt über den leblosen Körpern zusammensinken lassen, darüber einen Steinhügel und ein Kreuz aus Skiern errichtet.
Unter einem Schlafsack finden sie eine Brieftasche, darin ein kleines braunes Notiz-buch. Auf dem Umschlag stehen schlichte Anweisungen. Der Finder möge es lesen und in die Heimat bringen. Die elf Männer der Suchmannschaft versammeln sich auf dem Eis und lauschen, wie in gedämpftem Ton erstmals verlesen wird, welcher Tragödie Scott und seine Begleiter zum Opfer gefallen sind. Ihr Bericht bestätigte Amundsens Leistung. Hier ist der Beweis, erbracht von den Männern, die das Unglück getroffen hatte, seinen Sieg mit eigenen Augen zu sehen. Hier steht, in Bleistift ge -kritzelt, eine Botschaft der Toten an jene, die es wagen sollten, ihnen zu folgen.
Ein ferner Planet und ein Zelt im Sturmwind – beides ein Widerhall des Forscher-drangs. Ein ungewöhnlicher Auftakt? Und doch erzählen beide Geschichten vom Versuch, die Welt jenseits unserer eigenen Erfahrungswelt zu erkunden – von gro-ßem Mut und vergeblichen Mühen, einer Abfolge von Fortschritten und Rückschlä-gen, vom Wissen, das unter großen Opfern und Risiken erworben wurde; von tech-nischer Findigkeit und menschlichem Leistungsvermögen. Reist man 200 Jahre zurück in eine Zeit vor der Erfindung von Fotografie und Film, als Feldforscher ihre Beobachtungen in Tagebüchern, Karten und Zeichnungen nach Hause trugen, zeugte manchmal nicht mehr vom Erfolg eines Unterfangens, als die Spuren, die Bleistift und Tinte davon hinterlassen hatten. Diese Zeilen enthielten Berichte über wissenschaftliche Entdeckungen, Beschreibungen ferner Länder, neuer Arten oder Eindrücke, die zu einem tieferen Verständnis führen konnten. Der Inhalt dieser Seiten besaß die Macht, die Welt zu verändern. Auch wenn sich die Welt technolo-gisch dramatisch weiterentwickelt hat, hat sich ein Ausrüstungsstück in den Taschen der meisten Entdecker bis heute kaum verändert – das Tagebuch. Es ist das Medium, in dem Aufzeichnungen überdauern, auch dann, wenn der Reisende selbst nicht mehr heimkehrt.
Schon seit den frühesten Seereisen hielt man Forscher dazu an, sorgfältig Aufzeich-nungen zu machen. »Nimm Papier und Tinte mit«, lautete ein solcher Rat in den 1580er-Jahren, »und führe ein fortlaufendes Tagebuch oder eine Chronik, Tag um Tag, von allen Dingen, die sich des Wissens wert erweisen sollen […] so dass es gezeigt
und gelesen werden möge bei deiner Rückkehr«. Zu entdecken und zu offenbaren, zu beobachten und das dann zu zeigen: An diesen ureigensten Grundsätzen des Rei-sens hat sich wenig geändert. Auch als John White 1585 als Naturmaler auf Walter Raleighs Fahrt in die Neue Welt anheuerte, begleiteten ihn solche Belehrungen. Seine Zeichnungen aus dem heutigen North Carolina sind die frühesten erhaltenen Dar-stellungen der Pflanzenwelt und des Lebens der Ureinwohner Nordamerikas – ein Dokument von unschätzbarem Wert. Anderen Künstlern der Zeit riet man, »alle selt-samen Vögel, Geschöpfe, Fische, Pflanzen, Kräuter, Bäume und Früchte« zu zeichnen. Vor ihren Augen wurde die Welt größer.
Über die Jahre folgten viele, die die Grenzen des Furchterregenden und Unbekannten zurückdrängten. Die Gefahr war ihr ständiger Begleiter: James Cook wurde an einem Strand niedergemetzelt; David Livingstone erlag der Ruhr und der Malaria; Knud Rasmussen starb an einer Fleischvergiftung. Alexandrine Tinne stach man nieder und ließ sie in der Wüste verbluten; ihre Leiche verschwand. Aber ihre Tagebücher leben weiter. Auch Sydney Parkinsons Skizzen, Naomi Uemuras Bergsteigertagebuch oder Scotts »schlichte Zeilen« sind Zeichen auf Papier, die Leben überdauerten, die zu früh endeten.
Obwohl manche, wie Joseph Conrad schrieb, von dem Geheimnis verschlungen wur-den, an dessen Enthüllung sie ihr Herz gehängt hatten, überlebten die meisten allen Widerständen zum Trotz. Oft bestand für sie das weitaus größere Risiko darin, die Heimat gar nicht erst zu verlassen. Ernest Shackletons Begründung für sein Wander-leben, heißt es, war einfach: »Ich wählte für mich und meine Freunde das Leben statt den Tod. Ich glaube, es liegt in unserer Natur, zu forschen, nach dem Unbekannten zu greifen. Die einzige Niederlage wäre es, erst gar nicht zu forschen.« Für viele war das Notizbuch kein Ort, um über Verzweiflung und Not, sondern über Momente reinen Glücks zu berichten: eine wunderbare Aussicht zu beschreiben, Denkwürdiges zu skizzieren – so wie man heute ein Foto macht, ein Bild, das bleibt; eine Ent deckung, die man darstellt und teilt. Offenkundig wurden viele dieser Tagebücher eher an guten Tagen geführt, Zeichnungen bei günstiger Witterung angefertigt, wenn der Himmel klar und der Tagesmarsch vorüber war, das Teewasser im Feldkessel kochte oder, wie bei William Burchell, wenn bei Sonnenuntergang ein Nilpferdsteak auf dem Feuer brutzelte.
Galilei konnte 1610 dank der Erfindung eines Teleskops Beobachtungen des
Mondes anstellen, die ein völlig neues Verständnis des Planetensystems der Erde
zuließ. Die Sehnsucht, in die Sterne zu schauen, oder über den nächsten Hügel
hinweg, ist ein Impuls, den Entdecker über alle Jahrhunderte hinweg teilen.
Dieses Komposit aus hoch aufgelösten Farbaufnahmen von Charon und Pluto,
die von der NASA-Sonde New Horizons am 14. Juli 2015 aufgezeichnet wurden,
während sie Pluto passierte, zeigt das annähernd richtige Größenverhältnis,
ihr tatsächlicher Abstand hingegen ist nicht maßstabsgerecht.
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Dieses visuelle Kompendium feiert viele abenteuerlustige und wissbegierige Rei-sende, deren Auswahl bewusst eklektisch ist. Berühmte Namen spielen genauso eine Rolle wie die von Persönlichkeiten, die es verdienen würden, besser bekannt zu sein. Einiges davon wird hier erstmals veröffentlicht. Von der Vergangenheit bis zur Gegenwart entdecken wir bemerkenswerte und unerschrockene Menschen, die ihr Leben damit zubrachten, in karge Einöden und reiche Regenwälder vorzudringen; Entdecker und Kartografen, Botaniker und Naturmaler, Pflanzenjäger, Ökologen und Anthropologen, Exzentriker und Visionäre, Männer und Frauen, die neugierig waren, nachsahen und aufzeichnen wollten, was jenseits des Horizonts lag.
Von den Ufern des Amazonas bis ins Herz von Afrika, von Mayaruinen bis hin zu gewaltigen Gebirgsketten, von der mongolischen Hochebene zu den Eislandschaften im hohen Norden: Sie alle finden sich zwischen den Seiten kleiner Notizbücher, von Feldtagebüchern und Skizzenheften. Wir treffen auf viktorianische Forscher mit ihrer Passion für das Sammeln und Benennen von Organismen und kühne Abenteurer, die frei von dem Drang nach wissenschaftlicher Präzision umherstreiften, Amateure und Profis, Veteranen und Neulinge. Sie alle nutzten Notizbücher auf ihre Weise; für manche war das Führen eines Tagebuchs lebenslange Gewohnheit, Vergnügen und Trost, ein Erinnerungsschatz für ein Leben nach dem Abenteuer. Für andere war es eine tägliche Bürde. Und doch hielten die meisten durch, denn was hätten sie ohne das Tagebuch als Beweis für all ihre Mühen vorzuweisen gehabt?
Küstenprofile, Skizzen von Erstkontakten, Detailbeobachtungen und Gedankenspa-ziergänge, Bedeutendes und Unbedeutendes, unentzifferbare Kritzeleien und akri-bisch dokumentierte, wichtige Entdeckungen – sie alle sind hier zu finden. Notiz-bücher vom Gipfel des Everest, vom ersten Anblick des Südpols, die frühen Berichte von den Victoriafällen, aus dem Herzen der großen Wüsten und dem Inneren des Grabs von Tutanchamun. Hier finden sich die ersten Zeichnungen von Eisbergen,
John Spekes und James Grants Reiseroute von Sansibar an den Nil. Am 28. Juli 1862
entdeckte Speke die Stelle, an der der Nil dem Victoriasee entspringt. Diese von Hand
gezeichnete Karte lieferte den Beweis für seine Theorie.
Robert Scott in seinem »Arbeitszimmer« am 7. Oktober 1911, fotografiert von
Herbert Ponting. Er verbrachte seine Abende in der Hütte am Kap Evans mit
der Lektüre von Büchern, plante die nächsten Etappen und schrieb Tagebuch
sowie Berichte und Briefe an seine Familie und Förderer in der Heimat.
Seine Tagebücher sind zentral für die heutige Erinnerung an ihn.
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J O H N JA M E S AU D U BO N 1785–1851
So rauh es auch ist […] Amerika wird immer mein Land bleiben.
Ich schließe meine Augen nie, ohne Tausende von Meilen an unseren stattlichen
Strömen entlangzureisen und unsere prächtigen Wälder zu durchqueren.
1803 – in dem Jahr, als Lewis und Clarke ihre Überlandexpedition des amerikanischen Kontinents vorbereiteten – wurde Audubon 18 Jahre alt und fürchtete, wegen der Koalitionskriege eingezogen zu werden. Sein Vater sandte ihn nach Amerika, um ihre Farm bei Philadelphia zu führen. Auch dort verbrachte Audubon seine Zeit meist in Wäldern, beim Jagen, Präparieren und Zeichnen von Vögeln. Als viele seiner Geschäfte im Bankrott endeten, wandte er sich seiner »großen Idee« zu: einem gewaltigen Buch über die Vögel Amerikas. Seine Freunde hielten den Plan für aussichtslos und drängten ihn, diesen aufzugeben, seine Skizzen zu verkaufen und nach Frankreich heimzukehren. Audubon aber ließ sich nicht beirren.
Diese Bilder sind einige von Audubons frühesten Aquarellen. Arbeiten aus der Zeit vor 1803 sind nicht er halten, für gewöhnlich vernichtete er seine Entwürfe. In seinem Frühwerk ist bereits sichtbar, was den späteren Künstler auszeichnen sollte: die lebendigen Farben zeugen von wachsender Meisterschaft und einem Auge für komplexe Details. Später drängte es Audubon, die Schönheit der im Schwinden begriffenen Wildnis festzuhalten. Er nahm die fortschreitende Verstädterung wahr, und der Waldläufer spürte, dass die Natur verwundbarer wurde. Auch wenn sein Ruf als Künstler nach seinem Tod rasch wuchs, wurde ihm zu Lebzeiten wenig Anerkennung zuteil. In eines seiner vielen Tagebücher schrieb er: »Die Zeit wird die Wahrheit an den Tag bringen.«
Audubon widmete sein Leben ganz der Darstellung der Schönheit der Natur – mit dem Gewehr in der einen und dem Zeichenkasten in der ande
ren Hand. Heute wird er oft als Amerikas bedeutendster Naturmaler gewürdigt. Sein Monumentalwerk Die Vögel Amerikas, gedruckt auf DoppelElefantenFolio – den größten Papierbogen jener Zeit –, war ein außerordentliches Unterfangen. Auf seinen 435 Stichen porträtierte er 1 065 Vögel, die 489 Arten angehören, lebensgroß und in ihrer natürlichen Umgebung.
Seine Begeisterung für die Naturbeobachtung und die Malerei ließen Audubon Jahre auf Reisen verbringen, ob zu Fuß, zu Pferd, per Kanu oder Ruderboot, auf Schonern und Dampfschiffen. Er war in den Wäldern und auf mächtigen Flüssen, von den schwülen Florida Keys bis in den Norden Labradors unterwegs. Die faszinierende Wildnis war ihm die Strapazen wert. Für Audubon war die naturgetreue Darstellung einer neuen Vogelart so wichtig wie das Kartografieren eines fremden Landes.
JeanJacques Audubon kam in Santo Domingo als Sohn eines begüterten französischen Kapitäns und Plantagenbesitzers und dessen Geliebter Jeanne Rabine zur Welt. Nach ihrem frühen Tod wuchs er in Frankreich in der Obhut seiner Stiefmutter auf, die sein lebhaftes Interesse an Natur, Kunst und Musik förderte. Fast täglich zog es ihn, statt in die Schule, hinaus. Abends füllten Vogelnester, Eier, Blumen und Kiesel seinen Picknickkorb.
Audubon sandte 1862 diese kleine Skizze (oben), die ihn als
unerschrockenen Waldläufer zeigt, an einen Bewunderer.
Gegenüber: Die Katzendrossel mit Ei wurde im Juni 1810 am Ohio
gemalt. Der Karolinasittich entstand im Juni 1811 – das letzte frei
lebende Exemplar wurde 1904 getötet; obwohl einige Tiere in Gefan-
genschaft überlebten, wurde die Art bald für ausgestorben erklärt.
26 J O H N J A M E S A U D U B O N
Rechts: Audubon führte Listen zu den Zeichnungen von
Vögeln, die er nach der Natur angefertigt hatte, und hielt
darin auch genau die Größe der Vögel fest. Diese Maße
waren für sein Meisterwerk Die Vögel Amerikas von grund-
legender Bedeutung.
Audubon sollte einer der bedeutendsten Naturforscher
und -maler Amerikas werden. Diese Zeichnungen von
ihm – einige der frühesten, die erhalten sind – zeugen
von seinem sich entfaltenden Talent. Der Säbelschnäbler
entstand bei Nantes in Frankreich vermutlich um 1806.
Das Weibchen des Gürtelfischers mit Detailzeichnungen
des Gefieders (gegenüber) malte er im Juli 1808 an den
Stromschnellen des Ohio.
Selten habe ich größeres Vergnügen
empfunden, als wenn […] ich mich, nachdem
ich mein Boot den ganzen Tag lang, von
Myriaden von Insekten geplagt, meilen-
weit unter brennender Sonne über eine
matschige Ebene geschoben und mich
gemüht habe, einen Reiher einer mir bisher
unbekannten Art zu beschaffen, und dann
meine Anstrengungen endlich von Erfolg
gekrönt wurden. Und wie reich werden dann
die Mühen des Naturforschers belohnt,
wenn er, nachdem er die wildesten und
misstrauischsten Vögel in ihren entlegenen
und fast unzugänglichen Nistgebieten beob-
achtet hat, von seinen Reisen zurückkehrt
und einem geneigten Publikum von seinen
Abenteuern berichten darf.
32 J O H N A U L D J O
Eine auf Auldjos Skizzen basierende Serie von Lithografien, in denen er die Vulkaneruptionen oft aus
solcher Nähe festhielt, dass er die starke Hitze spürte. Er fügte sich der Darstellung selbst hinzu,
mal zeichnend oder als Augenzeuge.
Gegenüber: Eine Karte des Vesuv, auf der historisch verbriefte Lavaströme von Ausbrüchen verzeich-
net wurden – eine bahnbrechend neue Art, geografische Informationen und Naturphänomene zu
visualisieren. Auldjos illustrierte Berichte verlockten Reisende, den Vesuv selbst zu besuchen.
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Es war bei den Inuit am Cumberland Sound, in der Baffinbucht, wo der 25-jährige deutsche Geograf Franz Boas eine Eingebung hatte, die nicht nur
seine eigene Laufbahn prägen, sondern auch weitrei-chende Folgen für eine ganze wissenschaftliche Disziplin haben sollte. Boas traf Ende August 1883 ein und errich-tete sein Basislager bei einer schottischen Walfangstation auf der Insel Kekerten. Von dort ging er mit den Inuit auf Hundeschlitten und Booten auf Reisen und dokumen-tierte deren Lebensweise. Ein Jahr lang tauchte er tief in ihre Kultur ein, trug ihre Kleidung, aß, was sie aßen, und lebte in Schneehäusern; er erlernte ihre Sprache, teilte ihre Bräuche und lauschte ihren Legenden.
Als Boas zurückkehrte, stand für ihn fest, dass die Anthropologie eines völlig neuen Ansatzes bedurfte. Als in seinem Fach angesehener Forscher trat er für den »Vier-Felder-Ansatz« ein – eine Methodologie, die Archäo-logie, Linguistik, biologische Anthropologie und Kultur-anthropologie verknüpft – und für eine umfassende For-schung, Feldforschung und volkskundliche Studien steht.
Boas war ein Gegner von Rassismus und Faschismus, emigrierte in die USA und lehrte Anthropologie an der Columbia University. Obwohl er später Feldforschung bei den Kwakiutl in Britisch Kolumbien betrieb, ließ er sich nie wieder so tief auf eine Kultur ein. Aber sein ganzheit licher Ansatz im Studium menschlichen Verhaltens machte ihn als »Vater der modernen Anthropologie« berühmt.
F R A N Z BOA S 1858–1942
Ich ging heute hinaus genau wie ein Eskimo mit meiner Harpune und allem
Zubehör und saß so geduldig wie sie am Wasser […] wie Du sehen kannst, bin ich
jetzt wirklich gerade wie ein Eskimo.
Oben und gegenüber: Boas legte mit den Inuit per Boot und Hunde
gespann rund 4 000 Kilometer zurück. Er zeichnete Karten der Küsten
linie, hielt einheimische Ortsnamen und Siedlungsgebiete fest.
Nachfolgende Seiten: Als Boas bei der Anreise wochenlang zwischen
Eisschollen an Bord festsaß, griff er zu Pinsel und Stift, um sich in
jene neue Welt zu vertiefen. Dabei entstanden diese Eisberge.
58 F R A N Z B OA S
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Botanical Garden, und sie veränderte mein Leben. Unberührter Regenwald – zwei der schönsten Wörter, die ich mir denken kann. Es ist, als durchschreite man eine Kathe-drale. Ich war überwältigt von der Vielfalt und der Ehrfurcht gebietenden Größe und Gestalt der hoch aufragenden Bäume. Jeder Tag hielt für mich – den Neuling im Wald – neue Freuden bereit.
Aus einer auf ein Jahr befristeten Stelle als Postdoktorand wurde eine 25-jährige Laufbahn in New York, in der ich auch das Projecto Flora Amazonica leitete, ein brasilianisch-amerikanisches Programm zur Erforschung der Pflanzenwelt am Ama-zonas. Auf einer unvergesslichen Reise 1971 durchwanderte mein Team 275 Kilome-ter Wald. Wir schliefen in Hängematten, begegneten Anakondas, sammelten Proben und dokumentierten, wie indigene Völker einheimische Pflanzen als Lebensmittel, als Halluzinogene und als Gift für ihre Pfeile verwenden. Allein auf dieser Reise sam-melten wir 700 Pflanzen- und Pilzproben, darunter viele der Wissenschaft bis dahin noch unbekannte Arten.
Heute, Jahrzehnte später, habe ich Hunderte neuer Arten entdeckt und klassifiziert, und – was noch befriedigender ist – ich sehe eine neue Generation von Studenten, die unser Studienprogramm in Tropenbotanik in Manaus, im Herzen des Amazonas-beckens, absolvieren. Ich habe dort geholfen, das erste Graduiertenprogramm am Amazonas aufzubauen. Heute gehen unsere Absolventen auf eigene Expeditionen und führen unsere naturschützerische Arbeit mit Engagement, Neugier, Begeiste-rung und ihrem an einer heimischen Universität erworbenen Wissen fort.
Den Amazonas zu erkunden bedeutet, Risiken und Strapazen auf sich zu nehmen. Man braucht Ausdauer und muss auch zu unangenehmer und anstrengender Arbeit bereit sein. Die Arbeit als Feldforscher findet nicht nur draußen statt; auch lange
Man könnte sagen, mein Entdeckerleben begann mit einer Paranuss. Die-ser Baum, der über den Baldachin des Regenwalds hinausragt, steht oft im Umkreis von Hunderten von Metern allein. Ich wollte den Kreislauf
seines Lebens besser verstehen. Also packte ich meinen Rucksack und ging los. Als junge Botaniker stürzten wir uns ins Unbekannte; wir hatten unsere Notizbücher und ein klares Ziel vor Augen: zu dokumentieren, zu beobachten und neue Erkennt-nisse heimzubringen. Unsere Neugier gab uns auf Schritt und Tritt neue Kraft. Meine Tagebücher füllte ich mit allen erdenklichen Schnipseln an Beobachtungsdaten, und doch gab es immer noch mehr zu entdecken.
Pflanzen und Pilze zählen in der heutigen Zeit zu den letzten großen Forschungs-gebieten, bei denen noch vieles unerforscht ist – eine zerbrechliche Welt im unmittel-baren menschlichen Umfeld und uns doch noch so fremd. Unser Planet ist die Heimat von mehr als acht Millionen Tier- und Pflanzenarten, die jede für sich ums Überleben kämpft. Doch seit unserem Aufstieg als Spezies haben wir Menschen unser Bestes gegeben, die Pflanzen um uns herum zu nutzen und zu missbrauchen. Wir haben sie ausgegraben, abgeschnitten, beschädigt und entartet. Heute tun wir das in größerem Ausmaß als je zuvor, aber weder wir noch irgendwelche Tiere können ohne Pflanzen überleben. Unser grünes Erbe wird verschleudert. Für mich ist das Wahnsinn!
Wie bin ich dazu gekommen? Nun, ich habe die Natur immer geliebt. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der sie nicht Teil meines Lebens war. Mein Interesse galt vor allem der Tropenbotanik, und meinen Doktor in Forstwirtschaft erwarb ich an der Universität von Oxford. Dort machte ich meine ersten Schritte in ein Leben voller Regenwaldreisen, als ich Samen im Gewächshaus heranzog. 1963 schloss ich mich einer Expedition zum Wilhelminagebirge an, die durch die dichten Wälder im Inland von Surinam führte. Mit dieser Reise begann meine Arbeit für den New York
W U N D E R BA R E WÄ L D E RS I R G H I L L E A N P R A N C E
Notizbücher sind ein wesentlicher Bestandteil meiner Expeditionsausrüstung. Andere Dinge sind
natürlich in praktischer Hinsicht wichtig, […] jedes Utensil könnte im Urwald den Unterschied
zwischen Leben und Tod bedeuten. Aber wenn es darum geht, einen echten Beitrag zum Wissen
zu leisten, dann sind es die sorgfältigen Notizen im Tagebuch, die Dich überleben.
Ein Notizbuch mit Beschreibungen von Bäumen, die Prance auf einer
Forschungsreise sah. Darin enthalten sind unter anderem Angaben zu
deren Höhe, zur Farbe und Beschaffenheit der Rinde und des Holzes,
zum Geruch sowie einige gepresste Blätter.
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Der Regenwald hat uns längst alle erreicht – von den Reifen an unserem Auto und der Schokolade, die wir so lieben, bis hin zum Kaffee, den wir täglich trinken, oder den Medikamenten, die wir einnehmen. Darum brauchen wir alle ein besseres Ver-ständnis für das empfindliche Gleichgewicht dieses Ökosystems. Wo wir auch hin-sehen, überall entdecken wir komplexe Wechselbeziehungen: wie Skarabäen riesige Wasserlilien bestäuben oder wie sich die Paranuss vermehrt. Eine Orchidee, eine Biene, ein Aguti und einheimische Nusssammler, sie alle sind in wechselseitiger Abhängigkeit eng verbunden. Zerstört man ein Bindeglied, bricht das System zusam-men. Wir haben unsere spirituelle Beziehung zur Erde und die Wertschätzung für den Wald an sich verloren. Naturschutz ist, wie die Umwelt, eine Frage von Gleichheit und Gerechtigkeit.
Besser kann ich den Grund, warum ich mein Leben dem Studium der Pflanzen gewidmet habe, nicht beschreiben. Wir alle müssen uns nach Möglichkeit bemühen, den Amazonas und die wunderbaren Menschen, deren Zukunft von diesem Wald abhängt, zu schützen. Dazu kann auch so Unscheinbares dienen, wie die kleinen Zeichen in einem Notizbuch, denn aus Feldbeobachtungen werden Entdeckungen. Auf jeder Expedition nahm ich mir die Zeit, in meinen Tagebüchern Beobachtungen zu notieren: Farben, Kontexte, Begegnungen, Bilder und Laute zu umschreiben und Listen über Listen von Daten zu erstellen. Tief im Regenwald ist es eine Herausforde-rung, sie sicher und trocken aufzubewahren. Wieder zu Hause, bei der Arbeit an einer Sammlung, beim Schreiben eines Aufsatzes oder eines Buches, wäre ich ohne sie verloren. Jede neue Entdeckung vertieft das Verständnis und erhöht die Wertschät-zung. Es gibt noch so vieles in nächster Nähe zu erforschen. Wir blicken über den Mond hinaus zum Mars und haben doch noch nicht annähernd alle Arten von Tie-ren, Pflanzen und Pilzen katalogisiert, mit denen wir diesen schönen Planeten teilen.
Stunden in der Bibliothek und im Labor gehören dazu. Menschen stellen sich den Regenwald oft als einen höchst gefährlichen Ort vor: Flüsse voller Piranhas, Gift-schlangen, Wolken von Moskitos und Skorpione und Spinnen, die von den Bäumen fallen. Aber meine lästigste Verletzung war ein Riss der Achillessehne, den ich mir beim Samba-Tanzen als Führer einer Gruppe reicher Ökotouristen in Brasilien zuzog – für mich eine eher ungewöhnliche Situation. Im Wald hingegen fühle ich mich zu Hause. Ich habe bei 16 verschiedenen Indiostämmen gelebt, und es gibt nichts, was mich dort wirklich stören würde, obwohl ich gern zugebe, dass beißende Schwärme von Feuerameisen höchst schmerzhaft sein können.
Um dort zu überleben, muss man entschlossen und einfallsreich sein. Einmal, als wir das Ende eines Flusses erreicht hatten und sein Einzugsgebiet durchqueren wollten, erkrankte ich an Malaria. Drei Tage lief ich durch unerforschten Regenwald, ehe ich Hilfe fand. Schon früh lernte ich, Bootsmotoren zu reparieren. Es wäre unangenehm, im Kanu einen Wasserfall hinabzustürzen, nur weil der Motor versagt hat. Aber es gibt auch perfekte Momente: ein bislang unbekanntes Tierverhalten zu beobach-ten oder eine nicht klassifizierte Pflanzenart zu entdecken. Eine meiner schönsten Erfahrungen in jüngster Zeit war es, meine noch jungen Enkel in den Regenwald mit-zunehmen und das Staunen in ihren Augen leuchten zu sehen, als sie einen Jaguar erblickten.
Wenn wir diesen Planeten künftigen Generationen in gutem Zustand übergeben wollen, müssen wir schnell und bedacht handeln. Wir verlieren Arten durch mensch-liche Aktivität, und doch begreifen wir noch immer nicht das Ausmaß dieses Verlusts. Neueren Studien zufolge sind ganze 86 Prozent aller Pflanzen und Tiere auf dem Land und 91 Prozent der Meeresarten noch nicht erfasst. In den ersten zehn Jahren meiner Forschungsarbeit im Amazonasbecken hatte ich das Glück, von Umwelt-fragen unbelastet forschen und reisen zu können. Aber je besser ich die komplexen Bestäubungsmechanismen durch Fledermäuse, Käfer, Vögel und Schmetterlinge und die Art und Weise, wie sich Pflanzen gegen die Horden von blattfressenden Räu-bern verteidigen, verstand, desto klarer wurde mir, wie fragil das Gewebe des Lebens hier ist. In den 1970er-Jahren wandelte sich die Lage am Amazonas dramatisch. Groß angelegte Erschließungsprojekte führten zur massiven Zerstörung des Waldes, und man begann mit dem Straßenbau der Transamazônica.
Eine Collage aus Sammelbüchern, Fotos, frühen Notizbüchern, Kontaktabzügen und
getrockneten Pflanzenproben. Obwohl die Schrift kaum entzifferbar scheint, sind diese
Feldnotizen und Sammelbücher für mich von unschätzbarem Wert.
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helm aus Kork, und um den Hals baumelte ein Kompass, an einer dicken, schwarzen Kette. Obwohl sie keine naturwissenschaftliche Ausbildung hatte, berichtete sie im Entomologist über ihre Studien in Kleinasien, Algerien, Costa Rica, den Philippinen und Griechenland.
Neben Tagebüchern, Skizzenbüchern und Schmetterlingsnetz trug Fountaine stets einen Flachmann mit Brandy bei sich – wenn es mal wieder hart auf hart kam. Mutig sprang sie einmal aus einem Zug, ehe dieser entgleiste; sie überquerte in Tennisschuhen einen Gletscher und entging mehrfach nur knapp dem Tod durch Malaria. Erdbeben, Tropenstürme, auch Begegnungen mit Löwen und Giftschlangen ließen sie unbeeindruckt. Einer ihrer besten Momente war, als sie sich ein Gläschen mit einem berüchtigten Banditen in den korsischen Bergen gönnte. »Eine reine und edel gesinnte Frau umgibt ein unmittelbarer und besonderer Schutz, den kein noch so gemeiner Mann durchbrechen kann«, schrieb sie später.
Groß, attraktiv, doch zurückhaltend, warf sich Fountaine von einer verhängnisvollen Liebesgeschichte in die nächste, bis sie Khalil Neimy traf, einen (wie sie später herausfand) verheirateten Syrer, der fast drei Jahrzehnte ihr ständiger Begleiter blieb. Gemeinsam trugen sie eine der weltweit schönsten Schmetterlingssammlungen zu sammen. Als Neimy starb, reiste Fountaine weiter. Sie starb mit 78 Jahren auf einer staubigen Straße in Trinidad, das Schmetterlingsnetz fest in der Hand.
E in kleiner Kreis von Menschen versammelte sich 1978 feierlich im Kellerarchiv des Castle Museums in Norwich, um eine alte, seit 1940 versiegelte
Kiste zu öffnen. Darin fanden sich zwölf schwere Bände mit Tagebüchern, die über sechs Jahrzehnte lang täglich geführt worden waren, sowie MahagoniKästen mit rund 22 000 Schmetterlingsexemplaren. Auf den Tagebuchseiten fanden sich die außergewöhnlichen Abenteuer der Schmetterlingsforscherin Margaret Fountaine, die ihr Leben auf der unermüdlichen Suche nach Schmetterlingen und kühnen Männern zubrachte.
Fountaine verließ England mit 29 Jahren, ohne klareres Ziel als das, ihr gebrochenes Herz zu heilen. Ein wohlhabender Onkel ermöglichte ihr ein finanziell unabhängiges Leben, und sie wollte ihr Vermögen darauf verwenden, die Welt zu bereisen. In der Schweiz entdeckte sie ihre Liebe zu Schmetterlingen – fortan verbrachte sie ihr Leben als unerschrockene Schmetterlingsjägerin.
Getrieben von Fernweh, reiste Fountaine durch Euro pa, brach nach Nordafrika auf und bereiste bald die ab gelegensten Gegenden jedes Kontinents, meist nur in Begleitung eines Führers oder Übersetzers. Kein Ziel war ihr zu wild oder gefährlich. Unkonventionell war auch ihr bevorzugtes Outfit für die Schmetterlingsjagd: ein kariertes Männerbaumwollhemd, ein Baumwollrock mit aufgenähten Extrataschen, Baumwollhandschuhe mit ab geschnittenen Daumen und Fingerspitzen, ein Tropen
M A RG A R E T FO U N TA I N E 1862–1940
Das Reisen bereitet mir das größte Vergnügen. Ich mag die Idee,
mich auf der Welt herumzutreiben und mich mit den Sitten und
Gebräuchen der Menschen vertraut zu machen.
Oben: Fountaines wunderschön illustrierte Zeichenbücher sind
in Seide gebunden.
Gegenüber: Diese Seite ist Larven und Puppen gewidmet, die
sie 1908/09 in Südafrika dokumentierte.
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Peru, in Ecuador, Kolumbien und Mexiko. Sie kletterten auf Berge, zeichneten Landkarten, fingen Zitteraale, aßen Schlamm, pressten Pflanzen, entdeckten Inkaruinen und das Blau des Himmels. Sie sammelten Vogelkot, beob-achteten die Sterne und verpackten Gesteine – nichts war zu groß oder zu klein, um ihrem Forscherauge zu entgehen. Sie legten zu Fuß, zu Pferd und im Kanu mehr als 9 650 Kilometer zurück. Die abenteuerliche Reise war nicht selten gefährlich, dauerte fünf Jahre und kostete Humboldt ein Drittel seines Vermögens. Das Ergebnis aber war eine Sammlung von über 60 000 Proben und einem unermesslichen Schatz an Aufzeichnungen.
Ihre Auswertung, Zusammenfassung und Veröffent-lichung, der Humboldt ein ganzes Leben widmen sollte, geriet selbst zu einer endlosen Erkundungsreise. Er sagte stets, er wolle Ideen sammeln, nicht Objekte. Humboldts Hauptwerk Kosmos, das wohl ambitionierteste wissen-schaftliche Werk, das je veröffentlicht wurde, sollte alles, was er gesehen, gelesen und sich vorgestellt hatte, zu einem »Entwurf einer physischen Weltbeschreibung« zusammenfassen. Dem Werk, das einen wesentlichen Bei-trag zu fast allen Naturwissenschaften leistete, widmete er über 25 Jahre: Der erste Band erschien, als er 76 Jahre alt war, der fünfte und letzte Band war fast vollendet, als Humboldt kurz vor seinem 90. Geburtstag 1859 starb. Dar-win schrieb später, Humboldt sei »der größte Forschungs-reisende, der je gelebt hat«, gewesen.
In einer Zeit, in der weite Teile der Welt noch völlig unerforscht waren, bereiste Alexander von Humboldt entlegene Regionen, um so viele Eindrücke wie nur
möglich zu sammeln. Seine Ideen veränderten unsere Sicht der Welt. Er war unerschrocken, ehrgeizig und unglaublich talentiert – der Inbegriff des »Universalwis-senschaftlers«, ein Sohn der Aufklärung, der zum ange-sehensten wissenschaftlichen Kopf seiner Zeit wurde. Er gilt als Vater der modernen Ökologie und war der Erste, der zur weltweiten Zusammenarbeit bei der Sammlung wissenschaftlicher Daten aufrief.
Der gebürtige Berliner besaß gute Kontakte und eine unstillbare Neugier. Zunächst reiste er 1790 mit Georg Forster, der als junger Naturforscher mit Cook unterwegs gewesen war, nach England, um Joseph Banks aufzusu-chen, der ihnen Zugang zu den Wundern seiner Pflan-zensammlung gewährte. 1796 schied Humboldt aus dem Staatsdienst aus und wandte sich der Planung einer gro-ßen Forschungsreise zu. Der französische Botaniker Aimé Bonpland und er erwirkten beim König von Spanien Pas-sierscheine, die ihnen erlaubten, die spanischen Kolonien in Südamerika zu bereisen. 1799 überquerten sie den Atlantik und ließen sich den Orinoko hinaufrudern. Mit Skizzenbüchern und Messinstrumenten bewaffnet, dran-gen sie in Tropenwälder vor, die nie zuvor ein Westeuro-päer betreten hatte. Die beiden erkundeten die Küste von Venezuela, den Amazonas und Landstriche des heutigen
A L E X A N D E R VO N H U M BO L DT 1769–1859
Ein Mann kann sich nicht einfach hinsetzen und weinen – er muss handeln.
Humboldts Expeditionstagebücher (oben) sind eng beschrieben und
gespickt mit kleinen Feldzeichnungen, Berechnungstabellen und
Beobachtungen. Sein berühmt gewordener Profilquerschnitt des
Vulkans Chimborazo in Ecuador (gegenüber) gilt als beispielhaft
für seine Sicht einer geografisch geordneten Ökologie, in diesem
Fall dem Vorkommen unterschiedlicher Pflanzen auf verschiedenen
Höhenzonen.
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Sie sehnte sich danach, deren Verhalten und Farben in der Natur zu studieren. Mit 52 Jahren segelte sie mit Dorothea in die holländische Kolonie Surinam, um die Fauna und Flora dieses »heißen, feuchten Landes« festzuhalten. Im Gepäck hatte sie Skizzen- und Notizbücher, Pigmente, Farbbeigaben und ihr Lieblingspergament carta non nata – die Haut von ungeborenen Lämmern –, das Farben wie kein anderes Medium bewahrte. Zwei Jahre sammel-ten und fütterten die Frauen Exemplare und beobachte-ten deren Verwandlungen. Die Arbeitsbedingungen im tropischen Regenwald waren ungleich schwieriger als im gemäßigten Europa, trotzdem machte Merian zu jedem Bild eine Fülle von Notizen. Peinlich genau hielt sie Ver-haltensweisen und Lebensräume der Arten fest und be -mühte sich, nicht nur die einheimischen Namen von Pflanzen, Früchten und Insekten zu erfahren, sondern auch mehr über deren praktischen Nutzen.
Eine Malariaerkrankung zwang Merian 1701 zur Rück-kehr in die Niederlande. Sie begann sofort mit den Arbei-ten für Metamorphosis Insectorum Surinamensium. Das Buch, das zum Standardwerk wurde, stellt die Lebenszyk-len von bis dahin unbekannten Pflanzen und lebensgro-ßen Insekten dar. Die Inszenierung und der Detailreich-tum ihrer Arbeiten waren zu jener Zeit beispiellos. Aber ihr größtes Vermächtnis war, uns daran zu erinnern, auch die kleinsten aller Geschöpfe zu würdigen und niemals Mädchen zu unterschätzen, die Raupen sammeln.
Schon mit 13 Jahren sammelte Maria Sibylla Merian alle Raupen, derer sie habhaft werden konnte, um die Stadien ihrer Verwandlung zu beobachten und
diese zu zeichnen. Vielleicht ein seltsamer Zeitvertreib für ein junges Mädchen, aber ihr war ein unkonventio-nelles Leben beschieden. Merian lebte in einer Zeit, in der der Aberglaube noch weitverbreitet war. Während sie in Frankfurt Raupen studierte, verbrannte man in anderen Städten Frauen als Hexen. Als sie zu malen anfing, glaubte man noch, Insekten seien Ausgeburten des Teufels, her-vorgebracht von verdorbenem Fleisch und faulendem Obst. Nur wenige konnten oder wollten sich überwinden, genau hinzusehen, um sich eines Besseren belehren zu lassen. Merian war eine Ausnahme: Aus kindlicher Neu-gier wurde eine lebenslange Faszination.
Obwohl sie bereits mit 18 Jahren heiratete, blieb Merian ausgesprochen unabhängig. Sie behielt ihren Mädchennamen und trug zum Unterhalt der Familie bei, unterrichtete Schülerinnen im Zeichnen, verkaufte Mal-utensilien und Seidenmalereien. Nach der Trennung von ihrem Mann lebte sie mit den beiden Töchtern, Johanna und Dorothea, in Amsterdam und arbeitete als wissen-schaftliche Illustratorin. Dort studierte sie exotische Pflanzen, Schmetterlinge und Insekten, die Kaufleute und Naturforscher überall in Amerika gesammelt hatten. Aber die verblichenen, schlecht konservierten Exemplare waren ein trauriger Ersatz für lebende Motive.
M A R IA S I BY L L A M E R IA N 1647–1717
Ich würde Sie bitten, so gütig zu sein, mir keine toten Kreaturen
mehr zu schicken, da ich keine Verwendung für sie habe.
Zu Merians Zeit wurde ihre extreme beobachterische Gewissenhaf-
tigkeit von vielen als wunderlich, ihre Werke sogar als »entomolo-
gische Karikaturen« abgetan. Heute wird ihr Œuvre in Sammlungen
weltweit geschätzt. Oben ist eine Surinamkröte mit Nachwuchs auf
dem Rücken zu sehen, eine pinkfarbene Pflanze und zwei Muscheln;
gegenüber findet sich ein Kaiman mit einer Korallenrollschlange.
18 0 181M A R I A S I B Y L L A M E R I A N
Merian wurde für ihre ungewöhnlichen Darstellungen
faszinierender Naturphänomene bekannt: Sie malte
Motten, die Eier legen, Raupen beim Verzehr ihrer Lieb-
lingspflanzen, Schmetterlinge und Eidechsen, die ihre
Zunge nach Nahrung strecken. Sie zeichnete ganze
Lebenszyklen einzelner Mottenarten. Diese genaue
Naturbeobachtung und ihre künstlerische Dokumen-
tation waren ihrer Zeit weit voraus und legten den
Grundstein für die Arbeit späterer Naturphilosophen.
282 Z E I C H E N S E T Z E N
Auf dieser ersten langen Reise lebte ich in den Bergen von Kolumbien. Ich traf einen Schamanen der Kamsa. Was er zu mir sagte, habe ich nie vergessen. »In den ersten Jahren deines Lebens«, sagte Pedro, »lebst du im Schatten der Vergangenheit, zu jung, um zu wissen, was zu tun ist. In deinen letzten Jahren entdeckst du, dass du zu alt bist, um die Welt zu verstehen, die von hinten auf dich zurollt. Dazwischen ist ein kleiner, schmaler Lichtstrahl, der dein Leben erleuchtet.«
Wenn wir auf ein langes Leben zurückblicken und sehen, dass wir unsere Entschei-dungen annehmen, dann gibt es wenig Anlass für Groll. Verbitterung erleben die, die ihre Entscheidungen bereuen. Die größte kreative Herausforderung ist der Kampf, Herr über sein Leben zu sein. Durch Reisen wurde ich Schriftsteller, und durch das Wunder, ein Schriftsteller zu sein, lernte ich Geduld, Kompromisse zu meiden und dem Schicksal Zeit zu geben, mich zu finden. Alles das begann mit diesen ersten Tagebüchern und dem Rat: »Wage Unbehagen für Erkenntnis«.
In jenen Monaten war ein Stift mein Anker, ein Tagebuch mein Trost. Das Tagebuch war in vieler Hinsicht das Einzige, was mir Halt gab. Meine recht disziplinierten wis-senschaftlichen Notizbücher enthielten später detaillierte Berichte über botanische Beobachtungen, ethnografische und geografische Beschreibungen. Aber die ersten zwei Tagebücher – Collagen mit eingestreuten Einsichten, Ausbrüchen der Verwir-rung und unverfälschter Ehrfurcht – waren das emotionale Schwafeln eines jungen Mannes auf der persönlichen Suche nach etwas.
Ich sollte Reisen später nicht als wissenschaftliche Untersuchung begreifen, sondern als Pilgerreise – jeder Schritt bringt uns dem Ziel näher, der kein Ort ist, sondern ein Geisteszustand, kein Ziel, sondern ein Weg der Erleuchtung und Befreiung, die das ultimative Ziel des Pilgers sind. Hemingway sagte, die wichtigste Vorbereitung für einen Schriftsteller sei ein interessantes Leben, um etwas zu sagen zu haben, das die Welt hören muss. Damals hatte ich nicht vor, Schriftsteller zu werden, aber ich wollte ein interessantes Leben führen.
Im Lauf der Zeit habe ich einige Lektionen gelernt. Das Leben verläuft weder linear noch vorhersehbar. Man zieht sich einen Beruf nicht über wie einen Mantel. Er wächst organisch um uns herum – Schritt für Schritt, Wahl um Wahl, Erfahrung um Erfahrung. Alles summiert sich. Für keine Arbeit sind wir zu gut. Nichts ist Zeitver-schwendung, es sei denn, wir machen es dazu. Ein alter Taxifahrer in Bogotá kann uns so viel lehren wie ein wandernder Sadhu in Indien oder ein mystischer Heiliger in der Sahara. Da draußen waren Zehntausende von Lehrern, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie hatte.
Unsere Arbeit ist nur eine Linse, durch die wir die Welt sehen und erleben, und auch das nur für eine Weile. Das Ziel ist es, das Leben selbst, den Akt des Lebendig-Seins, zur Berufung zu machen, wohl wissend, dass wir letztlich nichts planen oder vorher-sehen können, dass es keinen Plan gibt, der den Ausgang von etwas so Komplexem wie einem menschlichen Leben vorhersagt. Wenn man für das Potenzial des Neuen, das Versprechen des Unvorstellbaren offenbleiben kann, dann wird Magie Wirklich-keit, und das Leben nimmt Gestalt an.
Die Oberfläche der Erde ist ein gewaltiger Webstuhl, auf dem die
Sonne das Tuch des Lebens webt. Als Entdecker habe ich immer die
großen wundersamen Geschichten gesucht, die es in vielen Kulturen
gibt und die uns etwas über die Erfahrung lehren, ein Mensch zu sein.
Wenn wir in diesem Sinne mit offenen Augen und offenem Geist
reisen, wird es immer etwas zu entdecken geben.