Download - Michael Ebeling - Restekuscheln
Micha Ebeling
Reste kuscheln
Micha Ebeling erlebte seine Reinkarnation als Halbesoteriker Mitte der 60er Jahre in Ostfalen. Er arbeitete als Schmiedegehilfe, in der Diako-nie, als Technischer Leiter einer Behinderten-werkstatt und an seinem Umzug nach Berlin. Er fand Zuflucht in einem Wohnheim für Studenten der Theologie, denen er nicht wenig für seine spätere Laufbahn als Geschichtenerzähler ver-dankt. Er war Kellner, Taxifahrer und Stammgast des »Zosch«, wo er 1996 die Lesebühne »Liebe Statt Drogen« kennenlernte, deren Mitglied er seitdem ist. Er ist in der gleichnamigen Antho-logie (Voland & Quist, 2006) vertreten.
Micha Ebeling ist ein Virtuose des Wortes, der Metaphern aufblühen und Al-literationen in Aktion treten lässt, der als abgebrühter ehemaliger Berliner taxi driver über scheiternde Figuren philosophiert, als Frauenversteher nicht nur Beamtinnen am Telefon die Beichte abnimmt und uns als grotesker Mär-chenerzähler mit poetischer Ironie verzaubert. Seine Texte können alles sein: zum Brüllen komisch oder voll Verzweiflung, provozierend zynisch oder hoff-nungslos idealistisch – im besten Fall aber alles zugleich.
Micha Ebelings rasante Geschichten begeistern das Publikum der Lesebüh-ne »Liebe Statt Drogen« und der Multimedia-Show »Lokalrunde« nicht weni-ger als die Fangemeinde der Poetry Slams. Mit »Restekuscheln« erscheint zum ersten Mal eine Sammlung seiner besten Texte.
Zum Hören:Backen to the RootsMarburg, Milch und MoritatenDer ZweiteEinstürzende Altbauten oder nicht mit mirDer Pakt mit dem Teufelu. v. a. Gesamtspielzeit: ca. 75 min
www.michaebeling.dewww.voland-quist.de
—————
L IVE IM BAIZ
Backen to the Roots *Flammende Liebesschatten an den Brandmauern der Unwirklichkeit *IchMarburg, Milch und MoritatenDer Zweite *Gemüsepfanne *Epileptiker und Ellipsen *Gästelisten *Einstürzende Altbauten oder nicht mit mir *Das Märchen vom Stuhl, der den König glücklich machte *Wolfsburg *Der Pakt mit dem Teufel *Bergbollern der zackzickenden Kräkel-Emmer *Tschüss und Dankeschön *
* nur auf CD
Tracklist:
0102
0304050607080910
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Mic
ha E
belin
g R
este
kusc
heln
ISBN 978-3-938424-18-6EUR 13,90 (D)
SINGLESMIT AUDIO-CD
sollte. Angeblich würde er mir eine Hilfe sein und mir die Möglich-
keit eröffnen, ordentlich ausgedruckte Sachen an Dritte weiterzuge-
ben. Ich habe dann zumindest immer Staub auf ihm gewischt. Nun
trug es sich aber zu, dass ich einst eine E-Mail an jemanden versen-
den wollte. Von einem Internetcafé aus. Dieser Versuch scheiterte,
weil E-Mails versenden im Prinzip nur geht, wenn man eine eigene
E-Mailadresse hat. Es war kurz vor Mitternacht. Ich war verzweifelt
und die Bauarbeiter um mich herum betrunken, aber guter Dinge.
„Lass ma, Kleener, det machen wa schon für dir.“
Schon hatte sich einer von ihnen vor den Bildschirm geworfen
und fing wie wild an zu tippen. Es war für alle Beteiligten sehr
lustig, wie aus mir plötzlich Elfriede Mattuschewski aus Cottbus
wurde, 54 Jahre, geschieden, Inhaberin eines Hundefrisiersalons,
die nicht nur einen Ibiza fährt, sondern dort auch zweimal im Jahr
Urlaub macht, wo sie dann Tennis und Squash spielt undsoweiter-
undsofort …
So richtig verstand ich nicht, was um mich herum passierte. Ab
und an musste ich mal ein paar Knöpfe drücken und den Jungs ei-
nen ausgeben. Aber am Ende hatte ich eine E-Mailadresse. Fortan
wurde ich ein guter Kunde in diesem Café, und meine Zeit im
Internet reichte wohl aus, um die Kosten für die Flatrate dort zu
bestreiten. Das blieb natürlich den lieben Kollegen nicht verborgen.
„Das geht doch auch von zu Hause aus.“ und „Da sparst du Geld.“,
bekam ich von da an zu hören. Begriffe wie „outlook express“ und
„call-by-call“ wurden mit verheißungsvollem Zwinkern in meiner
Gegenwart benutzt. Und letztlich drehte sich alles um einen ein-
zigen Gegenstand. Das Modem! Wenn ich das erst mal hätte, dann
würde ich schon sehen, was dann und so … Nach langem Zögern
fragte ich Tube, einen ausgewiesenen Fachmann auf diesem Gebiet,
ob er mir Internetz machen könne. Könne er, war die lakonische
Antwort. Wir verabredeten uns in seiner Wohnung, weil er das
nötige Equipment raussuchen wollte. Tubes Wohnung besteht im
Wesentlichen aus einem oder mehreren funktionierenden Com-
putern und mehreren funktionierenden Aschenbechern am Rande
19
EIGENER NERD IST GOLDES WERT
Prolog:
Zweiter Weltkrieg. Irgendwo zwischen Arras und Cambray. Ein
schneidender Nordwest zersägt die Gesichter der Soldaten, die ver-
zweifelt versuchen, ihren Truppentransporter wieder in Gang zu
bringen. Es hilft nichts. Einer von ihnen muss über die verschneiten
französischen Felder ins nächste Dorf, um Wasser zu besorgen. Kühl-
wasser. Das Los fällt auf einen jungen Burschen, für den dieses Er-
eignis zum unvergesslichen Erlebnis wird. Dieser Mann wird später
nur Autos ohne Kühler fahren. Luftgekühlte Autos. Dieser Mann
kauft sich später als erstes Auto einen Trabant. Das ist nicht schlimm
und fällt nicht weiter auf, denn alle in der DDR fahren einen
Trabant. Dieser Mann kauft sich danach einen uralten VW-Käfer,
weil es in der DDR nur uralte VW-Käfer gab. Dieser Mann musste
jeden Tag, nach jeder Fahrt irgendetwas an seinem Schrottauto re-
parieren, das in seinen Augen das beste Auto der Welt war, weil es
keinen Kühler hatte. Dieser Mann war mein Vater! Ich fand später
immer, dass es so ähnlich sei, Autos aus besagten Gründen ohne
Kühler zu kaufen, wie wenn man Ausschau hielte nach einer Frau
ohne Beine, bloß weil einem mal eine weggelaufen ist. Prolog Ende.
50 Jahre später:
So was Ähnliches wie Dritter Weltkrieg. Irgendwo zwischen Hacke-
scher Markt und Nordbahnhof. Schneidender Zigarettendunst zer-
sägt die Gesichter der zwei Jungs, die verzweifelt versuchen, einen
antiken Rechner an das weltweite Spinnentier anzuschließen. Es
hilft nichts. Einer von ihnen muss durch den Space-Quadranten
von Mitte, um vom Planeten Saturn das rettende Modem zu holen.
Aber der Reihe nach. Vor Jahren schenkten mir meine lieben
Kollegen einen Computer, auf dem ich meine Geschichten schreiben
18
sollte. Angeblich würde er mir eine Hilfe sein und mir die Möglich-
keit eröffnen, ordentlich ausgedruckte Sachen an Dritte weiterzuge-
ben. Ich habe dann zumindest immer Staub auf ihm gewischt. Nun
trug es sich aber zu, dass ich einst eine E-Mail an jemanden versen-
den wollte. Von einem Internetcafé aus. Dieser Versuch scheiterte,
weil E-Mails versenden im Prinzip nur geht, wenn man eine eigene
E-Mailadresse hat. Es war kurz vor Mitternacht. Ich war verzweifelt
und die Bauarbeiter um mich herum betrunken, aber guter Dinge.
„Lass ma, Kleener, det machen wa schon für dir.“
Schon hatte sich einer von ihnen vor den Bildschirm geworfen
und fing wie wild an zu tippen. Es war für alle Beteiligten sehr
lustig, wie aus mir plötzlich Elfriede Mattuschewski aus Cottbus
wurde, 54 Jahre, geschieden, Inhaberin eines Hundefrisiersalons,
die nicht nur einen Ibiza fährt, sondern dort auch zweimal im Jahr
Urlaub macht, wo sie dann Tennis und Squash spielt undsoweiter-
undsofort …
So richtig verstand ich nicht, was um mich herum passierte. Ab
und an musste ich mal ein paar Knöpfe drücken und den Jungs ei-
nen ausgeben. Aber am Ende hatte ich eine E-Mailadresse. Fortan
wurde ich ein guter Kunde in diesem Café, und meine Zeit im
Internet reichte wohl aus, um die Kosten für die Flatrate dort zu
bestreiten. Das blieb natürlich den lieben Kollegen nicht verborgen.
„Das geht doch auch von zu Hause aus.“ und „Da sparst du Geld.“,
bekam ich von da an zu hören. Begriffe wie „outlook express“ und
„call-by-call“ wurden mit verheißungsvollem Zwinkern in meiner
Gegenwart benutzt. Und letztlich drehte sich alles um einen ein-
zigen Gegenstand. Das Modem! Wenn ich das erst mal hätte, dann
würde ich schon sehen, was dann und so … Nach langem Zögern
fragte ich Tube, einen ausgewiesenen Fachmann auf diesem Gebiet,
ob er mir Internetz machen könne. Könne er, war die lakonische
Antwort. Wir verabredeten uns in seiner Wohnung, weil er das
nötige Equipment raussuchen wollte. Tubes Wohnung besteht im
Wesentlichen aus einem oder mehreren funktionierenden Com-
putern und mehreren funktionierenden Aschenbechern am Rande
19
EIGENER NERD IST GOLDES WERT
Prolog:
Zweiter Weltkrieg. Irgendwo zwischen Arras und Cambray. Ein
schneidender Nordwest zersägt die Gesichter der Soldaten, die ver-
zweifelt versuchen, ihren Truppentransporter wieder in Gang zu
bringen. Es hilft nichts. Einer von ihnen muss über die verschneiten
französischen Felder ins nächste Dorf, um Wasser zu besorgen. Kühl-
wasser. Das Los fällt auf einen jungen Burschen, für den dieses Er-
eignis zum unvergesslichen Erlebnis wird. Dieser Mann wird später
nur Autos ohne Kühler fahren. Luftgekühlte Autos. Dieser Mann
kauft sich später als erstes Auto einen Trabant. Das ist nicht schlimm
und fällt nicht weiter auf, denn alle in der DDR fahren einen
Trabant. Dieser Mann kauft sich danach einen uralten VW-Käfer,
weil es in der DDR nur uralte VW-Käfer gab. Dieser Mann musste
jeden Tag, nach jeder Fahrt irgendetwas an seinem Schrottauto re-
parieren, das in seinen Augen das beste Auto der Welt war, weil es
keinen Kühler hatte. Dieser Mann war mein Vater! Ich fand später
immer, dass es so ähnlich sei, Autos aus besagten Gründen ohne
Kühler zu kaufen, wie wenn man Ausschau hielte nach einer Frau
ohne Beine, bloß weil einem mal eine weggelaufen ist. Prolog Ende.
50 Jahre später:
So was Ähnliches wie Dritter Weltkrieg. Irgendwo zwischen Hacke-
scher Markt und Nordbahnhof. Schneidender Zigarettendunst zer-
sägt die Gesichter der zwei Jungs, die verzweifelt versuchen, einen
antiken Rechner an das weltweite Spinnentier anzuschließen. Es
hilft nichts. Einer von ihnen muss durch den Space-Quadranten
von Mitte, um vom Planeten Saturn das rettende Modem zu holen.
Aber der Reihe nach. Vor Jahren schenkten mir meine lieben
Kollegen einen Computer, auf dem ich meine Geschichten schreiben
18
ten auch auf andere Weise zum Ausdruck bringen. Der Mann liest
ein sehr dickes Buch. Na und! Soll er doch ein dickes Buch lesen.
Größe und Dicke sind auch nicht alles, worauf die feinsinnigeren
unter den Frauen so achten. Auf den Inhalt kommt es an, auf die
inneren Werte so eines Buches. Mal sehen, was der so liest. Kann
doch wohl nicht wahr sein! Der Kerl hält das Buch aber auch so,
dass ich den Titel nicht erkennen kann. Und!! Und das macht mich
langsam fuchtig – er liest mit so einer Ruhe und Gelassenheit. Mit
so einer Selbstverständlichkeit. Mit so einem von innen heraus leuch-
tenden Interesse. Mit so einer Hingabe, gespeist aus Unerschütter-
lichkeit und Gewissheit, wie sie nur aus Nahtoderfahrung oder ge-
fühlter Gottesnähe erwachsen kann. Er liest mit dieser an die alten
Sufi-Mystiker erinnernden Verzückung. Während ich all das Kaffee
schlürfend und rauchend aus dem Augenwinkel wahrnehme, spüre
ich, wie sich in meinem Magen ein schmerzhafter Klumpen aus
Neugier, Neid und Missgunst bildet. Dieser Mann, da bin ich mir
inzwischen sicher, liest DAS Buch. Nämlich genau das richtige. Mit
Sicherheit liest er ein Buch fernab von allem Mainstream, von allen
Literaturtrends und fernab aller Bestsellerlisten von Stern, Spiegel,
Focus, Hocus, Pocus und Jocus. Vermutlich besitze ich dieses Buch
nicht mal, schlimmer noch, ich kenne es wahrscheinlich gar nicht.
Oder ich wüsste, wenn ich wüsste, um welches Buch es sich han-
delt, dass ich es schon immer lesen wollte und nie dazu gekommen
bin. Immer wieder schiele ich zu dem Buch rüber. Der Mann kuckt
her, ich weg. Mist, zu oft habe ich jetzt schon gekuckt, als dass ich
nicht gezwungen wäre, ihn jetzt auch mal arglos anzulächeln, da-
mit er nichts merkt. Aber wer selber stiehlt, passt auf. Obwohl es
wie zufällig aussehen soll, achtet er doch akribisch genau darauf,
dass ich den Buchumschlag nicht zu sehen bekomme, die Ratte. Ich
lächle ihn falschen Lächelns an, ihn, der mir nicht nur als Mann
schon die ganze Zeit seine archaische Überlegenheit zu demonstrie-
ren weiß, sondern auch als Besitzer und Leser gerade dieses Buches
mir zeigt, dass ich mal wieder meilenweit der intellektuellen Avant-
garde hinterherfahrradfahre. Er will mich janullrichen oder gar
27
DAS BUCH
In den Gefilden, in denen ich mich üblicherweise milchkaffeetech-
nisch bewege, gibt es Gott sei dank noch ein, zwei Oasen, wo man
für nur einen Europa-Dollar einen anständigen Espresso mit heißer
Milch bekommt. In einer davon sitze ich, rauche eine Zigarette und
trinke Milchkaffee im Glas in exakt der richtigen Mischung. Ich
könnte eigentlich glücklich sein. Aber: Irgendetwas stimmt nicht.
Ich weiß doch genau, dass ich nicht einfach glücklich sein kann.
Mit dem überaus feinen Spürsinn des sensiblen Künstlers nehme ich
erhebliche Disharmonien im Raum wahr. Ich ahne, woher sie kom-
men. Spüre, dass die Quelle kommenden Ungemachs bereits spru-
delt. Mir schräg gegenüber sitzt ein Mann. Benbeckeroides Aus-
sehen. Was an sich noch kein Grund ist, ihn nicht zu mögen, dafür
kann keiner was, und er ist eindeutig nicht Ben Becker. Er ist voll-
kommen schwarz gekleidet. Nichts ungewöhnliches für Berlin Mitte.
Auf dem Kopf – und da fängt’s an – trägt er ein Art KZ-Käppi.
Vielleicht ist es auch ein Schornsteinfegermützchen. Aber ich habe
meine Assoziationen in der richtigen Reihenfolge wiedergegeben.
Seine Augen in den Farben irgendwo zwischen Taubenscheiße und
Taubengefieder. Kaltgraugrün. Aus ihnen blitzt die Entschlossenheit
eines Oliver Kahn. Ich glaube, Frauen mögen ihn. Vielleicht, weil er
mich auch noch ein bisschen an Boris Becker erinnert. Alle drei
Männer, die beim Anblick des Mannes mir gegenüber vor meinem
geistigen Auge aufgetaucht sind, haben eines gemeinsam: Erfolg –
und zwar nicht nur bei Frauen. Der Mann mir gegenüber hat außer
dem von mir vermuteten Erfolg noch etwas. Ein Buch hat er. Und
er liest darin. Da ist nichts dran auszusetzen. Auch ich gestatte mir
von Zeit zu Zeit den Luxus, ein Buch in der Öffentlichkeit zu lesen.
Damit sendet man die richtigen Signale aus an die Frauen, die nicht
auf primitive Schlüsselreize wie braungebrannter, muskulöser Ober-
körper oder markantes Gesicht reinfallen. Man kann seine Qualitä-
26
ten auch auf andere Weise zum Ausdruck bringen. Der Mann liest
ein sehr dickes Buch. Na und! Soll er doch ein dickes Buch lesen.
Größe und Dicke sind auch nicht alles, worauf die feinsinnigeren
unter den Frauen so achten. Auf den Inhalt kommt es an, auf die
inneren Werte so eines Buches. Mal sehen, was der so liest. Kann
doch wohl nicht wahr sein! Der Kerl hält das Buch aber auch so,
dass ich den Titel nicht erkennen kann. Und!! Und das macht mich
langsam fuchtig – er liest mit so einer Ruhe und Gelassenheit. Mit
so einer Selbstverständlichkeit. Mit so einem von innen heraus leuch-
tenden Interesse. Mit so einer Hingabe, gespeist aus Unerschütter-
lichkeit und Gewissheit, wie sie nur aus Nahtoderfahrung oder ge-
fühlter Gottesnähe erwachsen kann. Er liest mit dieser an die alten
Sufi-Mystiker erinnernden Verzückung. Während ich all das Kaffee
schlürfend und rauchend aus dem Augenwinkel wahrnehme, spüre
ich, wie sich in meinem Magen ein schmerzhafter Klumpen aus
Neugier, Neid und Missgunst bildet. Dieser Mann, da bin ich mir
inzwischen sicher, liest DAS Buch. Nämlich genau das richtige. Mit
Sicherheit liest er ein Buch fernab von allem Mainstream, von allen
Literaturtrends und fernab aller Bestsellerlisten von Stern, Spiegel,
Focus, Hocus, Pocus und Jocus. Vermutlich besitze ich dieses Buch
nicht mal, schlimmer noch, ich kenne es wahrscheinlich gar nicht.
Oder ich wüsste, wenn ich wüsste, um welches Buch es sich han-
delt, dass ich es schon immer lesen wollte und nie dazu gekommen
bin. Immer wieder schiele ich zu dem Buch rüber. Der Mann kuckt
her, ich weg. Mist, zu oft habe ich jetzt schon gekuckt, als dass ich
nicht gezwungen wäre, ihn jetzt auch mal arglos anzulächeln, da-
mit er nichts merkt. Aber wer selber stiehlt, passt auf. Obwohl es
wie zufällig aussehen soll, achtet er doch akribisch genau darauf,
dass ich den Buchumschlag nicht zu sehen bekomme, die Ratte. Ich
lächle ihn falschen Lächelns an, ihn, der mir nicht nur als Mann
schon die ganze Zeit seine archaische Überlegenheit zu demonstrie-
ren weiß, sondern auch als Besitzer und Leser gerade dieses Buches
mir zeigt, dass ich mal wieder meilenweit der intellektuellen Avant-
garde hinterherfahrradfahre. Er will mich janullrichen oder gar
27
DAS BUCH
In den Gefilden, in denen ich mich üblicherweise milchkaffeetech-
nisch bewege, gibt es Gott sei dank noch ein, zwei Oasen, wo man
für nur einen Europa-Dollar einen anständigen Espresso mit heißer
Milch bekommt. In einer davon sitze ich, rauche eine Zigarette und
trinke Milchkaffee im Glas in exakt der richtigen Mischung. Ich
könnte eigentlich glücklich sein. Aber: Irgendetwas stimmt nicht.
Ich weiß doch genau, dass ich nicht einfach glücklich sein kann.
Mit dem überaus feinen Spürsinn des sensiblen Künstlers nehme ich
erhebliche Disharmonien im Raum wahr. Ich ahne, woher sie kom-
men. Spüre, dass die Quelle kommenden Ungemachs bereits spru-
delt. Mir schräg gegenüber sitzt ein Mann. Benbeckeroides Aus-
sehen. Was an sich noch kein Grund ist, ihn nicht zu mögen, dafür
kann keiner was, und er ist eindeutig nicht Ben Becker. Er ist voll-
kommen schwarz gekleidet. Nichts ungewöhnliches für Berlin Mitte.
Auf dem Kopf – und da fängt’s an – trägt er ein Art KZ-Käppi.
Vielleicht ist es auch ein Schornsteinfegermützchen. Aber ich habe
meine Assoziationen in der richtigen Reihenfolge wiedergegeben.
Seine Augen in den Farben irgendwo zwischen Taubenscheiße und
Taubengefieder. Kaltgraugrün. Aus ihnen blitzt die Entschlossenheit
eines Oliver Kahn. Ich glaube, Frauen mögen ihn. Vielleicht, weil er
mich auch noch ein bisschen an Boris Becker erinnert. Alle drei
Männer, die beim Anblick des Mannes mir gegenüber vor meinem
geistigen Auge aufgetaucht sind, haben eines gemeinsam: Erfolg –
und zwar nicht nur bei Frauen. Der Mann mir gegenüber hat außer
dem von mir vermuteten Erfolg noch etwas. Ein Buch hat er. Und
er liest darin. Da ist nichts dran auszusetzen. Auch ich gestatte mir
von Zeit zu Zeit den Luxus, ein Buch in der Öffentlichkeit zu lesen.
Damit sendet man die richtigen Signale aus an die Frauen, die nicht
auf primitive Schlüsselreize wie braungebrannter, muskulöser Ober-
körper oder markantes Gesicht reinfallen. Man kann seine Qualitä-
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öligen Wunden. Viele glauben, über schlafende Hunde solle man
Gras wachsen lassen und Schwamm drunter!
Nicht ohne mich, liebe Presbyterianer des Plusqualmperfekts.
Diesenfalls bin ich ein wüster Rufer und mahne mit wehendem
Mantel vehement: Wehret den Anfängern!
Natürlich heißt es da für jeden, der noch Ähren im Leib hat:
Wir machen Nägel mit Händen und Füßen. Für solche Kasualien
habe ich eine gewaltige Zornesader, die mir auf einem guten Händ-
chen schwillt. Wozu dieser große Aufwind, werden einige Regis-
trierte fragen. Weil, und da stehe ich mit meiner Meinung wie ein
Fels in Brandenburg, wir alle, liebe Alchimisten des Akkupunktivs,
weil wir alle am selben Boot ziehen. Und da kann jeder etwas bei-
tragen, auch wenn wir mit unserem mutigen Schritt nur bei kleinen
Bäckern Brötchen kaufen.
Vielleicht, so steht zu befürchten – das beweist schon der We-
gen-Dativ, vielleicht sitzt tatsächlich der Volksmund am längeren
Hebel und versucht uns den Zahn der Zeit zu Gehör zu bringen.
Sie, meine Damen und Herren, wissen genauso gut wie ich, dass
man damit uns alten Hasen, die noch wissen, wie man Pudelkerne
im Pfeffer wachsen lässt, das Fell über die Ohren schwimmen las-
sen will. Denn eine Katze, die einmal aus dem Häuschen ist, lässt
auch im Sack die Mäuse auf dem Tisch tanzen. Aber man soll die
Hoffnung nicht zum Fenster hinauswerfen. Jetzt wird ein listiger
Verharmloser des Verfalls möglicherweise anmerken wollen, tja, wo
gehobelt wird, wird auch mal ein Pferd von hinten aufgezäumt.
Schießen wir Sprachverwahrer nicht vielleicht mit Kanonen auf
Teppiche? Nein und Amen!!, sage ich jenen und rufe ihnen zu, auch
wenn es denen zum einen Auge rein und zum anderen raus geht:
Schuster, bleib bei deiner Leistung. Der Mensch lebt nicht vom
Schweiß allein. Abwarten und Kaffee trinken ist das Bier von
Leuten, die das gekrümmte Haar in der Suppe nicht selbst auslöf-
feln wollen. Solcherlei Gesinnungsgesindel kann meine gestohlene
Pfeife rauchen! Solange ich lebe, kommt über meine Lippen kein
schweigendes Grab. Nur über Leichen rede ich so, wie mir der
169
REDE ZUM WOHLE DER DEUTSCHEN SPRACHE
Liebe Freunde!
Der Bandscheibenvorfall der deutschen Sprache ist ebenso unüber-
seh- respektive unüberhörbar wie schmerzhaft. Ein kleiner Haufen
ewig Gestriger will und will sich nicht geschlagen geben und
kämpft ebenso tapfer wie vergeblich an der Demarkationslinie zwi-
schen Anspruch und Wirklichkeit. Immer wieder treten in kleiner
werdenden Zeitabständen Menschen, die noch einen Thomas Mann
von einem Thomas Gottschalk zu unterscheiden wissen, an mich
heran und flehen: Herr Michael, du und deine rechtschaffenen
Rede-Recken, tut doch um Gottes willen etwas gegen diese aus dem
heiteren Himmel stinkende Misere! Dieses inbrünstige, einem Ge-
bet zu vergleichende Flehen jener, konnte, ja durfte ich nicht unge-
hört vergellen, und so habe ich mich dieser Bitte um ein paar auf-
rüttelnde Worte – um unserer Worte willen – nun nicht länger ent-
ziehen zu dürfen geglaubt.
Deshalb diese zur Wahrung und Preisung der deutschen Mut-
tersprache gehaltene Rede an die Gebildeten unter ihren Ver-
ächtern.
Damen und Herren!
Sprechende, schreibende, lesende und hörende Nutznießer der
deutschen Zunge! Vernehmt diesen seltsamen Sermon eines sich
sorgenden Sonderlings!
So wie die meisten jungen Menschen heute kaum noch etwas
mit dem Namen Martin Luther anzufangen wissen, so wenig be-
dürfen sie noch des von ihm geschaffenen und mit einem gehei-
ligten Auftrag uns Deutschen überantworteten Sprachschatzes. Seit
Jahrhunderten feststehende Räderwendungen werden von skrupel-
oder ahnungslosen Kommunikationsdesperados zerpflückt, verge-
waltigt, verstümmelt und meist nicht mal ansatzweise verstanden!
Das, liebe Freunde, ist mehr als nur ein Wermutstropfen in unsere
168
öligen Wunden. Viele glauben, über schlafende Hunde solle man
Gras wachsen lassen und Schwamm drunter!
Nicht ohne mich, liebe Presbyterianer des Plusqualmperfekts.
Diesenfalls bin ich ein wüster Rufer und mahne mit wehendem
Mantel vehement: Wehret den Anfängern!
Natürlich heißt es da für jeden, der noch Ähren im Leib hat:
Wir machen Nägel mit Händen und Füßen. Für solche Kasualien
habe ich eine gewaltige Zornesader, die mir auf einem guten Händ-
chen schwillt. Wozu dieser große Aufwind, werden einige Regis-
trierte fragen. Weil, und da stehe ich mit meiner Meinung wie ein
Fels in Brandenburg, wir alle, liebe Alchimisten des Akkupunktivs,
weil wir alle am selben Boot ziehen. Und da kann jeder etwas bei-
tragen, auch wenn wir mit unserem mutigen Schritt nur bei kleinen
Bäckern Brötchen kaufen.
Vielleicht, so steht zu befürchten – das beweist schon der We-
gen-Dativ, vielleicht sitzt tatsächlich der Volksmund am längeren
Hebel und versucht uns den Zahn der Zeit zu Gehör zu bringen.
Sie, meine Damen und Herren, wissen genauso gut wie ich, dass
man damit uns alten Hasen, die noch wissen, wie man Pudelkerne
im Pfeffer wachsen lässt, das Fell über die Ohren schwimmen las-
sen will. Denn eine Katze, die einmal aus dem Häuschen ist, lässt
auch im Sack die Mäuse auf dem Tisch tanzen. Aber man soll die
Hoffnung nicht zum Fenster hinauswerfen. Jetzt wird ein listiger
Verharmloser des Verfalls möglicherweise anmerken wollen, tja, wo
gehobelt wird, wird auch mal ein Pferd von hinten aufgezäumt.
Schießen wir Sprachverwahrer nicht vielleicht mit Kanonen auf
Teppiche? Nein und Amen!!, sage ich jenen und rufe ihnen zu, auch
wenn es denen zum einen Auge rein und zum anderen raus geht:
Schuster, bleib bei deiner Leistung. Der Mensch lebt nicht vom
Schweiß allein. Abwarten und Kaffee trinken ist das Bier von
Leuten, die das gekrümmte Haar in der Suppe nicht selbst auslöf-
feln wollen. Solcherlei Gesinnungsgesindel kann meine gestohlene
Pfeife rauchen! Solange ich lebe, kommt über meine Lippen kein
schweigendes Grab. Nur über Leichen rede ich so, wie mir der
169
REDE ZUM WOHLE DER DEUTSCHEN SPRACHE
Liebe Freunde!
Der Bandscheibenvorfall der deutschen Sprache ist ebenso unüber-
seh- respektive unüberhörbar wie schmerzhaft. Ein kleiner Haufen
ewig Gestriger will und will sich nicht geschlagen geben und
kämpft ebenso tapfer wie vergeblich an der Demarkationslinie zwi-
schen Anspruch und Wirklichkeit. Immer wieder treten in kleiner
werdenden Zeitabständen Menschen, die noch einen Thomas Mann
von einem Thomas Gottschalk zu unterscheiden wissen, an mich
heran und flehen: Herr Michael, du und deine rechtschaffenen
Rede-Recken, tut doch um Gottes willen etwas gegen diese aus dem
heiteren Himmel stinkende Misere! Dieses inbrünstige, einem Ge-
bet zu vergleichende Flehen jener, konnte, ja durfte ich nicht unge-
hört vergellen, und so habe ich mich dieser Bitte um ein paar auf-
rüttelnde Worte – um unserer Worte willen – nun nicht länger ent-
ziehen zu dürfen geglaubt.
Deshalb diese zur Wahrung und Preisung der deutschen Mut-
tersprache gehaltene Rede an die Gebildeten unter ihren Ver-
ächtern.
Damen und Herren!
Sprechende, schreibende, lesende und hörende Nutznießer der
deutschen Zunge! Vernehmt diesen seltsamen Sermon eines sich
sorgenden Sonderlings!
So wie die meisten jungen Menschen heute kaum noch etwas
mit dem Namen Martin Luther anzufangen wissen, so wenig be-
dürfen sie noch des von ihm geschaffenen und mit einem gehei-
ligten Auftrag uns Deutschen überantworteten Sprachschatzes. Seit
Jahrhunderten feststehende Räderwendungen werden von skrupel-
oder ahnungslosen Kommunikationsdesperados zerpflückt, verge-
waltigt, verstümmelt und meist nicht mal ansatzweise verstanden!
Das, liebe Freunde, ist mehr als nur ein Wermutstropfen in unsere
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Micha Ebeling
Reste kuscheln
Micha Ebeling erlebte seine Reinkarnation als Halbesoteriker Mitte der 60er Jahre in Ostfalen. Er arbeitete als Schmiedegehilfe, in der Diako-nie, als Technischer Leiter einer Behinderten-werkstatt und an seinem Umzug nach Berlin. Er fand Zuflucht in einem Wohnheim für Studenten der Theologie, denen er nicht wenig für seine spätere Laufbahn als Geschichtenerzähler ver-dankt. Er war Kellner, Taxifahrer und Stammgast des »Zosch«, wo er 1996 die Lesebühne »Liebe Statt Drogen« kennenlernte, deren Mitglied er seitdem ist. Er ist in der gleichnamigen Antho-logie (Voland & Quist, 2006) vertreten.
Micha Ebeling ist ein Virtuose des Wortes, der Metaphern aufblühen und Al-literationen in Aktion treten lässt, der als abgebrühter ehemaliger Berliner taxi driver über scheiternde Figuren philosophiert, als Frauenversteher nicht nur Beamtinnen am Telefon die Beichte abnimmt und uns als grotesker Mär-chenerzähler mit poetischer Ironie verzaubert. Seine Texte können alles sein: zum Brüllen komisch oder voll Verzweiflung, provozierend zynisch oder hoff-nungslos idealistisch – im besten Fall aber alles zugleich.
Micha Ebelings rasante Geschichten begeistern das Publikum der Lesebüh-ne »Liebe Statt Drogen« und der Multimedia-Show »Lokalrunde« nicht weni-ger als die Fangemeinde der Poetry Slams. Mit »Restekuscheln« erscheint zum ersten Mal eine Sammlung seiner besten Texte.
Zum Hören:Backen to the RootsMarburg, Milch und MoritatenDer ZweiteEinstürzende Altbauten oder nicht mit mirDer Pakt mit dem Teufelu. v. a. Gesamtspielzeit: ca. 75 min
www.michaebeling.dewww.voland-quist.de
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L IVE IM BAIZ
Backen to the Roots *Flammende Liebesschatten an den Brandmauern der Unwirklichkeit *IchMarburg, Milch und MoritatenDer Zweite *Gemüsepfanne *Epileptiker und Ellipsen *Gästelisten *Einstürzende Altbauten oder nicht mit mir *Das Märchen vom Stuhl, der den König glücklich machte *Wolfsburg *Der Pakt mit dem Teufel *Bergbollern der zackzickenden Kräkel-Emmer *Tschüss und Dankeschön *
* nur auf CD
Tracklist:
0102
0304050607080910
111213
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ISBN 978-3-938424-18-6EUR 13,90 (D)
SINGLESMIT AUDIO-CD